Shigidi - Raub im Britischen Museum - Wole Talabi - E-Book

Shigidi - Raub im Britischen Museum E-Book

Wole Talabi

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Beschreibung

Afrikanische Mythologie trifft auf Londoner Urban Fantasy – »einer der TOP 10 der Fantasy- und SF-Romane 2023.« Washington Post

Shigidi, der Gott der Albträume, will eigentlich nur eins: seine Zeit mit dem Succubus Nneoma genießen. Doch die Mächtigeren seines Pantheons haben andere Pläne für ihn, und wenn er seine Freiheit erlangen will, muss er ihnen gehorchen. Er erhält den Auftrag, ein mächtiges Artefakt aus dem Britischen Museum zu stehlen und in seine Heimat zurückzubringen. Für Nneoma kann er seinen düsteren Ursprung hinter sich lassen, er kann sogar ein Meisterdieb werden. Aber kann er die Götter retten? Und will er das überhaupt?

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Seitenzahl: 456

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Shigidi, der Gott der Albträume, will eigentlich nur eins: seine Zeit mit dem Succubus Nneoma genießen. Doch die Mächtigeren seines Pantheons haben andere Pläne für ihn, und wenn er seine Freiheit erlangen will, muss er ihnen gehorchen. Er erhält den Auftrag, ein mächtiges Artefakt aus dem Britischen Museum zu stehlen und in seine Heimat zurückzubringen. Für Nneoma kann er seinen düsteren Ursprung hinter sich lassen, er kann sogar ein Meisterdieb werden. Aber kann er die Götter retten? Und will er das überhaupt?

Der Autor

Der Nigerianer Wole Talabi ist Ingenieur, Schriftsteller und Herausgeber. Er hat mehrere Anthologien herausgegeben, von denen eine für den Locus Award 2021 nominiert wurde. Seine Romane waren Finalisten für mehrere Preise, darunter den Nebula Award, den renommierten Caine Prize, den Locus Award, den Jim Baen Memorial Award und den Nommo Award, den er 2018 und 2020 gewann.

WOLE TALABI

SHIGIDI

RAUB IMBRITISCHEN MUSEUM

Roman

Deutsch von Andreas Helweg

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel»Shigidi and the brass Head of Obalufon« bei DAW, New York.

In diesem Buch werden Neo-Pronomen verwendet. Da es zum Zeitpunkt des ersten Erscheinens für die deutsche Sprache noch keine einheitliche Regelung gibt, haben wir uns für das Neo-Pronomen dey entschieden.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

1. Auflage 2025

Copyright der Originalausgabe © 2023 by Wole Talabi

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Penhaligonin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Joern Rauser

Umschlagillustration: Jim Tierny

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einem Entwurfvon Patrick Knowles nach einer Originalvorlage von Jim Tierny

HK · Herstellung: fe

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-32685-2V003

www.penhaligon-verlag.de

Für meine Mutter Sola, die zu früh von uns gegangen ist.

Danke für deine Liebe und deine Worte und dafür, dass ich dir vor all den Jahren bei deinen theologischen Studien helfen durfte.

1

Northumberland Street, London (Geisterseite), England

5. JULI 2017, 4 Uhr 40

Okay, da saß er also in einem schwarzen Taxi, kaum bei Bewusstsein, und wurde gerade von einem Mann, der vor siebzig Jahren das Zeitliche gesegnet hatte, auf der Geisterseite von London die Haymarket Road entlanggefahren, als ihm Nneoma endlich gestand, dass sie ihn liebte.

Shigidi hätte gelacht, wäre er nicht schon mehr als halb tot gewesen.

Der Fahrer schaltete einen Gang runter und ging mit dem Hackneytaxi so scharf und brutal in die Kurve, dass die beiden linken Reifen vom Boden abhoben. Auf dem luxuriösen Ledersitz verlor Shigidi das Gleichgewicht und kippte auf Nneomas Schoß, drückte dabei die offene Wunde, wo sich einer seiner Arme befunden hatte, auf ihr hübsches blaues Kleid und hinterließ dort einen hässlichen roten Fleck. Verschmiertes Blut, Lehm und Geisterpartikel. Bei der Berührung verkrampfte sich jeder Muskel in seinem Körper. Es fühlte sich an, als würden seine Eingeweide auseinandergerissen, als zerfleische ihn eine wütende Bestie qualvoll von innen. Er musste den Kopf von ihren Beinen heben und den Schmerz herausschreien. Dabei brachte er einen seltsam schrillen, gepressten Laut hervor, den er nicht wiedererkannte, obwohl er nicht zum ersten Mal brüllte.

Der Nebel aus Schmerz lichtete sich gerade lange genug, also konnte er aufhören zu schreien. Ich weiß nicht, wie lange ich mich an diesem Fetzen Bewusstsein festklammern kann, den ich noch habe.

Grelles Licht schien durch die Scheiben herein und wurde von einem Geräusch begleitet, das wie der Schlag einer Kriegstrommel im alten Königreich Oyo klang. Das hatte einen lustigen Beigeschmack, denn vor langer Zeit hatte er die gleichen furchterregenden Töne als Inspiration benutzt. Damals hatte ihn der Ooni von Ife ausgesandt, damit er sechs seiner Feinde Albträume bescherte. Mittlerweile war er zwar nicht mehr der Gott des Albtraums, erinnerte sich aber nach wie vor daran, wie er Myriaden verschiedener Fäden tief sitzender persönlicher Ängste zu einem Geflecht aus Schrecken und Schmerz und Ungewissheit verwoben hatte. Und er wusste auch noch, wie es sich anfühlte, in einem solchen Netz gefangen zu sein und sich verzweifelt zu wünschen, endlich wieder aufzuwachen.

Das hier fühlt sich auch wie ein Albtraum an.

Desorientiert erhaschte er aus dem Heckfenster einen Blick auf unscharfe Bewegungen. An dem pechschwarzen Himmel bildeten dicke Wolken mit Neonrändern inmitten dauernder elektrisch-weißer Blitze einen Mahlstrom.

Kein Gott darf hoffen, einen derart wilden Geisterhimmel zu beherrschen.

Am Boden preschten vier Bronzepferde mit flammenden Augen hinter ihnen her und ließen eine Spur aufgebrochenen Asphalts sowie Funken und Feuer zurück. Dahinter kam eine wütende Gestalt und trieb die Tiere voller Bosheit voran. Ein Bronzeseil spannte sich von den Hälsen der Pferde bis zum Unterarm des imposanten Verfolgers, der auf der hinteren Hälfte einer grob zerteilten Limousine stand und ihnen in diesem provisorischen Streitwagen nachjagte.

Die Welt verschwamm Shigidi vor den Augen. Von jenen grellen Flammenaugen blieb nur ein Nachbild, das Millionen andere überlagerte, die auf seiner Iris tanzten, als er erkannte, dass die Verfolger schneller waren – schneller, als alle Pferde aus Fleisch und Blut je sein könnten – und weiter aufholten. Doch angeblich kannte ihr Taxifahrer die Geisterseite Londons besser als jeder andere Lebende oder Tote – oder als jemand, der irgendwie beides war –, und deshalb vertraute Shigidi darauf, dass dieses Wissen sie noch vor Beginn der Dämmerung zum Treffpunkt bringen würde, also ehe das Leben vollständig aus ihm herausgeronnen war.

Ich möchte nicht in einem fremden Geisterland sterben.

Genau in diesem Augenblick riss der Fahrer das Steuer wieder heftig herum, woraufhin der Wagen nach rechts schlingerte und nur knapp zwei Geister in langen grauen Kutten verfehlte. Das Taxi schob sich holpernd eine kurze Steintreppe hinunter, ehe es wieder auf einer Straße landete und beschleunigte. Shigidi fiel erneut in den Schoß seiner Geliebten, und dabei krachte sein Schädel so heftig gegen die Tür, dass er schon befürchtete, ihn sich gebrochen zu haben. Ihm wurde schwarz vor Augen, und er wusste nicht, ob er einfach bloß die Augen geschlossen oder im Kopf einen schweren Schaden erlitten hatte, was ihm im Prinzip aber gleichgültig war. Er wusste nur eins: Alles tat höllisch weh.

»Vorsichtig, Mann!«, schrie sie den Fahrer an, während sie Shigidis Hand festhielt und seinen Kopf an ihren blutigen Busen drückte.

