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Das Finale der YA Dystopie um Ava und Zero
Nach dem gescheiterten Versuch von Ava, Zero und dem BEG, an die geheimen Daten zu den Laboren zu kommen, kann Ava die Präsidentin davon überzeugen, dass sie von der Rebellengruppe zu der Tat gezwungen wurde.
Währenddessen macht sich Ava im Geheimen auf die Suche nach Beweisen. Doch ihr geht es immer schlechter und jeder Besuch in der Virtuellen Welt verschlimmert ihren Zustand.
Und sie ist ganz auf sich allein gestellt, denn Zero ist in Untersuchungshaft und Flynn und Cleo werden von der Regierung als Cyberterroristen gesucht und sind auf der Flucht.
Ava muss auf sich und ihre Fähigkeiten vertrauen, um ihre Freunde zu retten und die Geheimnisse aufzudecken, bevor es zu spät ist ...
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Seitenzahl: 491
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Über dieses Buch
Titel
Widmung
Prolog
Kapitel 1 – Ava
Kapitel 2 – Ava
Kapitel 3 – Zero
Kapitel 4 – Zero
Kapitel 5 – Ava
Kapitel 6 – Ava
Kapitel 7 – Zero
Kapitel 8 – Zero
Kapitel 9 – Ava
Kapitel 10 – Ava
Kapitel 11 – Zero
Kapitel 12 – Zero
Kapitel 13 – Ava
Kapitel 14 – Ava
Kapitel 15 – Ava
Kapitel 16 – Zero
Kapitel 17 – Ava
Kapitel 18 – Zero
Kapitel 19 – Ava
Kapitel 20 – Ava
Kapitel 21 – Zero
Kapitel 22 – Ava
Kapitel 23 – Zero
Kapitel 24 – Ava
Kapitel 25 – Zero
Kapitel 26 – Ava
Kapitel 27 – Zero
Epilog
Danksagung
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
Das Finale der YA Dystopie um Ava und Zero
Nach dem gescheiterten Versuch von Ava, Zero und dem BEG, an die geheimen Daten zu den Laboren zu kommen, kann Ava die Präsidentin davon überzeugen, dass sie von der Rebellengruppe zu der Tat gezwungen wurde.
Währenddessen macht sich Ava im Geheimen auf die Suche nach Beweisen. Doch ihr geht es immer schlechter und jeder Besuch in der Virtuellen Welt verschlimmert ihren Zustand.
Und sie ist ganz auf sich allein gestellt, denn Zero ist in Untersuchungshaft und Flynn und Cleo werden von der Regierung als Cyberterroristen gesucht und sind auf der Flucht.
Ava muss auf sich und ihre Fähigkeiten vertrauen, um ihre Freunde zu retten und die Geheimnisse aufzudecken, bevor es zu spät ist ...
Lisa-Katharina Hensel
Eine fesselnde YA Dystopie über Geheimnisse, Verrat und eine Liebe, die alles überwindet
Für alle, die dafür kämpfen, die Welt ein bisschen besser zu machen.
Er lag im dunklen Schlafzimmer auf dem Rücken, starrte blicklos an die Decke.
»Kirian?«
Helles Licht fiel in den Raum, als Ariadne die Tür öffnete, doch er konnte sich nicht rühren. Sein Gehirn schien nicht mehr mit seinem Körper verbunden zu sein, und egal, welche Befehle es ihm auch gab, sie kamen nicht an.
»Kirian, ist alles in Ordnung mit dir?« Ihre Stimme kam näher, klang besorgt.
Er wollte antworten, doch die in seinem Kopf geformten Worte gelangten nicht aus seinem Mund.
Ariadnes Gesicht tauchte über ihm auf. Ein Pflaster bedeckte noch immer das verletzte Auge, das bei der Auseinandersetzung in X' Anwesen in Mitleidenschaft gezogen worden war, während der Blick aus dem anderen ihn alarmiert musterte. Ihr langes, dunkles Haar, das sie auf der Arbeit stets zu einem strengen Dutt zurückgebunden trug, fiel ihr in Wellen über die Schultern. Sanft legte sie eine Hand an seine Wange und die vertraute Berührung brachte endlich wieder Leben in ihn.
Keuchend fuhr er hoch, pochende Hitze breitete sich in seinem vormals zu Eis erstarrten Körper aus. Während Ariadne seine Hand hielt, versuchte er, zu Atem zu kommen.
»Es ist schon wieder passiert, nicht wahr? Vielleicht solltest du dich doch noch mal untersuchen ...«
»Die Ärzte haben nichts gefunden!«, unterbrach Kirian sie schärfer als beabsichtigt. »Entschuldige ...« Seufzend fuhr er sich durch das kurze, schwarze Haar, versuchte es mit einem schwachen Lächeln. »Vielleicht sind das wirklich noch die Nachwirkungen des ... Angriffs, und sie verschwinden mit der Zeit von allein.«
Kirian las in Ariadnes Gesicht, dass sie das ebenso wenig glaubte wie er. Denn die merkwürdigen Anfälle wurden schlimmer, nicht besser, häuften sich zunehmend. Seitdem die Zwillinge vor über drei Wochen in seinen Kopf eingedrungen waren und er an der Schwelle des Todes gestanden hatte, hatte er diese Aussetzer, während derer er keinerlei Kontrolle mehr über seinen Körper hatte, sich fühlte, als würde er nicht mehr zu ihm gehören. Manchmal vergaß er dabei Dinge, die er gerade erst getan hatte, wusste nicht, wie er von einem Ort zum anderen gekommen war ...
Bei der Erinnerung an das Gefühl, als Ice ihn beinahe umgebracht hatte, schauderte er. Er hatte schon vieles erlebt, seit seiner Zeit bei der Grenzpolizei mehr ertragen, als er sich je hatte vorstellen können; doch das war etwas völlig anderes. Als würde er Stück für Stück gelöscht werden. Von innen heraus verbrennen, durch ein Feuer, das sich von einem glühenden Punkt in seinem Gehirn in jede einzelne Nervenzelle seines Körpers ausbreitete und dabei um ein Vielfaches verstärkte, bis da nur noch Schmerz war.
»Vielleicht solltest du heute nicht zum Dienst antreten.«
Das war kein Vorschlag, sondern eine Bitte, doch Kirian schüttelte den Kopf.
»Dafür ist gerade zu viel los.« Eine Tatsache zwar – insbesondere nach seiner Beförderung –, die ihm aber vor allem als willkommene Ablenkung diente, um die Sorgen über seinen Zustand vorübergehend in den Hintergrund zu drängen. Bis auf seine Freundin wusste niemand davon und so sollte es auch bleiben. Immerhin hatten die Ärzte ihm Gesundheit attestiert, die Implantate als intakt und fehlerlos arbeitend; insbesondere der Biochipprototyp, der neben seinem Gehirn auch kontinuierlich mit dem Netz verbunden war, unablässig Daten sammelte und lieferte.
Außerdem gab es nun noch ein weiteres Thema in seinem Leben, das seine Aufmerksamkeit forderte – und dieses Mal würde er nicht zulassen, dass sich sein kleiner Bruder wieder davonstahl ... Er würde für ihn da sein, so, wie er es versprochen hatte. Schwäche durfte und konnte er sich jetzt nicht leisten.
Ariadne, die ihrem Gesichtsausdruck nach bereits mit einer solchen Antwort gerechnet hatte, nickte und küsste ihn flüchtig auf den Mund, bevor sie das Zimmer verließ.
Erschöpft schloss Kirian die Augen, wollte sich noch einige Sekunden sammeln, als sein Bewusstsein erneut davondriftete und er in Schwärze versank.
Neo Berlin 2114
Nervös kippelte Ava auf ihrem Stuhl hin und her. Der weitläufige Saal, in dem sie sich befand, erdrückte sie mit seiner Leere. Ein langer, ovaler Tisch. Stühle. In die Wand eingelassene Holobildschirme. Die ihr bereits bekannte Aussicht aus dem Regierungsgebäude Neo Berlins; diesmal jedoch von einem anderen Raum aus, und auf eine durch unzählige künstliche Lichter erhellte Nacht. An der Tür abermals zwei Sicherheitskräfte, allerdings nicht dieselben wie bei ihrem ersten Besuch.
Ava fühlte sich unwohl. Unsicher. Verletzlich. Was zum Teil an ihrem körperlichen Zustand lag, denn trotz der ersten Maßnahmen durch die Ärztin in Neo Cologne fühlte sie sich noch immer erschöpft und zittrig, konnte sich kaum konzentrieren. Kein Wunder, inzwischen war es fast fünf Uhr morgens. Nicht einmal fünf Stunden waren also seit dem katastrophalen Desaster in Neo Cologne vergangen, bei dem das Bündnis der echten Gemeinschaft, Zero und sie bei dem Versuch, geheime Dokumente aus dem Regierungsarchiv in der IT-Zentrale zu stehlen, aufgeflogen waren. Keine 24 Stunden waren vergangen, seit das BEG sie, Ava, entführt und von einer Zusammenarbeit überzeugt hatte. Vereint in dem Verdacht, dass es weitere geheime Labore gab, in denen die Forschungen zur Verknüpfung von Geist und Virtueller Welt wieder aufgenommen worden waren. Labore, über die die Regierung Bescheid wusste – wie Ava durch einen flüchtigen Blick auf die gesuchten Daten klar wurde. Was wiederum bedeutet, dass die Präsidentin der Dome Federation Germany Ava angelogen hatte, als sie behauptete, auch sie wären an einer Aufklärung interessiert ...
