Shi Yu - Davide Morosinotto - E-Book

Shi Yu E-Book

Davide Morosinotto

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Beschreibung

Meisterhaft erzählter Martial-Arts-Roman über den Aufstieg einer jungen Frau vom Waisenkind zur Befehlshaberin der größten Flotte Chinas. Für Jugendliche ab 13 Jahren.

Fliegende Klinge wird sie genannt. Schwerelos fliegt sie durch die Luft und gleitet über das Wasser. Shi Yu ist eine Meisterin der Kampfkunst. Ohne den Wushu der Luft und des Wassers hätte sie nicht überlebt, als sie von Piraten entführt wurde. Noch ahnt sie nicht, dass sie die größte Piratin der chinesischen Meere werden soll und dass es nur einen Mann gibt, der es an Geschicklichkeit mit ihr aufnehmen kann: der gefährliche Eunuchenfürst Cao Feng.

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Das Buch

Fliegende Klinge wird sie genannt. Schwerelos fliegt sie durch die Luft und gleitet über das Wasser. Shi Yu ist eine Meisterin der Kampfkunst und ohne den Wushu der Luft und des Wassers hätte sie nicht überlebt, als sie von Piraten entführt wurde. Noch ahnt sie nicht, dass sie die größte Piratin der chinesischen Meere werden soll und dass es nur einen Mann gibt, der es an Geschicklichkeit mit ihr aufnehmen kann: der gefährliche Eunuchenfürst Cao Feng.

Meisterhaft erzählter Abenteuerroman über den Aufstieg einer jungen Frau vom Waisenkind zur Befehlshaberin der größten Flotte Chinas. Angelehnt an die Lebensgeschichte der Piratin Ching Shih.

Der Autor

© Tamara Casula

Davide Morosinotto wurde 1980 in Norditalien geboren. Bereits mit 17 Jahren schrieb er seine erste Kurzgeschichte, die auf der Auswahlliste des renommierten italienischen Literaturpreises »Premio Campiello« stand. Seitdem hat er über 30 Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, für die er zahlreiche Preise erhalten hat. Davide Morosinotto lebt als Autor, Journalist und Übersetzer in Bologna. Sein Kinderbuch »Die Mississippi-Bande« wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor*innen und Übersetzer*innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator*innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

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Viel Spaß beim Lesen!

Erklärungen zu den chinesischen Begriffenfinden sich im Glossar am Ende des Buchs.

Das Mädchen, aus dem eines Tages Die Größte werden sollte, stolperte über einen herumstehenden Hocker.

Das Tablett glitt ihr aus den Händen und die Schalen flogen in hohem Bogen durch den Raum. Ein Regen aus Haifischflossensuppe ergoss sich auf die Gäste, die schreiend versuchten, dem kochend heißen Suppenschwall auszuweichen.

Drei Schalen fielen zu Boden und zersprangen in tausend Scherben.

Der vierten blieb dieses Schicksal erspart, denn einem Jungen gelang es, sie aufzufangen: In perfektem Gleichgewicht auf einem Bein stehend schaffte er es, die Schale auf dem Spann seines Fußes landen zu lassen.

Und so geschah es, dass Shi Yu zum ersten Mal auf Li Wei aufmerksam wurde.

Yu kniete zwischen den Sitzbänken auf dem suppennassen Fußboden der Gastwirtschaft und ließ die Schelte der Gäste über sich ergehen, die das erst sechsjährige Mädchen grob beschimpften. Dennoch weinte sie nicht. Schweigend schaute sie zu dem Jungen auf, der immer noch auf einem Bein stand und auf dem anderen die Schale balancierte.

Wei erwiderte Shi Yus Blick. Er griff nach der Schale, stellte sie auf einem Tisch ab und lief davon.

In genau demselben Augenblick kam Bai Bai dazu, der Gastwirt.

»Du elende Laus!«, schrie er. »Was hast du nun schon wieder angestellt?«

Ein Gast pflanzte sich vor ihm auf. »Meine Jacke ist ruiniert.«

»Entschuldigen Sie, ehrenwerter Herr, das ist ganz allein die Schuld dieser Versagerin. Es wird mir eine Ehre sein, Ihnen ein Getränk anzubieten …«

»Ich will kein Getränk, ich will eine neue Jacke.«

»Ja, sicher, wir werden eine Lösung finden …« Ohne sein Gespräch mit dem Gast zu unterbrechen, ging Bai Bai zu Yu, die immer noch am Boden kniete. Er packte sie an ihrem Kittel. »Was machst du hier immer noch, du nutzloses Ding? Entschuldigen Sie bitte vielmals, mein Herr, das Balg ist ein hoffnungsloser Fall … Nun hol schon Eimer und Lappen! Ihre Eltern haben sie ausgesetzt, weil sie so dumm ist. Aus reiner Barmherzigkeit habe ich sie aufgenommen … Du elende Laus!«

Bai Bai versetzte Yu einen Fußtritt und das Mädchen sprang auf, um einen Eimer zu holen und die verschüttete Suppe aufzuwischen.

Es war schon ziemlich spät am Abend und wie immer um diese Zeit bot der nur aus gestampftem Lehm bestehende Fußboden der Gastwirtschaft einen unappetitlichen Anblick, denn er war ziemlich aufgeweicht und mit Spuckspuren und Nahrungsresten übersät.

Keiner der Gäste achtete weiter auf das Kind, das den Boden aufwischte. Einer ließ sogar einen abgenagten Hühnerknochen auf Yus Kopf fallen.

Als Bai Bai die letzte Laterne löschte und die Gastwirtschaft abschloss, arbeitete Yu immer noch. Der Wirt stellte sich vor sie hin. Er hielt ein Seil in der Hand, in das er in regelmäßigen Abständen pfirsichkerngroße Knoten geknüpft hatte.

»Du bist ein unnützes Ding«, sagte er zu ihr. »Wenn du nicht schleunigst lernst, weniger ungeschickt zu sein, treibst du mich noch in den Ruin.«

Yu hatte gewusst, dass es dazu kommen würde. Sie wusste es seit dem Augenblick, als sie über den Hocker gestolpert war und das Gleichgewicht verloren hatte. Deshalb erwiderte sie nichts darauf.

»Mal sehen, ob dir das hier hilft, nächstes Mal besser aufzupassen.«

Der erste Schlag mit dem Seil traf Yu zwischen Schulter und Hals. Es war eine empfindliche Stelle und sie hatte keine Zeit gehabt, sie zu schützen. Der heftige Schmerz löschte einen Augenblick lang alles andere aus, ihr Körper schien nur noch aus Feuer und Blut zu bestehen.

Sie schrie auf, obwohl sie sich vorgenommen hatte, es nicht zu tun. Gleich darauf kauerte sie sich auf dem Boden zusammen und versuchte, die Füße, die Hände und das Gesicht einzuziehen, all die Teile ihres Körpers, an denen die Hiebe am stärksten wehtaten.

Die Bestrafung dauerte lange, und die ganze Zeit über dachte Yu nur an Wei. Sie war sich sicher, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben, aber vielleicht war er ihr nur nicht aufgefallen. Bei der Arbeit war sie stets sehr konzentriert, denn es gab so viel, worauf sie achten musste: Es galt, das Tablett mit den vielen Bechern, Schalen und Tellerchen ganz gerade zu halten und gleichzeitig betrunkenen Gästen und dem Wirt möglichst aus dem Weg zu gehen. Also war es durchaus möglich, dass Wei schon öfters in die Gastwirtschaft gekommen war und sie ihn übersehen hatte. Doch dieses Mal hatte sie ihn bemerkt. Und sie wollte ihn unbedingt wiedersehen.

In der Nacht, als die alte Jia Yus Wunden mit Salbe bestrich, fragte das Mädchen: »Hast du den Jungen gesehen, der heute Abend da war?«

»Was? Wann?«

»Da war doch ein Junge. Als ich hingefallen bin und der Wirt böse geworden ist. Der Junge hat eine Schale aufgefangen, sodass sie nicht zerbrochen ist.«

»Ach der«, sagte die alte Jia. »Das ist Li Pengs Enkel.«

»Und wer ist Li Peng?«

»Ein Säufer. Er hat nie auch nur einen einzigen Wen dabei, deshalb schnorrt er die anderen Gäste an. Sobald Bai Bai ihn sieht, jagt er ihn fort.«

Yu meinte, sich an ihn erinnern zu können: ein zierlicher Greis mit faltigem Gesicht und einem Zopf, der derartig schmutzig war, dass er steif wie ein Stock am Rücken des Alten herunterhing.

Sie nahm sich vor, von nun an Ausschau nach ihm zu halten.

Ungefähr eine Woche später betraten Großvater und Enkel die Gastwirtschaft. Der Alte war bereits betrunken und stützte sich auf den Jungen, als sei der seine Krücke.

»Ist hier jemand, der einem armen Alten ein Gläschen anbietet?«

»Verschwinde!«, fuhr ein Mann ihn an.

Der Greis löste sich von seinem Enkel, setzte sich auf eine Bank und beugte sich dem Mann entgegen, um ihn abermals anzuschnorren.

In diesem Moment kam Yu dazu, die ein Tablett voller Becher mit lauwarmem Reiswein und Dim-Sun-Schälchen trug. Sie stellte die Becher und Schälchen vor die Gäste und ergriff im Weggehen den Arm des immer noch vor dem Tisch stehenden Jungen.

