Sharing – Willst du wirklich alles teilen? - Arno Strobel - E-Book
SONDERANGEBOT

Sharing – Willst du wirklich alles teilen? E-Book

Arno Strobel

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Du glaubst an die Idee der gemeinsamen Nutzung. Aber was, wenn du gezwungen wirst, den Menschen zu »teilen«, der dir am nächsten steht? Der neue Psycho-Thriller von Nr.1-Bestseller-Autor Arno Strobel, Gewinner des Krimi-Publikumspreises MIMI 2023 Markus und seine Frau Bettina fanden den Gedanken, dass man nicht alles besitzen muss, um es zu nutzen, schon immer gut. Diese Philosophie liegt auch ihrem Sharing-Unternehmen zugrunde. Möglichst viele sollen Autos und Wohnungen teilen und so für mehr Nachhaltigkeit sorgen. Bis Bettina in die Hand eines Unbekannten gerät, im Darknet öffentlich misshandelt wird und das Teilen plötzlich eine andere Dimension annimmt. Wenn Markus seine Frau lebend wiedersehen will, muss er tun, was Bettinas Peiniger sagt. Ausnahmslos, bedingungslos. Und ein Spiel mitspielen, das er nicht gewinnen kann. Auch wenn er bereit ist, alles auf eine Karte zu setzen. »Bei Arno Strobels Thrillern brauchen Sie kein Lesezeichen, man kann sie sowieso nicht aus der Hand legen. Packend und nervenzerreißend!« Sebastian Fitzek

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 370

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Arno Strobel

SHARING – Willst du wirklich alles teilen?

Psychothriller

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Motto]123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051525354555657585960Wichtiges Update

Für dich, Mama, und für dich, Siggi

Sharing is caring

1

»Wie schon gesagt, bringen Sie das Fahrzeug bitte zu der Adresse, die auf der Notfallkarte im Handschuhfach angegeben ist, dort wird man Ihnen einen anderen Wagen zur Verfügung stellen.«

Markus Kern beendete das Gespräch und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Gleich halb zehn. Er sah aus dem Fenster. Der Parkplatz vor dem Firmengebäude war dunkel und leer bis auf den A3 aus ihrem Fuhrpark, den Markus zurzeit nutzte. Sein Blick fiel auf das imposante Firmenschild neben der Einfahrt, das von einem Spot angestrahlt wurde. Es war zur Straße hin ausgerichtet, so dass er die Schrift darauf von seinem Platz aus nicht sehen konnte. Das war auch nicht nötig. Er wusste, was dort in großen blauen Lettern stand: Kern & Kern Carsharing. Und darunter, etwas kleiner und in Schwarz, der Slogan: Sharing Is Caring.

Bettina und er hatten bei der Firmengründung fünf Jahre zuvor lange mit ihrem Marketingberater darüber diskutiert, ob es sinnvoll war, einen englischsprachigen Slogan zu verwenden. Letztendlich waren sie aber dem Argument gefolgt, dass Carsharing eher von jungen Leuten genutzt wurde, und für die waren englische Slogans eine Selbstverständlichkeit.

Zudem entsprach die Aussage vollkommen ihrer beider Überzeugung, dass es wichtiger denn je war, sich um die Umwelt und das Klima zu kümmern und vorhandene Ressourcen sinnvoll und effektiv zu nutzen.

Seine Frau hielt es, ebenso wie Markus, geradezu für obszön, wenn Gebrauchsgegenstände wie Autos jeweils nur von einer Person genutzt wurden, statt dass man sie mit mehreren Leuten teilte. Die Autos aus ihrem Fuhrpark fand man in der gesamten Stadt und konnte sie ganz einfach für jeden x-beliebigen Zeitraum mieten, selbst wenn es nur Minuten waren. So wurden die Fahrzeuge optimal genutzt.

Das Klingeln seines Smartphones beendete die kurze gedankliche Rückblende. Markus warf einen Blick auf das Display, bevor er sich das Telefon ans Ohr hielt. Bettina.

»Hi, Schatz«, begann er, und noch bevor sie antworten konnte, fügte er hinzu: »Bist du schon zu Hause?«

»Nein, ich bin noch im Studio. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass es etwas später wird. Klara schließt jetzt ab, und wir trinken hier noch ein Gläschen zusammen.«

»Ah, okay. Ich bin auch noch im Büro, mache mich aber gleich auf den Heimweg.«

»Ist alles in Ordnung?«

»Ja, sicher, ich habe nur noch das Angebot für Oppmann fertig gestellt. Er hat angerufen, er braucht es morgen.«

»Verstehe. In spätestens einer Stunde bin ich auch da.«

»Gut, bis dann.«

Markus schaltete den Computer aus, stand auf und steckte das Smartphone in die Tasche seiner Jeans, dann verließ er das Büro und löschte das Licht.

Für die rund zehn Kilometer vom Firmengelände in Frankfurt Bornheim bis zu ihrem Haus in Bad Vilbel brauchte er knappe zwanzig Minuten. Unterwegs dachte er darüber nach, dass eigentlich Trainingstag war, aber so gut ihm das Training für den Marathon auch tat, das er dreimal pro Woche absolvierte, um diese Uhrzeit würde er sicher nicht mehr losrennen.

Als er die Haustür aufschloss, stellte er verwundert fest, dass im Erdgeschoss alles dunkel war. Offenbar war Leonie schon zu Bett gegangen.

Markus legte den Schlüssel in die Schale auf der Kommode, stieg leise in die erste Etage hinauf und öffnete vorsichtig die Tür zu Leonies Zimmer. Seine Tochter hasste es, in einem völlig dunklen Raum zu schlafen, weshalb sie den Rollladen an ihrem Fenster nie herunterließ. Im Schein einer Straßenlaterne erkannte er, dass Leonie im Bett lag. Darauf bedacht, kein Geräusch zu machen, betrat er das Zimmer und betrachtete ihr Gesicht, dessen Konturen er mehr erahnen als sehen konnte. Ihr gleichmäßiger, ruhiger Atem verriet ihm, dass sie fest schlief.

Zufrieden zog er ihr die Decke über die Schultern, verließ auf Zehenspitzen den Raum und ging nach unten.

Nachdem er sich aus der Küche ein Bier geholt hatte, stellte er die Flasche auf dem Wohnzimmertisch ab und schaltete den Fernseher ein. Er zappte durch die Programme, bis er auf eine Dokumentation über den Klimawandel stieß, die gerade begonnen hatte.

Die Sendung endete um kurz nach elf, und Bettina war noch nicht aufgetaucht. Hatte sie nicht gesagt, sie wäre in spätestens einer Stunde zu Hause?

Ein wenig befremdet, aber noch nicht besorgt, stand Markus auf und nahm sich eine weitere Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Offenbar hatten Bettina und die Studiobesitzerin ein interessantes Gesprächsthema.