Abermals schnürte sich Ava bei diesem Gedanken die Kehle zu, während ihr Herz angstvoll pochte. Denn diese Tatsache bedeutete, dass nicht nur sie selbst noch immer in Gefahr schwebte – sondern auch die geretteten Kinder aus dem Labor, die sich nun in der Obhut der Regierung befanden! Der Regierung, die sie vor gut einem Tag nach Neo Cologne ausgesandt hatte, um dort einen Cyberangriff auf die IT-Zentrale und deren Kuppel-Sicherheitssysteme zu untersuchen – der sich nachträglich als Teil des Plans des BEG herausgestellt hatte, um mit Ava außerhalb der permanenten Überwachung zu sprechen. Ebenjener Regierung, der Ava nun mit Antworten gegenübertreten musste, die sie nicht hatte; und der Ava all die Dinge über sie, derer sie sich nun Gewiss war, um jeden Preis verheimlichen musste! Ihrer aller Sicherheit stand auf dem Spiel! Und womöglich nicht nur durch die Regierung ...
Fröstelnd dachte Ava an die anonyme Nachricht zurück, die sie auf der Fahrt hierher über ihr Smart-Band erhalten hatte. Eine Nachricht, bei der sie sich nicht sicher war, ob sie überhaupt jemals existiert hatte, ließen sich doch keinerlei Spuren mehr von ihr finden. Und eine Nachricht, deren Worte sie bereits gekannt hatte, so sehr hatten sie sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Ebenso wie ihr Urheber.
Es wird niemals zu Ende sein. Sie alle werden ihre gerechte Strafe bekommen. So wie du.
Konnte es tatsächlich sein, dass sich ihre Befürchtungen bewahrheitet hatten, und zumindest Snow irgendwo da draußen noch existierte? In den Tiefen der Virtuellen Welt? Darauf wartend, seine Mission zu beenden? Sich zu rächen an all jenen, die ihm und seiner Schwester wehgetan hatten? Ava war sich bei gar nichts mehr sicher, doch ihr banges Herz hatte sich längst entschieden: Snow war damals im Keller nicht gestorben, und er würde niemals aufgeben. Was das in der Konsequenz für Ava, für die Kuppel und all ihre Bewohner bedeutete, darüber konnte sie in ihrem jetzigen Zustand einfach nicht nachdenken. Wollte es nicht. Ihre Gedanken verschlossen sich dafür, schoben dem Entsetzen einen Riegel vor.
Tief durchatmend strich sich Ava mit bebenden Fingern das verklebte, blonde Haar hinters Ohr. Sie hatte kaum Zeit gehabt, notdürftig das Blut aus ihrem Gesicht zu entfernen, hätte nur zu gern geduscht, ihre Kleidung gewechselt – doch all das war ihr verwehrt worden, sie hatte seit ihrer Rückkehr nach Berlin keine Sekunde für sich allein gehabt. Avas Gedanken überschlugen sich in ihrem schmerzhaft pochenden Kopf, während gleichzeitig kalte Angst lähmend durch ihren Körper floss und sie so daran hinderte, einen Plan zu fassen. Ihre nächsten Schritte zu überdenken. Ihre nächsten Worte. Denn nach ihrer erzwungenen Rückkehr nach Neo Berlin in Begleitung des Militärs war sie auf direktem Wege ins Regierungsgebäude gebracht worden, während Zero von der Polizei abgeführt worden war. Ins Gefängnis ...
Bei diesem Gedanken griff abermals Panik nach Avas Herz, nahm ihr die Luft. Ja, sie war wütend auf Zero gewesen, hatte sich bevormundet gefühlt, missverstanden – und zurückgewiesen. Doch hatte sie womöglich überreagiert? Denn letztendlich war Zero ihr zu Hilfe geeilt, weil er sich Sorgen um sie gemacht, deshalb nach ihr gesucht hatte. Und auch wenn ihn niemand dazu gezwungen hatte, an der Mission des BEG teilzunehmen, war er dennoch an ihrer Seite geblieben. In diesem neuerlichen Schlamassel steckte er doch nur wieder wegen ihr! Und jetzt sollte er dafür auch noch eingesperrt werden? Aber nicht nur das Gefühl der Verantwortlichkeit machte Ava zu schaffen, denn neben all den Sorgen war ihr klar, dass sie Zero vermisste. In diesem Moment der absoluten Einsamkeit, völlig auf sich allein gestellt, umso deutlicher. So unschön ihre letzten Gespräche auch verlaufen waren, fehlte er ihr nun, da er nicht mehr an ihrer Seite war. Und womöglich nie mehr sein würde ...
Avas Magen verkrampfte sich. Doch ein kleiner, dunkler Teil ihres Unterbewusstseins flüsterte ihr zu, dass diese Angst nicht allein von den Schuldgefühlen gegenüber Zero und der Sehnsucht nach ihm herrührte, sondern auch der Sorge um das BEG und ihre Freundin Cleo. Denn Zero hatte deutlich durchklingen lassen, dass er nicht den Kopf für die Widerstandsgruppe hinhalten würde, sollte er sich entscheiden müssen ... Ein Umstand, der Ava zwar wütend machte, gleichzeitig aber auch bereuen ließ, sich nicht noch mal mit Zero ausgesprochen zu haben, als sie noch die Chance dazu gehabt hatte. Er hatte es versucht – aber sie hatte abgeblockt ...
Ava seufzte leise. Wieso nur hatte sie so kindisch reagiert? Nun fühlte sie sich schrecklich allein und verletzlich, wünschte sich in diesem Moment niemanden mehr als Zero an ihre Seite. Auch, wenn er womöglich nicht so viel für sie empfand, wie sie für ihn, waren sie doch Freunde, hatten gemeinsam bereits so viel durchgestanden. Seine zynische Art, seine direkten Worte und seine Stärke würden in dieser Situation garantiert auch ihr Kraft geben.
Doch Ava war allein. Niemand hier redete mit ihr, weshalb sie nicht einmal wusste, ob sie als Mittäterin oder als Opfer angesehen wurde – und die Warterei machte sie zunehmend wahnsinnig!
Gerade als sich Ava abermals auf halbem Weg zum Fenster befand, öffnete sich die Tür und die Präsidentin betrat den Raum, gefolgt von fünf weiteren Personen, einschließlich ihres Assistenten Sam. Erschrocken erstarrte Ava mitten in der Bewegung. Medina Lichtenfels' Miene wirkte vordergründig freundlich, während der Rest der Anwesenden äußerst angespannt schien. Alle, bis auf den dunkelhaarigen, stets korrekt gekleideten und frisierten Sam. Der Blick aus den fast schwarzen Augen, mit dem er Ava nun bedachte, war beherrscht und unergründlich wie immer; dennoch hatte sie das Gefühl, dass er sich bestätigt sah, was sein Misstrauen und seine Abneigung ihr gegenüber anging.
Sich von Angesicht zu Angesicht mit der Präsidentin zu befinden, nach allem, was sie nun wusste, ließ Avas Panik erneut aufflammen. Aber da war noch mehr ... Wut. Über ihre Lügen. Ihre Skrupellosigkeit. Ihre Taten.
Medina deutete auf einen Stuhl, setzte sich gegenüber. Reihum taten es ihr die anderen gleich, und Ava folgte ihrem Beispiel mit zitternden Händen. Es fiel ihr enorm schwer, sich all ihre Gefühle, die Abneigung und das Entsetzen nicht anmerken zu lassen. Lediglich Sam schien es vorzuziehen, zu stehen. Er positionierte sich schräg hinter Ava und somit außerhalb ihres Blickfeldes, was ihre Verunsicherung nur noch weiter steigerte. All diese Menschen liefen mitten in der Nacht im Regierungsgebäude auf – wegen ihr. Beziehungsweise wegen des Einbruchs und der Hintergründe hierzu, da machte sich Ava nichts vor.
In aller Ruhe nahm sich die Präsidentin ein Getränk vom Tisch, goss sich etwas in ein Glas und nahm einen Schluck. Niemand sagte ein Wort – bis Ava die Situation einfach nicht mehr ertrug.
»Kann ich bitte mit meinen Eltern sprechen?«, platzte es aus ihr heraus.
Überrascht sah Medina sie an, stellte ihr Glas ab. »Natürlich. Sie sind bereits auf dem Weg hierher und sehr erleichtert, dass du wohlauf bist. Wie wir alle.«
»Dann ... bin ich nicht verhaftet?«
Die Präsidentin blinzelte. »Aber nein, wieso solltest du? Du wurdest entführt. Richtig?« Nun wurde ihr Blick eine Spur schärfer, weshalb sich Ava beeilte zu nicken. Sie musste so arglos und unwissend erscheinen, wie sie konnte! Egal, wie schwer ihr das auch fiel ... Sonst hätte sie gar keine Chance mehr, noch irgendjemanden zu retten – am wenigsten sich selbst.
»Was ist mit Zero? Er wurde festgenommen!«
»Wintermoor? Eine reine Sicherheitsmaßnahme, bis wir uns einen Überblick über die Zusammenhänge dieses Vorfalls und ihre Beteiligten verschaffen konnten.« Sie nickte in die Runde. »Du fragst dich sicher, wer diese Menschen sind.«
Der abrupte Themenwechsel entging Ava nicht. Fürs Erste würde sie mitspielen, bis sie wusste, worauf das Ganze hinauslaufen sollte. Aber so leicht würde sie sich nicht geschlagen geben! Wie hatte sie diesen Menschen – allen voran der Präsidentin – nur ansatzweise glauben können, dass sie von nichts wussten, die Vorfälle aufklären wollten?
