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Einmal noch und vermutlich zum letzten Mal greift Dr. James Watson, der treue Helfer und Begleiter des charismatischen Detektivs Sherlock Holmes, zur Feder, um kurz vor seinem Tod einen Fall zu schildern, der nun mehr als dreißig Jahre zurückliegt. Die Beteiligten hatten damals Stillschweigen vereinbart, da die Ermittlungen in unmittelbarer Nähe des königlichen Hofes stattfanden und Mitglieder der königlichen Familie betroffen waren. Wegen aufkommender Gerüchte und erster journalistischer Schnüffeleien sieht Dr. Watson sich genötigt, den wahren Ablauf der Ereignisse zu beschreiben. Auf Burlington Hall, dem Sitz des Herzogs von Coventry und fiktiven jüngsten Sohns von Queen Victoria, ereignen sich mysteriöse Dinge. Was zunächst als harmloser, wenn auch makabrer Scherz während des Frühstücks der herzoglichen Familie beginnt, entwickelt sich bald zu einer mörderischen Tragödie und perfiden Verschwörung, der drei Menschen zum Opfer fallen.
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Seitenzahl: 263
Veröffentlichungsjahr: 2025
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In dieser Reihe bisher erschienen:
3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan
3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer
3003 – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn
3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter
3005 – Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer
3006 – Dr. Watson von Michael Hardwick
3007 – Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)
3008 – Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch von Martin Barkawitz
3009 – Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall von Gary Lovisi
3010 – Sherlock Holmes und der Hund der Rache von Michael Hardwick
3011 – Sherlock Holmes und die indische Kette von Michael Buttler
3012 – Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic von J. J. Preyer
3013 – Sherlock Holmes und das Freimaurerkomplott von J. J. Preyer
3014 – Sherlock Holmes im Auftrag der Krone von G. G. Grandt
3015 – Sherlock Holmes und die Diamanten der Prinzessin von E. C. Watson
3016 – Sherlock Holmes und die Geheimnisse von Blackwood Castle von E. C. Watson
3017 – Sherlock Holmes und die Kaiserattentate von G. G. Grandt
3018 – Sherlock Holmes und der Wiedergänger von William Meikle
3019 – Sherlock Holmes und die Farben des Verbrechens von Rolf Krohn
3020 – Sherlock Holmes und das Geheimnis von Rosie‘s Hall von Michael Buttler
3021 – Sherlock Holmes und der stumme Klavierspieler von Klaus-Peter Walter
3022 – Sherlock Holmes und die Geheimwaffe von Andreas Zwengel
3023 – Sherlock Holmes und die Kombinationsmaschine von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)
3024 – Sherlock Holmes und der Sohn des Falschmünzers von Michael Buttler
3025 – Sherlock Holmes und das Urumi-Schwert von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)
3026 – Sherlock Holmes und der gefallene Kamerad von Thomas Tippner
3027 – Sherlock Holmes und der Bengalische Tiger von Michael Buttler
3028 – Der Träumer von William Meikle
3029 – Die Dolche der Kali von Marc Freund
3030 – Das Rätsel des Diskos von Phaistos von Wolfgang Schüler
3031 – Die Leiche des Meisterdetektivs von Andreas Zwengel
3032 – Der Fall des Doktor Watson von Thomas Tippner
3033 – Der Fluch der Mandragora von Ian Carrington
3034 – Der stille Tod von Ian Carrington
3035 – Ein Fall aus der Vergangenheit von Thomas Tippner
3036 – Das Ungeheuer von Michael & Molly Hardwick
3037 – Winnetous Geist von Ian Carrington
3038 – Blutsbruder Sherlock Holmes von Ian Carrington
3039 – Der verschwundene Seemann von Michael Buttler
3040 – Der unheimliche Mönch von Thomas Tippner
3041 – Die Bande der Maskenfrösche von Ian Carrington
3042 – Auf falscher Fährte von James Crawford
3043 – Auf Ehre und Gewissen von James Crawford
3044 – Der Henkerkeller von Nils Noir
3045 – Die toten Augen des Königshauses von Ian Carrington
3046 – Der grausame Gasthof von Ralph E. Vaughn
3047 – Entfernte Verwandte von Jürgen Geyer
3048 – Verrat aus dem Dunkel von James Crawford
3049 – Die Dämonenburg von Nils Noir
3050 – Die Shakespeare-Verschwörung von J. J. Preyer
3051 – Das Monsterlabor von Nils Noir
3052 – Die Bruderschaft des Feuers von James Crawford
3053 – Der tote Landarzt von Uwe Niemann
3054 – Nebel in der Baker Street von Jürgen Geyer
3055 – Das Rätsel der eiskalten Hand von Uwe Niemann
3056 – Nächtlicher Spuk von Jürgen Geyer
3057 – Der Hexenfluch von Nils Noir
Sherlock Holmes - Neue Fälle
Buch 55
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Copyright © 2025 Blitz Verlag, eine Marke der Silberscore Beteiligungs GmbH, Mühlsteig 10, A-6633 Biberwier
Redaktion: Danny Winter
Titelbild: Mario Heyer unter Verwendung der KI Software Midjourney
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Logo: Mark Freier
Vignette: Mario Heyer
Satz: Gero Reimer
Alle Rechte vorbehalten.
www.blitz-verlag.de
3055 vom 25.03.2025
ISBN: 978-3-68984-295-6
Vorwort von Dr. John Watson
Ein ruhiger Nachmittag
Ein früher Gast
Mycroft Holmes
Burlington Hall
Der Herzog von Coventry
Weitere Ermittlungen
Ein Herrenabend
Die alte Königin
Getrennte Ermittlungen
Ein sonderbares Ansinnen
Ein scheußlicher Mord
In London
Lestrade
Ungewöhnliche Methoden
Ein Unfall?