»Tut mir leid! Ich gebe mein Bestes, meine Liebe«, rief der Fahrer zurück, »aber falls es dir noch nicht aufgefallen ist, wir werden hier gerade von vier lebenden Statuen und einem beschissenen stinksauren Riesen verfolgt.«

Sie ignorierte den Kerl und flüsterte Shigidi ins Ohr: »Halt durch, Liebling. Ich liebe dich. Hörst du? Ich liebe dich. Halt einfach durch. Alles wird gut. Wir sind schon fast da.«

Benommen zwang er sich, die bleischweren Lider zu öffnen und in ihre großen, feuchten Augen zu blicken, in denen Tränen glänzten und sich hellgelbe Geisterpartikel spiegelten. Er wollte sie umarmen und ihr sagen, dass er sie ebenfalls liebte, so, wie er sich immer schon ausgemalt hatte, es zu tun, wenn sie es aussprechen würde, aber ihm fehlte ein Arm, und sein Mund war nicht in der Lage, die Worte zu bilden. Seine Zunge war geschwollen und taub und schmeckte nur Eisen und Lehm. Er konnte sie aber hören; ein großer Teil von ihm war noch dort, auch wenn ihre Stimme undeutlich und wie aus weiter Ferne klang und die Galaxie verschwommener Lichter, die um ihn herum reflektiert und gebrochen wurden, allmählich zu grell wurde. Seinen Arm und seine Beine spürte er kaum noch, auch nicht sein Gesicht und alles andere.

Die Zeit läuft mir wohl schneller davon, als ich gedacht habe. Er hustete und spuckte Blut. Doch so schlimm ist es auch wieder nicht. Sicherlich gibt es unangenehmere Arten zu sterben als in den Armen derjenigen, die man liebt.

Etwas rammte das Fahrzeug mit ohrenbetäubendem Krachen – wie eine Explosion, die aus mehreren anderen Explosionen besteht. Der Fahrer stieß einen Urschrei aus, den Shigidi über die lärmende Kakophonie von kreischendem Metall, klirrendem Glas und dem Quietschen des Gummis auf Asphalt kaum hörte. In dem Augenblick war er sicher, dass es vorbei sein musste. Sie waren erledigt.

Er konzentrierte sich auf das, was ihm am meisten bedeutete – das war sie. Er starrte auf ihren offenen Mund und ihre aufgerissenen Augen, während sich die Welt in eine chaotische Galaxie aus Rauch und Metall und Glas verwandelte. Und dann, als er sie kaum noch erkennen konnte, schloss er die Augen gegen die Armee des weißen Lichts, die in sein Bewusstsein einmarschierte, und wappnete sich für den nun unabdingbar folgenden endgültigen, endlosen Fall ins Nichts.

Ich liebe dich auch.

Und es tut mir leid, alles.

Ich habe nicht gedacht, dass es so enden würde.

2

Drei Tage zuvor.Perhentian Kecil, Terengganu, Malaysia

2. Juli 2017, 08:47 Uhr

In dem strahlend hellen Vormittagslicht leuchtete der Strand in all seiner Pracht. Feiner weißer Sand schmiegte sich um die Rundung der Insel und verwandelte sich im flachen Brandungsbereich in türkisen Kristall. Eine weit aufgefächerte Schar kleiner bunter Boote, überwiegend aus Fiberglas, und auch einige hölzerne Langheckboote mit ähnlich farbigen Schärpen um den Bug schaukelten sanft im seichten Wasser. Alle waren mit einem dünnen Geflecht aus bunten Kunststofftauen und rostigen Ankern am Strand festgemacht. Am Rand des Türkis funkelte das Licht auf dem Wasser, als würde es Regenbögen bluten. Hinter dem Strand erhob sich die Insel in üppigem Grün. Verwegen spähten mehrere braune Holzbungalows auf höherliegenden Felsen wie neugierige Kinder daraus hervor.

Am Strand verstreut lagen junge Leute, überwiegend gebräunte Europäer oder stille Südostasiaten zwischen zwanzig und vierzig Jahren alt, mal auf Plastikliegen unter bunten Sonnenschirmen und mal in der prallen Sonne auf dem Sand. Um sie herum hatten sich Seegras, Zigarettenkippen, Muscheln, Bierdosen und die verkohlten Überreste des Feuertanzes der letzten Nacht angesammelt.

Auf diesem Strand fielen Shigidi und Nneoma auf, und das war ihm durchaus bewusst. Sie hatten zobelbraune Haut und saßen still nebeneinander im Sand, während die weiße Brandung über ihre Füße spülte, ihre Knie jedoch nicht erreichte. Er hatte eine ganze Weile gebraucht, bis er sich an die Blicke gewöhnt hatte, die sie in diesem Teil der Welt häufig auf sich zogen, aber Nneoma fühlte sich offensichtlich überall wohl. Sie lehnte sich zurück und stützte sich in ihrem roten Bikini auf die Ellbogen. Er saß aufrecht, hatte mit den Armen die Knie umschlungen und an die muskulöse Brust gezogen, während er den Salzgeruch des Wassers einsog und zusah, wie es sich vor- und zurückbewegte, als atme die ganze Korallenbucht ein und aus. Das Rauschen der Brandung überspielte das spröde Schweigen, das sich zwischen ihnen eingestellt hatte, seit sie sich in der Dämmerung hier niedergelassen hatten.

»Sie starrt dich schon seit einer Viertelstunde an«, flüsterte Nneoma, blickte nach links, ohne einen anderen Teil ihres Körpers zu bewegen, und deutete auf die betreffende Person.

Shigidi knurrte, drehte den Kopf und sah durch die Sonnenbrille, die seine Augen verbarg, eine große, straffe und tätowierte Frau Ende dreißig, die auf einem rosa Strandtuch saß und bemüht war, den Eindruck zu vermeiden, sie würde ihn anschauen.

»Vielleicht solltest du ihr einen Drink spendieren. Sag hallo. Wir könnten sie heute Nacht mit in unsere Hütte nehmen und herausfinden, wie ihr Geist schmeckt«, schlug Nneoma mit gesenkter, aber klarer Stimme beiläufig vor, als würde sie ihn fragen, was er zum Frühstück essen möchte.

»Hm. Lass es uns doch mal eine Weile etwas ruhiger angehen«, erwiderte Shigidi und erinnerte sich an den blonden Deutschen, dessen kühnen, abenteuerlustigen Geist sie sich erst vor ein paar Tagen nach einer langwierigen Verführung in Hanoi geteilt hatten, als sie auf dem Rückweg von der Halong-Bucht gewesen waren. »Vielleicht sollten wir die Sterblichen erst mal in Ruhe lassen und uns lieber miteinander beschäftigen.«

Am Anfang ihrer Partnerschaft hatte Nneoma menschliche Geister nur sparsam verzehrt und lieber ihre Spielchen mit potenzieller Beute getrieben, oft tage- oder wochenlang, und sie erst verschlungen, wenn sie es dringend brauchte, oder gelegentlich, wenn sie jemanden entdeckte, der sich schlecht benahm und Dinge sagte, die ihr gegen den Strich gingen. Sie hatte ihren eigenen geheimnisvollen Sinn für Gerechtigkeit und Fairness, den er noch nicht komplett durchschaut hatte. Aber seit sie beide sich bei Olorun, dem Vorstandsvorsitzenden der Geisterfirma der Orishas, verschuldet hatten, weil er ihnen das Leben gerettet hatte, war in Nneoma ein Wandel vorgegangen. Jetzt schien sie unersättlich zu sein. Gnadenlos. Sie brauchte die Geister nicht, aber sie verzehrte sie ständig. Fast schon aggressiv. Als würde sie mit der Jagd und dem High des Geisterkonsums etwas kaschieren, das sie ihm nicht preisgeben wollte.

»Wir sollten uns nicht der Langeweile ergeben«, gab Nneoma zurück.

Shigidi hob den Kopf und wunderte sich über die plötzliche Schärfe. »Langeweile?«

Aus den Augenwinkeln sah er, dass die tätowierte Frau, mit deren Starren alles angefangen hatte, gegangen war. Ihr Strandhandtuch lag zwar noch dort auf dem Sand, das rosa Flamingomuster war aber zerknüllt.