»Das ist der Chef der Inneren Sicherheit«, fuhr Medina fort, wartete Avas Antwort erst gar nicht ab. Ihr war die nachtschlafende Uhrzeit in keiner Weise anzumerken. Ein durchtrainierter, grauhaariger Mann um die fünfzig nickte Ava zu. Die dunkelhaarige Frau, die ihr als Ministerin für Außenbeziehungen vorgestellt wurde, sowie den hochgewachsenen Minister für die Belange der DFG innerhalb der Dome Federation kannte Ava zumindest von Videoübertragungen. Und auch der mit seiner voluminösen Körpermasse eher behäbig wirkende Minister für Cybersicherheit war ihr bekannt. »Sie alle sind hier, weil sowohl der Angriff auf das Netzwerk der Kölner Kuppel als auch deine Entführung und all die darauffolgenden Ereignisse höchst beunruhigend sind.«
Da Ava nicht wusste, was sie darauf erwidern konnte – oder ob sie überhaupt etwas sagen sollte –, nickte sie lediglich, was die Präsidentin offensichtlich als Aufforderung verstand, weiterzusprechen.
»Zwei der Eindringlinge in die IT-Zentrale wurden bisher geschnappt, zudem befand sich eine Mitarbeiterin bei ihnen, deren Rolle in der ganzen Sache noch eruiert wird.«
Zwei! Es wurden nur zwei geschnappt! Das mussten Yuki und Eric sein. Das hieß, die anderen waren tatsächlich entkommen! Cleo! Flynn und Leyla ... Nur mit Mühe schaffte es Ava, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen.
»Im Moment werden sie noch befragt, Aufnahmen der umliegenden Sicherheitskameras und der in dem Gebiet aktiven Drohnen ausgewertet. Doch die aktuellen Ermittlungen lassen auf eine terroristische Vereinigung schließen, die sich selbst als BEG bezeichnet und grenzüberschreitend innerhalb der gesamten Dome Federation unter verschiedenen Namen agiert.«
Dieses Mal schaffte es Ava nicht, ihre Gefühle zu verbergen: Schlagartig wich alles Blut aus ihrem Gesicht. Die Regierung wusste nicht nur, wer hinter dem Einbruch steckte, sondern kannte offensichtlich auch deren Strukturen! Doch wie sollte es auch anders sein, so überwacht und kontrolliert das ganze System war – wie auch Ava am eigenen Leib hatte erfahren müssen. War sie wirklich so naiv gewesen, zu glauben, irgendetwas hier könnte ohne das Wissen der Obrigkeit ablaufen?
Sie bemerkte, dass Medina sie scharf musterte, jede ihrer Regungen verfolgte, ebenso der Chef der Inneren Sicherheit. Tief durchatmend versuchte Ava, ein Pokerface aufzusetzen, dem Drang, etwas zu sagen, zu widerstehen; da sie nicht wusste, worauf die Präsidentin hinauswollte, würde sie damit garantiert alles nur schlimmer machen.
Die Regierungschefin wartete noch einen Moment ab, und als von Ava noch immer nichts kam, fuhr sie fort: »Und hier kommst du ins Spiel, Ava. Du musst uns helfen, zu verstehen, was genau passiert ist. Und warum. Indizien deuten darauf hin, dass du vom BEG entführt wurdest. Wohin? Konntest du Gesichter erkennen? Namen hören? Haben sie über ihre Pläne gesprochen? Alles kann uns helfen, Ava.«
Abermals stieg Wut in Ava auf, heiß und unkontrollierbar. Über die Dreistigkeit der Präsidentin, ihr eine Freundin vorzuspielen, besorgt um das Wohl von Ava, der Bevölkerung – dabei ging es ihr doch allein um ihr eigenes Wohl! Nur mit Mühe schaffte Ava es, ihre Gefühle im Zaum zu halten, verhakte ihre bebenden Hände auf dem Schoß ineinander.
»Ich ...«, begann Ava zögerlich, woraufhin sich der Chef der Inneren noch weiter über den Tisch beugte, jedes Wort aufsaugen zu wollen schien. Die Sache war verdammt ernst, und sie durfte jetzt nichts Falsches sagen; denn unter Garantie würde sie niemanden verraten! Ganz egal, was mit ihr geschehen würde! Sie atmete tief durch. »Ich weiß leider kaum etwas«, stellte sie so ruhig sie konnte klar. »Während meiner Pause wurde ich nahe der IT-Zentrale betäubt, und als ich aufgewacht bin, waren meine Augen verbunden. Durchgehend. Ich habe mehrere Stimmen gehört, aber es wurden nie Namen genannt.«
»Von wie vielen Personen hast du die Stimmen gehört?« Die Stimme des Sicherheitschefs war tief, beinahe ein Knurren.
»Das ... das weiß ich nicht genau. Könnten drei gewesen sein, oder auch mehr.« Unter der Tischplatte verkrampften sich Avas Hände weiter, während sie ihren Herzschlag nun bis in ihren Hals spüren konnte.
»Und was wollten sie von dir?«, fragte Medina in vergleichsweise sanftem Ton. Ava biss sich auf die Lippe. Was war das hier? Guter Cop, böser Cop?
»Sie wollten, dass ich ihnen Informationen besorge. Aus der Datenwelt ...«
»Was für Informationen?«
»Das weiß ich nicht. Irgendwelche Standorte ...«, hielt Ava sich so vage wie möglich. »Sie gaben mir nur sehr präzise Angaben, wo auf dem betreffenden Speicher ich die Daten in der Virtuellen Welt finden kann.«
Präsidentin und Sicherheitschef sahen sich alarmiert an, und auch die drei Minister machten nun besorgte Gesichter.
»Insiderinformationen?«, grollte der grauhaarige Mann.
Medina neigte leicht den Kopf. »Wäre möglich ...«
»Wieso hast du diesen Subjekten überhaupt geholfen?«, herrschte der Sicherheitschef Ava an, woraufhin sie zusammenzuckte.
»Ich ... ich hatte Angst ...«
»Haben sie –«, setzte er nach, aber die Präsidentin hob die Hand, brachte ihn so zum Schweigen, bevor sie sich wieder an Ava wandte. Doch diesmal schien sie die Rolle des guten Cops abgelegt zu haben. Nun strahlte sie nicht mehr nur die Autorität aus, die sie als Regierungschefin äußerst effizient einzusetzen wusste, sondern auch eine unausgesprochene Drohung. Eine Drohung, sie unter keinen Umständen anzulügen. Ihr Blick durchbohrte Ava förmlich, während ihr Tonfall zwar leise, aber umso eindringlicher war. »Hast du die gewünschten Informationen heruntergeladen?«
Ava schüttelte den Kopf, war unendlich erleichtert, wenigstens in diesem Punkt die Wahrheit sagen zu können. Denn heruntergeladen hatte sie nichts – gesehen hingegen schon ... »Nein. Bevor ich zu ihnen gelangen konnte, ging bereits der Alarm los.«
Medina fixierte sie noch einen Moment länger, bevor sie sie freigab. Ava hatte das Gefühl, nicht nur innerlich zusammenzusinken.
»Kümmert euch um die Verlegung der Daten. Sofort. Und diesmal verlange ich hundertprozentige Sicherheit!« Die Präsidentin nickte dem Chef der Inneren und dem Minister für Cybersicherheit zu, die einhellig bestätigten, sich synchron erhoben und eilig den Raum verließen.
Ava verstand nicht, was genau Medina mit der Anweisung meinte, aber es war ihr im Moment auch egal. Sie war nur froh, dass ihr bisher offensichtlich geglaubt wurde – und sie sich noch nicht verplappert hatte.
»Da wäre noch eine andere Sache«, fuhr Medina im scheinbaren Plauderton fort, »wie kommt es, dass Liam Wintermoor bei dir war, als du gefunden wurdest?« Ava versteifte sich unter dem Blick der Präsidentin. »Was hat er mit dem BEG zu schaffen?«
»Nichts! Gar nichts!«, platzte Ava hastig heraus, bevor ihr klar wurde, wie ihre Reaktion wirken musste. »Wirklich nicht. Er kam erst später dazu. Er hat nach mir gesucht.«
Die Präsidentin runzelte die Stirn. »Und wie hat er dich gefunden? Schneller als die Sicherheitskräfte und das Militär? Wenn er doch nichts vom BEG wusste?«
»Das ... weiß ich nicht ...« Ava erkannte an Medinas Blick, dass sie ihr nicht glaubte. »Sie müssen ihn wieder freilassen! Bitte! Er wollte mir wirklich nur helfen!«
Natürlich war es Ava das Wichtigste, dass Zero aus dem Gefängnis kam. Dass er nicht noch mehr Konsequenzen tragen musste. Wegen ihr. Doch ein kleiner Teil in ihr machte sich auch weiterhin Sorgen darüber, was er erzählen würde, während er in Gefangenschaft war. Und, welche Namen er nannte ... Je früher er rauskam, desto geringer standen die Chancen, dass er das BEG im Tausch für seine Freiheit verriet. Ava schämte sich entsetzlich für diesen Gedanken, doch sie konnte ihn nicht verhindern. Immerhin hatte Zero selbst eine solche Möglichkeit angedeutet.