Letzte Erkenntnisse
Die Falle
Des Rätsels Lösung
Abschied von Burlington Hall
Nachwort von Dr. Watson
Uwe Niemann
Die ich rief, die Geister,
Werd’ ich nun nicht los.
J. W. von Goethe
Der Zauberlehrling
Vorwort von Dr. John Watson
Wenn ich als alter Mann noch einmal zur Feder greife, so geschieht dies nicht aus dem sentimentalen Gefühl heraus, in schwelgerischer Erinnerung an eine glorreiche Vergangenheit einer trübsinnigen Gegenwart für Momente zu entkommen. Tatsächlich ist mein gegenwärtiges Leben, wenn man von den körperlichen Mühsalen meiner fortgeschrittenen Jahre absieht, alles in allem angenehmer und behaglicher, als ich es bei meinem Schicksal erwarten konnte, obwohl über dem Ablauf der Tage im Jahreskreis die Melancholie des kommenden Abschieds liegt.
Ich bin vor drei Jahren zu Emily, der Nichte meiner verstorbenen zweiten Frau, in eine entzückende Kleinstadt im Süden unseres Landes gezogen, wo ich im Erdgeschoss eines Cottages zwei Zimmer bewohne, die frei wurden, als Emilys Söhne, zwei prächtige, wohlgeratene Burschen, ausgezogen waren. Der größere Raum liegt nach Süden und besitzt ein breites Fenster, vor das ich meinen mir so teuren Schreibtisch habe stellen lassen und durch das sogar im Winter häufig wärmendes Sonnenlicht einfällt. Die Straße am Ende des Dorfes ist nur auf der Nordseite bebaut, und so geht mein Blick aus dem Fenster von den Rosenstöcken im Vorgarten über Weiden und Hecken bis zu dem geschlängelten Fluss, der sich nach wenigen Meilen mit dem Meer verbindet. Nach einigen anfänglichen Irritationen hat sich das Verhältnis zu meiner Nichte und ihrem schweigsamen Mann George sehr verbessert, denn ich habe ihnen klargemacht, dass ich nur so viel Hilfe annehmen möchte, wie ich unbedingt brauche, und durchaus in der Lage bin, ein paar Tage für mich zu sorgen, wenn es mein wechselnder Gesundheitszustand erlaubt.
Der wahre Grund für diesen Bericht, der nach menschlichem Ermessen der Letzte sein dürfte, liegt in zwei Ereignissen, die, beide zugleich banal und bedrohlich, gegensätzlicher nicht hätten sein können. Beim Sortieren alter Manuskripte, von denen ich nur wenige als aufbewahrenswert erachtete und manche zum Feuertod verurteilte, stieß ich auf ein in Leinentuch gehülltes Paket von vier Heften, welche mein Tagebuch aus diesem bemerkenswerten Jahr enthielten, von dem bald die Rede sein wird. Meine Haushälterin muss sie trotz meiner gegenteiligen Anordnungen mit Sorgfalt verpackt haben, als ich meine Wohnung und meine Landarztpraxis aufgab, denn ich selbst hatte alle anderen Aufzeichnungen aus diesem Jahr vernichtet. Meine Romane und Erzählungen sind wahres Zeugnis genug für die glänzende Erscheinung meines alten Freundes Sherlock Holmes, und sie sollen sein Andenken für alle Zeiten bewahren. Deshalb hoffe ich, dass nicht noch irgendwo Aufzeichnungen und aufgegebene Entwürfe aus meiner Feder existieren, die nach meinem Tod ohne mein Einverständnis von unbegabten Schreiberlingen für ihre schriftstellerischen Versuche verwendet werden können.
Der zweite Anlass, mich noch einmal mit dem Rätsel der eiskalten Hand zu befassen, ist wenig erfreulich und in seiner Bedeutung kaum abzuschätzen. Vor drei Wochen las ich in der Times den Nachruf auf die hochgestellte und sehr honorige Persönlichkeit, auf deren Anwesen sich der Fall vor so vielen Jahren zu großen Teilen abgespielt hatte. Einige Tage später erhielt ich den Brief eines mir unbekannten Journalisten, der mich um Auskunft über die damaligen Ereignisse bat. Wie er meine Anschrift erhalten hat, vermag ich nicht zu sagen, denn mein Name gilt in der Öffentlichkeit kaum noch etwas.