»Komm mal mit«, flüsterte sie.

Sie zog ihn mit sich, quer durch den sich allmählich füllenden Gastraum und hinaus auf die finstere, übel riechende Gasse.

Im Schein der am Gaststätteneingang hängenden Laterne betrachtete Yu ihn eingehend: ein magerer Junge und kaum größer als sie selbst. Wie alle Jungen und Männer war er nach Mandschu-Vorschrift frisiert: Die Stirn war kahl rasiert, die übrigen Haare waren zu einem Zopf geflochten. Yus plötzliche Aktion hatte ihn erschreckt.

»Wer bist du?«, fragte Yu.

»Ich heiße Li Wei«, antwortete er.

»Ich habe dich nicht nach deinem Namen gefragt, ich habe dich gefragt, wer du bist.«

»Ein … Junge? Li Pengs Enkel?«

Ungeduldig schüttelte Yu den Kopf. Dieser Trottel schien nichts zu kapieren. »Neulich abends bin ich gestolpert und habe dabei drei Schalen zerbrochen. Du hast die vierte aufgefangen.«

»Stimmt.« Er nickte. »Wolltest du dich dafür bedanken?«

Wieder schüttelte sie den Kopf. Dann schaute sie ihm direkt in die Augen.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte sie.

»Was?«

»Die Schale zu erwischen, bevor sie auf den Boden fiel. Noch dazu mit dem Fuß. Wie hast du das hinbekommen?«

»Ich … ich weiß es nicht«, stammelte der Junge. »Ich habe es einfach gemacht, ohne nachzudenken.«

»Sag mir sofort die Wahrheit oder ich tue dir weh!«

Wei grinste. »Du bist doch ein Mädchen.«

Die Finger wie Krallen gekrümmt, sprang Yu ihn an und zerkratzte ihm das Gesicht.

»He!«, protestierte Wei.

Yu hob den Arm, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen, doch ihre Hand traf nur auf Luft, denn plötzlich stand Wei nicht mehr vor ihr, sondern hinter ihr und hatte sie an den Schultern gepackt.

»Beruhige dich mal …«

»Du hast es schon wieder gemacht!«, kreischte Yu. »Ich will wissen, wie das geht! Wie kannst du dich so schnell bewegen? Wer bist du?«

»Schon gut, schon gut«, erwiderte Wei. »Das ist keine Zauberei … Mein Großvater war ein Meister der Kampfkunst.«

Yu erstarrte. »Dieser alte Trunkenbold?«

»Jetzt ist er einer, aber früher hat er oben im Norden die Leibwache des Kaisers ausgebildet.«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Es ist aber so … Also … Er bringt mir eben ein bisschen was bei. Wenn er einigermaßen nüchtern ist.«

Über Weis Gesicht legte sich ein seltsamer Schatten, ein Schatten, den Yu sehr gut kannte. Sie sah ihn jeden Morgen, wenn sich ihr Gesicht beim Waschen im Wassereimer spiegelte.

»Glaubst du, dein Großvater könnte es mir auch beibringen?«, fragte sie.

»Ich weiß nicht …«, murmelte Wei und strich mit der Hand über die Kratzer, die Yu ihm zugefügt hatte. »Mein Großvater ist nicht mehr ganz in Form. Das sieht man ja.«

»Aber du könntest ihn fragen.«

»Ja, könnte ich.« Wei wirkte verblüfft. »Aber warum sollte ich das überhaupt tun?«

Jetzt grinste Yu. »Weil wir auf diese Weise Freunde werden.«

Und seltsamerweise fanden beide, dass dies ein sehr guter Grund war.

Wenn Bai Bai Yu dabei erwischt hätte, wie sie Reiswein verschenkte, hätte er sie windelweich geprügelt. Deshalb war klar, dass Bai Bai es nicht sehen durfte.

Yu stellte so viele Schälchen auf das Tablett, wie darauf passten. Schälchen mit auserlesenen Leckerbissen wie Wachteleier, geröstete Schnecken und gedünstete Lotoswurzeln, dazu noch sechs Becher mit lauwarmem Reiswein.

Normalerweise hätte sie niemals so viel auf ein Tablett gepackt, denn je voller es war, desto größer die Gefahr, dass etwas schiefging. Doch die Bestellung war für einen Tisch mit sechs Personen, Freunde, die ein Wiedersehen feiern wollten. Und weil das Tablett so voll war, fiel es nicht auf, dass noch ein siebter Becher darauf stand.

Yu nahm das schwere Tablett, holte tief Luft und durchquerte beinahe im Laufschritt den Gastraum, als könne Geschwindigkeit verhindern, dass die Flüssigkeit aus den Bechern schwappte.

Es war schon spät. Der Gastraum war voller Leute, die sich laut unterhielten, der Fußboden war mittlerweile feucht und rutschig. Die an der Decke aufgehängten Laternen erzeugten lediglich runde, schwankende Lichtflecken.

Ich werde stolpern, dachte Yu. Ich falle hin und Bai Bai peitscht mich aus.

Ihre Hände begannen zu zittern. Durch reine Willenskraft zwang Yu sie, damit aufzuhören.

Nein, sagte sie sich. Es darf einfach nicht passieren.

Sie schleuderte das Tablett förmlich auf den Tisch.

»Ent… entschuldigen Sie bitte, ehrenwerte Herren«, stammelte sie. »Ich serviere gleich alles.«

Sie verteilte Schälchen und Becher und bediente als Erstes den Mann, der auf dem Ehrenplatz saß, der Platz, der dem Eingang zugewandt war. Den zweiten Becher stellte sie vor den Mann zu seiner Linken, den dritten vor den zu seiner Rechten, danach bediente sie den nächsten auf der linken Seite, wirbelte herum und reichte einen Becher Weis Großvater am Nebentisch. Dann drehte sie sich wieder um und stellte die restlichen Becher und Schalen auf den Tisch der sechs Freunde.

Das alles tat sie sehr schnell und ohne zu zögern, in der Hoffnung, dass ihr die Geschwindigkeit auch dieses Mal helfen würde. Als sie fertig war, hielt sie die Luft an.

Jetzt konnte vieles schiefgehen. Einer der sechs Freunde könnte sich beschweren, dass sie den vernachlässigt wirkenden Trunkenbold vor ihm bedient hatte. Oder Bai Bai konnte mit einem Stock in der Hand aus der Küche geeilt kommen.

Doch die Freunde unterhielten sich unbeschwert und hatten überhaupt nichts gemerkt.

Yu klemmte sich das Tablett unter den Arm und lief zurück in die Küche.

Nun hieß es abwarten.

Als die erste Laterne erlosch, teilte Bai Bai den Gästen mit, dass es Zeit wurde zu schließen. Einige Tische leerten sich.

Als auch die zweite Laterne ausgegangen war, wiederholte der Wirt seine Warnung.

Als die dritte Laterne erlosch, griff der Wirt zu einem Bambusstab und verjagte damit die letzten Trinker, jene, die schon derartig betrunken waren, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten.

Unter ihnen war auch der alte Peng. Der Wirt schlug ihn mit dem Bambusstab hart auf den Rücken.

»Verschwinde, Faulpelz, das Lokal ist geschlossen!«

Der Greis protestierte und Wei stellte sich zwischen die beiden Männer. »Schlagen Sie meinen Großvater nicht, Herr. Er ist sehr alt.«

»Vor allem ist er sehr besoffen. Bring ihn hier weg!«

»Warte«, sagte Yu. »Ich helfe dir.«

Sie stellte sich auf die eine Seite des Greises und versuchte, ihn hochzuziehen. Wei ging auf die andere Seite und tat dasselbe. Der Alte stand auf, hielt aber die Augen geschlossen, als schliefe er.

Bai Bais Gastwirtschaft befand sich in einer kleinen Gasse am Hafen. Auf der einen Seite lag die Stadtmauer, auf der anderen Seite waren die Kais. Es war eine schwüle, stille Nacht. Aus der Ferne hörte man den Perlfluss rauschen.

»Wo wohnt ihr denn, dein Großvater und du?«

»In der Nähe der Dreizehn Häuser.«

Es war das Viertel der fremden Teufel. Yu hatte sie einige Male zu Gesicht bekommen und fand sie hässlich. Sie waren groß und stark behaart und strömten einen ekelhaften Gestank aus. Die alte Jia behauptete, sie würden sich niemals waschen, sondern nur ab und zu die Kleidung wechseln.

»Soll ich dich begleiten?«

»Nein, danke, ich schaff das schon allein.«

»Aber es ist doch weit!«

Die Dreizehn Häuser waren mindestens drei Li von der Gastwirtschaft entfernt. Wer zügig voranschritt, konnte die Strecke in gut einer Viertelstunde zurücklegen. Doch für einen Jungen, der einen bewusstlosen Alten mitschleppen musste, war sie entschieden zu lang.

»Das geht schon«, meinte Wei.

In diesem Augenblick hob der Großvater den Kopf, öffnete ein Auge und richtete es auf Yu.

»Mädchen … danke.«

Yu nahm an, dass er sich für den Wein bedankte. Sie hatte genau darauf gewartet, doch wäre es ihr lieber gewesen, wenn der Alte in diesem Moment nüchterner gewesen wäre. Aber vielleicht war dies die einzige Gelegenheit, die sich ihr bot.