Es verging eine weitere halbe Stunde, bis Markus nach wiederholtem Zappen den Fernseher entnervt ausschaltete und nach seinem Smartphone griff. Er öffnete die Favoriten des Adressbuchs, tippte auf Bettinas Namen und hörte dem Tuten zu, bis sich die Voice-Mailbox einschaltete.

»Hallo, ich bin’s«, sagte er, irritiert darüber, dass sie das Gespräch nicht annahm. »Ich wollte nur mal hören, ob es sich noch lohnt, auf dich zu warten. Ich bin ziemlich müde. Meld dich doch bitte kurz, und sag mir Bescheid, okay?«

Er behielt das Smartphone in der Hand und betrachtete das Display, während er darüber nachdachte, ob er es im Studio versuchen sollte. Es war nicht seine Art, seiner Frau hinterherzutelefonieren, aber dass sie sich so sehr verspätete, ohne Bescheid zu sagen, und er sie dann noch nicht einmal erreichen konnte, war doch ungewöhnlich.

Schließlich suchte er im Browser die Website des Studios und tippte die angegebene Nummer an, aber schon nach dem ersten Klingeln verkündete eine weibliche Stimme, dass er außerhalb der Geschäftszeiten anrief.

Leise fluchend würgte Markus die Ansage ab und begann, durch die Online-Plattformen verschiedener Zeitungen und Magazine zu surfen, was er aber nach kurzer Zeit wieder aufgab. Die immer gleichen Nachrichten wiederholten sich auf allen Seiten. Er legte das Telefon auf den Tisch und griff nach der Biographie des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Barack Obama, die neben der Couch auf dem Beistelltischchen lag. Er war schon seit Tagen nicht mehr zum Lesen gekommen und Minuten später völlig in die Geschichte eingetaucht.

Kurz nach Mitternacht legte er das Buch zur Seite, da seine Augenlider immer schwerer wurden. Ein Blick auf das Smartphone zeigte ihm, dass er keine Nachricht von Bettina erhalten und auch keinen Anruf von ihr verpasst hatte. Erneut wählte er ihre Nummer und wartete, bis die Mailbox sich einschaltete.

»Hallo, ich bin’s noch mal. Es ist jetzt schon nach Mitternacht, und ich mache mir langsam Sorgen. Wenn euer Geplauder länger dauert, ist das total okay, aber dann melde dich bitte, damit ich weiß, dass alles in Ordnung ist.«

Nachdenklich legte er das Telefon auf den Tisch zurück und schaltete den Fernseher wieder ein. Obwohl er ziemlich müde war, hinderte eine schnell größer werdende Unruhe ihn daran, ins Bett zu gehen. Diese Unzuverlässigkeit war einfach nicht Bettinas Art.

Er richtete den Blick auf den Fernseher, ohne den Gästen der Talkshow bei ihren Streitereien wirklich zuzuhören.

Bettina besuchte das kleine Fitnessstudio immer recht spät, weil dann nur noch wenige Mitglieder anwesend waren und sie ohne Wartezeiten alle Geräte nutzen konnte.

Ja, es war schon vorgekommen, dass sie sich nach dem Training mit der Inhaberin des Studios verquatscht und die Zeit vergessen hatte. Aber auch dann war sie immer gegen elf zu Hause gewesen.

Markus überlegte, bei Bettinas Freundin Sarah anzurufen und sich zu erkundigen, ob sie vielleicht bei ihr war, aber das war um diese Uhrzeit eher unwahrscheinlich. Zudem wollte er nicht den Eindruck erwecken, er würde Bettina kontrollieren. Andererseits … Sarah war Single, und er traute ihr durchaus zu, Bettina auch noch am späten Abend angerufen zu haben, um sich mit ihr zu treffen.

Und was, wenn wirklich etwas nicht in Ordnung war?

Er griff nach dem Smartphone, suchte Sarahs Festnetznummer aus dem Adressbuch und zögerte einen Moment, bevor er sie schließlich antippte. Zwei Sekunden später meldete sich Sarahs Stimme von ihrer Mailbox. Markus beendete das Gespräch und wählte ihre Mobilfunknummer. Wenn sie sich tatsächlich zu später Stunde noch mit Bettina getroffen hatte und die beiden in irgendeinem Lokal saßen, dann würde er sie natürlich nur über ihr Handy erreichen.

Es dauerte eine Weile, dann meldete Sarah sich mit heiser klingender Stimme.

»Hier ist Markus«, erklärte er und fühlte sich unwohl, denn es war offensichtlich, dass er Sarah geweckt hatte. »Entschuldige bitte, dass ich dich so spät störe, aber Bettina ist nach dem Fitnessstudio nicht nach Hause gekommen, und ich mache mir allmählich Sorgen.«

»Was? Aber warum … wie spät ist es denn?«

»Kurz nach Mitternacht.«

Markus hörte das Rascheln der Bettwäsche. »Ich habe sie heute nicht gesehen. Nach dem Studio geht sie doch normalerweise gleich nach Hause. Seltsam …«

»Ja, deshalb mache ich mir ja Sorgen.«

»Vielleicht ist sie noch mit jemandem was trinken? Mit der Inhaberin, zum Beispiel, dieser Klara. Tina hat mir mal erzählt, dass man sich mit ihr gut unterhalten kann.«

»Sie wollte mit ihr im Studio noch was trinken und dann nach Hause kommen. Wenn sie sich entschlossen hätten, noch weiterzuziehen, hätte sie angerufen, du kennst sie doch. Zumindest würde sie ans Telefon gehen.«

»Das stimmt. Hm …«

»Fällt dir sonst irgendjemand ein, bei der oder bei dem sie sein könnte?«

»Bei dem? Du glaubst doch nicht wirklich, dass Tina …«

»Nein!«, fiel Markus ihr ins Wort. »Das glaube ich nicht. Ich versuche einfach nur, alle Möglichkeiten durchzugehen, weil ich mir wirklich Sorgen mache. So was ist in den sechzehn Jahren, die wir verheiratet sind, noch nie vorgekommen.«

»Ich weiß«, stimmte Sarah ihm zu. »Aber ich bin überzeugt, es geht ihr gut, und es wird eine plausible Erklärung dafür geben.«

»Ja«, sagte Markus leise, »das hoffe ich.«

»Ganz sicher. Sei mir bitte nicht böse, aber ich muss morgen sehr früh raus und sollte jetzt schlafen. Wenn doch etwas sein sollte, ruf mich bitte an, okay?«

»Ja, klar. Schlaf gut.«

Markus ließ das Telefon sinken. Sarah hatte bestimmt recht. Er machte sich zu viele Sorgen. Wahrscheinlich war Bettina mit Klara noch auf ein Glas in eine Kneipe gegangen, und aus dem einen Glas wurden ein paar. Vielleicht hatte sie einfach das Gefühl für die Zeit verloren.

Es war ihm ja auch schon mehr als einmal passiert, dass er sich mit jemandem angeregt unterhalten und dann bei einem Blick auf die Uhr erschrocken festgestellt hatte, dass es schon viel später war als gedacht.

