Sie nennt es weggehen - Gert Eckel - E-Book

Sie nennt es weggehen E-Book

Gert Eckel

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Beschreibung

Gert Eckel hat vor zwei Jahren seine Partnerin verloren. Sie war gerade einmal 46 Jahre alt, als die Ärzte ihr erklärten, dass ihre Krebserkrankung unheilbar sei und ihr Leben bald zu Ende gehen werde. Nur wenig später gab sie ein Fest und erklärte den Gästen: "Noch lebe ich!" Doch die Tage wurden schwerer, und die Sehnsucht nach Erlösung wuchs. Nach vier Monaten bestimmte sie den Tag, an dem sie "weggehen" würde. Dieser Zeitraum war ein Wettlauf mit dem Tod, den sie nicht gewinnen konnte, und den sie dennoch gewann. Und es war ein Wettlauf um ihre Würde, die sie niemals verlor. Gert Eckel gewährt uns Einblick in die eigene Seele und in die Seele seiner Partnerin. Er erzählt, wie sie Abschied vom Leben nahm und er Abschied von ihr. Er taucht ein in Erinnerungen, spricht von bitteren Tränen und unerfüllten Träumen und von der Fülle des Lebens, die sich im Angesicht des Todes entfaltet hat.

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Seitenzahl: 242

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Gert Eckel

Sie nennt es weggehen

Tagebuch eines selbstbestimmten Sterbens

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Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

Die NachrichtSchicksalDie FreundinDer AugenblickDignitasDie SucheWünscheEmahóSchmerzenAndantePatientenDie PauseDer KampfLichtDas HausSapphoRespektDie PhioleDer letzte TanzMerlinDie AufgabePsycho IEngeSarahSarah: der AbschiedSarah: das letzte LiedDie BegegnungTränenTodeDie SchwitzhütteVerweile doch!HoffnungInselnIphigenieElendDas DramaGlückPanta RheiRosenDie PolisDie SonneAngstPsycho IIUrworteSophieNotRitualeArchitekturHarlinDas Leben weiß BescheidDer WegZeitAbschiedWürdeFriedenPSDer RingDas FotoDas WunderDer AltarNäheDas GedankenheftPsycho da capoLebenGlobuliOrfeuDort obenDie ElternDas DatumDonnerstagDer VogelFreitagDie PrinzessinOrteFlügelSamstagMit der Seele schauenDie ReiseStilleAdieuFreiheitDank
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Die Nachricht

Sie nennt es weggehen, auch sagt sie oft, sie gehe nach Hause.

Das Unausweichliche, seit fast einem Monat steht es nun fest. Die mögliche Zukunft ist auf Wochen geschrumpft, vielleicht wenige Monate. Der Tumor hat den gesamten Organismus erfasst, hat Metastasen überall im Körper gebildet, auch in der Lunge. Die Ärzte haben festgestellt, dass es Metastasen des vor drei Jahren operierten Tumors sind, der den Magen so gänzlich befallen hatte, dass man ihn entfernen musste. Ein Leben ohne Magen – es funktioniert, die Einschränkungen sind nicht wesentlich, man durfte an eine Zukunft glauben. Die regelmäßigen Untersuchungen seitdem lieferten keinen Hinweis, kein Tumormarker fiel auf, keine Computertomographie zeigte verdächtiges Gewebe.

Wäre da nicht ihr Gefühl gewesen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Und die Rückenschmerzen. Und manchmal die Schwäche.

Es ist ein lichter Tag im frühen März. Endlich vom Eis befreit, nach langer Starre des Winters beginnt die nun dunkelfeuchte Erde wieder zu atmen. Ein fahler Schimmer des hellen Grüns sprießender Knospen mischt sich in das Grau des vergehenden Winters, um ihn durch neues Werden zu beenden. Ein Ahnen mehr und weniger ein Sehen. Dem grünlich weißen Blühen der Schneeglöckchen ist das kräftige, leuchtende Gelb der Winterlinge gefolgt, die eher kleinen Sonnen ähneln.

Ein seidig schimmernder Tag, wie geschaffen für einen Frühlingsspaziergang.

Wir müssen nicht warten: In einem schwarzen Anzug empfängt uns der Chefarzt der Onkologie zur vereinbarten Stunde, ganz in Ärzteweiß sein chirurgischer Kollege. Sie sind der Patientin noch nahe seit der damaligen Zeit des großen Leids, seit den beiden Operationen und den Chemotherapien. Sie sagen, dass sie eine ganz besondere Patientin gewesen sei, deren Haltung sie noch immer beeindruckt. Umso schlimmer trifft es sie, auch sie, ihr jetzt dies sagen zu müssen. Sie hatten so sehr gehofft, dass sie zu denen gehören würde, denen die durchlittenen Qualen Heilung bringen. Die lange Zeit seit dem Eingriff gab ihnen Anlass zur Hoffnung.