»Gern geschehen«, entgegnete sie. »Aber es war nicht umsonst.«

»Ich habe … habe nicht …«

»Ich will kein Geld dafür. Ich will, dass du mir die Kampfkunst beibringst. Wie du sie Wei beigebracht hast.«

Ihre Worte schienen den Alten ein wenig wacher zu machen. Er richtete sich auf.

»Du bist ein Mädchen«, stellte er fest.

»Ich habe dir Reiswein gegeben, dafür schuldest du mir etwas. Du musst mich lehren.«

»Und falls ich das täte, würdest du … wieder Wein …?«

Yu überlegte. »Vielleicht ab und zu«, antwortete sie. »Wenn ich es schaffe, dass Bai Bai nichts merkt.«

»Dann ist es abgemacht«, nuschelte der Greis. »Komm … morgen.«

»Zu den Dreizehn Häusern?«

Der Alte schwankte und Wei musste sich gegen ihn stemmen, damit er nicht hinfiel.

»Nein«, sagte der Großvater. »Zum Teich.«

»Einer der Teiche am Nordosttor«, beeilte sich Wei zu erklären. »Dort gehen wir immer zum Üben hin. Um die Stunde des Affen herum.«

Weil die Gastwirtschaft im Südosten lag, würde Yu durch das nächstgelegene Tor in die Stadt gehen und diese ganz durchqueren müssen. Das entsprach einer Strecke von acht oder neun Li. Wenn sie sofort nach der Mittagsschicht loslief, würde sie gerade eben rechtzeitig für die Abendschicht zurückkommen.

Es war riskant. Bai Bai könnte ihre Abwesenheit bemerken. Und sie grausam dafür bestrafen.

»In Ordnung«, erwiderte sie. »Ich werde kommen.«

»Einverstanden«, sagte der alte Peng.

Wieder stützte er sich auf Weis Schulter und lief schwankend mit seinem Enkel nach Hause.

In der Küche, die ihr als Schlafstätte diente, überlegte Yu die ganze Nacht lang, wie sie ihr Versprechen halten und am kommenden Nachmittag zu den Teichen am Nordosttor gelangen konnte.

Sie war noch zu jung, um sich der Gefahren bewusst zu sein, die in einer Stadt wie Kanton auf sie lauerten. Aber sie war sich voll darüber im Klaren, was passieren würde, wenn Bai Bai merkte, dass sie weggelaufen war.

Die Gastwirtschaft war vom frühen Morgen bis in den späten Abend hinein geöffnet und Yu hatte praktisch die ganze Zeit über Dienst. Sie musste die Gäste bedienen, in der Küche helfen und in den ruhigeren Phasen putzen.

Bai Bai dagegen kam und ging, wie es ihm beliebte, doch blieb er niemals sehr lange weg. Früher oder später würde er nach dem Rechten sehen, und wenn er sie dann nirgends fand …

Am folgenden Morgen hatte Yu ihr Problem immer noch nicht gelöst.

Nach dem Aufwachen stand sie sogleich auf, wusch sich, zog sich an, entzündete das Feuer in der Küche und ging in den Gastraum, um den Boden zu wischen. Die alte Jia half ihr, Tische und Bänke aufzustellen, und gemeinsam öffneten sie die zweiflügelige Eingangstür. Anschließend kehrte Jia in die Küche zurück und Yu putzte weiter, bis Gäste kamen.

Die Erste an diesem Tag war Tanzende Lotosblüte. Sie war eine hervorragende Tänzerin, die in der ganzen Stadt berühmt war, und die schönste Frau, die Yu jemals gesehen hatte.

Ihren Namen verdankte die junge Tänzerin ihren Lotosfüßen: Als sie noch ganz klein gewesen war, waren ihre Füße durch straffe Bandagen am Wachsen gehindert worden. Deshalb waren sie wesentlich kleiner als Yus Füße, obwohl Yu erst sechs Jahre alt war.

Aufgrund ihrer winzigen Füße war der Gang von Tanzende Lotosblüte schaukelnd, wie der eines Schiffs bei hohem Wellengang, doch die Männer fanden genau das unwiderstehlich. Immer wenn Tanzende Lotosblüte die Gastwirtschaft betrat, wandten sich alle Blicke ihr zu und es wurde geradezu unheimlich still, selbst dann, wenn der Raum voll besetzt war.

»Kleines«, sagte Tanzende Lotosblüte, »heute Nacht bin ich nicht ins Bett gekommen und ich bin sehr hungrig. Bring mir alles, was du finden kannst.«

»Ich werde Sie höchstpersönlich bedienen, ehrenwerte Dame«, rief Bai Bai, der soeben den Raum betreten hatte.

Yu wusste, dass Tanzende Lotosblüte dem Wirt ausgesprochen gut gefiel und dass die Frau des Wirts immer bemüht war, ihren Mann vom Gastraum fernzuhalten, wenn sich die Tänzerin dort aufhielt. Das brachte das Mädchen auf eine Idee. Wenn Tanzende Lotosblüte nur lange genug sitzen blieb, würde Bai Bai Yus Anwesenheit überhaupt nicht bemerken. Und sie könnte zu Wei und dem alten Peng laufen und ihre erste Übungsstunde erhalten.

Inzwischen hatte der Wirt die junge Frau bedient und sich wieder in die Küche zurückgezogen. Tanzende Lotosblüte aß langsam, den Blick ins Leere gerichtet.

Auf einmal drehte sie sich zu Yu um.

»Warum stehst du da und starrst mich an?«, fragte sie.

Das war so plötzlich gekommen, dass die überrumpelte Yu genau das sagte, was sie gerade gedacht hatte: »Sie gefallen dem Wirt sehr gut, Ältere Schwester.«

»Ja«, bestätigte die Tänzerin. »Das kann durchaus sein. Aber was geht dich das an?«

»Nach dem Mittagessen muss ich heimlich in die Stadt. Solange Sie hier sind, wird Bai Bai gar nicht merken, dass ich weggelaufen bin.«

Die Tänzerin musste lachen. Yu biss sich auf die Lippen und fragte sich, ob sie zu vorlaut gewesen war. Tanzende Lotosblüte war freundlich zu ihr, aber schließlich war sie eine Erwachsene. Und Erwachsenen durfte man nicht trauen, das hatte Yu in ihrem kurzen Leben schon gelernt.

Tanzende Lotosblüte bedeutete dem Mädchen, sich neben sie auf die Bank zu setzen, und Yu gehorchte. Wenn ein Gast es ihr befahl, würde sich Bai Bai nicht darüber aufregen.

»Du bist sehr geradeheraus«, sagte die Tänzerin, »und deshalb werde ich es ebenfalls sein. Warum musst du in die Stadt?«

»Ich darf es Ihnen nicht sagen«, antwortete Yu leise.

»In deinem Alter hast du schon Geheimnisse? Wie alt bist du überhaupt?«

»Sechs Jahre.«

»Und in welchen Teil der Stadt musst du gehen?«

»In die Nähe des Nordosttors.«

»Das ist sehr weit von hier. Hast du denn keine Angst?«

Yu dachte nach. »Nein. Aber ich habe Angst vor Bai Bai. Er darf es nicht merken.«

»Deshalb brauchst du ein Ablenkungsmanöver. Damit der Wirt nicht mitbekommt, dass du weggegangen bist.«

Das Mädchen nickte.

Tanzende Lotosblüte trank ihre Teetasse leer. Kichernd schüttelte sie den Kopf.

»So jung …«, murmelte sie. »So jung, und trotzdem …« Mit einer Handbewegung befahl sie Yu, ihr frischen Tee nachzuschenken. »Ich könnte es tun«, sagte sie. »Ich könnte dir helfen. Schon seit Langem will Bai Bai, dass ich für ihn tanze, und heute könnte ich ihm diesen Wunsch endlich erfüllen.«

»Würden Sie das wirklich tun?«, fragte Yu. »Ich habe aber kein Geld, um Sie zu bezahlen.«

Tanzende Lotosblüte musste lachen. »Das weiß ich doch, mach dir deshalb keine Sorgen. Bai Bai wird mich für meine Arbeit bezahlen. Dennoch verlange ich auch von dir etwas. Ein Versprechen und ein Geheimnis.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Yu.

»Eines Tages, irgendwann in der Zukunft, könnte ich vielleicht deine Hilfe brauchen. Nein, mach nicht so ein Gesicht. Jetzt bist du nur ein kleines Mädchen, doch du wirst groß werden. Wenn ich dich dann um einen Gefallen bitte, wirst du ihn mir nicht verweigern, was auch immer es sein mag. Versprich mir das.«

Yu kam dieser Vorschlag äußerst seltsam vor. Wie in aller Welt würde sie einer so ungewöhnlichen Frau wie Tanzende Lotosblüte jemals helfen können? Dennoch kam ihr das Angebot vernünftig vor. Auch jetzt schon hätte sie alles in ihrer Macht stehende getan, um der Tänzerin zu helfen.

»Ich verspreche es«, sagte sie feierlich. »Und das Geheimnis?«

»Du musst mir verraten, was du heute Nachmittag bei den Teichen am Nordosttor so Wichtiges vorhast.«

»Versprechen Sie, dass Sie mich nicht auslachen werden?«, fragte Yu.

»Ich werde nicht lachen«, erwiderte Tanzende Lotosblüte.

Yu betrachtete sie von Kopf bis Fuß.