Ihr Gegenüber ließ sich viel Zeit, bevor es bedauernd den Kopf schüttelte. »Ich glaube dir, aber bis die Untersuchungen abgeschlossen sind, bleibt er in Gewahrsam.«
»Aber –«
»Missbrauch von Informationstechnologie. Einbruch. Entführung. Freiheitsberaubung. Illegaler Waffenbesitz. Destabilisierung des Systems. Cyberterrorismus! Die Anschuldigungen sind äußerst ernst, Ava«, schnitt Medina ihr das Wort ab, schien das Thema damit beenden zu wollen. Ava fühlte sich in die Ecke gedrängt, war sauer, so abgekanzelt zu werden, wie von fast allen Erwachsenen in den letzten Wochen. Heiße Wut ballte sich in ihrem Magen zusammen. Ein jeder hatte nur seine eigenen Interessen im Blick, benutzte sie, log ihr dabei noch ins Gesicht, und weigerte sich, ihre Fragen zu beantworten oder sie gar für voll zu nehmen!
»Das sind die des BEG auch!«
»Wie bitte?«
Mist!
»Ich meinte ... also ... ich ...« Mit einem Mal glich Avas Kopf einem Vakuum, ihr viel einfach keine plausible Ausrede ein.
»Raus mit der Sprache!« Medinas Tonfall schnitt regelrecht durch die Luft.
Ava atmete tief durch, sah in die ernsten Gesichter der beiden Minister, die sie lediglich stumm betrachteten, bevor sie die Tischplatte fixierte. Mittlerweile hatten ihre Fingernägel tiefe Abdrücke in ihren Beinen hinterlassen.
»Sie ... sagen, dass die Regierung mehr über die Forschungen weiß, als sie zugibt ...«, murmelte Ava, wollte überhaupt nichts sagen, und konnte es dennoch nicht verhindern. Sie hatte Angst! Hoffte inständig, in ihrer Panik dennoch nichts Essenzielles preiszugeben.
Als auf ihre Aussage lediglich Stille folgte, hob sie langsam den Blick. Die Minister wirkten verwirrt, die Präsidentin hingegen völlig ruhig. Aber Ava war sich beinahe sicher, dass es in ihrem Inneren ganz anders aussah.
»Lasst uns bitte allein«, sagte Medina schließlich.
Ihre beiden Begleiter tauschten zwar einen überraschten Blick, leisteten der Anweisung jedoch Folge und gingen.
Medina fixierte einen Punkt hinter Ava. »Du auch.«
Sam. Ihn hatte sie in der ganzen Aufregung völlig vergessen. Ein nervöses Kribbeln machte sich in ihrer Magengegend breit. Es konnte kein gutes Zeichen sein, wenn die Präsidentin selbst ihren persönlichen Assistenten des Raumes verwies. Ohne zu zögern verließ er das Zimmer; ganz der loyale Mitarbeiter, der keine Fragen stellte.
Die Tür fiel unangenehm laut ins Schloss, und Ava rutschte unter der drückenden Atmosphäre, die sich nun über den Raum legte, nervös auf ihrem Stuhl hin und her.
»Du hast mich also angelogen«, stellte die Präsidentin schließlich in einem deutlich enttäuschten Tonfall fest. »Dabei dachte ich wirklich, wir könnten einander vertrauen. Nachdem ich dir so entgegengekommen bin.«
Bei ihren Worten schnürte sich Ava vor Wut und Angst die Kehle zu. Vertrauen! Ava hätte nie geglaubt, dass dieses Wort für sie jemals so negativ behaftet wäre.
»Sie haben mir auch nicht alles gesagt!«, platzte es aus Ava heraus. Ganz sicher stellte der offensive Weg nicht den klügsten dar, aber dafür war es jetzt zu spät. Es war einfach zu viel! Sie hatte das Gefühl, innerlich zu explodieren. »Mich immer nur vertröstet!« Avas Stimme wurde lauter, doch nun konnte sie es nicht mehr kontrollieren. Es war, als wäre eine Schleuse geöffnet worden, und die Flut an Zweifeln kannte kein Halten mehr. »Wieso waren in der IT-Zentrale so viele abgeschottete Informationen? Projekte und Codenamen, sogar auf Papier! Damit ja nie jemand von außerhalb auf sie zugreifen, sie lesen kann? Was sind das für Sachen, die die Regierung so dringend vor der Bevölkerung verstecken will? Haben wir nicht ein Recht darauf, diese Dinge zu erfahren? Mitzuentscheiden? Und jetzt, wo alles aufzufliegen droht, versucht ihr das weiterhin zu verhindern, indem ihr diese Menschen wie Verbrecher jagt? Sie wegsperrt?«
Ava hatte gar nicht bemerkt, dass sie mitten in ihrem Ausbruch aufgesprungen war. Doch nun stand sie schwer atmend vor dem Tisch, die Hände zu Fäusten geballt. Medinas Haltung hingegen hatte sich nicht verändert – doch der Blick, mit dem sie Ava nun bedachte, hätte Eis zum Schmelzen gebracht. Ihre Augen blitzen.
»Setz dich.« Ihre Stimme bebte vor unterdrückter Wut, und löste Avas rechtschaffenen Zorn mit einem Schlag in Luft auf.
Mit zitternden Knien setzte sich Ava zurück auf ihren Stuhl. Mit einem Mal blieb ihr die Luft weg – was nicht an ihrer inbrünstigen Rede lag. Es fiel ihr schwer, in Medinas erzürnte Miene zu sehen, doch den Blick abzuwenden traute sie sich erst recht nicht.
»Du wagst es, so mit mir zu reden?«, zischte die Präsidentin. »Ich habe dir zugehört, dir geholfen. Ich habe versucht, dir dein altes Leben wiederzugeben. Es dir so erträglich zu machen wie möglich. Ich bin auf deine Bitten eingegangen, deine Wünsche! Habe dir nach all dem Chaos, das du verursacht hast, Privilegien zugestanden, von denen meine Mitarbeitenden nur träumen können. Dir vertraut! Und all das trittst du jetzt mit Füßen?«
Ava schluckte. »Ich ...«
»Ich bin noch nicht fertig!«, brauste Medina auf. Ava verstummte. »Was glaubst du, würde passieren, wenn wir sämtliche Informationen – alte und neue – ungefiltert an die Öffentlichkeit weitergeben? Unsicherheit. Angst. Chaos! Wir haben eine Verantwortung als Regierung, sind hier, um die Menschen, die Stadt und unser Land zu schützen. Wir brauchen Sicherheit und Stabilität. Nach dem Krieg umso mehr! Und dazu gehört auch das Zurückhalten mancher Informationen, so unschön das ist. Aber ich mache den Job nicht, weil er schön ist. Ich mache ihn, weil er wichtig ist! Für die Bevölkerung. Für ihr Leben!« Sie sah Ava scharf an. »Und jetzt sag mir noch mal, dass die Menschen, die all das, was wir mühsam aufgebaut haben – für das Gemeinwohl, für unsere Zukunft –, aufs Spiel setzen, keine Verbrecher sind!«
Ava biss sich auf die Lippe. Am ganzen Körper angespannt, wagte sie kaum zu atmen. Eines wurde ihr aber dennoch klar: Ihren Stand hatte sie sich durch ihren Ausbruch bei der Präsidentin längst verspielt; und damit womöglich auch die vordergründige Immunität. Und so, wie Medina sprach, glaubte sie fest an das, was sie tat – mit all den Konsequenzen, die diese Linie nach sich zog. Ava wurde übel. Denn dann wäre die Regierungschefin auch davon überzeugt, dass die Experimente, die reaktivierten Labore etwas Gutes waren. Etwas, was sie in ihrer Position, ihrer Aufgabe um jeden Preis verteidigen würde. Etwas, das niemals enden würde. Nicht, solange die Präsidentin und ihre Regierung an der Macht wären.
Die Präsidentin schien Avas steigende Nervosität zu bemerkten, und dämpfte ihre Lautstärke etwas, was ihren Tonfall jedoch nicht weniger gereizt klingen ließ. »Ich lasse dir das nur durchgehen, weil du einen schlimmen Tag hinter dir hast. Du bist erschöpft und verwirrt, da kann man sich schon mal im Ton vergreifen.« Ein weiterer intensiver Blick, der das Gegenteil ihrer Worte aussagte. Dann: »Ich lasse dich informieren, sobald es Neuigkeiten gibt.«
Damit erhob sie sich und ging zur Tür. Perplex starrte Ava ihr hinterher. War das Gespräch damit etwa beendet? Sie war nicht verhaftet? Konnte gehen? Einfach so?
Bevor Medina den Raum verließ, drehte sie sich noch einmal zu Ava, Gesichtsausdruck und Stimme von einer Sekunde auf die andere wieder völlig neutral; politiker-unverbindlich. »Denk an deine Privilegien, Ava. Daran, dass wir den Fall um Liam Wintermoor gern zu einem positiven Ende bringen würden. Vergiss bitte nicht, wie gut es dir hier geht. Und, wie schnell du alles verlieren könntest ...« Damit öffnete sie die Tür und verschwand, ließ eine völlig überrumpelte Ava zurück.