Das Gespräch verläuft ruhig und menschlich und nah. Keine Versuche, zu trösten, zu relativieren, keine überflüssigen Worte. Im Vordergrund steht der Respekt vor jeder denkbaren Entscheidung der Patientin, auch der Respekt vor ihrem Schicksal. Ihre klare Aussage, keine Chemotherapie mehr zuzulassen, wird ohne Widerstand akzeptiert. Doch zu einer Strahlentherapie erklärt sie sich bereit, obwohl die keine Heilung bringen kann, sondern nur eine Linderung der dringendsten Probleme. Viel Glück wünscht man ihr auf dem schweren Weg – sie solle wissen, dass man immer da sei für sie.

Machen Sie Reisen, wohin Sie möchten, solange Sie das noch können!

 

Still und seltsam mechanisch ist der Gang zum Aufzug durch die langen, tristen Flure, die mit einigen Bildern garniert sind, um von der Trostlosigkeit des Ortes abzulenken. Wir gehen vorbei an der unwirtlichen Caféteria, die ein Ort des Begegnens hätte werden sollen und doch nur ein zugiger Unort wurde, dem Vorplatz eines Bahnhofs ähnlich, weiter über den Parkplatz und zum Auto, fahren heim durch die gewohnten Straßen, die ihre Farben verloren haben. Obwohl wir die unausweichliche Wahrheit hörten, dringt sie nicht voll ins Bewusstsein, das sich schützt vor dem Unerträglichen. Wie eine Glocke umgibt uns das Wissen und dröhnt. Die Sorgen und Ängste davor sind noch durchlässig gewesen, das neue Wissen ist hermetisch. Kein Sonnenstrahl durchdringt es.

Dieses Krankenhaus hatte im Lauf der Zeit eine positive Aura bekommen, schließlich gewann sie nach dem Durchleiden ihr Leben zurück. Das Restaurantschiff davor auf der Spree, damals ihre erste Zuflucht außerhalb des Krankenhauses, war uns ein lieber Ort geworden. Es ist nicht selbstverständlich gewesen, dass sie den Operationen und den Chemotherapien zustimmte, und es ist nicht selbstverständlich gewesen, dass sie die Eingriffe überlebte, doch der Wille zu überleben, gestärkt durch die immer gegenwärtigen Freundinnen, siegte über die Resignation. Fotos von ihrem noch haarlosen Kopf zeigen bereits ein zuversichtliches Strahlen in ihrem Gesicht.

Zum Weinen kommen wir nicht, jetzt noch nicht. Es ist schwer, mit dem eigenen Sterben umzugehen, es ist immer so fern und abstrakt. Nun, da es konkret wird, können wir es nicht begreifen. Der Tod ist zu groß, und er ist trotz aller Bewusstheit nicht Teil unseres Lebens. Er ist endgültig, er ist der Eintritt in die Unendlichkeit. Mit Endgültigkeit hat das ganze Leben aber nichts zu tun, nie, panta rhei, alles ist Erneuerung. Wir wissen um den Tod, aber in unser Denken, in unser Fühlen dringt er nur oberflächlich ein.

Neunzehn Jahre alt bin ich gewesen, als mich mein Vater telegrafisch davon unterrichtete, dass meine Mutter nach einer gedacht kleinen Operation das Krankenhaus nicht mehr verlassen würde. Ich war in einer ländlichen Gegend in Spanien, nur einer im Dorf besaß ein Telefon, dessen Nummer ich meinem Vater telegrafiert hatte, so dass er mich zur verabredeten Zeit dort anrufen konnte. Die Nachricht ließ mich zusammenbrechen. In dem fremden Wohnzimmer durfte ich mich auf das Sofa legen und Cognac trinken.