»Ich werde die Kampfkunst erlernen«, sagte sie, »und unglaublich stark werden.« Und weil Tanzende Lotosblüte sie stumm anstarrte, fügte sie hinzu: »Ich bin es leid, schwach zu sein.«

Die Tänzerin nickte. »Ja, mein Kind, das verstehe ich gut. Auch ich bin es leid. Meinen Segen dazu hast du.«

Bai Bais Gastwirtschaft war eine düstere Spelunke, in der sehr fragwürdige Leute verkehrten: jene Art von Männern, die stets ein Messer dabeihatten und eine Schlägerei als angenehme Freizeitbeschäftigung ansahen. Dennoch war sie verhältnismäßig sauber, der Reiswein kostete wenig und die alte Jia war eine ausgezeichnete Köchin. Deshalb war das Lokal stets gut besucht.

Den ganzen Vormittag über war Yu derart beschäftigt, dass sie keine Zeit mehr hatte, über das Angebot von Tanzende Lotosblüte nachzudenken. Nachdem die Tänzerin fertig gefrühstückt hatte, war sie gegangen und jetzt wusste Yu nicht, ob sie rechtzeitig zurückkehren würde, um ihr zu helfen, oder nicht.

Auch Bai Bai schien an diesem Tag nervöser als sonst zu sein.

Um die Mittagszeit betrat eine Gruppe von Matrosen den Raum. Sie waren soeben aus Macau gekommen und bestellten einen ganzen Berg von Schälchen und viele Krüge Reiswein. Als Yu sie bediente, bekam sie mit, dass die Seeleute den ganzen Tag freihatten, und befürchtete schon, dass sie bis zum späten Abend in der Gastwirtschaft bleiben würden. Doch um die Stunde des Schafs beschloss einer der Männer loszuziehen, um schöne Mädchen kennenzulernen. Die anderen nahmen den Vorschlag mit Begeisterung an und alle brachen gemeinsam auf.

Die Gastwirtschaft leerte sich.

Das Mädchen war noch dabei, den vermüllten Fußboden zu säubern, als Tanzende Lotosblüte zurückkehrte.

Sie hatte sich umgezogen und trug nun einen silberfarbenen, eng anliegenden und kurzärmeligen Cheongsam, der ihr blasses Gesicht erstrahlen ließ. Yu fand sie wunderschön.

»Wird es nicht langsam Zeit aufzubrechen, Kleines?«

»Ja, das sollte ich.«

»Na, dann los«, sagte Tanzende Lotosblüte leise. »Mach dir wegen Bai Bai keine Sorgen, ich werde mich um ihn kümmern, bis du wieder da bist.«

Yu ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie band mit ihrem Gürtel ihren langen Kittel hoch, damit er sie nicht beim Laufen behinderte, und verließ schleunigst das Lokal.

Aus Angst, von jemandem erkannt zu werden, rannte sie so schnell sie konnte die Gasse entlang. Nachdem sie nach links abgebogen war, lief sie ein bisschen langsamer, um länger durchhalten zu können.

Sie hatte es wirklich getan.

Sie war weggelaufen.

Einen kurzen Moment lang fragte sie sich, wie es wohl wäre, niemals mehr zur Gastwirtschaft zurückzukehren und für immer frei zu sein. Dieser Gedanke brachte ihre Wangen zum Glühen. Und auch wenn sie wusste, dass dies gar nicht möglich war, weil sie noch zu jung war, um sich allein durchzuschlagen, musste sie lächeln.

Und doch vergaß sie nicht, dass sie sich beeilen musste. Ihre nackten Füße flogen geradezu über den harten Lehm der Straße. Außer ihr waren auch viele Fischer unterwegs, die den Tagesfang in zwei schweren, an einer Stange hängenden Körben trugen, sowie lachende Matrosen, Soldaten und reiche Kaufleute, die sich von Dienern in Sänften herumtragen ließen.

Es war sehr schwül und Yus Kittel klebte wie eine nasse Alge an ihrer Haut. Aber vielleicht schwitzte sie auch deshalb so stark, weil sie so aufgeregt war. Sie war draußen, in den Straßen, und das ganz allein.

Endlich erreichte sie die Mauern der Neuen Stadt. Sie waren aus grauen Ziegelsteinen erbaut und kamen ihr unwirklich hoch vor.

Die Straße führte durch ein großes, offen stehendes Tor: das Öltor. Es wurde von zwei Soldaten bewacht, die weder an Yu noch an den anderen Passanten interessiert zu sein schienen. Yu wusste, dass sie hauptsächlich wegen der fremden Teufel dort standen, die aufgrund eines Verbots des Kaisers die Stadt nicht betreten durften. Den Ausländern war auch noch einiges andere untersagt, wie etwa die chinesische Sprache zu erlernen. Doch Yu interessierte all das kaum.

Innerhalb der Mauern sah die Stadt ähnlich wie außerhalb der Mauern aus, nur dass die Häuser hier dichter standen, höher waren und beeindruckender wirkten. Im ersten Moment erschrak Yu, weil ihr jetzt erst bewusst wurde, dass sie sich in dieser Gegend nicht auskannte und deshalb nicht orientieren konnte.

»Stimmt etwas nicht, Kleines?«, fragte eine Frau, die Honigküchlein verkaufte.

Yu fragte, ob sie ihr sagen könne, wie sie am besten zu den Teichen beim Nordosttor käme.

»Gehe in dieser Richtung immer geradeaus und du kommst zu einem Kanal«, erklärte die Frau. »Auf der anderen Seite befinden sich die Mauern der Alten Stadt. Du gehst rechts, immer am Kanal entlang, bis zu einer Brücke. Gleich dahinter siehst du einen Turm mit einem Tor. Das ist das Zentraltor. Du solltest dich davon fernhalten, denn dahinter liegt das Viertel der Mandschu, und das sind alles wichtige Leute, die mit einem zerlumpten Kind nichts zu tun haben wollen.«

Yu schaute an sich hinunter, sie fand nicht, dass sie zerlumpt aussah. Sie war sehr reinlich, das sagte ihr die alte Jia stets. Und auch vernünftig. Jedenfalls meistens, außer an diesem Nachmittag.

»Was kann ich denn dann tun?«, fragte sie.

»Anstatt durch das Zentraltor zu gehen, läufst du weiter am Kanal entlang. Nach einer Weile kommen eine weitere Brücke und ein weiterer Turm mit einem Tor, aber auch um die machst du einen großen Bogen. Erst die dritte Brücke mit dem dritten Turm ist für dich richtig. Du gehst über die Brücke und durch das Tor. Und dann …«

»Und dann?«

»Dann suchst du dir wieder eine nette Frau wie mich und fragst sie nach dem Weg.«

Yu bedankte sich. Gern hätte sie der Frau auch etwas von ihren köstlich duftenden Süßigkeiten abgekauft, doch sie besaß überhaupt kein eigenes Geld. Also lief sie los.

Im Kanal wimmelte es nur so von farbenfrohen Booten, die von dünnen Männern mit langen Stangen fortbewegt wurden. Auf der anderen Seite erhoben sich Mauern, die noch wesentlich höher als die beim Öltor waren. Sie reichten von einem Horizont zum anderen und waren zweifarbig: die untere Hälfte war rot bemalt, die obere grau.

Yu näherte sich dem ersten Turm. Er war sehr hoch und breit und wurde von vielen Soldaten bewacht. Die Soldaten trugen glänzende Rüstungen und hatten lange Hellebarden, an denen bunte Quasten hingen.

Wie die Frau es ihr geraten hatte, lief Yu an dem Turm vorbei und ebenso am zweiten. Sie war nun schon lange unterwegs und allmählich wurden ihre Beine müde und ihr Herz klopfte heftig in ihrer Brust.

Am liebsten hätte sie sich ein wenig ausgeruht, doch sie wusste nicht, wie lange Tanzende Lotosblüte den Wirt ablenken konnte. Außerdem war die Stadt wesentlich größer, als sie sich vorgestellt hatte.

Sie konnte nur hoffen, dass es zu den Teichen nicht mehr weit war …

Endlich erreichte sie die Brücke, die zum dritten Turm führte, und rannte hinüber. Plötzlich ergriff eine Hand ihren Knöchel und sie fiel der Länge nach auf die feuchten Brückenplanken.

»Wen haben wir denn da?«, rief eine schrille Jungenstimme. »Ein kleines Mädchen, das es sehr eilig hat.«

Yu begriff nicht, was soeben geschehen war.

Sie erhob sich. Tränen strömten ihr über das schmerzende Gesicht.

Sie umringten sie. Es waren fünf Jungen. Der Kleinste musste ungefähr so alt wie Yu sein, der Größte war vielleicht zwölf. Zwei waren elegant gekleidet und trugen Schuhe, Hosen und lange Hemden. Zwei standen mit bloßem Oberkörper da und einer war völlig nackt, von seinem nassen Körper triefte das Wasser auf die Brücke.

»Warum starrst du Guo Huiliang an? Hast du noch nie einen nackten Jungen gesehen?«

»Sag ihr doch nicht meinen Namen, du Dummkopf!«

Er mochte neun Jahre alt sein, benahm sich aber, als sei er der Anführer: ein magerer Junge mit brauner Haut und einem Zopf, der ihm fast bis zur Taille reichte. Er starrte sie so verächtlich an, als sei sie nur ein Stein oder eine Kröte.