Sie sagte: »Ach, du weißt doch genau, was ich meine. Ich bin ein Sukkubus, du bist ein Albtraumgott im Ruhestand. Wir sind nun mal das Gegenteil von normal. Deshalb müssen wir Sachen machen, damit die Funken in unseren Geisterpartikeln weiter knistern. Aufregende Dinge.«

»Wir sind doch aufregend genug füreinander«, sagte Shigidi, doch innerlich war er davon gar nicht so überzeugt. Er hoffte auf ihre Zustimmung, aber sie blieb einfach im Sand sitzen, drückte den Rücken durch und warf das lange, geflochtene Haar über die Schulter. Also fügte er zögernd hinzu: »Oder nicht?«

»Ich mein ja nur, weil ich das schon viel länger mache als du, Liebling, und schließlich weiß ich, wie schnell man anfängt, sich zu langweilen, wenn man noch den größten Teil der Ewigkeit vor sich hat«, sagte sie. »Außerdem kann Langeweile leicht zu Besessenheit und Bindung und schlechten Entscheidungen führen.«

Er betrachtete den weißen Sand und spürte die sanfte Hitze der aufgehenden Sonne auf der dunklen Oberfläche seines vollkommen glatten Glatzkopfes. Dann antwortete er: »Anhänglichkeit muss nicht unbedingt etwas Schlechtes sein. Außerdem kann keine Langeweile aufkommen, wenn man die Ewigkeit mit jemandem verbringt, den man liebt.«

»Ja«, stimmte sie zu, »sicher. Solange es einigermaßen interessant bleibt. Und damit es interessant bleibt, muss man sich ständig verändern, oder nicht? Ich meine, denk mal an die Sache, die du am meisten in der Welt magst. Das, was du am liebsten tust.«

Unbewusst richtete sich sein Blick auf die Stelle, wo sich ihre Schenkel trafen. Sie erwischte ihn dabei und gab es mit einem Lachen kund.

»Sogar Sex. Stell dir Sex mit der gleichen Person bis in alle Ewigkeit vor. Gleichgültig, wie schön es ist oder wie gut man als Partner zusammenpasst. Aber sogar, wenn keiner von beiden altert oder sich verändert, beginnt es nach einer Weile zu langweilen. Vielleicht dauert es ein Jahr oder zwei oder zehn oder hundert, in manchen Fällen möglicherweise sogar tausend, falls man sehr kreativ ist, aber am Ende setzt dann doch die Ödnis ein. Solange man nicht Wege findet, den Sex zu variieren. Interessant zu gestalten. Jedes Mal wieder neu. Damit man immer etwas hat, auf das man sich freuen kann. Mehr sage ich ja gar nicht. Die Menschen bieten uns endlose Möglichkeiten und Spielarten an, wie wir uns mit ihnen vergnügen und dann ihre Geister gemeinsam verzehren können. Das macht Spaß. Das ist aufregend. Und außerdem interessant, oder?«

Zum dritten Mal präsentierte sie ihm eine Variante des immer gleichen Arguments, aber damit wich sie nur der eigentlichen Frage aus. Obwohl sie es gewesen war, die ihm den Zusammenschluss angeboten und so viel Energie darauf verwendet hatte, ihn zu ihrem Partner zu machen, hielt sie ihn emotional permanent auf Distanz. Zuerst war sie vor allem damit beschäftigt gewesen, ihm die Fähigkeiten beizubringen, die er für eine unabhängige Existenz als freiberuflicher Geist bei ihr brauchte. Und jetzt verwässerte sie ihre gemeinsame Zeit mit Verführung und Konsum. Sie waren freischaffende Geisterwesen und nicht in Zeitpläne und Zielvorgaben und Zwänge eingebunden, denen sich andere Gottheiten in Diensten der großen Geisterfirmen unterwerfen mussten, und trotzdem schien Nneoma wie besessen davon zu sein, jeden Tag ein oder zwei Geister zu verzehren, als wäre sie bei einer Geisterfirma angestellt und müsse ein unangemessen hohes Quartals- oder Jahresplansoll erfüllen.

»Ja klar, das macht Spaß, aber es raubt einem Paar auch die Zeit und den Raum, einfach nur ein Paar zu sein. Wir könnten doch füreinander interessant sein«, wandte er ein.

Sie verdrehte die Augen und winkte mit den langen, schlanken, manikürten Fingern, die wie kunsthandwerkliche Dolche wirkten, ab. »Dieses Gespräch führt zu nichts, Liebling. Wir müssen der Sache nicht mehr Gewicht einräumen, als sie hat. Also, möchtest du den Geist des Mädchens oder nicht?«

Shigidi schob das Kinn vor und kratzte sich am Kopf. Indem er ihr gestanden hatte, wie weit seine Liebe ging, so vermutete er, hatte er den Finger in eine offene Wunde ihrer Beziehung gelegt, auf ein tiefes Bedürfnis oder eine Angst oder etwas, mit dem sie sich nicht auseinandersetzen mochte. Anders konnte er ihr Verhalten nicht deuten. Sie war seinen Versuchen, mehr Zeit allein zu verbringen, ausgewichen und konzentrierte sich stattdessen obsessiv auf die Aufgaben, die sie erledigen mussten, um die Schulden bei Olorun zu begleichen, oder darauf, Geister zu verzehren, als könnte der Vorrat in Kürze zur Neige gehen.

»Liebst du mich, Nneoma?« Die Frage war heraus, ehe er sie sich verkneifen konnte.

Sie presste die Lippen aufeinander und sah ihn böse an, fast so, als sei sie wütend, weil er ihr eine Frage stellte, die sie nicht beantworten wollte. Er hielt ihrem Blick stand, allerdings wuchs in ihm die Angst, dass er sein Blatt überreizt hatte, indem er sie drängte, und dass sie einfach »Nein« sagen könnte, um die Kontrolle über die Situation zu behalten.

Die Wellen leckten weiter an der erneuerten angespannten Stille zwischen ihnen. Und dann hörten sie ein tiefes, dunkles Lachen. Sie wandten sich um – in die Richtung, aus der es kam.

Ein alter Mann in wallendem purpurnem Dashiki und passender Hose, der an diesem Ort noch mehr auffiel als sie beide, saß jetzt anstelle der tätowierten Frau auf dem Strandtuch mit Flamingomuster. Er lachte leise, wobei sich die Falten vertieften, die von seinen Augen ausstrahlten und bis an die breite Nase und den Mund heranragten. Sein kühles Selbstvertrauen wirkte so, als könne er die ganze Welt seinem Willen unterwerfen, während er sie beobachtete und mit einer rotbraunen Kolanuss in der Hand spielte. Seine Haut glänzte wie poliertes Iroko-Holz im frühen Sonnenlicht, und der dichte graue Bart, der sein Kinn bedeckte, war nur ein paar Zentimeter länger als sein wunderbar gestylter Afro.

Aus Gewohnheit senkte Shigidi den Kopf und seufzte erneut, doch diesmal tiefer und hörbarer. Nneoma stockte der Atem. Der alte Mann sah anders aus als beim letzten Mal, aber es gab keinen Zweifel. Beide wussten genau, wer ihnen da einen Besuch abstattete.

»Olorun«, sagte Shigidi und schaute auf. »Unser Gespräch ist privat.«

Olorun schien auf dem rosa Flamingotuch näher zu rücken. Shigidi hätte schwören können, dass die tätowierte Frau nicht so nah gewesen war.

»Ich weiß, ich weiß. Ich sehe wohl, ihr beide hattet einen, wie nennt man das noch mal …? Beziehungsstress, abi, ja?«, antwortete Olorun und zeigte dabei ein Lächeln, das sich in ein lautes Lachen zu verwandeln drohte. »Liegt es vielleicht am Altersunterschied? In der Liebe hat man es mit älteren Frauen nicht leicht, Junge. Oder vielleicht tun die Ferien eurem, äh, Liebesleben gar nicht so gut? Zu viel Zeit zum Nachdenken, anstatt einfach etwas zu tun?«

»Was geht dich das an?«, fauchte Nneoma.

Ihre Unverblümtheit schockierte Shigidi. Er würde sich niemals daran gewöhnen, wie sie mit den älteren Göttern sprach, aber vermutlich lag es daran, dass sie die meisten schon gekannt hatte, als sie noch mehr oder weniger abstrakte Konzepte gewesen waren, die sich zuerst manifestieren mussten. Shigidi selbst hatte diese Götter erst wesentlich später kennengelernt, und manche, wie Olorun, als Chef seines Chefs.

Dem Lächeln des alten Gottes war keine Veränderung anzumerken.