So musste es … Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Er wollte schon erleichtert Bettinas Namen rufen, als Leonie verschlafen um die Ecke des Wohnzimmers kam und stehen blieb. Die langen dunklen Haare hatte sie zu einem zerzausten Dutt hochgesteckt.

»Ich hab noch Durst«, erklärte sie und sah sich im Raum um. »Ist Mama schon im Bett?«

»Nein, sie ist noch nicht zu Hause, aber sie wird sicher bald kommen. Allerdings sollte eine gewisse Fünfzehnjährige jetzt im Bett liegen. Also, nimm dir was zu trinken und dann wieder ab in die Kiste.«

Seine Tochter murmelte etwas, das er nicht verstand, ging in die zum Wohnzimmer hin offene Küche und nahm sich aus dem Kühlschrank eine Tüte Milch. Kurz darauf war sie verschwunden.

Markus hatte sich gerade wieder auf die Couch fallen lassen, als ein Pling seines Smartphones eine WhatsApp-Nachricht ankündigte. Mit einem Ruck beugte er sich vor, griff nach dem Gerät und atmete erleichtert auf. Die Nachricht kam von Bettina. Endlich! Er tippte auf das Symbol und zog im nächsten Moment die Brauen zusammen. Statt einer Erklärung, wo sie war, stand in der Nachricht lediglich eine seltsam aussehende Webadresse: eine lange Reihe Buchstaben und Zahlen, gefolgt von einem Punkt und der Endung onion.

Markus war zwar noch nicht im sogenannten Darknet unterwegs gewesen, hatte aber mal einen Bericht darüber gelesen und wusste, dass er hier eine Adresse aus genau diesem versteckten Teil des Internets vor sich hatte. In einer WhatsApp von seiner Frau.

»Was zum Teufel …«, stieß er aus, wechselte zur Anrufliste und tippte auf Bettinas Nummer. Entweder hatte sich jemand mit dem Handy seiner Frau einen Scherz erlaubt, oder Bettina hatte tatsächlich mehr als nur ein Glas getrunken und fand es witzig, ihm eine Webadresse zu schicken, die ihn wahrscheinlich auf irgendeine Fake-Seite führen würde. Wobei sich dann die Frage stellte, woher seine Frau, deren Computerkenntnisse er als eher marginal bezeichnen würde, eine Adresse aus dem Darknet kannte. So oder so spürte Markus, dass die Mischung aus Besorgnis und Wut in ihm größer wurde, während er dem elektronischen Tuten zuhörte.

Nach dem dritten Mal wurde abgehoben, und noch bevor Markus den Mund aufmachen konnte, sagte ein Mann mit einer Kälte in der Stimme, die ihn die Luft anhalten ließ: »Ruf die Website auf. Und beeil dich, die Bettina-Show hat schon angefangen.« Dann wurde aufgelegt.

Markus hielt das Smartphone noch eine Weile in der Hand und versuchte zu verstehen, was gerade geschah. Wer war dieser Kerl? Und warum hatte er Bettinas Handy? Mit einem Mal war jeglicher Anflug von Ärger verschwunden, wurde verdrängt von einer schnell größer werdenden Angst. Seine Hand, die das Smartphone hielt, zitterte.

Das war kein Scherz, dessen war er sich sicher. Irgendetwas war mit Bettina geschehen, und wenn er wissen wollte, was, musste er tun, was dieser Mann verlangt hatte.

Mit heftig klopfendem Herzen öffnete er die Nachricht mit der Webadresse und tippte darauf, wie er es von anderen Links gewohnt war, doch es geschah nichts. Also kopierte er die Adresse und fügte sie in den Browser des Smartphones ein, aber das Ergebnis war lediglich ein Hinweis, dass die Seite nicht geöffnet werden konnte.

Fluchend sprang Markus auf und verließ mit schnellen Schritten das Wohnzimmer. In ihrem gemeinsamen Büro angekommen, setzte er sich an seinen Platz, schaltete den Computer ein und öffnete den Browser. Nachdem er die Adresse aus der Nachricht hektisch abgetippt und bestätigt hatte, starrte er jedoch auch hier auf die gleiche Meldung wie zuvor auf dem Smartphone. Die Seite konnte nicht geöffnet werden.

Mit einem unangenehmen Prickeln bildeten sich winzige Schweißtröpfchen auf seiner Stirn, während er konzentriert Zeichen für Zeichen der eingegebenen Adresse mit denen in der Nachricht verglich, aber er hatte sich nicht vertippt. Also musste dieser Kerl sich vertan haben.

Markus ließ sich gegen die Rückenlehne des Bürostuhls sinken und starrte die Meldung des Browsers an, als könnte er sie dadurch verschwinden lassen.

Seine Gedanken überschlugen sich. Und beeile dich, hatte der Kerl am Telefon gesagt. Die Bettina-Show hat schon angefangen.

Die Bettina-Show … Was sollte das für eine Show sein? Machte er sich unnötig Gedanken? War das alles ein Gag seiner Frau? Eine von langer Hand geplante Überraschung für ihn? Aber wofür?

Markus überlegte angestrengt, ob er vielleicht ein wichtiges Datum vergessen hatte, aber ihr Hochzeitstag war schon vor zwei Monaten gewesen, Bettinas Geburtstag stand erst in vier Monaten an, sein eigener zwei Wochen früher. Was sonst konnte es geben, wofür Bettina eine Show veranstaltete, die er sich im Darknet ansehen sollte? Nein, es musste eine andere … Markus’ Blick war an der Adresse hängen geblieben. An der Endung hinter dem Punkt. Onion … da hatte etwas in dem Artikel über das Darknet gestanden, etwas über diese Art von Adressen und dass sie nicht zurückverfolgt werden konnten, auch nicht von Ermittlern. Weil … weil man dazu einen besonderen Browser brauchte, der die Spuren im Netz verwischte!

Mit einem Ruck beugte Markus sich vor und ließ die Finger über die Tastatur huschen. Keine Minute später hatte er einen entsprechenden Artikel gefunden und den Download des TOR-Browsers gestartet, der zum Surfen im riesigen inoffiziellen Teil des Internets unabdingbar war.

Nach weiteren drei Minuten war die Software installiert und mit ein paar Klicks eingerichtet.

Erneut tippte Markus die Webadresse aus der Nachricht ab und bestätigte seine Eingabe mit der Enter-Taste. Eine Weile passierte nichts, und Markus rechnete schon damit, die gleiche Meldung wie zuvor zu bekommen, als die Website endlich geöffnet wurde. Mit dem nächsten Atemzug stieß Markus einen unartikulierten Schrei aus und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Bild, das sich ihm bot. Dann bohrte sich eine eiserne Faust in seinen Magen und raubte ihm fast die Besinnung.