Alle Beteiligten hatten sich nach der Aufklärung des Falls, die mein Freund Sherlock so einfach wie genial zu verantworten hatte, auf absolute Verschwiegenheit geeinigt und meines Wissens dieses gegenseitige Versprechen auch nie gebrochen. Aber von denen, die damals mit den Vorgängen befasst waren, welche in die höchsten, ja allerhöchsten Kreise unseres Landes führten, lebt jetzt keiner mehr, und das große Völkerringen, welches nun einige Jahre zurückliegt, lässt manche älteren Prinzipien und Verpflichtungen als nichtig erscheinen. Natürlich fürchte ich, dass irgendwelche Reporter aus Sensationslust die Tatsachen entstellen oder gar verfälschen könnten, denn das heutige Publikum ist nicht mehr so leicht wie früher zufriedenzustellen, und die reine Wahrheit zählt häufig nicht mehr viel.
Deshalb befrage ich meine Erinnerung und prüfe sie anhand der Tagebuchaufzeichnungen, um der Wahrheit möglichst nahe zu kommen. Noch einmal öffne ich die Hefte mit ihrer verblassten Schrift, die ich an manchen in Eile geschriebenen Stellen kaum entziffern kann, und sitze wieder an dem Märztag des Jahres 18.. in der Baker Street 221b, wo auch dieses Abenteuer wie so viele vorher begann. Aus den Heften steigt jener lange vertraute Geruch von Kaminholz, den Ausdünstungen der Ledereinbände der Bücher und dem Rauch aus der Pfeife meines Freundes und beflügelt meine Reise in die Vergangenheit.
Ein ruhiger Nachmittag
„Mein lieber Watson“, sagte Sherlock Holmes, ohne von dem merkwürdigen Blatt aufzublicken, mit dem er sich nun schon seit zwei Stunden beschäftigte, „von all Ihren löblichen Eigenschaften scheint mir Ihre Fähigkeit, in den Zeiten höchster Anspannung wie dieser absolute Ruhe zu bewahren und sich mit so prosaischen Dingen wie der gestrigen Ausgabe der Times zu beschäftigen, am bemerkenswertesten. Sicher hat Ihnen dieser Wesenszug in den kriegerischen Verwicklungen, welche Sie, leider mit einer Verwundung, überstanden haben, stets treue Dienste geleistet.“
Ich sah von meiner Zeitung auf und wandte mich Holmes zu, der sich in die Nähe des Fensters gesetzt hatte, sodass sich seine unverkennbare dunkle Silhouette mit der kantigen Nase von dem hellen Hintergrund deutlich abhob. Mein Freund gehörte zu den wenigen beneidenswerten Personen, deren Gesichtszüge im Alter schärfer und markanter werden und jeden Anschein von Schwammigkeit vermissen lassen. Er war mit seinem geliebten, ein wenig verschlissenen Hausrock bekleidet und entließ aus seiner Pfeife Rauchwölkchen, die sich im Raum verteilten und von einem aromatisierten Tabak stammten. So früh am Nachmittag war der Geruch angenehm, konnte sich aber in der tiefen Nacht, wenn Holmes angestrengt über Stunden nachdachte, zu einem undurchdringlichen beißenden Qualm verdichten.
„Ich verstehe nicht, Holmes“, erwiderte ich gereizt, da ich bei meiner Lektüre gestört wurde.
„Dazu neigen Sie gelegentlich, Watson. Die geringe Ausbeute an Sensationen und Neuigkeiten in Ihrer Gazette sollten Sie nicht täuschen. Es herrscht eine unerträgliche Anspannung in den Beziehungen der Menschen untereinander, die sich auch in diesem Raum fast mit den Händen greifen lässt, und die unsichtbaren Fäden, welche wie in einem riesigen Spinnennetz jeden mit jedem verbinden, vibrieren und zucken ohne Unterlass. Es wird etwas Ungewöhnliches passieren.“
Er entließ einen Stoß von Rauch aus seiner Pfeife, um seine Aussage wie mit einem Ausrufezeichen zu unterstützen. Manche Überspanntheiten meines Freundes war ich lange gewohnt, aber seine Einschätzung der gegenwärtigen Lage schien mir einer gestörten Wahrnehmung zu entstammen. Tatsächlich war die Weltlage nach den Krisen der letzten Monate, welche unseren Kontinent an den Rand einer Katastrophe hätten bringen können, erstaunlich ruhig. Zudem lagen schöne Tage nach nasskalten Wochen hinter uns, ein Hauch von Frühling hatte sich heute zum ersten Mal über die große Stadt gelegt, und die Menschen in den Straßen schienen beseelt von dem Gedanken, bald die Vermummungen, welche der Winter nun einmal mit sich bringt, wie eine lästige Haut abstreifen zu können.
Holmes machte keine Anstalten, seine Einschätzung der politischen Situation weiter zu erläutern, und so wandte ich mich wieder meiner Zeitung zu, stutzte dann aber und blickte zu ihm herüber.
„Woher wissen Sie, dass ...?“
„Dass es sich um die gestrige Ausgabe handelt?“
Ich nickte.