Das war eindeutig eine Drohung ... Ein Schauder lief Ava über den Rücken. Und nicht nur das: Die Präsidentin benutzte auch noch Zeros Gewahrsam, um sie unter Druck zu setzen! Doch Ava hatte kaum genügend Zeit, sich zu sammeln, als die beiden Sicherheitskräfte auch schon den Raum betraten und sie darüber informierten, dass ihre Eltern am Eingang auf sie warteten.
Während Ava den Wachleuten mit noch immer wackeligen Beinen durch die Flure folgte, war ein Teil von ihr zwar erleichtert, endlich ihre Eltern wiederzusehen, nach Hause zu können; doch ein anderer Teil befand sich mit den Gedanken noch immer bei Medinas Ansage. Ava war klar, dass sie sich ihr Vertrauen völlig verspielt hatte. Sie biss sich auf die Lippe. Die Kinder ... Sie musste sie unbedingt wiedersehen. Sie beschützen! Wie auch immer sie das anstellen sollte ...
Ava war so in Gedanken versunken, dass sie den Mann, der im Gang an einer Wand lehnte und offensichtlich auf sie wartete, erst bemerkte, als sie fast auf derselben Höhe waren und er ihr den Weg vertrat. Überrascht registrierte Ava, dass es sich dabei um Sam handelte. Angespannt blieb sie stehen. Sein Misstrauen und seine Ablehnung waren im Moment das Letzte, was sie brauchte. Doch Sam hielt sich dieses Mal nicht mit verachtenden Blicken auf, sondern beugte sich so nah an ihr Ohr, dass sie seinen warmen Atem spüren konnte.
»Du solltest in Zukunft wirklich besser aufpassen, was du sagst – und vor allem, zu wem.«
Ein einziger Satz nur, dann war er wieder verschwunden. Verblüfft sah Ava ihm nach. War das ebenfalls eine Drohung gewesen? Oder womöglich eine Warnung ...?
Abwesend zerpflückte Ava ihren Toast. Sie hatte keinen Hunger. In Gedanken spielte sie immer wieder die letzten Ereignisse durch: die Entführung, den Einbruch, die Flucht. Das Gespräch mit der Präsidentin – und sein Ende ... Was würde aus den Informationen werden, die nun verlegt werden sollten? Dazu kam die Angst um die Kinder. Um Zero. Und Cleo! Sie musste sich dringend sortieren, mit jemandem reden. Aber mit ihren Eltern konnte sie nicht offen sprechen, Zero war im Gefängnis und Cleo auf der Flucht. Und sie hatte keine Möglichkeit, ihnen zu helfen! Doch sie konnte auch nicht untätig hier herumsitzen.
»Ich bin fertig.«
»Aber du hast kaum etwas gegessen.« Besorgt musterte Avas Mutter sie. »Geht es dir gut? Möchtest du darüber reden?«
Ava versuchte sich an einem Lächeln, doch sie wussten beide, dass es ihr nicht gut ging. Wie auch? »Ich hab einfach keinen Hunger. Ich muss die Dinge erst mal selbst sortieren, und dann erzähl ich euch alles. In Ruhe. Aber ich bin echt müde ...« Was nicht gelogen war. Das kleine Holo in der Wand zeigte bereits 7:10 Uhr an. In den nächsten Minuten würde die Kuppelsonne, die sich am natürlichen Zyklus orientierte, aufgehen. Auch ihrer Mutter war die lange Nacht anzusehen.
Ava stand auf. Als Laura erneut zum Reden ansetzte, um sie zurückzuhalten, unterbrach Avas Vater sie. »Lass sie doch. Sie wird schon wissen, was sie tut.«
Damit vertiefte sich Frederik wieder in einen Artikel auf seinem Holo-Pad. Ein Verhalten, das Ava einen schmerzhaften Stich versetzte. Zuerst hatte sie sich gefreut, als kurz zuvor beide Elternteile am Regierungsgebäude aufgetaucht waren, um sie abzuholen. Doch im Gegensatz zu ihrer Mutter, der man die Erleichterung deutlich am verräterischen Glitzern in ihren Augen angesehen hatte, verhielt sich ihr Vater seltsam reserviert.
Natürlich hatte auch Ava ihren vorangegangenen Streit nicht vergessen, die angespannte Stimmung der letzten Wochen; aber sie hatte gehofft, dass ihre Rettung ihnen dabei helfen würde, sich wieder etwas anzunähern. Ihre unterschiedlichen Ansichten zu überwinden. Als Familie. Doch stattdessen blieb ihr Vater die gesamte Fahrt über wortkarg, was sich auch zu Hause nicht änderte. Er wirkte beinahe ... frustriert, schien ihr ihre Entführung übel zu nehmen. Obwohl sie – von außen betrachtet – doch rein gar nichts dafür konnte. Zwar hielt sich auch Ava zurück, was Details anging, doch das abweisende Verhalten ihres Vaters lud nicht gerade dazu ein, sich ihm anzuvertrauen und ihm ihr Herz auszuschütten. Zudem machte sich noch immer bei jedem Gespräch, das Ava mit ihrem Vater führte, die leise, warnende Stimme in ihrem Hinterkopf bemerkbar, die ihr sagte, dass sie ihm nicht trauen konnte. Ihnen nicht trauen konnte. Ihre Eltern hatten Ava ein Leben lang angelogen, ohne, dass Ava je etwas bemerkt hatte, ihr selbst danach noch ins Gesicht gelogen, als sie der Wahrheit auf die Spur kam – wer wusste also, ob sie es nicht auch weiterhin taten? Wenn schon die Präsidentin Ava so offen manipulierte, war es dann nicht naheliegend, dass es auch Frederik und Laura taten, die für die Regierung arbeiteten?
Laura drängte Ava zwar ebenfalls nicht, die Geschehnisse genauer zu schildern. Doch bei ihr vermutete Ava, dass sie sie nur nicht unter Druck setzen wollte. Typisch ihre Mum. Zumindest hoffte Ava das; wünschte es sich. Ava selbst hätte zwar gern mit Laura gesprochen, doch im Moment wusste sie einfach nicht, wie. Was sie ihr erzählen konnte. Und durfte, ohne etwas zu verraten. Oder jemanden ... Und so zog sie es vor, in ihr Zimmer zu verschwinden und die einzige Möglichkeit zu Informationszwecken zu nutzen, die ihr blieb: ihre Konsole.
Frisch geduscht und im bequemen Jogginganzug zog es Avas völlig erschöpften Körper zwar eindeutig ins Bett, doch sie hätte ohnehin nicht schlafen können; nicht, solange sie nicht wenigstens versucht hatte, mehr herauszufinden und zu helfen: Zero. Cleo. Den Kindern. Und womöglich weiteren Unbekannten. In weiteren Laboren.
Aber kurz bevor ihre Finger das Metall berührten, zögerte sie plötzlich. Zurückgehalten durch den Gedanken an ihn, der sich wie ein eisiger Pfeil in ihren Kopf gebohrt hatte. Was, wenn Snow dort auf sie wartete? Sie war überzeugter denn je, dass der dort war, irgendwo, in den Tiefen der Datenwelt. Zeitgleich war sie unsicher wie nie zuvor, wie sie reagieren würde – reagieren sollte –, wenn sie sich ihm tatsächlich wieder gegenüber befinden würde. Und, welche Chance er ihr überhaupt lassen würde ... Doch welche Wahl hatte Ava schon? Sie musste irgendetwas tun, und dies stellte aktuell ihre einzige Möglichkeit dar. Sie konnte nicht ewig in Zweifeln und Angst hier sitzen! Die anderen brauchten sie!
Entschlossen legte sie ihre Hände an die Konsole und tauchte ein. Löste sich auf, ließ sich von den Datenströmen mittragen, um sich im geschützten Netzwerk ihres Zuhauses wieder zu verbinden; nicht anders als all die sie umgebenden Programme, zusammengesetzt lediglich aus Datenfragmenten und ihrer eigenen Erinnerung.
Sobald sich Ava gänzlich in der Virtuellen Welt stabilisiert hatte, spürte sie, dass sich etwas verändert hatte. Die sonst so strukturierte, nach immer denselben Prinzipien funktionierende Datenwelt befand sich in Aufruhr. Die eigentlich träge wabernden Farben, in denen all die Informationen eingespeichert waren, wirbelten umher. Schillernde Datentunnel bogen sich, zerfielen fast, um sich erneut zu formen. Eine nicht näher greifbare, vibrierende Unruhe umgab sie, störte Avas lediglich erdachten, transparenten Körper, ließ sie unkonzentriert werden. Angst griff nach Avas Herz. Ein ähnliches Gefühl hatte sie gehabt, wenn sie sich gleichzeitig mit den Zwillingen Ice und Snow an diesem Ort befunden hatte: Ihre Anwesenheit hatte den Raum verändert. Nur war es diesmal um ein Vielfaches stärker. Und anders, je länger Ava sich darauf konzentrierte.
Ava konnte es nicht genau zuordnen, war sich jedoch sicher, dass es sich bei den Störungen um mehrere fremde Präsenzen handelte, die sich in ihrer Nähe aufhielten. Zudem bemerkte sie das vertraute Ziehen, das die Wirbler-Sicherheitsprogramme, um Eindringlinge fernzuhalten – auslösten; fern noch und daher unbedenklich, doch aus allen Richtungen kommend, was auf eine große Anzahl hindeutete. Sie wusste mittlerweile: je größer die potenzielle Bedrohung, desto mehr Wirbler wurden automatisch aktiviert.
Aber um welche Gefahr handelte es sich? Wer war noch hier?