2

Noch während ihr Bewusstsein sich aus der Tiefe einer dumpfen Schwärze an die helle Oberfläche der Realität zurückkämpft, setzen unerträgliche Kopfschmerzen ein. Sie öffnet die Augen, kneift sie aber sofort mit einem Aufstöhnen wieder zusammen, da eine Lichtbombe in ihrem Kopf zu explodieren scheint. Ihre Gedanken drehen sich wie in einem außer Kontrolle geratenen Karussell, während sie zu begreifen versucht, was gerade geschieht und wo sie sich befindet. Die einfachste und naheliegendste Erklärung ist zugleich die unwahrscheinlichste, denn wenn es nur ein schlimmer Traum wäre, würde sie diese abartigen Kopfschmerzen nicht spüren. Schmerzen kommen in einem Traum nur als Gedanke vor. Außerdem ist sie sich sicher, dass es kein Schlaf war, aus dem sie gerade erwacht ist, sondern bleierne Bewusstlosigkeit. Die Augen noch immer zusammengekniffen, versucht sie, einen der losen Gedankenfetzen zu fassen zu bekommen, die in ihrem Verstand herumwirbeln. Tatsächlich blitzt mit einem Mal die Erinnerung wie ein schwach flackerndes Leuchten hinter der dunklen Wand aus aufsteigender Panik in ihr auf.

Sie hat das Fitnessstudio verlassen und ist zu ihrem Auto gegangen, das einsam am Rand des Parkplatzes gestanden hat. Klara, die Studioleiterin, hat die Tür hinter ihr abgeschlossen und ist im Studio geblieben, weil sie noch etwas zu tun hatte.

Sie erinnert sich, an ihrem Auto angekommen zu sein und die Fahrertür geöffnet zu haben …

Da war ein … ein Arm? Ja, ein starker Arm, der sie brutal von hinten umschlang, während ihr gleichzeitig etwas auf Mund und Nase gepresst wurde. Es hat ekelhaft gerochen, süßlich, faulig, und sie hat verzweifelt versucht, sich aus dem Griff zu befreien, hat versucht, um sich zu schlagen und zu treten. Doch plötzlich sind ihre Arme und Beine so furchtbar schwer geworden, als würden sie von Bleigewichten nach unten gezogen. In einem letzten Aufbäumen hat sie trotzdem probiert, sich aus dem Griff zu winden … dann war da nur noch Dunkelheit.

Sie unternimmt einen Versuch, sich zu bewegen, doch etwas hindert sie daran. Ihr wird bewusst, dass sie sitzt – auf einem Stuhl vielleicht – und ihre Arme erhoben sind. Die Handgelenke werden von etwas über ihrem Kopf gehalten, einem Seil, einem Draht …

Sie zwingt sich, erneut die Augen zu öffnen, und widersteht dem Drang, sie sofort wieder zu schließen. Beißend grelles Licht wird aus mehreren Scheinwerfern auf ihre Augen gerichtet und blendet sie so sehr, dass sie nichts von ihrer Umgebung erkennen kann. Instinktiv möchte sie den Oberkörper nach vorn beugen und die Oberschenkel zusammenpressen. Beides ist ihr unmöglich. Die Fesseln an ihren Handgelenken halten ihre Arme oben und den Oberkörper in der aufrechten Sitzposition. Ihre Beine sind weit gespreizt und werden ebenfalls von etwas, das ihr schmerzhaft in die Haut über den Kniegelenken schneidet, in dieser Position gehalten.

In die Haut! Das bedeutet, sie ist … nackt!

Ihr Schrei wird zu einem gurgelnden Geräusch, als sie mit aller ihr zur Verfügung stehender Kraft versucht, die Beine zusammenzudrücken. Vergebens. Die Stellen über den Knien jagen heiß pochende Schmerzen durch die Oberschenkel, doch an ihrer Position hat sich nichts verändert. Sie sitzt nackt und mit weit gespreizten Beinen auf einem Stuhl, und zu der Angst, die ihr die Luft zum Atmen nimmt, steigt ein Gefühl der Scham und der Demütigung in ihr hoch, wie sie es noch nie in ihrem Leben gespürt hat.

Erneut versucht sie, irgendwo in diesem grellen Meer aus Licht etwas zu erkennen, irgendeinen Hinweis darauf zu entdecken, wo sie ist und was gerade mit ihr geschieht, doch schon nach wenigen Sekunden muss sie die brennenden und tränenden Augen zusammenkneifen.

»Hallo«, ruft sie, und dann lauter: »Wo bin ich? Ist jemand hier? Bitte, binden Sie mich los, ich flehe Sie an. Sagen Sie doch etwas.«

Sie blinzelt in die gleißende Helligkeit und lauscht angestrengt, hört ihren eigenen keuchenden Atem und im Hintergrund ein beständiges Summen. Sonst nichts.

»Bitte«, flüstert sie. »Bitte, bitte reden Sie mit mir. Wer sind Sie? Warum tun Sie mir das an?«

»Lächle«, sagt plötzlich ein Mann, der irgendwo hinter den Lampen zu stehen scheint. Der Klang seiner Stimme jagt ihr trotz der Hitze, die die Lampen abstrahlen, einen eiskalten Schauer über den Rücken. »Und streng dich an. Tausende Augen sind auf dich gerichtet.«

3

Markus war zu keiner Reaktion fähig. Wie versteinert starrte er auf den Monitor, konnte nicht fassen, was er da sah. Weigerte sich, es zu begreifen.

In einem Fenster, das fast den gesamten Bereich des Monitors einnahm, war eine komplett nackte Frau zu sehen, die Arme mit einem Seil nach oben gezogen, saß sie frontal zur Kamera auf einem Stuhl. Ihr Körper wurde von gleißendem Scheinwerferlicht angestrahlt, die Beine waren weit gespreizt und ebenfalls festgezurrt, so dass der Blick durch das Kameraobjektiv auf ihre offene Scham gerichtet war. Markus zwang sich, in das Gesicht der Frau zu schauen, in der verzweifelten Hoffnung, dass er sich getäuscht hatte, dass es irgendeine bedauernswerte Fremde war, die er vor sich sah. Aber obwohl die langen braunen Haare ihr in verschwitzten Strähnen ins Gesicht hingen, erkannte er, dass es keine Unbekannte war, die dort auf eine unvorstellbar grausame Art gedemütigt wurde, sondern Bettina. Seine Frau.

Markus’ Speiseröhre krampfte sich gleichzeitig mit seinem Magen zusammen, und er schaffte es gerade noch, den Kopf ein wenig zur Seite zu drehen, bevor er sich auf einen Teil des Schreibtischs und den Teppich erbrach. Mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich mit dem Unterarm über den Mund, richtete sich auf und starrte wieder auf das Bild, in das jetzt Bewegung kam. Bettina hatte die Augen aufgerissen und begann, wild an den Fesseln zu zerren, die ihre Arme oben und die Beine gespreizt hielten. Gleichzeitig warf sie den Kopf hin und her und schrie immer wieder »Nein! Nein, bitte nicht! Bitte!«

Markus beugte sich nach vorn, legte eine Hand auf den Monitor, bedeckte seine Frau und ignorierte die Tränen, die ihm über die Wangen liefen.