„Nun, gestern war im Gegensatz zu heute nach längerer Zeit wieder einmal ein regnerischer Tag, sodass sie Ihr Exemplar, um es vor Nässe zu schützen, in die Innen- und nicht in die Außentasche Ihres Reisemantels gesteckt haben, aus der Sie sie vorhin herauszogen. Zudem haben Sie zunächst die letzte Seite gelesen, was ganz ungewöhnlich wäre, wenn es sich um das heutige Exemplar mit der einzigen wichtigen Nachricht auf der ersten Seite gehandelt hätte. Den Mittelteil mit den Nachrufen haben Sie durch viermaliges Umblättern erreicht, die zu lesen Sie sicher vermieden hätten, wenn die Geehrten schon länger verblichen wären. Sie sehen, Watson, ein wenig Aufmerksamkeit, etwas logische Deduktion und einige begründete Spekulationen, und schon klärt sich alles auf.“
Holmes hatte recht. Ich war gestern mit dem Nachmittagszug in London angekommen, wo ich auf dem Bahnhof bei einem Zeitungsverkäufer eines der letzten Exemplare der Times erstand. Meine Arztpraxis wusste ich gut versorgt, denn der junge Kollege, der mich einige Wochen vertreten sollte, erwies sich als fähig und beliebt bei den Patienten, nachdem ich ihn eine gewisse Zeit eingearbeitet hatte. Ich hatte Urlaub dringend nötig, weil schwierige Wintermonate hinter mir lagen, eine Grippewelle hatte trotz meiner Bemühungen viele Opfer gefordert, und ungewöhnlich häufige und schwierige Geburten hatten mir oft den so nötigen Nachtschlaf geraubt und mich gezwungen, im Dunkeln und bei Sturm und Regen abgelegene Weiler aufzusuchen. Zudem machten sich die Folgen der alten Kriegsverletzung bemerkbar, die mir ein Pausieren von meiner ärztlichen Tätigkeit nahelegten. Einer Erholungsreise in den Süden war ich nicht abgeneigt, doch fand ich keinen geeigneten Begleiter, und so nahm ich dankbar Holmes’ telegrafische Einladung an, der meine gegenwärtige Erschöpfung erahnt zu haben schien und mir einen unbegrenzten Aufenthalt in der Baker Street anbot.
„Nun sehen Sie sich dieses üble Machwerk an“, nahm Holmes unser Gespräch nach einer Pause wieder auf und wechselte ein wenig sprunghaft das Thema. Ich hatte mich nicht darum gekümmert, womit er sich beschäftigte, denn der Umfang seiner Kenntnisse und Interessen war gewaltig, wobei sich für den unbeteiligten Beobachter selten ein System ergab, sodass eine gewisse Unordnung und Willkür in Holmes’ Tagesablauf und Beschäftigungen zu herrschen schien. Er vermochte über die Kriechspuren von Nagetieren auf dem Waldboden mit dem gleichen Ernst zu dozieren wie über Fragen mittelalterlichen Kirchenrechts, auf die er im Zusammenhang mit der Aufklärung eines äußerst seltsamen Falles von Kirchenraub gestoßen war. Mir war klar, dass sein ruheloser Geist einer ständigen wechselnden Beanspruchung bedurfte wie ein berühmter Sportler, bei dem eine Trainingspause zu einem sofortigen Schwund von Muskeln und Gelenkigkeit führt.
Holmes hatte auf seine Knie eine äußerst sorgfältig gearbeitete flache Schatulle gelegt, deren Boden mit Samt ausgelegt war und deren gläserner Deckel verschlossen werden konnte. Ich trat hinter seinen Stuhl und betrachtete den Inhalt der Schachtel. Es war ganz offensichtlich ein Papyrus, der aus mehreren handtellergroßen Teilen zusammengesetzt war, die zueinanderpassten. Er musste sehr alt sein, denn der Erhaltungszustand war schlecht und seine Ränder faserten auf und zerfielen.
„Ich bin wirklich in keiner guten geistigen Verfassung“, flüsterte Holmes mehr zu sich selbst als zu mir, „ich habe zwei Stunden gebraucht, um diese lächerliche Fälschung zu enttarnen.“
Er holte seine Lupe aus der Tasche seines Hausmantels und hielt sie über eine der Kanten, an der zwei Ränder der Papyrusstücke zusammenstießen.
„Natürlich war der Fälscher geschickt, er hat aus den Papyrusfetzen das Beste gemacht, was er schaffen konnte. Angeblich stammt diese Arbeit aus der 13. Dynastie. Sie wurde Lord Daglish für eine horrende Summe angeboten, der, wie Sie wissen, eine der vorzüglichsten Sammlungen dieser Artefakte in unserem Land sein eigen nennt. Doch Daglish hatte Zweifel, er überwies die Summe auf ein Treuhandkonto und bat mich um Überprüfung. Ich bin kein Ägyptologe, besitze aber, ohne mich loben zu wollen, neben einigen Spezialkenntnissen einen unbestechlichen Verstand. Sehen Sie hier, die Risskante der beiden Stücke verläuft durch die Hieroglyphen, wie es sein muss, wenn die unwillkürliche Trennung nach dem Beschriften, etwa beim Ablösen von einer Mumie, durchgeführt wurde. Aber die Fasermuster passen an der Trennlinie nicht zusammen, an keiner Stelle.“
Mir war das Blatt nicht zuletzt wegen der kostbaren Schatulle als besonders wertvoll und ehrwürdig erschienen und ich teilte Holmes meine Eindrücke mit, der sie mit einem Achselzucken abtat.