»Unhöflich«, meinte Olorun, »aber schon zutreffend. Sehr zutreffend sogar, ja. Also, meine kleinen Vögelchen, reden wir übers, äh, Geschäft? Ich hätte da einen Spezialjob, der erledigt werden muss, und zwar ganz dringend. Ihr beide habt bislang sehr gute Arbeit geleistet, in Singapur und in Thailand, und als sich diese Gelegenheit jetzt ergeben hat, wusste ich, ihr beiden seid genau diejenigen, die ich brauche. Eure Fähigkeiten und euer Profil passen perfekt dazu. Dabei geht es gar nicht um die Schulden, die ihr bei mir habt. Die habt ihr ja ohnehin schon fast ganz abgezahlt. Nein, es ist etwas Neues. Also, wenn ihr diesen Spezialjob übernehmt, dann dürft ihr die Schulden als abgegolten betrachten, und dazu biete ich noch Folgendes: einen üppigen Vorschuss und einen noch größeren Bonus nach Abschluss.« Er unterbrach sich und biss ein Stück Kola ab. »Falls ihr die Sache zum Abschluss bringt.«

»Ich weiß nicht, ob wir einen weiteren Vertrag mit dir eingehen wollen, wenn wir den gegenwärtigen schon fast erfüllt haben –«, setzte Shigidi an.

»Andererseits werden wir kein Angebot ablehnen, ehe wir es uns angehört haben«, mischte sich Nneoma ein.

Olorun lächelte. »Ihr müsst mir etwas zurückholen«, sagte er zwischen zwei Bissen von der Kolanuss in seiner Hand, »etwas, das ich früher einmal jemandem gegeben habe, den ihr vielleicht kennt.« Er wandte sich Shigidi zu, in dessen Mund sich Speichel sammelte, als er sich an die Bitterkeit und die anregende Wirkung der Kolanuss erinnerte. »Damals hat es zu einem geschäftlichen Deal gehört. Es wurde von seinem Aufenthaltsort gestohlen, und ich habe den Verlust dieses, äh … intellektuellen Eigentums bislang ignoriert, da ich eigentlich in Ruhestand gegangen bin und mich nicht mehr in die Geisterangelegenheiten einmischen sollte. Aber da ich jetzt wieder da bin, also … brauche ich es zurück.«

»Und wovon sprichst du?«, fragte Shigidi ahnungslos.

»Dein Freund Obalufon, du weißt doch, er war mal ein Mensch, ja? Natürlich weißt du das. Viele der kleinen Orishas, die auf deiner Ebene gearbeitet haben und mit denen du in der Geisterfirma zu tun hattest, haben ihre Karriere so angefangen. Damals nannte man ihn Obalufon Aleyemore, und er hat sich recht anständig geschlagen, bis er von seinem Onkel Oranmiyan ausgebootet wurde. Der ist ein schlitzohriger Bastard gewesen. Im Exil hat mir Obalufon jedenfalls ein interessantes Angebot gemacht, das jenem nicht unähnlich war, das vor einer Weile von euch kam, als ihr in Schwierigkeiten gesteckt habt.« Er deutete mit dem Kopf auf die beiden. »Als ihn die Meuchelmörder von Oranmiyan in die Ecke gedrängt hatten, flehte er mich an, ihm das Leben zu retten und ihm die Macht zu schenken, seinen Thron zurückzuerobern. Als Gegenleistung bot er mir an, das Volk zu vereinigen und das Glaubenssystem zu vereinheitlichen, damit wir, die Orishas, in diesem vereinigten Glauben an Stärke gewinnen würden. Das war ein guter Deal, daher habe ich ihm auch die Macht gegeben, die er verlangte, und lange Zeit konnte die Geisterfirma hohe Dividenden abschöpfen. Zumindest, bis die Christen und die Muslime ati be be lo und wer weiß noch auftauchten und sich aggressiv einen Marktanteil eroberten.«

»Und diese Macht, die du ihm gegeben hast, hat sich dann jemand unter den Nagel gerissen?«, fragte Nneoma.

»Ja, so könnte man es ausdrücken.« Olorun spuckte eine rote Masse zerkauter Kolanuss auf den Sand. »Sie haben es gestohlen.«

Nneoma zog eine Augenbraue hoch und schüttelte Pudersand von ihren Füßen. »Möchtest du das noch genauer erklären?«

»Nein, im Augenblick eigentlich nicht«, erwiderte er und lächelte weiterhin. »Noch nicht. Ihr müsst nur eins wissen: Die Macht habe ich Obalufon in physischer Gestalt übergeben, als Fetisch, und dieser wurde nach seinem Tod mit ihm zusammen begraben. Was durchaus sinnvoll war. Ich hätte es irgendwann gefunden und zurückgeholt, wäre ich dazu bereit gewesen. Aber es wurde ausgegraben und in ein fremdes Land gebracht, wo ich, und da kommt ihr ins Spiel, dank der aktuellen Geister-Handelsregulationen und dieses ganzen globalistischen Bürokratieunfugs nicht frei operieren kann. Deshalb brauche ich euch noch einmal, meine beiden unabhängigen Agenten, die mir ihr Leben verdanken.« Olorun betonte die letzten Worte des Satzes und zwinkerte ihnen fröhlich zu, als ginge es um ein Spiel und nicht um eine Angelegenheit von existentieller Bedeutung. »Und darum bin ich bereit, euch eure Schulden zu erlassen und euch diesmal mit Aktien der Geisterfirma zu bezahlen, was für euch eine praktisch endlose Versorgung mit Geistern bedeutet und darüber hinaus sogar Anbetung mit sich bringt, wenn ihr möchtet.«

Shigidi sah die Arglist im Blick des alten Mannes und fragte: »Der Auftrag ist gefährlich, oder?«

Olorun lächelte breit und enthüllte die unerwartet perfekten perlweißen Zähne, ehe er wieder von der Kolanuss abbiss. »Sehr gefährlich. Ich bin ein alter Gott, der in eine Machtposition zurückgekehrt ist, die ich vor langer Zeit aufgegeben habe. Jeder meiner Schritte ist gefährlich. Wenn ihr scheitert, müsst ihr höchstwahrscheinlich mit eurer Vernichtung rechnen, oder schlimmer noch, ihr könntet für alle Ewigkeit in einer Falle sitzen.«

Er zögerte, zerbrach die Reste der Kolanuss in drei Stücke und legte sie als Dreieck auf dem Handtuch aus.

»Aber wenn ihr den Auftrag annehmt, wird es sich für euch lohnen.« Er breitete die Hände aus und zuckte mit den Schultern, ehe er sie wieder zusammennahm und mit der rechten über die Fläche der linken strich, als würde er Dollars über den Tänzern eines Owambe austeilen. »Sogar mehr als die Aktien der Firma. Wenn ihr das für mich erledigt, beende ich euer Exil und erlaube euch die Rückkehr ins Yorubaland unter meinem Schutz, und zwar gegen all die Einwände deines ehemaligen Chefs, Shigidi.«

Shigidi und Nneoma sahen sich an und waren nicht hundertprozentig sicher, was der andere dachte, aber sie wussten, keiner würde sich die Gelegenheit entgehen lassen, Rache am Orisha des Feuers und des Blitzes zu nehmen, an Shango, dem Donnergott, der versucht hatte, sie beide umzubringen, und es wahrscheinlich auch noch einmal probieren würde.

Shigidi mochte es, wie ihn Nneoma mit diesem aufgeregten Funkeln in den Augen anblickte. Er vermutete, sie habe sich bereits für den Auftrag entschieden, zögerte jedoch noch, bis er seine Karten aufdeckte. Vielleicht würden die Gefahr und die Unvorhersehbarkeit des großen Risikos endlich den Instinkt befriedigen, der diese Stimulation durch gieriges Geisterverschlingen auslöste, und das wollte er ihr nicht ausschlagen. Möglicherweise wäre sie sogar wieder normal, nachdem sie den Auftrag erledigt hatten. Zumindest könnten sie zusammen arbeiten.

Shigidi nickte.

Nneoma lächelte. »Wir sind dabei.«

»Sehr gut. Dann seid morgen Mittag in London.« Er stand auf und näherte sich ihnen, wobei er keine Spuren im Sand hinterließ. Als er sie erreichte, beugte er sich vor, ergriff Shigidis Arm, zog ihn zu sich und drehte die Handfläche so nach oben, dass er einen Finger darauflegen konnte. Knisternd sprühte es weiße Geisterpartikel, wo er Shigidis Haut berührte. Sie formten sich zu Buchstaben, die eine Nummer und eine Adresse bildeten, als wären sie mit reinem Licht tätowiert worden.