»Liam?«, dachte Ava vorsichtig. In dieser Welt gab es keine Sinneseindrücke und somit auch keine Geräusche.
Sie wartete einen Moment ab, doch der kleine Junge tauchte weder auf noch antwortete er. Ava zögerte, während ihre Beklemmung wuchs.
Unschlüssig schwebte sie im Raum, bevor sie sich schließlich doch ein Herz fasste. Dies war auch ihre Welt, und wenn sie sich nicht einmal traute, um die sprichwörtlich nächste Ecke zu sehen, dann konnte sie ihre Besuche hier auch gleich bleiben lassen – und damit ihre Chance, den anderen zu helfen!
Also setzte sie sich endlich in Bewegung, steuerte angespannt auf eine der Präsenzen zu. Sich auf das Unbekannte konzentrierend, schoss sie förmlich durch die bunt schillernden Datentunnel, gelangte im Bruchteil einer Sekunde an ihrem Ziel an. Und erstarrte.
»Elfi?«
Ava erkannte das weißhaarige Mädchen, das sie, gemeinsam mit anderen Kindern, aus dem geheimen, unterirdischen Labor gerettet hatten, sofort. Die Fünfjährige drehte sich zu ihr, ein Lächeln erhellte ihre Züge. Doch etwas stimmte nicht damit; es wirkte nicht so unschuldig und ehrlich wie bei ihrem ersten Treffen, sondern irgendwie ... überschattet. An ihrer Seite befand sich der Junge, der bereits beim letzten Mal mit skeptischer Miene auf Abstand geblieben war. So auch jetzt. Er schien im selben Alter wie Elfi zu sein, hatte weißes, krauses Haar und ebenso blassblaue Augen wie alle Kinder, an denen geforscht worden war. Augen, wie sie auch die Zwillinge gehabt hatten.
»Liam hat gesagt, dass du hier bist! Das ist Ari.« Elfi deutete auf ihren Begleiter. Sie lächelte noch immer, doch nun wirkten ihre Gedanken traurig. »Wir haben gehofft, dass du uns wieder besuchen kommst. Mit uns redest ...«
»Das wollte ich auch«, beeilte sich Ava zu erwidern. »Und das werde ich auch! Ganz bald schon, versprochen.«
Es war seltsam unwirklich, die Kinder nach ihrem Besuch in der Shelter-Einrichtung der Regierung vor wenigen Tagen nun hier, in der Datenwelt, zu sehen. Noch immer verstand Ava nicht, wie das sein konnte. Sie war sich sicher, dass die Kinder eingeschränkt, überwacht und kontrolliert wurden. Und, dass es definitiv nicht das Ziel ihrer Betreuer war, dass sie in der Virtuellen Welt herumstreunten.
»Erwachsene versprechen immer viel und halten nur wenig«, mischte sich nun Ari ein. »Er hat gesagt, deshalb müssen wir selbst stark sein. Dann brauchen wir die Erwachsenen nicht mehr.«
Ava spürte, wie sich ihr Körper in der realen Welt verkrampfte. Das klang so gar nicht nach den Ansichten eines Kindes. Vielmehr, als habe ihm jemand diese Worte vorgesagt. Eingepflanzt. Aber wer? Jemand aus dem Forscherteam? Von den Betreuern?
»Wer hat euch das gesagt?«
Nun hörte Ava wieder Elfis Stimme in ihrem Kopf. »Na, der Mann, der uns immer besucht.«
Schon wieder dieser ominöse Mann. Sie musste herausfinden, wen die Kinder damit meinten. Denn seine Aussagen klangen alles andere als kindgerecht. Insbesondere, wenn diese sich erst an ein stabiles Leben als freie Menschen gewöhnen mussten, wachsen, lernen und ihren eigenen Weg finden sollten.
»Wie sieht dieser Mann denn aus? Hat er einen Namen?«
Das kleine Mädchen kräuselte die Nase. »Dunkle Haare. Und dunkle Augen. Und –«
»Elfi, wir sollen das doch nicht verraten!«, unterbrach Ari Elfis Gedanken.
»Aber Ava hat uns doch gerettet«, widersprach Elfi. »Sie ist auf unserer Seite.«
»Bist du sicher? Warum hat sie uns denn gerettet, wenn sie uns jetzt nicht hilft?«, dachte der Junge exakt Avas Gedanken, die sie Tag für Tag, Nacht für Nacht verfolgten – und nach der Entdeckung in Neo Cologne umso mehr.
Er hat recht, dachte sie niedergeschlagen. Ich hab es versucht, aber nicht genug. Ihre Situation jetzt ist doch kaum besser als zuvor! Und wird sich, wenn es nach der Regierung geht, sicher nicht mehr ändern ...
Seine Worte trafen Ava; womöglich härter, als sie sollten. Denn tief im Innern wusste sie, dass sie nicht die Schuldige an ihrer Situation, ihrem Leid war. Aber sie war erschöpft, es fiel ihr zunehmend schwer, sich zu konzentrieren. Ihr Kopf in der physischen Welt schmerzte mittlerweile so sehr, dass sie die Auswirkungen sogar in der Datenwelt spürte.
Elfi schien Avas Selbstvorwürfe zu bemerken, sie intuitiv richtig einzuordnen. »Mach dir keine Sorgen.« Sie lächelte. »Unsere Welt wird besser sein. Bald.«
Ava stockte. Die Worte kamen ihr unangenehm vertraut vor, riefen eine diffuse Angst in ihr wach. Plötzliche Kälte ließ ihren echten Körper frösteln, während Eis ihren Geist überzog.
Unsere Welt.
So hatten auch die Zwillinge von der Datenwelt gesprochen. Ihrem Ziel. Konnte es sein, dass Snow in irgendeiner Weise in Kontakt mit den Kindern stand? Aber es passte nicht zu Elfis Beschreibung. Zudem klang es eher, als würde diese mysteriöse Person in der realen Welt mit ihnen in Kontakt treten. Snow konnte es also nicht sein. Oder ...?
»Was ... was meint ihr damit?« Avas Gedanken klangen unsicher, brüchig.
Ein Vibrieren des leeren Raums um sie herum unterbrach Avas Gedanken. Die unsteten Wände schienen sich zu verschieben, als etwas auf sie zuraste; etwas Bedrohliches.
Wirbler! Sie befanden sich bereits zu lang an derselben Stelle, in einem offenen Bereich des Netzes; drei Programme, die hier nichts zu suchen hatten.
Zeitgleich sahen Elfi und Ari sich an. Doch sie wirkten nicht nervös oder gar verängstigt. Ganz im Gegenteil: Zu Avas Überraschung grinsten sie.
»Schnell, schnell, wir müssen los ...«
»... und weiter nach den anderen suchen!«
Und damit preschten die beiden Kinder los, einen der wabernden Datentunnel entlang. Perplex sah Ava ihnen nach, bevor sie sich dazu entschied, ihnen zu folgen. Sie brauchte Antworten!
Doch die Kinder waren schnell, und Ava hatte Mühe, mit ihnen mitzuhalten. Wie hatten sie das nur so schnell gelernt? Sie spürte den herannahenden Wirbler; auch er hatte die Verfolgung aufgenommen.
»Wen sucht ihr? Eure Freunde aus dem Labor? Sind sie auch hier?« Es kostete Ava viel Mühe, das Tempo zu halten, die Verbindung zu ihrem Selbst nicht zu verlieren, und sich gleichzeitig auf ihre Fragen zu konzentrieren. Zu einem gewissen Teil lag das sicher daran, dass Ava nach den Strapazen der letzten Stunden bereits sehr geschwächt war. Doch das konnte nicht der alleinige Grund sein: Waren die Kinder durch die neuen Forschungen, die vorhergehenden Erkenntnisse, die vielen Fehlschläge womöglich besser an die Virtuelle Welt angepasst? Oder waren sie über die Zeit im Labor einfach so gezielt trainiert und ausgebildet worden? Sie schienen sich völlig mühelos an diesem Ort zu bewegen, obwohl sie so jung waren ... womöglich aber auch gerade deshalb.
Statt einer Antwort lachte Elfi nur vergnügt, und auch Ari kicherte. Für die beiden Kinder schien die ganze Sache nur ein Spiel zu sein, doch für Ava war es bitterer Ernst; sie hatte am eigenen Leib erfahren, was es hieß, in die Fänge der Sicherheitsprogramme zu geraten.
»Wir suchen die anderen. Wir wissen jetzt, wo sie sind«, kam es nun doch von Ari. »Wir wissen jetzt, wo alle sind!«
Alle ... Alle was? Alle Labore? Alle Kinder? Was meinte er? Wussten die Kinder davon, das es mehr Forschungsinstitute gab? Aber wieso? Und woher?
Zunehmend verschwammen Avas Gedanken, drifteten auseinander und mischten sich neu, gleich den wabernden Wänden der Tunnel. Der Schmerz ihres materiellen Körpers zerrte an ihrem Geist. Lange würde sie das Tempo nicht mehr durchhalten. Ihre Kräfte schwanden immer weiter, während sie sich ihren rasanten Weg über die Datenbahnen suchten, vorbei an herumwirbelnden Dateifragmenten, durch buntem Nebel gleiche Firewalls, die die Kinder besorgniserregend mühelos hinter sich ließen.