„Alles reine Augenwischerei. Es ist technisch sicher anspruchsvoll“, fuhr Holmes fort, „die Schriftzeichen an den Bruchkanten so geschickt fortzusetzen, wie hier geschehen, denn die faserigen Ränder lassen sich schlecht gleichmäßig bemalen. Ich glaube, dass man für diesen delikaten Teil einen kleinen Stempel benutzt hat, um den Farbauftrag zu verbessern. Denn sehen Sie hier.“
Er zeigte mit der Spitze einer elfenbeinernen Pinzette, die er zum Anfassen der Papyrusfetzen benutzt hatte, auf zwei gleiche Symbole, die wenige Zeilen untereinander standen.
„Was fällt ihnen auf, Watson?“
„Nichts“.
„Schauen Sie genau hin!“
Er vergrößerte die Hieroglyphen und ließ mich durch die Lupe blicken.
„Sehen Sie die kurze schwache Linie unterhalb dieses Zeichens? Sie wiederholt sich dreimal, und jedes Mal ist der Abstand zur Basislinie des Schriftsymbols gleich. Das kann kein Zufall sein, keine durch Unachtsamkeit verwischte Farbe. Nein, der Fälscher musste das Stempelchen tiefer eindrücken, und so hat auch der Stempelrand einen feinen Abdruck hinterlassen. Nichts ist diese Fälschung wert und ich werde Lord Daglish mitteilen, dass er sein Geld zurückfordern soll. Man wird die Abfolge der Könige in der 13. Dynastie nicht ändern müssen, wie die Übersetzung des Textes zunächst nahelegte.“
Er schloss die Schatulle und wandte sich mit einem Ausdruck des Abscheus, gemischt mit einem überlegenen Lächeln, von seiner Nachmittagsarbeit ab.
Es klopfte. Mrs. Hudson brachte uns den Fünfuhrtee und stellte das Tablett auf den Schachtisch, der zwischen Holmes und mir stand und in dessen Schublade die Figuren auf ihren Einsatz warteten. Immer noch war es dasselbe Bone China Porzellan, das ich seit Jahren kannte und das sorgsam gepflegt wurde, sodass alle Teile nahezu unversehrt erhalten waren. Nur die Innenseiten der Tassen waren durch den Tee leicht bräunlich verfärbt. Überhaupt bin ich der Meinung, dass die alltägliche Teezeremonie in unserem Land eine der höchsten kulturellen Leistungen darstellt, die uns von vielen anderen Völkern unterscheidet und als Ausdruck unserer Zivilisation unser Imperium zusammenhält. Mögen Römer ihr Weltreich durch Straßenbau und Gladiatorenkämpfe geschaffen haben, wir haben den Teegenuss in alle Welt gebracht und er wird unsere Macht in all denen Ländern befestigen, die unter dem Schutz der Krone unserer geliebten Königin stehen. Aber ich schweife ab.
Wir tranken schweigend Tee und genossen die frischen Scones mit Clotted Cream, bis sich Holmes mir zuwandte.
„Nun, Watson, wir müssen eine Beschäftigung finden, die uns bis zum Dinner, das wir sicher auswärts einnehmen wollen, angemessen beschäftigt.“
Ein ironisches Lächeln zog über seine Lippen.
„Sie wissen, mein unruhiger Geist kann nicht stillstehen, ich muss die Mechanik meines Räderwerks innen in meinem Schädel ständig am Laufen halten.“
Er tippte mit dem Kopf seiner Pfeife gegen seine Stirn.
„Ich habe Mrs. Hudson gebeten, unser bekanntes Kastenspiel vorzubereiten.“
„Nein, Holmes, unmöglich“, wehrte ich gereizt ab, „ich bin hergekommen, um Ruhe und Entspannung nach anstrengenden Monaten zu finden, in denen mich meine ärztliche Tätigkeit über alle Maßen beansprucht hat. Ich kann sehr gut auch einmal gar nichts tun oder denken und habe keinerlei schlechtes Gefühl oder gar Gewissen dabei.“
Holmes paffte einige Wölkchen in den Raum, die zu mir hinwehten und sich langsam auflösten. Ich wandte mich zu ihm, um ihn um etwas Rücksicht mit seinem Pfeifenrauch zu bitten. Er sah wegen meiner Ablehnung dem Spiel gegenüber so verstimmt aus, dass ich nicht anders konnte und zustimmte.
Unser Kastenspiel war eigentlich eine läppische Angelegenheit und zweier erwachsener Männer nicht würdig. Mrs. Hudson hatte eine große Schachtel aufbewahrt, in welcher sie einen Gegenstand aus ihrem Haushalt verbarg, und die Verpackung sorgfältig verschlossen. Holmes und ich mussten die Schachtel untersuchen, ohne sie zu öffnen, und so erraten, welchen Gegenstand sie enthielt. Nie hatte ich dabei gewonnen, immer war Holmes auf der richtigen Spur und nur einmal war er bedrückt gewesen, als er mit dem Kasten eine Wurfprobe machte, um etwas über den Inhalt zu erfahren, und die sorgsam eingepackte Vase dabei zerbrach.