Im Anschluss wandte sich Olorun lächelnd Nneoma zu. »Du weißt, Sukkubus, ich habe dich im Auge gehabt, seit du in der Umgebung von Lagos aktiv geworden bist. Dabei habe ich zu allen Zeiten deine Fähigkeit bewundert, gewisse Situationen zu bewältigen und immer zu bekommen, was du willst, auch wenn ich, wie ich dir schon gesagt habe, deine Methoden geschmacklos finde. Aber ich muss zugeben, diesmal freue ich mich darauf.«

»Äh, danke.« Sie legte den Kopf schief. »Aber ich glaube, du hast überhaupt kein Recht, über meine Methoden oder mein Leben zu urteilen, alter Mann. Wie oft muss ich dir das noch sagen? Ich bin, wie ich bin. Ich bleibe meiner Natur treu. Finde dich damit ab.«

»Natürlich. Nur keine Aufregung.« Er hob die Hände. »Wir alle sind, wie wir sind. Dann bis in London.«

Und damit war er verschwunden, ehe sie antworten konnte, als hätte er sich in nichts aufgelöst, und nur die drei angebissenen Stücke Kolanuss auf dem Strandtuch und ein schwacher metallischer Geruch wie nach verbrannten Drähten blieben in der Meeresluft zurück.

3

Afrika Shrine, Ikeja, Lagos, Nigeria

20. Juni 1977, 23 Uhr 47

Aadit Kumar saß auf einem unbequemen Metallstuhl nahe an der erhöhten Bühne am anderen Ende des Hofes zwischen niedrigen Gebäuden. Im dunkelvioletten Himmel über ihm leuchtete hell der Halbmond. Die Abendluft war von Feuchtigkeit und Gerüchen durchdrungen, von Essen, Palmöldunst, Parfüm, Schweiß, billigem Bier und Rauch. Vervollständigt wurde diese berauschende Mischung durch Wollust, Freiheit und Marihuana.

Er saß an einem wackligen Tisch aus billigem Holz, der nur von ein paar rostigen Nägeln und der Handwerkskunst eines miesen Tischlers zusammengehalten wurde. Eine halb volle Schüssel mit Pfeffersuppe, ein fast leerer Teller mit Suya-Spießen und drei hohe braune und leere Flaschen Gulder-Bier standen wie unfreiwillige Opfergaben vor ihm ausgebreitet. Alles, auch sein Kopf, vibrierte im Puls der lauten Musik und des sich langsam einstellenden Alkoholrauschs. Auf der behelfsmäßigen Bühne, wo auf einem gelb bemalten Brett in blauen Buchstaben die Worte Fela Kuti and the Africa 70 prangten, sang ein Mann in enger Hose, aber ohne Hemd und mit Kreidestrichen im Gesicht in sein Mikrofon, während er Sex mit einer verschwitzten, mageren Frau simulierte, die einen goldenen Minirock und BH trug und um deren Handgelenke und Fußknöchel Bänder mit Kaurischnecken raschelten. Fela sang in Pidgin, und seine Stimme wirkte angestrengt.

Aadit schnappte ein paar Textfetzen des Songs auf. Er handelte von einer Frau, die nicht »Frau« genannt werden wollte, sondern »Lady«.

Eine Armee von Musikern spielte Gitarre, Saxofon, Trommeln, tanzte oder sang im Backgroundchor ein Echo auf Felas Stimme. Auf Aadit wirkte das alles völlig chaotisch, und trotzdem kam unleugbar ein brillanter Sound dabei heraus – dazu bewegte er seinen haarigen, betrunkenen Kopf unbewusst im Takt. Er war froh, dass er den Rat des Firmenchauffeurs beherzigt hatte und hergekommen war, obwohl er ursprünglich nichts von der Idee gehalten hatte, in Lagos ein Konzert zu besuchen. Er trug sogar die schützende Goldkette und die Pfauenfeder, die ihm seine Mutter, diese religiöse Frau, am Flughafen mitgegeben hatte, ehe er zu diesem Auslandsauftrag aufgebrochen war. Nur für alle Fälle. Doch seine Sorgen waren unbegründet gewesen. Er amüsierte sich prächtig. Das scheinbare Chaos auf der Bühne setzte sich überall im Publikum fort, wo manche an eng besetzten einfachen Tischen saßen und rauchten, während andere hinter ihm standen und mitsangen und lachten. Viele tanzten zur Musik und stießen in diesem beachtlichen Meer dunkler, schwitzender Leiber dabei immer wieder aneinander.

Fela sang weiter über die afrikanische Frau, die nur als »Lady« bezeichnet werden wollte, als sich eine Frau aus der Menge löste und an Aadits Tisch trat. Sie setzte sich zu ihm und lächelte. Er aber starrte sie lediglich an. Sein Blick war noch nicht allzu stark vom Alkohol getrübt, also sah er sofort, wie unglaublich schön sie war. Ihre Ebenholzhaut glänzte wie polierte Mitternacht, und in den verstreuten Strahlen der überall hängenden Glühbirnen leuchteten die Fransen ihres Afros wie ein unheimlicher Lichtsaum, fast wie ein Heiligenschein. In seiner Vorstellung war sie das fleischgewordene Afrika, dunkel, geheimnisvoll und ein wenig gefährlich. Sie streckte die Hand aus und streichelte mit ihren langen, schlanken Fingern über Aadits Gesicht und durch sein Haar. Bei der Berührung lief ihm ein Schauer den Rücken hinab.

Der Song erreichte seinen Höhepunkt.

Benommen versuchte Aadit zu verstehen, was hier vor sich ging. Diese Schöne hatte alle anderen jungen, attraktiven Nigerianer ignoriert und sich stattdessen zu dem Mann mit dem glatten, grau melierten Haar, der Goldkette, dem Ehering und dem ausländischen Akzent gesetzt. Aadit trug ein Ankara-Shirt und eine khakifarbene Schlaghose und wirkte hier äußerst fehl am Platz. Im besten Fall war sie eine besonders schöne Prostituierte. Sein Fahrer hatte ihm gesagt, an diesem Ort könne man sich wunderbar entspannen und eine Frau finden, die ihm beim Vertreiben der Einsamkeit behilflich sein könnte, und so ließ er sich von ihr den Bart streicheln und sich von ihr anlächeln, während um sie herum elektrische Wollust brummte. Auf der Bühne rieb Fela seine Hüften an der Tänzerin, sang und stöhnte und lachte in fiebrigem Überschwang.

Er sang und sang und erklärte, dass an der Frau, die »Lady« genannt werden wollte, noch mehr dran war.

Aadit versuchte, sie nicht anzustarren, doch sein Blick kehrte immer wieder zu ihrem Gesicht zurück und schweifte tiefer über das Dekolleté und über das rote Top und den Lederminirock bis zu den glänzenden braunen Schenkeln. Schweiß bildete sich auf Stirn und Handflächen. Was sich wie ein Dutzend Ewigkeiten anfühlte, verging ganz schnell, während ihre Finger unablässig über sein Kinn strichen und ihn scharf machten.

Aadit ertrug den Schmerz in seinen Lenden, bis er zum wilden Pochen hinter den Schläfen anschwoll.

»Willst du nicht hier abhauen?« Aadit lachte kurz und nervös, um seine Verlegenheit und den Drang des heißen Verlangens, das von ihm Besitz ergriffen hatte, zu überspielen.

Sie beugte sich zu ihm vor, bis ihr Haar über sein Gesicht strich, und drückte ihr Bein an seines. »Sei nicht schüchtern. Sag mir einfach, was du wirklich willst.«

»Ich will dich.« Er konnte es nicht mehr länger aushalten.

»Und bist du bereit, den Preis zu bezahlen?«, fragte sie.

Also hatte er wohl richtig vermutet. »Ja. Ich zahle, was immer du verlangst.«

Sie gurrte: »Sprich es aus.«

»Ich bezahle deinen Preis.«

»Bist du sicher?«

»Ja.«

Sie lachte spitz, lächelte wieder und stand auf, während der Song weiterging. Voller Energie sang Fela davon, dass an der »Lady« mehr dran war. Aber Aadit hörte längst nicht mehr zu.