»Wa… wa… was wollt ihr von mir?«, stotterte Yu.

»Wir wollen uns nur ein wenig amüsieren«, erwiderte Huiliang. »Lasst mich in Ruhe. Ich muss weiter, ich habe es eilig.«

»Habt ihr das gehört? Das Schwesterchen hier hat es eilig.«

»Es will mit uns keine Zeit verlieren«, spottete ein anderer. »Bestimmt muss es jemand Wichtigeren treffen. Aber wer kann wichtiger sein als der Erbe des Hauses Guo?«

Huiliang hechtete zu dem Jungen, der das gesagt hatte, und ohrfeigte ihn so heftig, dass dessen Kopf zur Seite schnellte.

»Ich habe schon mal gesagt, du sollst nicht über meine Angelegenheiten reden.« Dann schaute Huiliang wieder Yu an. »Warum springst du nicht mal kurz mit uns in den Fluss, bevor du weitergehst?«

»I… ich …«, stammelte Yu.

»Los, Jungs, schnappt sie euch!«

Angsterfüllt schaute Yu sich um. Der Fluss war voller Boote, die Straßen waren voller Menschen. Sie könnte um Hilfe rufen, aber würde dann jemand herbeieilen? Die Jungen trugen Kleidung aus Seide, die Hemden waren mit Goldkordeln verziert. Huiliang musste der Sohn eines Mandarins oder eines reichen Kaufmanns sein. Während sie nur Bai Bais Dienstmagd war.

Die fünf Jungen scharten sich enger um Yu. Jetzt konnte sie nur noch kämpfen oder sich ergeben, und ihr war klar, welche die bessere Lösung war.

Sie sprang den kleinsten Jungen an, den wohl am leichtesten zu besiegenden Gegner.

»Oh, schaut nur! Das Schwesterchen hat scharfe Krallen!«

Mit aller Kraft zog Yu ihre Fingernägel über das Gesicht des Jungen und hinterließ blutige Spuren. Der Kleine schrie vor Schmerz. Yu nahm Anlauf, um ihn beiseitezustoßen und wegzurennen, doch die anderen packten sie von hinten. Yu drehte sich um und wollte sich mit einem Ellbogenstoß wehren. Da griff eine Hand nach ihrem Arm und riss ihn nach hinten. Yu schrie auf und trat um sich.

Sie bekamen erst ihr eines Bein zu fassen, dann das andere.

»Los, Jungs!«, rief Huiliang. »Tragen wir sie zum Fluss. Wir bringen ihr das Schwimmen bei.«

Yu versuchte sich zu wehren, aber fünf Gegner waren einfach zu viele. Sie wurde hochgehoben und unter die Brücke geschleppt, an den Rand des Kanals.

»Wir ziehen ihr lieber den Kittel aus«, schlug einer der Jungen vor.

»Klar, sie will sicher ihre Kleider nicht nass machen«, kicherte ein anderer.

Yu wehrte sich schreiend, doch ihre Angreifer lösten ihren Gürtel. Weiter wollte Yu es nicht kommen lassen, koste es, was es wolle.

Sie verrenkte den Kopf und biss mit aller Kraft in eine Hand, bis sie Blut schmeckte.

Brüllend ließ der Junge sie los und boxte sie in den Rücken. Yu beachtete den Schmerz nicht, sie wand sich wie eine Schlange und trat um sich. Ihr Fuß traf auf etwas Weiches, möglicherweise auf einen Bauch, und gleich darauf ertasteten ihre Zehen den Boden. Sie spürte, wie eine Hand ihren Hals umklammerte, drehte sich um und biss abermals zu. Ein Knirschen wie von Knochen, ein weiterer Schrei. Jetzt stand Yu mit beiden Füßen auf dem Boden. Ihr Blick erfasste Huiliangs grinsendes Gesicht und dahinter das glitzernde Wasser des Kanals.

Ein Ausweg, dachte Yu. Vielleicht der einzige.

Sie sprintete los, so als wolle sie sich in einem letzten verzweifelten Versuch auf Huiliang stürzen, schlug aber in letzter Sekunde einen Haken und sprang in das Wasser, das so warm und trüb wie Brühe war.

»Achtung!«, riefen die Jungen. »Sie entwischt uns!«

Yus langer Kittel saugte sich mit Wasser voll und breitete sich wie eine dicke schwere Flosse rings um sie aus. Yu bekam Panik. Sie konnte nicht gut schwimmen, nur ein bisschen im Wasser paddeln. Das hatte ihr die alte Jia beigebracht, als sie an heißen Nachmittagen kurz zum Hafen gegangen waren, um sich ein wenig abzukühlen. Doch das hier war etwas anderes.

Yu arbeitete sich zur Oberfläche hoch und füllte ihre Lunge mit Luft. Wassertretend drehte sie sich um und sah, dass Huiliang ihr hinterhergesprungen war.

Um den Abstand zu vergrößern, schwamm Yu auf die Mitte des Kanals zu, doch Huiliang war wesentlich schneller als sie. Er holte sie ein und bekam ihren Fuß zu fassen. Yu holte mit dem anderen Fuß aus und trat ihrem Angreifer gegen die Nase. Er gab ein gurgelndes Röcheln von sich und ließ sie los.

Yu schwamm davon, so schnell sie konnte.

»He, wo willst du denn hin?«, rief ihr ein Mann in einem Boot zu. »Pass doch auf!«

Ganz knapp glitt Yu am Rumpf des Boots vorbei. Nur noch ein paar Schwimmzüge und sie hatte das andere Ufer erreicht.

Sie war triefend nass, ihre Lunge brannte und alles tat ihr weh.

Mit einem Blick zum anderen Ufer hinüber stellte sie fest, dass auch Huiliang aus dem Wasser gestiegen war und sich beide Hände vors Gesicht hielt. Seine Freunde hatten sich rings um ihn herum versammelt.

»Dafür wirst du bezahlen!«, schrie ihr der Junge hinterher. »Du hast dir dein eigenes Grab geschaufelt, du hast dir nämlich die Familie Guo zum Todfeind gemacht. Hast du verstanden? Feinde für immer!«

Yu hielt sich nicht damit auf, ihm zu antworten. Immerhin befand sie sich jetzt auf der richtigen Seite des Kanals, auf der Seite des dritten Tors, das sie passieren musste, um ins Herz der Stadt zu gelangen. Zitternd und ihren weiten Kittel mit beiden Händen zusammenhaltend lief sie auf das Tor zu.

Auch vor diesem Tor standen Soldaten in Rüstungen. Als das nasse, weinende Mädchen an ihnen vorbeiging, schauten sie ihm zwar verwundert nach, unternahmen aber nichts, um es aufzuhalten.

Wahrscheinlich wäre ihnen das ohnehin nicht gelungen. Yu lief immer weiter und spürte nichts außer ihrer Angst und unter ihren nackten Füßen die Straße, die in diesem Viertel nicht aus Lehm bestand, sondern gepflastert war.

Irgendwann blieb sie stehen und zog die Nase hoch. Sie befand sich in einer breiten Straße, die von hohen Häusern mit weißen Wänden und schwarzen Holzdächern gesäumt wurde. Hier waren nur wenige Leute unterwegs und es duftete schwach nach Blumen, so als ob in dieser Gegend stets eine würdevolle Ruhe zu herrschen habe. Tatsächlich lebten in diesem Viertel, der Alten Stadt, ausschließlich die reichsten Kaufleute, der Mandschu-Adel und hohe kaiserliche Beamte.

Du hast dir die Familie Guo zum Todfeind gemacht.

Lebhafte Erinnerungen an das, was ihr soeben zugestoßen war, drängten sich ihr auf: die an ihr zerrenden Hände, die höhnischen Bemerkungen, das Wolfslächeln.

Aber du bist ihnen entkommen, sagte sie sich.

Yu beschleunigte ihre Schritte und gelangte in eine Straße, die drei- oder viermal breiter als die vorhergehende war. Sie sah sich nach jemandem um, den sie nach dem Weg fragen konnte, und entdeckte einen taoistischen Mönch, der am Straßenrand um Almosen bat. Ein Bettler, dachte sie, würde ihr nicht allzu viele Fragen stellen.

Der Mönch war noch sehr jung und Yu sah, dass sich dort, wo sein linkes Auge hätte sein sollen, eine hässliche dunkle Narbe befand.

»Entschuldige bitte«, sprach Yu ihn an. »Kannst du mir sagen, wo ich hier bin und wie ich zu den Teichen am Nordosttor komme?«

Der junge Mann wandte ihr sein verbliebenes Auge zu. »Du befindest dich in der Straße des Wohlwollens und der Liebe«, antwortete er. »Das ist die Hauptstraße von Kanton und sie durchquert das gesamte Zentrum. Wenn du dich also verirrst, brauchst du nur dorthin zurückzukehren und schon kannst du dich wieder orientieren.«

Der Mönch sprach Kantonesisch mit dem starken Akzent der Leute des Nordens. Yu hatte Mühe, ihn zu verstehen.