Freudig wie ein kleiner Junge sprang Holmes auf, ging zu Mrs. Hudson in die Küche und gab ihr die notwendigen Anweisungen. Ich hatte keinen Zweifel, dass alles fair ablief. Die Hauswirtin brachte nach kurzer Zeit die Pappschachtel, welche mit einem kräftigen Bindfaden verschnürt war, und stellte sie wieder auf das Schachtischchen. Nach dem Erlebnis mit der Vase vermied sie allerdings allzu zerbrechliche Stücke als Inhalt. Holmes dankte ihr und klatschte vor Freude in die Hände.
„Nun, Watson, an die Arbeit. Ich lasse Ihnen wie immer den Vortritt.“
Ich stand auf und umrundete den Kasten. Er war schwerer, als ich es von den früheren Spielen gewohnt war, und der unbekannte Inhalt rutschte beim Schütteln kaum hin und her. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich weiter vorgehen sollte, und tat nur zum Schein so, als ob ich alles intensiv musterte, um mir keine Blöße zu geben. Jetzt war Holmes an der Reihe. Er hob den Kasten an und betrachtete sehr sorgfältig die Unterseite, wobei er an einer Ecke länger verweilte und sie mit der Spitze seines langen Zeigefingers befühlte. Dann schloss er die Augen und seine Finger krochen wie die langen Beine einer Spinne über die Seitenflächen der Schachtel. Er nahm wieder seine Lupe in die Hand, fuhr den Bindfaden entlang und hielt am Knoten auf der Oberseite an. Mit seiner Pinzette zog er zwischen zwei engen Schlingen des Knotens ein Stückchen eines unbekannten Materials hervor, dass er mir zur Begutachtung vorlegte.
„Ein getrocknetes Getreidekorn“, vermutete ich und Holmes nickte.
„Wenn man Sie bei der Hand nimmt, sind Sie zu Höchstleistungen fähig, Watson“, murmelte er und setzte seine Inspektion noch einige Minuten fort, ohne etwas Wichtiges zutage zu fördern. Ich überhörte die Ironie in seiner Stimme.
„Darf ich einen Vergleich wagen, Watson?“, Holmes setzte sich in seinen Sessel und versuchte, die Pfeife wieder zum Glimmen zu bringen. „Er ist zugegeben etwas weit hergeholt. Aber nehmen wir an, dieser Kasten wäre ein Patient von Ihnen, ein stummer Patient natürlich, wie würden Sie dann vorgehen?“
Ich war Holmes’ Gedankensprünge und Assoziationen gewohnt und überlegte nur kurz.
„Nun, Abhorchen würde nichts bringen, weil der Kasten nicht atmet, aber vielleicht Abklopfen, die Perkussion.“
„Sehr gut, Watson. Gehen wir zur Tat.“
Mein Freund hatte einige Zeit in einem Hospital gearbeitet, um seinen Studien besonders der Chemie nachzugehen, und so waren ihm ärztliche Untersuchungstechniken sicher vertraut. Er beklopfte mehrfach die Seiten des Kastens, der Schall war links und rechts gleich dumpf und nichtssagend, aber an den übrigen beiden Seitenflächen gedämpft und heller. Ich wiederholte seine Untersuchung, während er Mrs. Hudson hereinbat und ihr das benutzte Geschirr wieder mitgab.
Holmes riss einen kleinen Zettel aus einem Notizbuch und schrieb seine Vermutung auf. Ich tat es ihm gleich, vermerkte auf meinem Zettel aber nur ein großes Fragezeichen. Mein Gastgeber überließ es mir, die Kiste zu öffnen und der Inhalt stimmte zweifelsfrei mit dem Wort auf dem Zettel überein: Es handelte sich um das hölzerne Vogelhaus mit seinem Giebeldach, das auf der Bank vor dem Küchenfenster stand.
„Wie sind Sie darauf gekommen, Holmes?“
„Haben Sie die Schuhe von Mrs. Hudson angesehen? Nur deshalb habe ich sie hereingebeten.“
„Nein, natürlich nicht. Was tun sie zur Sache?“
„Sie waren das letzte Glied in der Indizienkette. Die Spitze des rechten Schuhs war nass und es klebten zwei Grashalme mit Erdkrumen an ihr. Unsere liebe Wirtin muss also vor nicht allzu langer Zeit draußen gewesen sein und ihren Fuß in nasses Erdreich gesetzt haben, um an die Fensterbank zu kommen. Gut, ich gebe zu, dass ich einen kleinen Vorteil hatte, weil ich weiß, dass sie um diese Jahreszeit immer das Vogelhaus reinigt. Dann das Getreidekorn als Rest des Vogelfutters, der nasse Boden des Kastens, was darauf hindeutet, dass er irgendwo auf feuchtem Boden abgestellt wurde, und schließlich die Asymmetrie des Klopfschalls, welcher vor meinem geistigen Auge die Form des Inhalts erscheinen ließ. Alles passte zusammen.“
Ich schüttelte Holmes die Hand und beglückwünschte ihn ohne Neid zu seinem Erfolg, was er gelassen und ohne sichtbaren Triumph entgegennahm. Wie vielen genialen Menschen war ihm seine geistige Überlegenheit, der er vertraute und auf die er sehr viel hielt, zur Gewohnheit geworden und er hatte es nicht nötig, sie anpreisend zur Schau zur stellen, wenn er ein Spiel gewonnen hatte.