»Bettina«, krächzte er und versuchte, den Impuls, sich noch mal zu übergeben, zu unterdrücken. Sekunden später erkannte er, was Bettinas Panik ausgelöst hatte. Von der Seite trat eine Gestalt in den Bildausschnitt, ging auf Bettina zu und blieb kurz vor ihr stehen. Ein Mann. Er war groß und ebenfalls nackt, trug aber eine Maske aus schwarzem Leder, eine Art Haube, die den ganzen Kopf verdeckte. Sein Körper war muskulös, der Rücken und die Pobacken stark behaart. Wie versteinert saß Markus da und beobachtete die Szene. Er weinte, er schluchzte, er wollte etwas gegen den Monitor werfen und seine Qual hinausschreien, doch er war weder zu einer Bewegung fähig, noch dazu, den Blick von dem grausamen Geschehen abzuwenden.

Am unteren Bildschirmrand wurde etwas eingeblendet, das für einen kurzen Moment seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Eine Zahl, die sich sekündlich veränderte. Gerade zeigte sie 4367 an, dann 4406. 4439. 4487 …

Alles in ihm wehrte sich gegen die Erkenntnis, und doch verstand er mit brutaler Klarheit, was er sah. Es waren Zugriffszahlen, die Anzahl an Zuschauern, die gerade vor ihren Monitoren saßen, Augenpaare, die seiner Frau zwischen die weit gespreizten Schenkel blickten und dabei womöglich … Schmerzhaft krampfte sich Markus’ Magen erneut zusammen.

»Nein«, stammelte er immer wieder, »nein, bitte … bitte nicht«, während er die Schreie seiner Frau aus den Lautsprechern hörte.

Er sah hin. Musste hinsehen.

Der Mann mit der Ledermaske trat ein Stück zur Seite, und aus dem Off hinter der Kamera kamen drei weitere Männer ins Bild. Sie waren ebenfalls nackt und trugen Masken.

»Nein!«, brüllte Markus. »Haut ab, ihr verdammten Schweine!«

Er ertrug den Anblick keine einzige Sekunde länger. Er wandte sich ab und sackte in sich zusammen, als hätte ihn mit einem Schlag alle Kraft verlassen. Den Blick auf den vollgekotzten Schreibtisch gerichtet, ließ er sich gegen die Stuhllehne sinken. In einer Ecke seines Bewusstseins nahm er wahr, dass die Schreie seiner Frau in ein Wimmern übergegangen waren, das innerhalb einer Sekunde anzuschwellen schien und dann so laut wurde, als befände sich ihr Mund direkt neben seinem Ohr.

In diesem Moment klingelte sein Smartphone.

Markus fuhr zusammen und griff so hektisch nach dem Gerät, dass es ihm fast entglitten wäre. Er registrierte, dass ein Teil seines Mageninhalts auch am Telefongehäuse klebte. Er sah den Namen auf dem Display. Bettina!

»Du Schwein!«, brüllte er los, kaum hatte er das Gespräch angenommen. »Lass sie in Ruhe! Sofort. Ich schwöre dir …«

»Halt den Mund«, unterbrach die kalte Stimme ihn, woraufhin Markus verstummte.

»Du teilst doch gern, nicht wahr? Das ist doch deine Philosophie, oder? Carsharing, Wohnungssharing … alles soll von möglichst vielen genutzt werden. Das ist dein Geschäft, damit verdienst du dein Geld, und zwar nicht wenig, richtig?«

»Was wollen Sie?« Markus’ Stimme klang brüchig. »Warum tun Sie das? Wollen Sie Geld? Sie bekommen es! Sagen Sie mir, wie viel. Ich verspreche, ich werde es besorgen. Aber bitte, stoppen Sie das, was da gerade geschieht. Ich tue wirklich alles, was Sie verlangen, aber hören Sie auf damit.«

Bettinas Wimmern, das die ganze Zeit über zu hören gewesen war, wurde plötzlich wieder zu einem Schreien, das aber anders klang als zuvor. Gurgelnd, röchelnd … Markus fuhr herum und … starrte auf den Monitor, der genau in diesem Moment schwarz wurde. Alle Geräusche waren verstummt. Lediglich die Zahl am unteren Bildschirmrand war noch zu sehen. Sie veränderte sich noch immer sekündlich und zeigte inzwischen 17327 an. Im nächsten Moment wurde ein Fenster mit einer Eingabemaske eingeblendet, unter der stand: Gib deine PIN ein!

»Was …«, stammelte er. »Ich … ich sehe nichts mehr. Was soll das mit dieser PIN? Was machst du mit meiner Frau, du Schwein?«

»Was denkst du wohl? Teilst du etwa eines deiner Autos kostenlos? Nein. Ich auch nicht. Du hast nicht für die Show bezahlt, also kannst du sie dir auch nicht ansehen.«

»Bezahlt? … Show?«, stammelte Markus.

»Natürlich. Mittlerweile sind es fast zwanzigtausend Zuschauer, die beobachten, wie ich jetzt deine Frau teile. Ich verdiene gut mit dem Sharing. So wie du. Das ist doch in deinem Sinn, oder etwa nicht? Und ich kann dir versprechen, das ist erst der Anfang.«

»Hören Sie auf!«, schrie Markus in den Hörer. »Bitte!«

»Du willst, dass ich aufhöre? Hm … Das ist gerade schlecht, aber hör mir jetzt gut zu. Du hast eine Chance, sie zu retten. Nur eine, aber die ist ganz simpel. Halt einfach die Füße still. Keine Polizei, kein Wort zu irgendjemandem. Was gerade geschieht, ist nicht mehr zu ändern. Du musst am eigenen Leib spüren, wie viel Leid dein verdammtes Sharing verursachen kann. Aber du wirst sie zurückbekommen. Schon morgen.«

»Ich …«, setzte Markus an, doch der Mann unterbrach ihn. »Bleib zu Hause und warte. Morgen früh sage ich dir, wo du sie findest.«

»Warum erst morgen früh?« Die Worte sprudelten aus Markus heraus. »Warum nicht jetzt? Was geschieht gerade? Lassen Sie mich wenigstens sehen …«

»Die Show läuft noch ein paar Stunden, und nein, du bekommst keinen Zugang. Keine Bezahlung, keine Show.«

Noch ein paar Stunden … Show … Es war Markus fast unmöglich, die weiteren Worte zu verstehen, das Grauen war so unerträglich, dass es seine Sinne vernebelte.

»Ich warne dich nur ein Mal. Ein Wort zur Polizei oder zu irgendjemand anderem, und es wird eine zweite Bettina-Show geben. Und ich kann dir versichern, dagegen ist das, was gerade passiert, ein Ausflug zu Barbies Ponyhof. Das wird sie nicht überleben, und dabei darfst du dann sogar kostenlos zusehen.«

Bevor Markus etwas entgegnen konnte, war das Gespräch beendet.