»Zu den Teichen ist es von hier aus nicht mehr weit. Wenn du läufst, bist du bald dort. Nimm die erste Straße links, danach geht es immer geradeaus.«

»Danke«, erwiderte Yu. »Ich würde dir gern eine Münze geben, aber leider habe ich kein Geld.«

»Das macht doch nichts. Lauf!«

Yu rannte weiter und hatte bald ein Stadtviertel erreicht, in dem nur wenige, sehr prunkvolle Häuser standen. Überall sah sie Gärten mit kleinen Pagoden, mit Bächen, über die Holzbrücken führten, und kleinen Teichen, auf denen Seerosen blühten. Das alles wirkte so friedlich, dass sich auch Yu allmählich beruhigte und sie nicht mehr ständig an ihre Angreifer und die Rückkehr zu Bai Bai denken musste.

Schließlich entdeckte sie Wei und dessen Großvater. Der alte Peng war im Schatten eines Baums eingeschlafen, Wei dagegen balancierte mitten im Teich auf einem Bein.

Yu riss die Augen auf: War Wei etwa fähig, auf dem Wasser zu laufen? Dann erst fiel ihr auf, dass er mit der Fußspitze auf einem aus dem Wasser ragenden Stein stand. Plötzlich sprang der Junge unglaublich hoch in die Luft, beinahe als wolle er den Himmel erreichen, und landete auf einem anderen Stein.

Yu ging zum alten Peng und berührte ihn am Arm.

»He«, sagte sie.

Weil er nicht reagierte, schüttelte sie ihn heftiger.

»He, alter Mann!«

Peng öffnete ein Auge. »Ja? Ach, du bist das«, nuschelte er verschlafen. »Du kommst spät.«

Yu merkte, wie ihr Tränen in die Augen schossen, doch sie verbot sich, zu weinen.

»Aber ich bin hier«, stellte sie fest. »Also musst du dein Versprechen halten. Du musst mir die Kampfkunst beibringen.«

»Ach, das soll ich dir versprochen haben?« Peng tat erstaunt. »Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Überhaupt nicht.«

»Doch, das hast du. Du hast meinen Wein getrunken. Und jetzt musst du mich unterrichten.«

»Ach so. Na ja, kann sein, ich weiß es nicht mehr.«

Er war derartig müde oder betrunken, dass er kaum die Augen aufhalten konnte. Yu war enttäuscht: Sie hatte solche Mühen auf sich genommen, nur um einen vertrottelten Greis zu treffen.

»Du hast es versprochen!«

»Ja, ja, schon gut, wie du meinst. Komm morgen wieder.«

»Was?«

»Du hast gehört, was ich gesagt habe. Komm morgen wieder her, und ich werde dich unterrichten.«

Yu dachte an all das, was sie auf sich genommen hatte, um zu der Verabredung zu erscheinen. Dasselbe am folgenden Tag zu wiederholen war undenkbar. Es fing schon damit an, dass es ihr nicht möglich sein würde, eine Ablenkung für Bai Bai zu organisieren.

»Das schaffe ich nicht …«, murmelte sie.

»Dann war es das, und ich kann dich nicht ausbilden.«

»Das ist nicht gerecht! Du bist … Du bist kein … Du bist ein Betrüger!«

Am liebsten hätte Yu ihn geohrfeigt. Sie schlug ihn nur deshalb nicht, weil sie wusste, dass sich der Alte nicht wehren konnte.

Also ballte sie die Hände zu Fäusten, drehte sich um und lief weg, auf die Bäume zu.

Plötzlich hörte sie, wie jemand »Warte!« rief.

Yu beschleunigte ihr Tempo. Doch auch die Schritte hinter ihr wurden schneller. Dann packte eine Hand sie am Handgelenk und zwang sie dadurch, stehen zu bleiben. Yu holte mit dem anderen Arm Schwung, um zuzuschlagen, doch ein fester Griff hielt ihren Arm auf halber Strecke auf. Gleich darauf wurde sie auch am anderen Handgelenken festgehalten. Fest und gleichzeitig sanft.

Es war Wei.

»Wo willst du hin?«

»Dein Großvater …«, begann sie. »Er hat mich angelogen. Er hatte mir versprochen, mich auszubilden, und jetzt will er es nicht mehr tun.«

Wei grinste. »Ich glaube, da irrst du dich.«

»Was?«

»Auf dem Weg hierher hat er von dir gesprochen. Er war sich sicher, dass du deine erste Lektion gut hinbekommen würdest.«

»Wie meinst du das?«

»Dass genau das die Übung war. Bis hierher zu gelangen, quer durch die ganze Stadt. Und um das überhaupt zu schaffen: diesen schleimigen Wirt auszutricksen.«

Yu zog die Nase hoch. Mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet. »Aber das hier … das war keine Kampfkunstübung«, widersprach sie.

»Doch, das war es. Mein Großvater sagt immer, dass ein Krieger schnell, stark und schlau sein muss. Und dass du jetzt hier bist, bedeutet, dass du all diese Eigenschaften besitzt. Du hast deine erste Prüfung bestanden.«

Wei lächelte, und Yu lächelte zurück.

»Aber warum hat er mir das nicht gesagt?«

»Falls du es noch nicht gemerkt hast: Mein Großvater ist seltsam. Man versteht nie, warum er alles so macht, wie er es macht. Oder was er denkt.«

Yu war sich immer noch nicht sicher, ob Peng wirklich ein Meister der Kampfkunst war, doch zumindest wusste sie jetzt, dass Wei sie nicht angelogen hatte. Und das, was er vorhin mitten im Teich vorgeführt hatte, war …

»Fantastisch«, murmelte sie. »Meinst du, ich könnte das, was du kannst, eines Tages auch lernen?«

»Aber ja, und zwar ganz schnell. Du bist kleiner als ich, du bist leicht und beweglich. Ich wette, dass es dir nicht schwerfallen wird.«

»Und dann werde ich mich so bewegen können wie du?«

Wieder schenkte Wei ihr ein Lächeln. »Vielleicht. Ich glaube, du wirst das sogar sehr gut hinbekommen.«

Yu nickte. »Ja, das glaube ich auch.«

Sie schaute zur Sonne und merkte, dass es später war, als sie gedacht hatte. Bald würden die ersten Gäste zum Abendessen kommen und wenn sie bis dahin nicht im Lokal war, würde Bai Bai sie furchtbar bestrafen.

»Ich muss jetzt gehen«, sagte sie.

»Warte!« Wei löste die Schnur, die er als Gürtel benutzte, und reichte sie Yu. »Ich glaube, du hast deinen Gürtel verloren«, sagte er. »Ohne kannst du deinen Kittel nicht hochbinden und er wird dich beim Laufen behindern.«

»Und du?«

»Ich finde schon eine andere Schnur, mach dir keine Sorgen. Also, sehen wir uns morgen?«

»Ich werde es schaffen«, versprach Yu.

»Und ich werde auf dich warten.«

Ohne sich zu verabschieden, lief Yu los. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Nicht nur deshalb, weil sie stolz darauf war, die erste Prüfung bestanden zu haben, auch wegen des Gürtels, den Wei ihr geschenkt hatte, und wegen seines Lächelns.

All das könnte man in einem einzigen Wort zusammenfassen, einem schlichten Wort für etwas, das sie in ihrem Leben bisher kaum erlebt hatte.

Es hieß: Glück.

»Hallo! Ist keiner zu Hause?«

Yu schob die Tür auf.

»Wei? Peng?«

Stille.

Das Mädchen beschloss, dennoch einzutreten. Sie rümpfte die Nase.

In dem Zimmer, dem einzigen Raum des Hauses, herrschte eine chaotische Unordnung. Tisch und Stühle waren umgeworfen, Schalen und Essstäbchen lagen überall verstreut. Die Türen des Schranks standen weit offen und der Inhalt – Kleidung, Weinkrüge, Sandalen und vieles mehr – war herausgequollen. Das Bett war nicht gemacht, die Matratze hing über den Rand des Bettgestells und bis auf den Boden hinunter. Überall lagen Scherben.

»Was ist denn hier passiert?«

Yu merkte, wie Panik Besitz von ihr ergriff. Ihr Hals fühlte sich unangenehm eng an. Eigentlich war es hier immer unordentlich und nicht sehr sauber und in den vergangenen drei Jahren hatte Yu sich immer wieder darüber beklagt.

Aber Unordnung hin oder her: So schlimm wie heute hatte es bei Enkel und Großvater noch nie ausgesehen. Gefüllte Essschälchen waren umgeschüttet worden, sodass überall gekochter Reis und Krabben herumlagen. Der Fischgestank in dem von der Sonne aufgeheizten Raum war unerträglich.

Besorgt fragte sich Yu, was geschehen sein mochte. Waren Einbrecher hier gewesen? Oder …

»Aaah!«

Mit einem entsetzlichen Schrei kam aus dem Schrank ein Dämon gesprungen. Er flog quer durch das Zimmer und landete geschmeidig wie ein Frosch in der Hocke. Von Kopf bis Fuß war er in Schwarz gekleidet. Sein Gesicht war scharlachrot, er hatte lange Hörner und goldene Zähne.

Erschrocken wich Yu vor ihm zurück und eine Scherbe, auf die sie dabei trat, bohrte sich in ihre nackte Fußsohle. Vor Schmerz schrie Yu laut auf. Der Dämon nutzte diesen Augenblick für einen Angriff, sprang Yu an und schlug und trat unablässig auf sie ein. Yu reagierte instinktiv, parierte seine Schläge mit ihren Armen und fing Schlag um Schlag ab.

Der Dämon war schnell, doch Yu war noch schneller und ging nun zum Angriff über. Mit ihrer linken Hand packte sie sein Gesicht, krallte ihre Fingernägel unter seinem Kinn fest und entriss ihm die Maske.