Doch Ava vermochte es nicht mehr, das Geschehen und ihre Gedanken in Einklang zu bringen, Schlüsse daraus zu ziehen. Hinter sich spürte sie die Präsenz des Wirblers, viel zu nah schon, während sie die Kinder vor sich zunehmend aus den Augen verlor. In ihrem ohnehin geschwächten Zustand hatte sie dem Sicherheitsprogramm nichts entgegenzusetzen, spürte bereits jetzt das erbarmungslose Zerren an ihrem Bewusstsein, das es am Ende auseinanderreißen würde. Das sie auseinanderreißen würde.
Selbst in ihrem konfusen Zustand war Ava klar, dass sie nicht schnell genug sein würde, um zu fliehen. Es blieb ihr nur eine Option: Sie musste raus aus der Datenwelt, so lange sie noch konnte!
Und so zog Ava die Reißleine, klinkte sich aus, woraufhin ihr Geist zurück in ihren Körper fiel – und all die Sinneseindrücke ungefiltert über sie hereinbrachen. Heftiger als je zuvor. Enge. Erschöpfung. Schmerz. Selbst das Atmen tat weh und wurde durch ihre blutende Nase zusätzlich erschwert.
Mit zitternden Händen griff sich Ava an den Kopf, presste die Handballen gegen ihre geschlossenen Augen. Sie unterdrückte ein Stöhnen, während sie darauf hoffte, dass die Qualen so weit nachlassen würden, um es ihr zu ermöglichen, in ihr Bett zu gelangen. Die letzten Stunden – Tage – waren einfach zu viel gewesen; das Netz der IT-Zentrale, die Suche nach den Infos für das BEG, die Jagd mit den Kindern durch die Virtuelle Welt. Sie fühlte sich völlig ausgelaugt.
Wankend stand Ava auf, tastete sich mit zusammengekniffenen Augen Schritt für Schritt in Richtung Bett. Blut tropfte auf den Boden, und mit einem Mal spülte heftiger Schwindel über sie hinweg. Sie wollte sich noch an einem Regal festhalten, verfehlte es aber. Nun kapitulierte ihr Körper endgültig und ihre Beine gaben nach.
Ava lag auf dem Boden, so plötzlich, dass sie nicht verstand, wie sie hier gelandet war. Doch sie war auch erleichtert darüber, denn nun konnte sie sich endlich ausruhen. Der Boden schien so weich, dass sie das Gefühl hatte, darin einzusinken. Wärme umgab sie, und sie beschloss, dass sie einfach für immer hier liegen bleiben würde, während die Schmerzen in den Hintergrund rückten, als ihr Bewusstsein langsam schwand.
Ihre letzten Gedanken galten Elfis Worten über den Mann mit dem dunklen Haar und den dunklen Augen. Welche der Personen, die von den Kindern wussten, besaß solch uneingeschränkte Befugnisse, dass sie sie besuchen konnte, wann immer sie wollte?
Mit einem Mal tauchte Sams Gesicht vor Ava auf, sein unergründlicher Blick. Medinas Assistent. Doch was wusste sie eigentlich über ihn? Er befand sich immer in der Nähe der Präsidentin, bekam alles mit, konnte sich frei in sämtlichen Regierungsgebäuden bewegen, und wurde dennoch kaum bemerkt. Sie erinnerte sich, dass er bei ihrem Besuch der Shelter-Einrichtung den Raum nicht mit ihnen betreten hatte; womöglich, weil die Kinder ihn kannten? Sollte er der mysteriöse Unbekannte sein? Doch aus welchem Grund sollte er die Kinder aufsuchen? Was wäre sein Ziel?
Etwas zupfte sanft an Avas Unterbewusstsein, doch sie schaffte es nicht, sich darauf zu konzentrieren. Konzentrieren war anstrengend. Denken war anstrengend und schmerzhaft.
Und endlich hatte ihr Körper ein Einsehen und unterband das Chaos in ihrem Kopf, indem er es in der Finsternis verschwinden ließ. Nun kämpfte Ava nicht mehr dagegen an und versank erschöpft in der tröstlichen Dunkelheit.
Zero gab es schließlich auf, zu fragen, wohin sie ihn brachten. Keiner der vier Grenzpolizisten, die ihn begleiteten, antwortete ihm. Sie strahlten eine solch stoische Ruhe aus, dass Zero um eine gewisse Anerkennung nicht umhin kam. Mit auf dem Rücken gefesselten Händen ging er am frühen Morgen bei Dunkelheit und Neonlicht zwischen den Männern einem unbekannten Schicksal entgegen.
Auch, wenn seine eigene Situation beängstigend war, galt seine Sorge vor allem Ava. Es war noch nicht lange her, dass sie mit dem E-Copter in Neo Berlin gelandet waren, nachdem sie nach ihrem missglückten Einbruch in Neo Colognes IT-Zentrale aufgegriffen worden waren. Das Eindringen in den gesicherten, lokalen Server auf der Suche nach Daten für das BEG hatte Ava gesundheitlich schwer zugesetzt. Und auch wenn es ihr auf dem Rückflug etwas besser gegangen war, war sie dennoch viel zu angeschlagen, um sich abermals der Regierung – allen voran Präsidentin Medina Lichtenfels – ausgesetzt zu sehen.
Zeros Magen verkrampfte sich. Er hatte Ava nach ihrem plötzlichen Verschwinden in Köln gesucht, in der Annahme, die Regierung habe sie womöglich entführen lassen. Dass am Ende ebenjene Widerstandsgruppe dahintersteckte, mit der auch Ava hatte Kontakt aufnehmen wollen, war zwar eine Überraschung gewesen; doch nur insoweit, dass deren Erkenntnisse um die Regierung Zeros Befürchtungen nur bestärkten. Die ganze Thematik war noch viel weitreichender, als bisher angenommen.
Doch nun waren Ava und er abermals getrennt ... Und auch wenn bei ihrer Rückkehr in Neo Berlin eine Menge Differenzen zwischen ihnen gestanden hatten, änderte das doch nichts an seinen Gefühlen für sie. Er wollte ihr helfen, sie beschützen. Für sie da sein. Sich endlich mit ihr aussprechen: über die Regierung, die Labore, das IT-Archiv und das, was Ava dort entdeckt hatte, ihm aber nicht mehr hatte sagen können. Aber auch über die Missverständnisse zwischen ihnen. Seine Zweifel; vor allem an sich selbst. All die Dinge also, an denen ihn im Moment Handschellen, Polizei und die nicht zu vernachlässigende Tatsache hinderte, dass er sich eigentlich gar nicht in der Kuppel aufhalten durfte.
Als die Polizisten Zero nun, weiterhin stumm, in die metallene Halbkugel des Turms führten und mit ihm in einen der Aufzüge stiegen – die einzige Verbindung zwischen der Äußeren und Inneren Zone Berlins, wenn man nicht die Option hatte, zu fliegen –, dachte er daher für einen Moment, sie wollten ihn womöglich nur aus der Kuppel entfernen. Würden ihn gehen lassen, sobald sie unten angekommen wären.
Eine reine Wunschvorstellung jedoch, die sich spätestens mit Betreten der direkt an den Turm angrenzenden, durch eine drei Meter hohe Mauer sowie Überwachungskameras und Militär gesicherte Übergangszone, als Trugschluss herausstellte.
Nachdem sie gescannt worden waren, steuerten seine stummen Begleiter auf ein lang gezogenes, in tristem Grau gehaltenes, fensterloses Gebäude zu, das keine 300 Meter vom Tor entfernt aufragte. Hier befanden sich sogar noch mehr Wachposten als am Durchgang zur Übergangszone; und Zero wurde klar, wohin sie ihn brachten.
Er kannte dieses Gebäude von seiner Zeit in diesem abgeschotteten, direkt unter der Kuppel befindlichen Bereich: Kein Tageslicht fand seinen Weg hierher, während die Hoffnungsvollen im Schein des kalten Neonlichts von einem besseren Leben in der Inneren Zone träumten. Ebenjener Zone, deren von dieser Perspektive aus gesehener Boden unendlich weit über den Köpfen der Menschen aufragte. Jeden Tag sichtbar, zum Greifen nah – und doch so fern. Ansporn und Drohung zugleich. Zero war sich sicher, die Übergangszone befand sich nicht nur aus logistischen Zwecken an genau dieser Stelle.
Ohne sich dagegen wehren zu können, brachen die Erinnerungen über ihn herein. Die Erinnerungen, die er lange Zeit mit Wut, selbstzerstörerischem Verhalten und der Droge Ice in Schach zu halten versucht hatte. Doch im Moment konnte er sich an nichts davon klammern, weshalb er hastig versuchte, sich wieder auf etwas anderes zu konzentrieren: Ava, das BEG, die Konsequenzen ihrer Aktion. Doch es war bereits zu spät. In heißen Wellen spülten die Emotionen über ihn hinweg, trugen bei jedem Rückzug ein klein wenig mehr seiner Selbstbeherrschung, seiner Widerstandskraft und seiner Schutzmauer mit sich und legten so die blanken Nerven frei. Die Gesichter seiner Eltern tauchten vor seinem inneren Auge auf. Die Erinnerungen an gemeinsame Essen, das Lachen seiner Mutter, seinen Vater, der mit Kirian um den Abwasch wettete. Fröhliche Stunden, so wenige, und deshalb so kostbar; doch sie waren untrennbar mit dem Schmerz verbunden, der viel schwerer wog. Jeden Tag derselbe Drill, unzählige Arbeitsstunden, Seminare über die Werte der Gesellschaft, Tests, Bewertungen. Durchgehende Beobachtung. Durchgehende Kontrolle. Endlose Demütigungen, die erschöpften Gesichter seiner Eltern. Das Schweigen. Die Unsicherheit, die Angst zu versagen, nicht für gut genug befunden zu werden. Und das alles nur für ihn. Damit er später ein besseres Leben hätte. Damals hatte er es nicht verstanden, und selbst nach dem Tod seiner Eltern ihr Vermächtnis mit Füßen getreten.