Er wollte zum Eingang gehen, dorthin, wo ihn sein Fahrer abgesetzt hatte, doch sie zog ihn in Richtung der Menschenmenge. Sie drängten sich durch das Gewühl der Leiber und betraten dahinter ein kleines Gebäude mit bröckelnden, rissigen Wänden. Durch ein Labyrinth von Korridoren erreichten sie einen Raum, der wie eine Küche aussah, wo eine Gruppe schwitzender, korpulenter Frauen in unterschiedlichen Ankara-Umhängen in großen Töpfen mit Reis rührten, weiche Amala-Klöße formten und großzügige Portionen Pfeffersuppe in Keramikschüsseln löffelten. Sie warfen Aadit und der Frau böse Blicke zu, doch sie zog ihn immer weiter und führte ihn durch den Ausgang der Küche in eine dunkle, stille Gasse hinter dem Afrika Shrine und steckte einem dünnen alten Wachmann ein paar Naira-Noten zu, damit er seinen Posten verließ.

Als sie allein waren, lehnte sie sich an die Ziegelmauer der Gasse. »Soll ich anfangen?« Schon bei dem Ton, in dem sie die Frage stellte, fühlte es sich an, als würde er zu brennen beginnen.

»Wie heißt du?«, fragte er.

»Nneoma«, antwortete sie. »Du kannst Nneoma zu mir sagen.«

Er wollte ihren Namen wiederholen, war sich aber nicht sicher, ob er ihn korrekt aussprechen konnte, daher nahm er ihr Gesicht in die Hände. Ihre vollen Lippen teilten sich. Ihr Atem war süß und enthielt einen metallischen Hauch. Er zog sie an sich und wollte sie in der Dunkelheit küssen, doch sie wich ihm im letzten Moment aus, kurz bevor seine Lippen ihre berühren konnten. Und sie drehte den Kopf zur Seite. Als sie sich ihm wieder zuwandte, starrte sie ihm geradewegs in die Augen, und er sah sie gelb leuchten.

»Mach schnell. Ich weiß, was du wirklich willst«, hauchte sie.

Und damit drehte sie sich um, schob ihm die Hüften entgegen und streifte ihren Lederrock hoch. Sie griff nach hinten und langte mit den Fingern fachmännisch in seine lockere Hose. Dann packte sie ihn. Aadit konnte kaum atmen. Als sie ihn in sich hineinzog, fühlte es sich an, als würde jeder Nerv seines Körpers vor reiner Lust summen. Er stützte sich an der Wand ab, schloss die Augen und stöhnte tief. Sie drückte die Hüften an seinen Unterleib. Verhallte Saxofontöne hüllten sie beide ein.

Die Zeit schien sich aufzulösen, während er in ihr versank. Ein Füllhorn an Gefühlen überwältigte ihn, während Bilder durch seinen Kopf flatterten wie Schmetterlinge über ein Feld.

Vögel. Lippen. Musik. Blumen. Flügel. Haut.

Unkontrolliert begann er zu zittern, als die Lust in ihm in einer Explosion hervorbrach, wie er sie nie zuvor erlebt hatte. Das Gefühl wurde noch intensiver, während sie sich an ihm bewegte, und wuchs beharrlich weiter. Nun war er der Erlösung nahe. Er öffnete die Augen, konnte im Strudel der Emotionen jedoch nichts mehr scharf sehen, also schloss er sie wieder. Es fühlte sich wie Zuckungen an, als er sich dem Höhepunkt näherte, doch dann … erschienen ihre Gesichter vor seinem inneren Auge, so klar und deutlich, als wären sie auf eine Leinwand hinter seinen Lidern projiziert worden. Seine Frau, Sachika, und ihr dreijähriger Sohn Ravin in Mumbai, die im Garten ihres Hauses spielten und lachten und nach ihm riefen. Daddy, Daddy, komm und spiel mit uns. Dieses Bild löste ein Schuldgefühl aus, das sogar die Wollust an Intensität übertraf.

Sachika.

Ravin.

Nein.

Er kam wieder zu sich, als sich Scham und Schuld in ihm ausbreiteten und seine Gedanken klar wurden.

»Tut mir leid«, murmelte er, als er sich unbeholfen aus ihr herauszog und von ihr entfernte. Sie drehte sich um und starrte ihn neugierig an. Er kämpfte mit seiner Hose, holte eine Handvoll Nairanoten hervor und warf sie ihr zu.

Nneoma betrachtete das Geld zuerst, verzog dann angewidert die Lippen, und schließlich starrte sie ihn aus Augen an, die wie sterbende Glut aussahen. »Was soll das?«

»Tut mir leid, ich kann nicht. Ich hätte überhaupt nicht … ich bin verheiratet. Hier ist dein Geld. Ich kann dir noch mehr geben, wenn du möchtest, aber jetzt muss ich gehen. Ich habe ein …«

Ihre Stimme bekam die Wucht eines Erdbebens. »Was soll das? Glaubst du, du kannst jetzt einfach aufhören? Hältst du das für den Preis? Dein schmutziges Geld? Dummkopf. Es gibt Dinge, die man nicht mit Geld kaufen kann. Verstehst du? Du hast dich bereit erklärt, den Preis zu bezahlen. Meinen Preis. Wir haben eine Abmachung.«

Aadits Schuldgefühl verwandelte sich plötzlich in eine Angst in genau der gleichen Größenordnung. Vielleicht war sie sogar noch größer. Er sah zu Boden und konnte in dem schwachen Mondlicht, das sie beide aus demselben Winkel beschien, nur seinen eigenen Schatten sehen.

»Du musst den Preis bezahlen.«

Mit der Plötzlichkeit eines tropischen Regenschauers begriff Aadit, dass er einen entsetzlichen Fehler begangen hatte, denn Nneoma war gar kein Mensch. Von einem wilden, irren Drang zur Flucht getrieben, riss er sich die Goldkette vom Hals, zog die kleine Pfauenfeder ab, die daran hing, denn seine Mutter hatte ihm oft genug eingeschärft, dass die ihn vor dem Bösen schützte, und warf sie in Richtung der Frau. Nneoma sprang zurück, um auszuweichen, prallte dabei mit dem Rücken gegen die Wand und ging ungelenk zu Boden. Aadit ergriff seine Chance und floh in Richtung Eingang und Parkplatz.

Ein gellender Schrei ertönte, und darauf folgte ein bebendes Schnattern, das sich wie schwarze Farbe, die auf feinste Seide spritzt, in die Saxofontöne mischte.

Aadit rannte weiter.

Und sah sich nicht um.

4

Perhentian Kecil, Terengganu, Malaysia

2. Juli 2017, 0 Uhr 52

Ungefähr vier Stunden, nachdem sie Oloruns Angebot akzeptiert hatten, waren Shigidi und Nneoma zurück in ihrer privaten Strandvilla. Es war ein großer, offener Raum mit weißen Wänden und einem französischen Bett in der Mitte, das an einem Raumteiler aus Stein stand, mit breiten Lücken an den Seiten. Durch diese Öffnungen gelangte man in die Toilette und das Bad, das nach außen eine Glaswand hatte, durch die man auf eine grasbewachsene Mauer blickte. Es gab keine Bilder oder andere Dekoration außer zwei großen Muscheln, die wie Amulette an dem Raumteiler hingen. Die Ästhetik sollte wohl Nähe zur Natur vermitteln, aber in Nneomas Augen wirkte das Zimmer eher manieriert, vor allem, wenn man den Preis pro Nacht bedachte.

Rasch bewegten sie sich mit langen Schritten umher, falteten ihre Sachen und warfen und quetschten sie in den großen blauen Reisekoffer, den sie sich teilten und der mitten auf dem Bett lag. Der Geist der neugierigen, tätowierten Frau vom Strand war kein Thema mehr.

Beim Packen sprachen sie kaum; seit sie vom Meer zurückgekommen waren, hatte niemand viel gesagt, doch konstant baute sich eine Spannung auf, und das behagte Nneoma überhaupt nicht. Jedes Mal, wenn sie einander flüchtig berührten und er ihrem Blick auswich, kribbelte ihre Haut.

Als sie schließlich alles, was für sie von Bedeutung war, in den Koffer gepackt hatten, fassten beide gleichzeitig nach dessen Griff. Ihre Hände trafen sich auf dem kalten Plastik. Sie erstarrten und sahen sich an und waren endlich im Orbit des jeweils anderen angekommen, nachdem sie so lange umeinander herumgeschweift waren. Sie las ihm die Frage von den Augen ab und wusste, was als Nächstes kommen würde, noch ehe Shigidi ihre Hand drückte und ein Gefühl bei ihr auslöste, als würde sie die Kontrolle über ihren Körper verlieren und in eine Million Teile zerbersten.

»Du hast mir keine Antwort gegeben«, sagte Shigidi. Es klang wie ein Vorwurf.