Als er den Blick wieder auf den dunklen Monitor richtete, wurde dort gerade hinter der Eingabemaske ein Foto der großen Werbetafel von Kern & Kern Carsharing eingeblendet.

Etwas bäumte sich in ihm auf und schrie ihn an, dass er reagieren müsse. Seine Finger huschten über die Tastatur, während er die Adresse der Website erneut vom Display seines Smartphones abtippte, doch ohne Erfolg, im Gegenteil, jetzt war sogar die Eingabemaske nicht mehr zu sehen. Nur die Zahl am Bildschirmrand, die sich weiter sekündlich veränderte. Größer wurde.

Immer wieder »Nein!« stammelnd und Bettinas Namen wiederholend, hämmerte er völlig wahllos auf die Tastatur ein. Er schrie, er fluchte … es nutzte nichts. Anders als 21105 Fremde konnte er nicht sehen, was gerade mit seiner Frau geschah.

4

Markus schaltete den Computer aus. Er ertrug die Situation nicht länger. Das Letzte, worauf sein Blick fiel, bevor das Bild verschwand, war die Zahl am unteren Rand: 21437.

»Gott!«, stieß er aus, obwohl er kein gläubiger Mensch war. Er verspürte den unbändigen Drang, loszulaufen, wegzurennen vor dem Computer und der grausamen Wirklichkeit, die ihm der Monitor gezeigt hatte, und seine ganze Seelenqual hinauszuschreien. Er wollte diesem Kerl, der für das verantwortlich war, was auch immer gerade mit Bettina geschah, die Hände um den Hals legen und zudrücken. Er wollte ihm in die Augen sehen, während er das Leben aus ihm herauspresste. Der Schmerz und der Hass drohten Markus die Luft abzuschnüren. Ruckartig stand er auf und musste sich im nächsten Moment an der Schreibtischkante festhalten. Er schwankte und befürchtete zu stürzen. Zwei, drei Atemzüge stand er so da, den Blick auf den dunklen Monitor gerichtet, dagegen ankämpfend, dass das Wissen über das, was gerade irgendwo mit seiner Frau geschah, seinen Verstand zerstörte. Er wollte sich abwenden, den Raum verlassen, nur weg von dem Monitor, der ihm diese furchtbaren Dinge gezeigt und die schlimmsten Bilder in seinem Kopf erzeugt hatte.

Seine Knie wurden plötzlich weich, die Beine gaben nach und knickten ein. Er sank auf den Stuhl, fiel in sich zusammen, der Oberkörper kippte nach vorn. Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte in einer verzweifelten Hilflosigkeit, wie er das zuletzt als kleiner Junge getan hatte.

 

Wie lange er so dagesessen hatte, wusste er nicht. Als er sich wieder aufrichtete, schmerzte ihn der Rücken. Er war vermutlich vor Erschöpfung eingeschlafen. Vielleicht war er aber auch in eine barmherzige Ohnmacht gefallen.

Er sah auf die Uhr. Kurz vor drei. Dann richtete sich sein Blick auf den dunklen Bildschirm, der ihn böse anglotzte wie ein übergroßes Auge. Gute zwei Stunden war es her, seit er diese furchtbare Szene gesehen hatte.

Wenn er den Computer jetzt einschaltete … Nein, das wollte er auf keinen Fall.

Er schaltete den Computer doch ein. Starrte wie gebannt auf die Systemmeldungen, während das Betriebssystem geladen wurde. Er öffnete den TOR-Browser, klickte in die Adressleiste und tippte die kryptische Webadresse erneut ein. Das Herz hämmerte ihm gegen die Rippen, er hielt den Atem an.

Zwei, drei Sekunden, dann veränderte sich das Bild. Wie Stunden zuvor öffnete sich ein großes Fenster, doch statt des Live-Videos oder einfacher Schwärze wurde ein Standbild eingeblendet. Es zeigte den Raum, den er schon kannte, und den Stuhl, auf dem Bettina gesessen hatte.

Markus bemerkte erst, dass er die Fäuste geballt hatte, als sich ein stechender Schmerz von seiner linken Handfläche aus bis in den Unterarm zog, weil sich die Fingernägel tief ins Fleisch drückten. Der Stuhl war leer, doch er sah etwas anderes. Einen Schriftzug, der groß im unteren Drittel des Bildschirms eingeblendet wurde:

To be continued …

Nachdem er die Wörter eine ganze Weile angestarrt hatte, stand Markus auf, wandte sich ab und wollte den Raum verlassen. Er ging jedoch zurück und schaltete den Computer aus.

Auf dem Weg zum Wohnzimmer dachte er darüber nach, ob er trotz der Drohung des Kerls die Polizei informieren sollte, und wunderte sich, wie nüchtern und klar er wieder denken konnte. Nein, auf keinen Fall würde er etwas tun, das dem Entführer seiner Frau einen Grund lieferte, seine Drohung wahrzumachen. Zudem würden wahrscheinlich auch die Spezialisten der Polizei keine Möglichkeit haben festzustellen, wer die Website im Darknet betrieb. Zumindest nicht so schnell, wie es nötig wäre.

To be continued …

Markus ließ sich auf die Couch fallen und überprüfte, ob sein Smartphone noch genug Akkuleistung hatte und der Ton eingeschaltet war. Er durfte den Anruf des Dreckskerls auf keinen Fall verpassen.

Morgen früh sage ich dir, wo du sie findest.

Er legte das Telefon auf dem Tisch ab, starrte es an und dachte darüber nach, wie er den Rest der Nacht überstehen sollte. Die Zeit bis zum Anruf. Sofern er überhaupt kam.

Trotz seiner Niedergeschlagenheit spürte er eine fürchterliche Unruhe in sich.

Plötzlich hatte er das Gefühl, keine Sekunde länger sitzen bleiben zu können. Er sprang hoch und begann, im Wohnzimmer auf und ab zu gehen. Sein Blick streifte über die kleine graue Vase aus Venezien, die silberne Schale – ein Geschenk von Bettinas Eltern –, die Fotorahmen … alles war so eng mit Bettina verbunden, dass es nicht zu ertragen war.

Er ging ins Büro, betrachtete die Schweinerei, die er dort hinterlassen hatte, wandte sich ab und lief in die Küche. Mit einem halb mit Wasser gefüllten Putzeimer und einem Reinigungsmittel bewaffnet kehrte er ins Büro zurück und begann, die Lippen zusammengepresst, Schreibtisch und Boden zu reinigen.

Als er damit fertig war, brachte er Eimer und Putzmittel zurück in die Küche und lief erneut unruhig im Wohnzimmer auf und ab.

Es dauerte nicht lange, da hatte er wieder diese furchtbaren Bilder vor Augen. Er blieb stehen, rieb sich mit den Händen über das Gesicht, fuhr sich durch die Haare. Wie sollte er die Stunden bis zum Morgen überstehen, ohne den Verstand zu verlieren?