Darunter kam das enttäuschte Gesicht ihres Freundes Wei zum Vorschein, der sofort zu kämpfen aufhörte.

»Hast du mich denn erkannt?«, fragte er.

»Überrascht dich das?«, entgegnete Yu. »Aber als du aus dem Schrank gesprungen bist, hast du mich erschreckt, damit hatte ich nicht gerechnet. Und hier, schau mal: Ich habe mir wehgetan.«

Sie hob den Fuß an, in dem die Glasscherbe steckte. Wei zog sie heraus, die Wunde blutete ein bisschen.

»Das tut mir leid, Yu.«

»Es sollte dir nicht leidtun«, sagte sein Großvater.

Er kam auf sie zu und Yu wurde klar, dass er die ganze Zeit über im Zimmer gewesen war und unbeweglich hinter dem Bett gestanden hatte.

»Wenn Yu sich wehgetan hat, ist sie selbst schuld. Sie hat sich erschreckt und den Fuß aufgesetzt, ohne hinzuschauen.«

»Aber das ist doch normal!«, protestierte Yu. »Hier herrschte ein totales Chaos und plötzlich flog ein Dämon auf mich zu.«

»Gerade in unerwarteten Situationen muss man Ruhe bewahren, denn genau dann kann ein Feind zu einer großen Gefahr werden.«

Yu stöhnte, aber sie wusste, dass man mit Peng nicht diskutieren konnte.

»Habt ihr hier alles kaputt gemacht, nur um mir einen Streich zu spielen?«

»Nein, nicht ganz«, widersprach Wei. »Wir haben trainiert und Großvater hat es wohl etwas übertrieben … Hilfst du mir, alles wieder in Ordnung zu bringen?«

»Das fällt mir nicht im Traum ein! Ich muss schon den ganzen Tag in der Gastwirtschaft aufräumen. Das werde ich jetzt nicht auch noch hier tun!«

Der alte Mann kicherte. »Enkel, sie hat recht. Räum du allein auf. Yu wird mit mir in den Hof kommen, Herr Shu möchte sich mit ihr unterhalten.«

Herr Shu war eine Puppe: ein abgeschliffener Baumstamm, in den vier Stangen eingesetzt waren, die seine Arme und Beine darstellen sollten.

Peng hatte die Puppe mitten in dem kleinen Hof aufgestellt, in dem auch das alte Ruderboot lag, das er gelegentlich benutzte.

»Heute hast du einen Fehler gemacht, als du deinen Fuß aufgesetzt hast«, tadelte er Yu. »Und weil es ein sehr schwerer Fehler war, werden wir jetzt Bewegungsübungen machen. Laufe rechts an Herrn Shu vorbei, dann links, dann überkreuzt du deine Beine, drehst dich um, rechts und links vorbei, dann raus. Achte auf deine Atmung und darauf, wohin du trittst.«

Yu hasste Herrn Shu beinahe ebenso sehr, wie sie den Wirt Bai Bai hasste. Gegen die Puppe zu kämpfen war langweilig. Zwar sagte Peng immer, sie solle sich vorstellen, dass sie die Angriffe eines Gegners aus Fleisch und Blut parierte, doch Herr Shu stand einfach nur da und rührte sich nicht. Echte Menschen dagegen bewegten sich wesentlich mehr.

Dennoch führte Yu die Übung aus, bemüht, in den richtigen Rhythmus zu finden. Eigentlich war kämpfen nicht viel anders als tanzen, nur dass der Tanzpartner nicht versuchte, einen umzubringen.

»Konzentrier dich«, tadelte Peng. »Du bewegst dich zu langsam. Du musst schnell sein und präzise!«

Yu bemühte sich, ihre Gedanken unter Kontrolle zu bringen und sich auf sich selbst und das, was sie gerade tat, zu konzentrieren.

Du heißt Shi Yu, du bist neun Jahre alt und die Dienstmagd von Bai Bai.

Du bist in Pengs Hof.

Du verprügelst eine Holzpuppe.

»He, kommt schnell!«

Wei war in den Hof gestürzt. Er hatte das Dämonenkostüm abgelegt und wieder Hemd und Hose angezogen, das Hemd aber noch nicht zugeknöpft.

»Was ist los?«, fragte Yu. »Ist das noch ein Streich?«

Wei schüttelte den Kopf. »Draußen auf der Straße … Da passiert gerade etwas.«

Es schien sich um etwas Ernstes oder zumindest um etwas Interessantes zu handeln. Yu verpasste Herrn Shu einen letzten Boxschlag, warf Peng ein verlegenes Lächeln zu und lief Wei hinterher.

Die Dreizehn Häuser standen aneinandergereiht am Ufer des Perlflusses. Die Häuserzeile erstreckte sich von der Straße des Leuchtenden Steins (in der sich Pengs Haus befand) bis zur Mündung eines Baches, dessen Namen Yu nicht kannte. Obwohl sie »Häuser« hießen, handelte es sich vielmehr um mehrstöckige, von herrlichen Gärten umgebene exotische Villen mit zahlreichen Nebengebäuden. Jede Villa war die Niederlassung einer Handelsgesellschaft, die mit dem Reich des Himmels von Kanton aus Geschäfte machen wollte. Vor jeder stand ein hoher Mast, an dem eine bunte Fahne wehte. Auch diese Fahnen waren exotisch, aber wesentlich hässlicher als die der acht Mandschu-Clane, auf denen Drachen und bunte Blumen prangten.

Abgesehen von all dieser Pracht konnte Yu nichts Ungewöhnliches entdecken.

»Du schaust in die falsche Richtung«, stellte Wei fest und zeigte nach links, zu der Straße hin, die die Straße des Leuchtenden Steins kreuzte.

Dort hatte sich eine Menschenmenge gebildet und in der Ferne erklangen Rufe und das tiefe Dröhnen eines Gongs.

Ein Trupp Soldaten marschierte langsam auf die Menschenmenge zu. Die eine Hälfte von ihnen waren kaiserliche Palastwachen, die andere waren Soldaten der Fremden, mit glänzenden schwarzen Lederstiefeln und vergoldeten Knöpfen an den Jacken.

Dahinter kamen Sänftenträger mit der Sänfte des Hoppo, dem für den Handel mit den Ausländern zuständigen Beamten. Er war zweifellos der reichste und mächtigste Mann der Stadt, ein Mandschu mit gelblichem Teint und überlangen, von juwelenbesetzten Hüllen geschützten Fingernägeln.

Hinter der Sänfte ging eine Gruppe ausländischer Kaufleute. Ebenso wie die fremden Soldaten trugen auch sie kniehohe Stiefel und schwere Jacken, deren Rockschöße wie gegabelte Schwänze auf ihren Hintern auf und ab hüpften. Yu dachte, dass sie in den dicken Jacken bei der Hitze umkommen mussten. Weitere Soldaten folgten.

»Aber was …?«, murmelte Yu.

»Ich glaube«, sagte Wei, »dass es um die da geht.« Er wies auf eine Gruppe von Gefangenen, die von einem weiteren Trupp Soldaten vorwärtsgeschoben wurden. Sie schleppten sich langsam dahin und trugen alle die Canga: eine schwere Holzplatte aus zwei Brettern mit einem Loch in der Mitte für den Kopf.

Die Gesichter der Gefangenen waren vor Schmerz und Anstrengung verzerrt. Außerdem hatte man ihnen Straftätowierungen aufgezwungen, an denen man ablesen konnte, welche Verbrechen sie begangen hatten.

Leider konnte Yu die Schriftzeichen nicht lesen.

»Wer sind diese Männer?«, fragte sie.

Eine Frau, die hinter ihr stand, antwortete: »Das sind Piraten. Ein englisches Schiff wollte die Insel Whampoa anfahren«, erklärte die Frau. »Es hatte den Laderaum voller Silberbarren und die Piraten haben es angegriffen. Doch sie hatten Pech, denn die Garnison auf Whampoa hat es gemerkt und den Engländern Verstärkung geschickt. Sämtliche Piraten wurden gefangen genommen.«

»Und was passiert jetzt?«

»Sie werden sie töten.«

Yu und Wei folgten dem Zug, der die ersten zwei Anwesen passierte und auf dem Platz vor dem dritten großen Gebäude anhielt. Vor dem eindrucksvollen Eingangstor des Anwesens flatterte eine hellblaue Fahne mit einem weiß-roten Kreuz.

Der Hoppo und die ausländischen Kaufleute verteilten sich über den Platz, die Soldaten nahmen rings um sie herum Aufstellung, wie um sie zu schützen, und die Gefangenen wurden vor dem Hoppo zusammengetrieben.

Die Träger stellten die Sänfte ab. Der Beamte winkte einen kaiserlichen Boten herbei, der eine große Papierrolle trug. Er entrollte sie und las laut das vor, was die Frau gerade erzählt hatte, nämlich dass die Gefangenen Piraten waren, die vor der Insel Whampoa ein Schiff angegriffen hatten.

Als er geendet hatte, wiederholte der Bote den Bericht auf Englisch. Yu verstand diese Sprache ein bisschen, denn sie hatte einiges mit Pidgin gemeinsam, einer aus Englisch, Portugiesisch und Chinesisch zusammengesetzten Verkehrssprache.