„Es ist spät geworden, Watson“, bemerkte Holmes, „wir sollten uns für das Abendessen umkleiden. Ich habe die Droschke auf sieben Uhr bestellt.“
Ein früher Gast
Ich kann nicht behaupten, dass meine Nächte damals in der Baker Street sonderlich erholsam waren. Mein altes Zimmer stand nicht mehr zur Verfügung, denn Holmes nutzte es zu mir unbekannten Zwecken. So hatte ich eine Kammer direkt neben den Räumen meines Freundes bezogen, die sehr beengt, aber dennoch zweckmäßig eingerichtet war.
Wie viele Menschen, die keinem geregelten Beruf nachgingen, hatte sich auch bei Holmes der Rhythmus des Tagesablaufs geändert, und manche Tätigkeiten zogen sich bei ihm bis weit nach Mitternacht hin. Oftmals durchwachte er die Nacht, um morgens sonderbar aufgeräumt und in heiterer Stimmung zum Frühstück zu erscheinen, während er am Abend zuvor schweigsam und verstimmt schien und auf meine Fragen nur einsilbig antwortete.
Während meines damaligen Aufenthalts bei meinem Freund schlief ich selten durch, denn allerlei seltsame Geräusche aus dem Nebenzimmer weckten mich immer wieder auf, ohne dass ich sie näher zuordnen konnte. Manchmal war Holmes in Selbstgespräche vertieft, deren Inhalt ich kaum verstand und die meistens von Selbstvorwürfen handelten, die er sich machte, wenn er uralte Fälle rekapitulierte, in denen er versagt hatte. Dann schalt er sich einen Toren und schien sich mit Beschimpfungen selbst zu kasteien. Seine geliebte Violine kam häufig in der Frühe zum Einsatz, und nur der Ruhm meines Freundes dürfte verhindert haben, dass sich die Nachbarn über den Lärm in der Nacht beschwerten. Dabei folgte sein musikalischer Stil nicht dem Zeitgeschmack, sondern seine Darbietungen schienen merkwürdig bruchstückhaft zu sein, Versatzstücke aus einer wüsten Harmonielehre, die für mich keinen melodischen Sinn ergaben. Ich konnte mir dieses Phänomen nur so erklären, dass sein ständig produzierender Geist ein Ventil benötigte, um die überschüssige Gedankenflut auf eine halbwegs zivile Art zu entsorgen.
An diesem denkwürdigen Morgen schlief ich nach der nächtlichen Ruhestörung länger als sonst, und es war schon hell in meinem Zimmer, als ich mich erhob. Holmes hatte freundlicherweise mit dem Frühstück auf mich gewartet, der Raum war angenehm geheizt, gelüftet und aufgeräumt, sodass von dem Treiben der vergangenen Nacht nichts mehr zu ahnen war. Er hatte Mrs. Hudson in ein kurzes Gespräch verwickelt, die das Angebot zu einem der wenigen Schwätzchen gerne annahm, während sie sonst das eingespielte Räderwerk des Haushalts ohne viele Worte am Laufen hielt.
Holmes lobte die vorzügliche Zusammenstellung der Speisen, besonders die gebackenen Bohnen, und bemängelte nur die Gurkenmarmelade, deren Stücke ihm zu groß geraten schienen, was Mrs. Hudson eine gern angenommene Gelegenheit bot, über das neue schottische Dienstmädchen zu schimpfen. Man einigte sich schließlich darauf, dem armen Ding, das vom Land in diese Großstadt gekommen war, noch etwas Zeit zur Eingewöhnung zu geben.
Ich war gerade mit der Eierspeise fertig und wollte die Zeitung aufschlagen, als es an der Tür schellte. Der Zeitpunkt war für einen Besuch sehr ungewöhnlich und ich bemerkte, wie Holmes’ Haltung sich straffte und er aufmerksam zu lauschen schien.
„Es geht los, Watson, denken Sie an meine Worte von gestern“, murmelte er und machte dann ein Handzeichen, um mir anzudeuten, dass wir schweigen sollten.
Von dem Gespräch zwischen dem Besucher und der Haushälterin, die mit einiger Verzögerung die Tür geöffnet hatte, bekamen wir nichts mit. Mrs. Hudson stieg die Treppe hinauf, klopfte und trat ein.
„Ein Herr wünscht Sie zu dieser Zeit zu sprechen“, brachte sie in einem vorwurfsvollen Ton hervor und ihre Missbilligung war trotz ihrer angestrengten Atemgeräusche hörbar. Schon seit einigen Wochen bereitete ihr das Treppensteigen erhebliche Mühe. Sie hielt uns ein silbernes Tablett mit einer Visitenkarte hin, auf die mit offensichtlich erregter Hand der Name William R. Corless, Esq. geschrieben war. Weitere Angaben zu Stand und Herkunft fehlten.
Holmes untersuchte die Karte, ohne von Mrs. Hudson Notiz zu nehmen, sodass ich unsere Haushälterin bat, dem Gentleman mitzuteilen, er solle zu einem Zeitpunkt wiederkommen, der uns gelegener wäre und den üblichen Konventionen eines Besuchs am späten Vormittag mehr entspräche.