Sein Blick fiel auf das Küchenfenster, gegen das sich die Dunkelheit drückte. Eine gleichbleibende Konstante, die ihn beruhigte, während alles, was sein Leben ausmachte, gerade brutal aus der Bahn geworfen worden war.

Frische Luft … Ein Spaziergang durch die nächtlichen Straßen, das würde ihm guttun. Er nahm das Smartphone vom Tisch und wollte zur Garderobe gehen, als sein Blick auf die Treppe fiel. Leonie! Lag sie sicher in ihrem Bett?

Natürlich, sagte eine Stimme in ihm. Wo soll sie sonst sein?

Markus stieg die Treppe hinauf, öffnete vorsichtig die Zimmertür seiner Tochter und vergewisserte sich, dass sie im Bett lag und schlief, bevor er leise wieder nach unten ging.

An der Garderobe zog er seine Schuhe und die gefütterte Jacke an, steckte den Schlüssel ein und verließ das Haus.

Eisige Kälte schlug ihm ins Gesicht, als er sich nach links wandte und loslief. In diesen ersten Dezembertagen war die Temperatur extrem gefallen, gerade so, als versuchte die Natur, sich für den viel zu warmen November zu entschuldigen.

Markus zog den Reißverschluss noch ein Stück höher und fragte sich, wie er in seiner Situation über die Temperatur nachdenken konnte. Der menschliche Verstand war ein seltsames Ding.

Die Lichtinseln der Straßenlaternen wirkten wie die Spots einer übergroßen Theaterbühne, auf der gerade ein Einpersonenstück mit Markus als Protagonist gezeigt wurde. Ein grausames Stück, dachte er bitter und richtete den Blick vor sich auf den gepflasterten Weg.

Er dachte an Leonie, die in nicht einmal vier Stunden aufstehen und frühstücken würde. Hatte der Entführer sich bis dahin gemeldet? So oder so – Markus musste es schaffen, sich nichts anmerken zu lassen.

Aber was würde er seiner Tochter sagen, wenn sie nach ihrer Mutter fragte? Er würde sie anlügen, zum ersten Mal in ihrem Leben.

Ihre Mutter. Seine Frau. Er sah Bettina wieder vor sich, wie sie auf dem Stuhl saß. Nackt, gedemütigt. Den Blicken von Tausenden Perverslingen ausgesetzt, die ihr zwischen die weit gespreizten Beine starrten. Geteilt!

War es das, was der Dreckskerl gemeint hatte? Dass er sie mit diesen abartigen Gaffern teilte, die zu Hause vor ihren Computern saßen und sich beim Anblick der über alle Grenzen erniedrigten Frau einen runterholten? Oder bezog sich das Teilen auf die vier Männer, die er im Bild gesehen hatte?

Allein der Gedanke ließ in Markus erneut Mordlust aufsteigen.

Carsharing, Wohnungssharing … wie hatte der Kerl am Telefon gesagt? Das ist dein Geschäft, damit verdienst du dein Geld, und zwar nicht wenig, richtig?

Was hatte es damit auf sich? War Bettina wegen ihrer gemeinsamen Firma entführt worden? Aber wenn der Kidnapper Geld erpressen wollte, hätte er es ihm doch sicher schon gesagt. Stattdessen hatte er nebulöse Andeutungen gemacht.

Fast zwanzigtausend Zuschauer, die beobachten, wie ich jetzt deine Frau teile. Das ist doch in deinem Sinn, oder etwa nicht?

Am Ende waren es weit über zwanzigtausend gewesen. Falls das das Ende gewesen war. Und wenn es stimmte, was der Typ sagte, hatten alle dafür bezahlt.

Wie viel war es wert, seiner Frau zwischen die Beine zu glotzen und live dabei zuzusehen, was diese vier Typen mit ihr anstellten? Fünf Euro? Zehn?

Markus’ Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Er musste sich ablenken. Fünf Euro mal zwanzigtausend. Das waren hunderttausend Euro. Bei zehn Euro schon zweihunderttausend. Steuerfrei. Ein lohnendes Geschäft. Aber wenn es nur das war, worum es dem Entführer ging, wozu dann das Telefonat mit ihm? Nein, es musste noch etwas anderes dahinterstecken.

Wie ich deine Frau teile … Wie es aussah, wollte dieses Monster sich an ihnen auf grausame Art rächen. Aber wofür? Was konnten sie jemandem angetan haben, dass derjenige Bettina vor laufender Kamera von mehreren Männern …

Fast hätte er seinen wild aufbrandenden Hass gegen diese Männer hinausgeschrien.

Er schüttelte den Kopf und versuchte, die Bilder zu vertreiben, mit denen seine Vorstellungskraft ihm in allen Details zeigen wollte, was diese Schweine Bettina angetan hatten.

Markus musste stehen bleiben und sich am Pfosten eines Zauns festhalten. Der Weinkrampf kam plötzlich und raubte ihm die Luft zum Atmen.

Zwei, drei Minuten stand er so da, den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen, dann richtete er sich wieder auf und sah sich um. Niemand hatte ihn bemerkt, niemand war durch sein lautes Schluchzen aufgewacht.

Er wandte sich ab und lief zurück nach Hause. Er wusste, dass es ihm nicht gelingen würde, die Gedanken oder die Bilder durch einen Spaziergang zu vertreiben.

5

»Papa?« Markus hörte die Stimme wie durch Watte, doch es dauerte nur eine Sekunde, bis die Erinnerung mit voller Wucht sein Bewusstsein flutete. Er öffnete die Augen und blickte in Leonies fragendes Gesicht.

»Geht’s dir gut?«, wollte sie wissen. »Du siehst echt kacke aus.«

»Nein, ich …« Markus richtete sich ächzend auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen, bevor er seine Tochter wieder ansah. »Vielleicht braut sich in mir was zusammen, ich hab Kopfschmerzen und kaum geschlafen. Aber das wird schon wieder.«

»Warum hast du auf der Couch gepennt?«

»Aus Versehen. Ich bin eingeschlafen.«

»Liegt Mama noch im Bett?«

»Nein, sie …« Da war sie, die Frage, die er befürchtet hatte. Er würde sein Kind anlügen müssen.

»Sie hat bei einer Freundin übernachtet, die Probleme hat. Sie hat mich heute Nacht angerufen.«

Leonie zog die Stirn kraus. »Welche Freundin denn? Sarah? Und welche Probleme?«

»Nein, es ist wohl eine alte Schulfreundin, die Stress mit ihrem Mann hat.«

»Eine Schulfreundin? Krass. Welche denn?«

»Ich weiß es doch auch nicht!«, entgegnete er barsch, was er im selben Moment bedauerte. Er stand auf und strich seiner irritiert dreinblickenden Tochter über die Haare. »Tut mir leid. Ich bin etwas durch den Wind.«

»Habt ihr Stress, Mama und du?«

»Nein, wie kommst du denn darauf? Mama und ich verstehen uns super, das weißt du doch.«

»Hm …«, brummte Leonie nachdenklich, zuckte dann aber mit den Schultern. »Okay. Wann kommt sie wieder?«

»Ich denke, irgendwann heute Vormittag.«

»Gut. Dann kann ich sie ja selbst fragen, welche Freundin das ist. Frühstück?«

Es kostete Markus viel Kraft, sich nichts anmerken zu lassen.