Während sie zuhörte, betrachtete sie fasziniert die Gefangenen. Yu hatte noch nie einen Piraten aus der Nähe gesehen. Einer von ihnen hatte es ihr besonders angetan, ein Mann mit hohen Wangenknochen und der eleganten Haltung eines Adeligen. Er hielt sich ein wenig abseits von den anderen, zusammen mit einem Gefangenen mit ungewöhnlich breiten und kräftigen Schultern und einer nackten, über und über von Tätowierungen bedeckten Brust.

Beide Männer wirkten sehr gelassen, so als würde sie das, was auf dem Platz geschah, nicht betreffen. Yu bewunderte sie für ihre Kaltblütigkeit.

Inzwischen war der Bote mit seinem Vortrag fertig. Er drehte sich zum Hoppo um, der ihm etwas ins Ohr flüsterte, und verkündete sodann: »Die Beamten haben die Zeugenaussagen zur Kenntnis genommen und ihr Urteil gesprochen. Auf Befehl seiner Hoheit, des Sohns des Himmels und Kaisers von China, kamen diese Piraten vor Gericht und wurden für schuldig befunden. Sie werden nun durch Enthauptung bestraft.«

Nachdem der Bote diese Mitteilung auf Englisch wiederholt hatte, protestierten die ausländischen Kaufleute laut.

»Was geschieht da?«, fragte ein Schaulustiger, der neben Yu stand.

»Anscheinend«, antwortete ein anderer Mann, »gibt es Streit darüber, wer die Piraten exekutieren darf. Der Hoppo will sie nach chinesischem Brauch köpfen lassen, die fremden Teufel möchten die Bestrafung selbst übernehmen und die Piraten ihren Sitten gemäß aufhängen.«

Yu verstand nicht, welchen Unterschied das machte, denn die Unglücklichen würden so oder so sterben müssen.

Die Stimmung heizte sich auf. Die ausländischen Kaufleute umringten den Hoppo und redeten auf ihn ein, ohne zu bedenken, dass dies – wie sogar Yu wusste – äußerst unangebracht und unhöflich war. Die chinesischen Soldaten traten vor, um den hohen Beamten zu beschützen, und die englischen Soldaten rückten näher an ihre Landsleute heran. Alle wirkten äußerst angespannt.

»Vielleicht sollten wir lieber von hier verschwinden«, schlug Wei vor.

»Pst!«, zischte Yu. Sie hatte in der Menge irgendetwas gesehen, ein Aufblitzen. »Jetzt passiert gleich etwas.«

Es passierte tatsächlich etwas.

Und zwar sehr schnell.

Einer der kaiserlichen Soldaten, der am Rand des Platzes gestanden hatte, schrie laut auf. Im nächsten Augenblick schwankte er und fiel zu Boden. Aus seinem Rücken ragte ein Schwert, das in eine Spalte zwischen den Platten der Rüstung gerammt worden war. Er war auf der Stelle tot.

Durch die so entstandene Lücke zwängte sich eine Gruppe von Männern, alle mit Schwertern, Äxten und Gewehren bewaffnet. Sie schossen auf die Soldaten, und Chaos brach aus.

Der breitschultrige, tätowierte Gefangene gab einen markerschütternden Schrei von sich, packte mit beiden Händen die Enden seiner Canga, presste sie gegen seine Schultern und zerbrach die Holzplatte, als sei sie aus Pappe.

Einer der Angreifer eilte zu dem vornehm wirkenden Piraten, befreite ihn und reichte ihm ein Schwert.

»Piraten!«, rief der Befreite, der offenbar ein Anführer war. »Zum Angriff!«

Als der Hoppo begriff, dass es gefährlich wurde, flüchtete er sich in seine Sänfte und befahl seinen Trägern, ihn schnell fortzubringen. Die chinesischen und ausländischen Soldaten machten sich gefechtsklar. Schwerter klirrten, Pulverrauch erfüllte die Luft.

Yu konnte das Geschehen nicht mehr verfolgen, denn die flüchtenden Schaulustigen drängten sie immer weiter ab.

Wei packte sie an ihrem Kittel. »Wir müssen hier wirklich weg.«

Yus Ohren waren von den Schüssen so betäubt, dass sie seine Stimme kaum hörte.

»Aber die Piraten …«

»Die können sich selbst helfen, mach dir um die mal keine Sorgen. Wir sollten lieber aufpassen, dass wir nicht umgebracht werden.«

Gemeinsam rannten sie zu Peng zurück, der vor seinem Haus auf sie gewartet hatte.

»Konnten die Piraten entkommen?«, fragte er mit ruhiger Stimme.

»Ich weiß es nicht«, musste Wei zugeben.

»Habt ihr die Piraten gesehen? Wie sahen sie aus?«

»Einer wirkte wie ein Adeliger«, erwiderte Yu. »Und der neben ihm war am ganzen Körper tätowiert. Ein wahnsinnig starker Kerl: Er hat seine Canga mit bloßen Händen zerschlagen.«

Peng nickte. »Dann waren das bestimmt Flussritter und Tätowierter Büffel.«

»Kennst du sie denn?«

Der Alte zuckte mit den Schultern. »Lasst uns lieber reingehen. Herr Shu möchte sich noch ein bisschen mit euch unterhalten. Und dann muss Yu zur Gastwirtschaft zurück.«

Seufzend folgte Yu Wei und Peng ins Haus. Von dem Platz drangen immer noch Schüsse und andere Kampfgeräusche herüber. Yu hätte gern gewusst, wer wohl aus diesem Gefecht als Sieger hervorging … und wünschte sich insgeheim, es würden die Piraten sein.

Diese Männer hatten sie sehr beeindruckt.

Wie stolz sie gewesen waren, obwohl sie die Canga tragen mussten.

Stark.

Und frei.

Seit Yu die Kampfkunst erlernte, hatte sie schon viele schwierige Übungen gemeistert. Die allerschwierigste aber bestand darin, die Gastwirtschaft zu verlassen, ohne dass Bai Bai es merkte.

Einmal hatte sie mit Peng darüber gesprochen: »Wenn der Wirt mich erwischt, schlägt er mich.«

»Dann lass dich nicht erwischen«, hatte der Greis geantwortet.

An diesem Nachmittag beschloss Yu, ihre Lieblingsstrategie anzuwenden, die darin bestand, Jia um Hilfe zu bitten. Der alten Köchin fiel es mittlerweile immer schwerer, ihre Arbeit zu verrichten: Sie konnte die großen Töpfe kaum noch heben, beim Geschirrspülen schmerzten ihr die Hände und sie sah so schlecht, dass sie viele Zutaten nur noch an ihrem Geruch erkannte. Ständig lebte sie in der Angst, Bai Bai könnte es merken und sie davonjagen.

»Wo soll ich denn dann hingehen?«, hatte sie Yu einmal anvertraut. »Ich habe weder Kinder noch andere Verwandte und ich habe immer nur hier gelebt. Ich würde lieber sterben als fortzugehen.«

Seit diesem Tag unterstützte Yu die Köchin, wo sie nur konnte. Und sie tat es gern, denn sie arbeitete lieber in der Küche, als an den Tischen zu bedienen. Als Gegenleistung half die alte Jia Yu, ihre nachmittäglichen Abwesenheiten zu verheimlichen.

Nachdem die letzten Mittagsgäste gegangen waren und Yu den Boden fertig aufgewischt hatte, fragte sie die Köchin, ob sie für ein paar Stunden verschwinden könne.

»Willst du wieder zu dem Jungen?«, fragte die alte Jia. »Bist du nicht zu jung, um einen Verlobten zu haben?«

»Er ist nicht mein Verlobter, Großmütterchen«, entgegnete Yu lächelnd. »Aber er ist der einzige Freund, den ich habe …«

»Ja, dann geh nur, in deinem Alter braucht man Freunde. Lauf schon, aber komm nicht zu spät zurück.«

Yu versprach es und rannte los.

Als sie das Haus in der Straße des Leuchtenden Steins erreichte, bot sich ihr ein seltsames Schauspiel. Pengs Ruderboot stand quer in der Straße und der Alte saß mit verschränkten Armen darin. Das Boot versperrte den Weg und die Passanten schimpften. Wei war es ganz offensichtlich peinlich, Peng dagegen schien es vollkommen gleichgültig zu sein.

Als er Yu erblickte, tadelte er sie: »Du bist spät dran.«

»Was machst du da im Boot, Peng?«, fragte Yu, ohne auf den Vorwurf einzugehen. »Wartest du auf die Flut?«

»Sehr witzig.« Der Alte griff nach der Flasche, die an seinem Gürtel hing, zog den Korken heraus, nahm einen langen Schluck und verschloss die Flasche wieder. »Tragt mich zum Fluss!«, befahl er.

»Soll das ein Scherz sein?«

»Ganz im Gegenteil. Es ist eure heutige Übung.«

Ein Blick verriet Yu, dass Wei und Peng schon darüber gesprochen hatten und dass Peng es ernst meinte.

Wei und Yu hoben das Boot mit dem darin sitzenden Greis an. Beides zusammen war so schwer, dass sie es nur mit Mühe tragen konnten. Gemeinsam schleppten sie das Boot zum Fluss am anderen Ende der Straße. Alle Leute, denen sie begegneten, zeigten lachend auf Peng. Am liebsten hätte Yu den Alten und sein Boot fallen gelassen, doch sie biss die Zähne zusammen.