„Warum so streng, Watson?“, mischte Holmes sich ein und legte die Visitenkarte zurück, an der er zuletzt geschnuppert hatte. „Edelstes Papier aus einem größeren Bogen sorgfältig herausgeschnitten. In Frankreich hergestellt, vielleicht in Paris, nur der Jahrgang fällt mir nicht ein. Einen Herrn, der so teures Papier so sorglos beschriftet, lässt man nicht einfach stehen wie einen unpünktlichen Handwerker. Mrs. Hudson, bitten Sie den Herrn herauf!“
Unsere alte Haushälterin hatte zusammen mit ihrer Sparsamkeit in der Haushaltsführung eine sinnvolle Ökonomie ihrer Bewegungen entwickelt, die ihrem zunehmenden Alter und ihren Gelenkbeschwerden geschuldet war und die sie von unnötigen Gängen anhielt, sodass sie auf dem oberen Treppenabsatz stehen blieb und dem Besucher mit einer Handbewegung andeutete, er möge nach oben kommen, wo sie ihm Hut und Straßenmantel abnahm. Holmes, der behauptete, aus der Schrittfolge eines Menschen auf dessen Charakter schließen zu können, lauschte dem Takt der Absätze auf der hölzernen Treppe, die mit einer unbestechlichen Regelmäßigkeit wie bei einem Metronom aufeinanderfolgten.
Ich darf behaupten, in meinem ganzen Leben noch nie einem Gentleman begegnet zu sein, der so offensichtliche körperliche Vorzüge mit einer würdevollen männlichen Haltung verband, zu der noch vornehme und edle Charakterzüge traten, wie sich aus dem Fortgang der Handlung ergeben wird. Mr. Corless musste das vierte Lebensjahrzehnt beendet haben, erste graue Strähnen durchzogen das von Natur aus sehr dunkle und leicht gewellte Haar und in den feinen Linien seines länglichen Gesichts spielte eine offenherzige Mimik, die seine Gefühlsregungen unverfälscht wie in einem offenen Buch erkennen ließ.
Wir erhoben uns und begrüßten den Gast, der einige höfliche Floskeln als Entschuldigung seines frühen Erscheinens vorbrachte. Er nahm an unserem Frühstückstisch Platz, lehnte aber eine Einladung zur Teilnahme ab und bat nur um ein Glas Wasser. Holmes zündete sich seine übliche Pfeife an und forderte den Gast mit einer einladenden Handbewegung auf, sein Anliegen vorzutragen.
„Sie sehen mich hier, meine Herren“, begann Mr. Corless seinen Vortrag, „Sie sehen mich hier in einer Lage, die ich nicht gewohnt bin und deren Bedeutung ich nicht abzuschätzen vermag. Ereignisse von ungeheurer Tragweite könnten Folge meines Besuchs sein, so wie der Flügelschlag eines Schmetterlings in einer tropischen, aufgeheizten Atmosphäre ein Unwetter gigantischen Ausmaßes auslösen könnte. Ich muss mich daher ihrer absoluten Verschwiegenheit und Loyalität zu den Grundfesten unseres Gemeinwesens versichern.“
Holmes nickte zustimmend und ich betonte meine Verpflichtung zum Schweigen.
„Gut. Ich möchte Ihnen zunächst etwas zu meiner Person mitteilen. Ich bin der Privatsekretär einer hochgestellten, ich darf sagen, höchstgestellten Persönlichkeit unseres Landes und habe mir in den letzten Jahren wegen meiner absoluten Loyalität ein gewisses Vertrauen meines Herrn erworben. Ursprünglich war ich mit der Sichtung der reichen Buchbestände seines Hauses beauftragt, habe aber bald die Privatkorrespondenz übernommen und erhielt so Einblicke in sehr intime Details der Familie, der zu dienen mir nun seit zwanzig Jahren Ehre und Ansporn ist. Dies allein ist natürlich kein Grund, Sie aufzusuchen, sodass ich ihnen nun das entsetzliche Ereignis des gestrigen Morgens schildern muss, das unser aller geruhsamen und geordneten Alltag so stark durcheinandergewirbelt hat.“
Der Erzähler sah mit einem Ausdruck ehrlichen Kummers in die Runde.
„Nun also zu den Einzelheiten. Seine Hoheit saß gestern Morgen wie immer mit ihrer Hoheit, seiner Gattin, im Speisezimmer, um sein erstes Frühstück einzunehmen. Sie müssen wissen, dass das eigentliche Frühstück um zehn Uhr in Anwesenheit der ganzen Familie, der Vertrauten und eventueller Gäste stattfindet und einen durchaus zeremoniellen Charakter besitzt, während das kleine Dejeuner im roten chinesischen Salon eingenommen wird, wobei nur George, der langjährige erste Diener Seiner Hoheit, bei Tisch serviert. Die Speisen, übrigens nur etwas Toast, Butter und Marmelade, werden aus der Küche heraufgeholt und in einem Vorraum vor dem Speisezimmer unter großen Silberglocken aufbewahrt, bis die Hoheiten Platz genommen haben. Zuerst betritt Seine Hoheit den Salon, Ihre Hoheit kommt später dazu und benutzt eine hinter einer Tapete versteckte Tür, die über eine Treppe direkt zu ihren Gemächern führt. Sie meidet morgens die Flure, da sie im Morgenmantel erscheint und sich erst später für den Tag einkleidet.“