»Nein, ich habe keinen Hunger.«

Leonie legte den Kopf schief. »Echt alles okay mit euch?«

Nein!, wollte er schreien. Nichts ist in Ordnung. Deine Mama ist letzte Nacht vielleicht von einer ganzen Horde Kerle vergewaltigt worden, und zwanzigtausend perverse Arschlöcher haben dabei zugesehen.

»Ja«, sagte er. »Alles okay. Wie gesagt, ich … fühle mich nicht so gut.«

Nach einem letzten kritischen Blick auf ihn wandte Leonie sich ab und ging in die Küche.

Markus sah ihr kurz nach und wollte gerade das Wohnzimmer verlassen, um zu duschen, als sein Telefon klingelte. Er blieb so abrupt stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen, und starrte auf das aufleuchtende Display seines Smartphones, das noch auf dem Tisch lag.

»Willst du nicht drangehen?«, fragte Leonie aus der Küche. »Ist vielleicht Mama.«

Vielleicht ist es das Schwein, dachte Markus und überlegte krampfhaft, wie er reagieren sollte.

»Doch, klar«, sagte er mit rauer Stimme und trat an den Tisch. Was sollte er tun, wenn das der Entführer war? Was würde Leonie mitbekommen, und welche Fragen würde sie stellen? Konnte er überhaupt vor ihr verheimlichen, was mit ihrer Mutter geschehen war?

Markus griff nach dem Handy und sah, dass der Anruf nicht von Bettinas Telefon kam, sondern von ihrer Freundin Sarah. Mit einer Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung hielt er es sich ans Ohr.

»Guten Morgen!« Sarahs Stimme klang beschwingt. »Ich habe gerade versucht, Tina auf dem Handy anzurufen, aber die Mailbox hat sich gleich eingeschaltet. Ist alles okay? Ist sie da?«

»Hallo, Sarah, ähm … ja …«, stammelte er. »Also ja, es ist alles okay, aber Bettina ist … nicht da. Sie hat bei einer Freundin übernachtet und kommt erst später zurück.«

»Bei einer Freundin?«, hakte Sarah erstaunt nach. »Das war also der Grund, weshalb sie gestern Abend nicht nach Hause gekommen ist. Bei welcher Freundin denn?«

»Bei einer Schulfreundin von früher, die irgendwelche Probleme hat. Ich kenne sie nicht. Bitte entschuldige, ich muss jetzt auflegen. Leonie wartet auf ihr Frühstück.«

»Sag Tina, sie soll mich mal anrufen!«

»Okay. Also …«

»Markus?« Sarahs Stimme klang unsicher.

»Was?«

»Ist wirklich alles okay bei euch?«

»Ja, alles bestens. Bis dann.«

Als er das Telefon sinken ließ, bemerkte er Leonies Blick und sah zu ihr hinüber. Sie zog die Stirn kraus und zuckte verständnislos mit den Schultern. »Wie jetzt, du musst mir Frühstück machen?«

»Ach, ich habe gerade keinen Nerv, tausend Fragen zu beantworten«, erklärte er und verließ das Wohnzimmer.

Im Badezimmer stellte er sich ans Waschbecken und betrachtete sein Spiegelbild. Das Gesicht war fahl und wirkte eingefallen, die Augen waren stark gerötet, die normalerweise modisch frisierten dunklen Haare lagen stumpf auf dem Kopf, der kurz gestutzte Kinnbart wirkte auf der blassen Haut wie aufgeklebt. Alles in allem sah er nicht aus wie zweiundvierzig, sondern wie sechzig. Aber was spielte das für eine Rolle angesichts dessen, was geschehen war?

Er wandte sich ab und hatte gerade den Toilettendeckel hochgeklappt, als sein Telefon erneut klingelte. Dieses Mal kam der Anruf von Bettinas Handy.

Mit heftig klopfendem Herzen nahm Markus das Gespräch an.

»Ja?« Es war nicht mehr als ein Flüstern.

»Du kannst sie wiederhaben.« An der Kälte und Emotionslosigkeit der Stimme hatte sich seit der Nacht nichts geändert. »Ich bin fertig mit ihr. Und ich war in deinem Sinn wirklich sehr erfolgreich. Möchtest du wissen, wie effektiv ich deine Frau heute Nacht geteilt habe?«

»Nein, bitte … wo ist sie?« Markus konnte den Gedanken an das, was Bettina vielleicht alles hatte über sich ergehen lassen müssen, nicht ertragen. Er versuchte, ihn zu verdrängen, doch es gelang ihm nicht.

»Ach, komm … du legst doch Wert darauf, dass möglichst viele Leute deine Sachen teilen. Es wird dich freuen.«

»Du verd…«, presste Markus zwischen den Zähnen hervor. Der aufbrandende Hass jagte einen Hitzeschauer durch seinen Körper und drohte, ihm die Kehle zuzuschnüren. Im letzten Moment besann er sich. Er durfte dem Kerl keinen Grund liefern, es sich anders zu überlegen. »Wo ist sie?«

»Du findest sie in eurem Haus mit den Mietwohnungen. Erste Etage, Wohnung zwei, die anderen sind ja vermietet. Aber du solltest dich beeilen. Deine Frau ist ziemlich … abgenutzt. Du kennst das ja von den Autos eures Carsharings. Die Benutzer sind rücksichtslos, sie verursachen Gebrauchsspuren, und wenn es gleich so viele sind, entstehen schon mal ernsthafte Schäden, die repariert werden müssen. Also … hopp hopp!«

Damit legte er auf.

Die Mischung aus Angst und Hass nahm Markus die Luft zum Atmen. Er stöhnte laut auf und ließ die Hand mit dem Telefon sinken.

Zurück im Wohnzimmer, rief er Leonie zu: »Ich muss weg!«

»Aber … wo gehst du hin?«, entgegnete sie irritiert. »Wer war das am Telefon?«

Sie hatte das Klingeln also gehört. Markus legte das Handy auf der Kommode ab, schnappte sich seinen Schlüsselbund und den Autoschlüssel aus der Holzschale, suchte in dem darüber hängenden Schlüsselkasten den Zweitschlüssel für Wohnung Nummer zwei und steckte ihn in die Hosentasche.

»Das … war Mama«, log er und fluchte innerlich, weil es so lange dauerte, bis er den richtigen Schlüssel gefunden hatte. Schließlich hielt er ihn in der Hand. »Ich fahre jetzt zu ihr.«