»Antwort? Worauf?«

»Nneoma, liebst du mich?«, fragte er noch einmal und presste die Kiefer so zusammen wie immer, wenn er gestresst war, sogar im Schlaf. Manchmal knirschte er dabei so laut, dass sie davon wach wurde.

Sie seufzte und schloss die Augen. »Warum fragst du das andauernd? Wieso ist es so wichtig?« Und in dem Augenblick, in dem sie die Fragen ausgesprochen hatte, bedauerte sie dies auch schon.

Er zog die Hand von ihrer zurück, und sie meinte zu sehen, wie die harten Linien seines Gesichts unter der dunklen Oberfläche erröteten.

»Schon gut. Ich verstehe, wenn du mich nicht liebst. Unsere Beziehung war ja in erster Linie immer als geschäftliches Arrangement gedacht«, sagte er. »Aber ich glaube, deine Gefühle sind stärker, als du zugibst, und ich verstehe einfach nicht den Grund, warum du es nicht sagst, wenn du mich liebst, oder es sagst, wenn nicht. Abi, ist das so kompliziert?«

Überall an ihrem Körper stellten sich die Haare auf. Angesichts seiner Worte fühlte sie sich plötzlich schwach. Zu schwach. Und das hasste sie.

»Ich bin gern mit dir zusammen, Shigidi«, platzte sie heraus und ließ sich aufs Bett sinken. Vorgebeugt stand er da, die Hände auf dem Kopf. Sie schob sich über das Bett auf ihn zu. »Du weißt das. Ich weiß das. Und du weißt auch, dass es zwischen uns nicht nur ums Geschäft geht. Du verstehst nicht, warum ich diese Worte nicht sage, und ich verstehe nicht, warum du immer die gleiche Frage stellen musst, warum es plötzlich so wichtig für dich ist. Außerdem«, fügte sie hinzu, »hast du gewusst, was ich bin, als du unserer Partnerschaft zugestimmt hast.«

Sie schaute zu, wie Shigidi die Stirn runzelte, sich setzte und den muskulösen Torso von ihr wegbeugte, ohne jedoch den Blickkontakt abzubrechen. Sie betrachtete ihn von oben bis unten und erfasste und analysierte seine Körpersprache. An dieses Spiel war sie gewöhnt, und jetzt spielte sie es mit einem Körper, den sie ihm selbst geschenkt hatte. Daher wusste sie schon Sekunden früher, dass er das Schweigen gleich brechen würde, als er tatsächlich zu reden begann.

»Ja, ich weiß, was du bist«, sagte er, und im höheren Timbre seiner Stimme schwang Ernsthaftigkeit mit. »Ich kenne dein Wesen. Ich habe von deiner Art gehört, seit man meinem Körper Gestalt gegeben und mir den Atem des Lebens eingehaucht hat. Doch ich habe Zeit mit dir verbracht, Geister mit dir verzehrt, dir zugehört. Ich sabi dich, ich kenne dich jetzt persönlich. Vielleicht bist du ein Sukkubus, aber du bist auch noch mehr. Ich kenne dich und ich liebe dich, aber im Augenblick bin ich nicht ganz sicher, was wir füreinander bedeuten.«

»Wir sind Partner«, sagte sie. »Partner. So einfach ist das. Partner.«

Sie hoffte, der Sinn der Wiederholungen würde Shigidi nicht entgehen. Das machte sie manchmal so, es war eine Gewohnheit, die sie entwickelt hatte und ständig bei Diskussionen und vor allem bei Verhandlungen einsetzte. Für sie stellte es eine Art verbalen Richtungsweiser dar, der sagte, dass sie so weit gegangen war, wie sie wollte, und sich ohne Widerstand nicht noch weiter bewegen würde. Inzwischen sollte Shigidi das wissen. Sie hatte ihm signalisiert, dass sie das Gespräch beenden wollte, und hoffentlich war das bei ihm angekommen. Immer noch mit Schmollmund lehnte sie sich zurück und löste das dünne Strandtuch mit dem Elefantendruck um die Taille, als habe sie durch die Gefühle an Umfang zugenommen und brauche mehr Raum.

Shigidi schnaubte und bemerkte wohl, dass sie sich in eine Sackgasse begeben hatten, sagte jedoch nichts, das seine Äußerung erläutert hätte; er saß einfach da und schaute mürrisch drein. Nneoma versuchte, seine Gedanken zu erraten, denn sie wusste, jetzt war er unzufrieden und verstand ihre Reaktion auf seine Frage nicht. Aber er konnte es ja nicht wissen. Er konnte nicht wissen, wie hoch der Preis für eine romantische Liebe zwischen unabhängigen Geisterwesen sein konnte. Wie erdrückend es werden konnte. Einengend. Er konnte nicht wissen, dass sie dadurch eine Schwester verloren hatte. Aber immerhin hätte ihm dämmern sollen, nicht weiter danach zu fragen. Die Liebe hatte ihn fast das Leben gekostet. Sie überlegte, ob er den Tag bereute, an dem sie sich begegnet waren, ob er bereute, einem so wunderschönen und schrecklichen Geschöpf wie ihr verfallen zu sein. Zwischen ihnen entspann sich ein Schweigen, das sie nicht brechen wollte. Langsam verstrich die Zeit.

Schließlich stand Shigidi auf, zog seine orange-blaue Badehose runter und schleuderte sie mit dem Fuß in die andere Ecke des Raums in Richtung Badezimmer, als habe sie ihn beleidigt.

»Partner.« Seine Stimme war heiser. »Ja. Partner. Darauf haben wir uns geeinigt. In diesem Fall packen wir einfach zu Ende. Wir müssen nach London. Schließlich haben wir einen Auftrag.«

Er ging zur Couch, auf der ein weiches weißes Handtuch lag, und Nneoma betrachtete ihn in seiner Nacktheit wie eine Künstlerin, die ihr Werk bewundert. Sie betrachtete seine breite Brust, in deren Mitte eine handgroße Narbe eingegraben war. Seine Bauchmuskeln traten wie gemeißelt hervor und waren so fest wie sein Po. Sie folgte den runden Enden der Finger, während er nach dem Handtuch griff und ein einsamer Sonnenstrahl durch das Fenster hereinfiel und die Grube seines Bauchs traf. Shigidi war wunderschön. Sie hatte ihn so erschaffen und die unbeholfen schlichte Vorarbeit des Orisha-Chefs in etwas – nein, in jemand – Spektakuläres umgestaltet. In jemanden, der sich nun unsterblich in sie verliebt hatte und sich dadurch in Gefahr brachte. Sie beide in Gefahr brachte.

Sie erhob sich und gestattete ihrem dünnen Strandkleid, um ihre Beine zu rutschen.

»Shigidi, Liebling, bist du jetzt tatsächlich wütend?«, fragte sie und versuchte, die Stimmung aufzuheitern.

»Ich bin nicht wütend«, sagte er, aber sie sah es seinem Gesicht an, wie sehr er sich anstrengen musste, um die Emotionen in sich einzudämmen. »Wir sind Partner. Wir holen uns Geister und teilen sie. Manchmal schlafen wir miteinander. Wir haben Aufträge, und die brauchen wir, um unsere Schulden zu bezahlen, und im Allgemeinen können wir unsere Jobs gut erledigen. Das ist alles. Abi?Nowahala. Keine Sorge. Alles easy.«

Sie hob die linke Hand und zeigte auf ihn. »Was haben deine Fragen dann für einen Sinn, Liebster?«

»Keine Ahnung, aber im Augenblick möchte ich nicht weiter mit dir streiten«, knurrte er. »Das führt zu nichts, und wir müssen unseren Flug bekommen.«

Sie trat vor, bis sie kaum noch einen Hauch von ihm entfernt war. »Beeinträchtigt das unsere Zusammenarbeit?«

»Natürlich nicht. Wie du schon gesagt hast: Wir sind Partner, oder?«

»Du bist immer noch böse«, sagte sie.

»Sicherlich«, sagte er leise, aber mit bitterem Unterton. »Nneoma, zum ersten Mal, seit wir uns kennengelernt haben, bitte ich dich um etwas, was nicht Teil unserer Abmachung ist. Ich habe mich dir vollkommen geöffnet. Ich wurde buchstäblich aufgerissen … für dich. Aber du hast dich mir nie geöffnet. Nicht einmal ein bisschen. Gut, ich verstehe, du bist ein Sukkubus. Das ist deine Natur, Spielchen mit Sex und Macht und Gefühlen und Verlangen zu treiben. Das alles weiß ich, und trotzdem stehe ich hier wie ein Dummkopf, wie ein Mumu, der sich freiwillig in dein Netz begibt. Schön, ich liebe dich, komm, ich lege mich in dein Netz. Gut, ich mache es ganz von allein. Aber ich stelle dir nur eine einzige einfache Frage, und du weigerst dich, mir eine Antwort zu geben.« Er ballte die Hände zu Fäusten, während er sprach, und seine Fingerknöchel wurden weiß und knisterten, weil sie die elektrisch grünen Geisterpartikel kaum zurückhalten konnten.