Seitdem war er nicht mehr hier gewesen; nun kehrte er nach all den Jahren zurück. Diesmal jedoch an einen Ort, der womöglich besser zu ihm passte und der sich als stumme Warnung für all die Kuppelanwärter unübersehbar in der Übergangszone befand: das Zonengefängnis von Neo Berlin.
»Hey!« Ein harter Stoß traf Zero in den Rücken. Einer der Grenzpolizisten starrte ihn an. »Bist du taub? Umdrehen!«
Verblüfft bemerkte Zero, dass sie bereits vor der aus glatten Stahlstreben bestehenden Umzäunung des Gefängnisses standen. In etwa vier Metern Höhe beendeten dicke Drähte die Abgrenzung. Wahrscheinlich unter Strom gesetzt, aber Zero hatte nicht vor, das zu testen. Neben dem verstärkten Tor vor ihnen befand sich ein Terminal zum Scannen der IDs. Bei seinen Begleitern funktionierte das automatisch über ihre im Handgelenk befindlichen Chips, doch Zeros Smart-Band musste manuell eingelesen werden. Er tat wie befohlen und rückte etwas näher an das Paneel. Es piepste, das Tor schob sich zur Seite und gab den Weg – keine fünfzig Meter lang, drei Meter breit und ebenfalls durch einen Zaun begrenzt – zum Eingang des Gebäudes frei. Links und rechts kahle, asphaltierte Flächen.
Als sie an der Tür angelangten und die massive, steinerne Wand unheilverkündend vor ihm aufragte, konnte Zero die Nervosität nicht mehr unterdrücken. Wenn er dieses Gebäude betrat, würde er dort nicht mehr aus eigener Kraft entkommen können. Nicht, dass er bisher irgendeine Wahl gehabt hätte ... doch der nächste Schritt hatte etwas Endgültiges: Sein weiteres Schicksal würde nicht mehr in seinen Händen liegen. Als hätte der Grenzpolizist neben ihm seine Gedanken erraten, ergriff er Zeros Oberarm und schob ihn unsanft voran. Intuition, die vermutlich jahrelanger Erfahrung geschuldet war. Und so fand sich Zero mit dem nächsten Schritt bereits mitten in Neo Berlins Gefängnis.
Die folgende Prozedur verlief seltsam unaufgeregt. Er musste sämtliche Gegenstände abgeben, die er bei sich trug – was nicht viele waren –, inklusive seines Smart-Bandes. Er wurde überprüft und bekam neue Kleidung – einen unförmigen, grauen Overall mit weichen, ebenso grauen Schuhen –, bevor seine Daten aufgenommen und ins System übertragen wurden.
Während er all das über sich ergehen ließ, wog er ab, ob es sinnvoll wäre, nach seinem Bruder zu fragen. Oder ob es ihnen beiden am Ende mehr Probleme denn Vorteile einbringen würde. Schließlich entschied er sich aber doch dafür. Vergeblich. Die einzige Antwort, die er immer wieder zu hören bekam, war, dass man später mit ihm sprechen und seine Angaben aufnehmen würde.
Nur zu gern hätte sich Zero über seine Verhaftung beschwert, sich gewehrt – mit Worten und Taten –, doch dafür war in den letzten Stunden und Tagen einfach zu viel passiert. Er war müde, erschöpft und verwirrt. Und Fakt war zudem: Diesmal hatte er wirklich etwas ausgefressen, wenn auch eher unfreiwillig.
Als die obligatorischen, bürokratischen Maßnahmen abgeschlossen waren, stellte er sich bereits darauf ein, in eine der unzähligen Zellen verfrachtet zu werden, die er vom Gang aus gesehen hatte, womöglich gemeinsam mit weiteren Insassen. Doch zu seiner Überraschung führten ihn die beiden Wachleute an den Zellenblocks vorbei auf einen Aufzug zu, den sie mit ihrem Chip entsperrten; kein Entkommen für entflohene Häftlinge.
»Wo bringt ihr mich hin?«, verlangte Zero zu wissen, während die Kabine in die Tiefe fuhr. Ein Stockwerk, zwei, drei. Und noch immer kein Ende.
Wie schon in den letzten Stunden üblich, bekam er keine Antwort. Mit jeder Etage abwärts wuchs jedoch das mulmige Gefühl in seiner Magengegend.
»Hey! Ich rede mit euch!« Er machte einen Schritt auf den Mann schräg vor sich zu, was ihm sofort einen heftigen Stoß gegen die Brust einbrachte, der ihn gegen die rückwärtige Wand prallen ließ. Im selben Moment hielt sein Kollege den Taser bereits einsatzbereit in der Hand. Eine Sekunde lang herrschte nervöse Stille, bevor ein leises Pling die Ankunft des Aufzugs im gewünschten Stockwerk verkündete: U5.
Mit dem Öffnen der Türen entspannten sich die beiden Wachleute minimal, und einer zeigte wenigstens etwas Erbarmen mit Zero.
»Sicherheitstrakt«, erklärte er knapp.
»Sicherheitstrakt?«, wiederholte Zero ehrlich verblüfft. Er hatte zwar einen Einbruch begangen, aber das rechtfertigte doch noch lange nicht den Sicherheitstrakt.
»Für Abtrünnige. Terroristen. Gefährder von System und Gemeinschaft«, zitierte der Mann anscheinend das Handbuch.
»Für miese Verräter«, knurrte sein Begleiter, dessen Blick Zero sehr deutlich zeigte, was er von ihm hielt. »Und jetzt raus hier!«
Zero blieb, wo er war. »Ihr könnt mich nicht einfach in Sicherheitsverwahrung stecken.« Ein flaues Gefühl machte sich in seinem Magen breit. Hier würde ihn garantiert niemand finden – weil ihn hier niemand suchen würde; denn er würde gar nicht erst im offiziellen Register auftauchen.
»Raus, hab ich gesagt!«
»Nein. Auch ich habe Rechte!«
Die Augen des Mannes verengten sich. »Die hast du verwirkt, als du dich dazu entschieden hast, der Regierung ans Bein zu pissen! Los jetzt!« Er packte Zero am Oberarm und schleuderte ihn so heftig durch den Ausgang, dass Zero gegen die gegenüberliegende Wand des Ganges taumelte. Aufgrund der Handfesseln fand er nur mit Mühe sein Gleichgewicht wieder.
Die beiden Wachleute folgten ihm auf dem Fuß, wobei der eine bereits seine Waffe gezogen hatte. Noch hielt er sie gesenkt, doch sein Blick war Warnung genug. Zero war klar, dass der Mann im Moment am längeren Hebel saß und sein Verhalten ihm nur Ärger bringen würde, aber garantiert keine Freiheit. Also gab er seine Angriffshaltung vorerst auf, sah sich stattdessen um.
Der Gang, in dem er sich befand, wirkte in seiner Schlichtheit so steril wie der einer Klinik. Lediglich an einem Ende – dem am Fahrstuhl – befand sich ein die gesamte Wand einnehmender Bildschirm, der offensichtlich über die Insassen der jeweiligen Zellen Auskunft gab. Flüchtig ließ Zero seinen Blick darüberschweifen, hatte aber nicht genügend Zeit, um die Namen genauer in Augenschein zu nehmen, bevor er weiter den Flur entlanggetrieben wurde. Doch irgendetwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt; er konnte nur nicht sagen, was, und der Wachmann, der sich nun hinter ihm befand, versperrte ihm die Sicht. Die Zellen in diesem Stockwerk muteten um einiges futuristischer an als die im normalen Trakt. Überhaupt schien dieser Bereich wesentlich moderner zu sein. Moderner und sicherer.
Vor der dritten Zelle zu Zeros Linken blieben sie stehen. Die Glaswand vor ihm wirkte eben, bis sich mit einem Mal vier Risse bildeten: eine Tür, die sich nun zur Seite schob. Das Wachpersonal nahm ihm die Handschellen ab, bevor Zero auf ihr Geheiß den vier mal fünf Meter großen Raum betrat, in dem alles Nötige integriert war. Toilette, Waschbecken, Pritsche, Decke; glücklicherweise jedoch keine weiteren Mitbewohner. Am hinteren Ende wurde die Zelle durch eine Metallwand begrenzt, links und rechts befanden sich Glaswände, deren Tönung es allerdings unmöglich machte, hindurchzusehen.
Während sich Zero noch einen Überblick verschaffte, schloss sich die Tür hinter ihm bereits wieder. Ein kaum wahrnehmbares Surren ließ ihn herumfahren. Die Ritzen zwischen den Glasflächen verschwanden bereits. Gleichzeitig tönte sich die Scheibe ein, wie bereits an den Seitenwänden.
»Hey!« Zero trat auf die Wand zu. »Wann kann ich mit jemandem sprechen?«
Keine Antwort. Mittlerweile waren seine beiden Begleiter vor der sich verdunkelnden Scheibe nur noch als undeutliche Schemen zu erkennen.
»Ich will mit Kommandant Wintermoor reden!«
Stille. Und eine Wand aus schwarzem Glas.