Nneoma schloss die Augen. Sein Ausbruch hatte einen verwirrenden Mix von Gefühlen in ihr hervorgerufen. Das erinnerte sie an eine Zeit, die nun schon so lange hinter ihr lag, an eine Zeit, in der sie und ihre Schwester von ganzen Kulturen angebetet worden waren, weil man sie für Zwillingselementargöttinnen gehalten hatte, für Manager einer Geisterfirma, die in ihren Ländern Geschäfte machte. Shigidis Verlangen hatte gleichermaßen etwas Angsteinflößendes und Berauschendes an sich. Diese Mischung stieg ihr zu Kopfe und löste eine Emotion aus, die sie seit Jahrhunderten nicht mehr gespürt hatte. Aber es rief auch Erinnerungen wach. Erinnerungen an ihre Schwester Lilith und an das, was Lilith zugestoßen war, als sie sich verliebt hatte. Nneoma gefielen die Erinnerungen nicht und ebenso wenig das Gefühl; es war wie eine Umarmung der Leere. Und deshalb tat sie das, wozu ein in Jahrtausenden entwickelter Instinkt sie trieb. Sie streckte die Hände aus, legte sie an Shigidis verkniffenes Gesicht, stellte sich auf die Zehenspitzen und brachte ihn mit einem Kuss zum Schweigen.

Shigidi entzog sich ihr nicht, auch wenn Nneoma vermutete, dass er es wollte. Sie spürte, wie sein Körper unter ihrer Berührung vibrierte und wie sich seine Gesichtsmuskeln anspannten. Sie verstrahlte ihre Substanz in den Raum und manipulierte das potente sexuelle Verlangen, das von ihm ausging, sodass es noch stärker widerhallte. Beide wussten, was sie tat, denn sie hatte ihm die meisten ihrer Tricks gezeigt. Doch vermutlich wäre er so berauscht vom Geschmack ihrer Lippen, dass es den Rest seines Widerstands aushöhlen würde. Er würde gar nicht mehr fähig sein, es noch länger aufzuhalten. Und er würde es auch gar nicht wollen. Daher überraschte es kaum, als er sich mit einer ausgehungerten Intensität an sie schmiegte und die Arme um das weiche, nackte Fleisch ihrer Taille schlang. Ihre Zungen verwoben sich, als könnte der Kuss sie wieder vollständig aneinanderbinden und den Raum überbrücken, den seine Frage und ihr Schweigen zwischen ihnen geschaffen hatten. Langsam sanken sie zu Boden. Shigidi küsste ihren Nacken. Unten schob er sich zwischen ihre Beine, richtete sich auf und lehnte sich auf ihre Schenkel. Sie zog seinen Kopf an ihre Brust und hielt ihn dort fest.

»Ach, verdammt, Nneoma«, flüsterte er atemlos in ihren Busen.

Es wunderte sie, wie leicht er sie dieses Spiel hatte gewinnen lassen. Vielleicht, weil sie bislang so gut zusammengearbeitet hatten: Er war bereit, das aufzugeben, was er wollte, wenn er bekam, was er brauchte. Wenn er sie bekam. Und diese Bereitschaft bildete im Kern die Gefahr dessen, was er von ihr wollte.

Ich werde nicht wie meine Schwester.

Ihr Liebesspiel war treibend, wild und so eindringlich wie der Schlag der Trommeln, die sie beim Yams-Fest in Awka gehört hatte. Mit jeder Berührung und jedem Stoß seiner Hüften spürte sie, wie er sein gesamtes Sein mit ihr zu teilen und sich vollständig neu mit ihr zu verbinden versuchte. Das erinnerte sie an ihr erstes Mal, durch das sie ihn so gänzlich umgeformt, ihm so viel geschenkt und ihre Partnerschaft geboren hatte. Doch tief in sich wusste sie, dass die Spannung bleiben würde, bis sie ihm die Antwort gab. Die Kluft, die schon immer zwischen ihnen existiert hatte, hatte sich noch weiter geöffnet und entblößte alle Bedürfnisse und Zweifel und Ängste unter dem Deckmantel ihrer Partnerschaft. Und jetzt war diese Kluft den Elementen ausgesetzt und würde weiter schwären und wachsen, bis ein Abgrund unerfüllten Verlangens und unerwiderter Begierde entstand, der sie auseinanderdrängen könnte. Und damit entsagte sie ihren Gedanken, konzentrierte sich ganz auf das Körperliche und tat alles, um auf die Weise Lust zu bereiten, die er am meisten mochte, wie sie erfahren hatte. Und so spielte sie auf dem Körper, den sie ihm gegeben hatte, wie auf einem Instrument und ließ jeden Höhepunkt seiner sinnlichen Wonnen in ihren eigenen nachschwingen.

Danach war die Frage von einer Flutwelle der Lust und des Behagens weit zurück in die Tiefen ihres Gehirns gespült worden. Shigidi schlief als Erster ein. Sie betrachtete ihn mit schweren Augen, während sich die Linie seines Kinns bewegte und er Laute wie das Sägen von Holz von sich gab. Wieder knirschte er mit den Zähnen. Er ist immer noch besorgt. Gestresst. Nneoma nahm sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und zog es nach unten, damit das Knirschen aufhörte. Shigidi drehte sich von ihr weg und warf den Kopf hin und her. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Seine Bewegungen oder das Knirschen unterbinden zu wollen, schien einfach sinnlos zu sein. Er war wieder in einen tiefen, tiefen Schlaf gefallen, der mit lebendigen Erinnerungsobjekten gefüllt war, die ihn heimsuchten wie Träume, obwohl sie doch wusste, dass ein früherer Albtraumgott unmöglich träumen konnte.

5

Anwesen II der Orisha-Geisterfirma, Orun (Geisterwelt)

31. Oktober 2016, 18 Uhr 41

Als Shigidi erwachte, drehte sich die Welt um ihn. Sein Kopf pochte wie ein verängstigtes Herz. Als er die Augen öffnen wollte, attackierte das Licht die Pupillen wie eine Armee spitzer roter Nadeln, während sich der Kater in seinem Kopf ausbreitete. Er fühlte sich, als habe er einen Unfall gehabt oder sei auf irgendeine Weise zur lebenden Verkörperung eines Unfalls geworden, deshalb bemühte er sich auch, still zu bleiben. So lag er gefühlte Stunden lang da, hielt die Augen geschlossen, sperrte absolut reglos die Welt aus und blinzelte nur gelegentlich, um zu überprüfen, ob sich das Draußen beruhigt hatte. Was nicht geschah.

Schließlich entschied er, dass er sich bewegen müsste, sonst würde er unangemessen spät zur Arbeit erscheinen, und zwar sogar nach seinen eigenen extrem tief angesetzten Maßstäben für Leistung. Er drückte sich auf einen Ellbogen hoch und schaffte es, sich von der rauen Bastmatte zu wälzen, die ihm als Bett und Sitzgelegenheit diente, ehe er einen großen Teil dessen, was er am Vortag exzessiv konsumiert hatte, auf den roten Lehmboden der ihm von der Firma zugewiesenen Hütte kotzte. Es war eine zähe braune Masse, die Stücke halb verdauter Kolanüsse, zerkautes Fleisch, Palmwein und Blut enthielt. Viel Blut. Fast sogar noch mehr, als es sonst für eine wilde Nacht mit seinem einzigen Trinkkumpan Ososhi, dem Orisha der Jagd, üblich war. Allerdings nicht deutlich mehr. Er würgte und spuckte einen zweiten Schwall, und danach fühlte er sich ein bisschen weniger übel, allerdings nur ein wenig. Nun wirkte die Welt nicht mehr ganz so instabil. Er brachte den Willen auf, sich auf die Beine zu erheben, trat durch die quietschende Tür, wurde kurz von dem Busch neben seiner Ziegelhütte gestreift und trat zu dem Loch im Boden, das ihm als einfache Latrine diente. Dort hielt er sich gefühlt tagelang auf, obwohl es nur ein paar Minuten waren, in denen er würgte, kotzte und spie.