Hier also kein Zusammenbruch, nicht einmal weiche Knie, kein Taumeln. Vielleicht habe ich mich, haben wir uns im Lauf des Lebens an solche Nachrichten gewöhnt? Vielleicht war uns aufgrund der Vorgeschichte und des Gefühlten klar, dass die Nachricht nur so ausfallen konnte? Dennoch gibt es einen Unterschied zwischen dem Leben vor und dem nach der Nachricht, weil die Ahnung zur Gewissheit geworden ist. Zur Gewissheit, dass das Leben, zunächst das lebenswerte Leben, sehr bald ein Ende haben wird. Doch was heißt sehrbald? Es gibt nach wie vor keine klare Aussage über den Zeitpunkt, und die Ungewissheit über die Tage, Wochen, vielleicht Monate bis zum Tod ist die gleiche wie bei fast jedem Menschen, nur in einem anderen Maßstab. Die Ungewissheit lässt noch Spielraum. Man denkt nicht mehr in Jahren. Aber man denkt weiter in Zeit.

Wie geht man um mit dieser knappen Zeit? Alles anders machen als zuvor? Trauern oder feiern? Die weite Welt bereisen?

Das aber kommt nicht in Frage, noch nicht einmal für kleine Reisen reicht die Kraft. Nur beieinander sitzen und Händchen halten? Ein Alptraum. Es ergibt sich, dass wir viel Alltag in unser Leben eindringen lassen, aber mit hohem Bewusstsein. Wir sind arm geworden, das Zeitkonto ist fast leer – wie leer genau, das wissen weder wir noch die Ärzte.

Da sie nicht mehr arbeiten kann, wird unsere Zeit flexibler, die Koordination ist einfacher.

Ihr Gang ist aufrecht wie zuvor, ihre Augen leuchten, ihr tiefschwarzes Haar glänzt. Es hat graue Strähnen bekommen.

Jetzt rieche ich schon nach Verwesung.

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Schicksal

Wir sind erst seit sechzehn Monaten zusammen. Unsere Beziehung hat Zeit gebraucht, sich zu entwickeln. Sie ist sechsundvierzig Jahre alt, ich bin einundsiebzig. Der Altersunterschied war nicht leicht zu überwinden. Ich hatte oft ein schlechtes Gewissen mit meinem Alter an ihrer jungen Seite. Sie hatte oft ein schlechtes Gewissen mit ihrer Krankheit an meiner gesunden Seite. Natürlich sah sie in mir auch ihren Vater, denn mein Alter ist dem seinen näher als ihrem.

Trotz allem sind wir reich an schönen Stunden. Stunden voller Liebe, Zärtlichkeit, innig und bewusst. Wir wollen nicht resignieren, nicht schon jetzt der Trauer den Raum geben, den sie sich bald nehmen wird, nicht den Verlust vorwegnehmen. Bis dahin noch fühlen, sehen, LEBEN. Und Nähe spüren. Nicht allein sein. Denn davor fürchtet sie sich sehr.

Manchmal kommen viele Freundinnen und Freunde, wir haben ein offenes Haus. Auch für ihre Familie – für ihre drei Geschwister und die betagten Eltern, die nicht wissen, wie sie mit dieser Situation umgehen sollen. Ihre Tochter stirbt, und sie können es nicht ändern. Niemand kann es ändern.

Kann man denn gar nichts dagegen tun?

Der Tod gehört zum Leben wie die Geburt, sagt sie. Wir gehen dorthin zurück, woher wir kommen, sagt sie. Und für uns, die wir sie liebend begleiten, sei es schlimmer als für sie.

Wenn da nur nicht die Schmerzen wären. Und das permanente Bluten. Und die Entzündung, die Schwäche. Dennoch ist sie stärker als wir alle.

Die zahlreichen Untersuchungen der letzten Wochen brachten stets nur ein Ergebnis, und das war immer das schlechtere.

Gerade erst erhielt sie die Nachricht, dass man ihrem Wunsch entsprechend einen Kuraufenthalt in der Habichtswaldklinik bei Kassel bewillige. Sie solle nur den gewünschten Zeitraum benennen. An den Wochenenden würde ich sie besuchen, Spaziergänge in den wunderschönen Wäldern machen, vielleicht sie ausführen in ein Restaurant, nach drei oder vier Wochen sie schließlich bestens erholt abholen. Der Aufenthalt vor drei Jahren dort hatte ihr so gutgetan.

Damals, bei den vorangegangenen großen Operationen und den Chemotherapien, sei es noch nicht so weit gewesen, sagt sie. Die drei Jahre seitdem waren geschenktes Leben, eine Wiedergeburt, ihre reichste Zeit überhaupt. Und erst in der jüngsten Zeit wurde sie frei von ihren Ängsten, die ihr Leben schon seit der frühen Kindheit geprägt haben. Sie wurde geboren mit ererbter Angst. Es gab eine Zeit, da hat sie wochenlang ihr Zimmer nicht verlassen. Wollte keinen Geburtstag mehr haben, ließ kein Licht in ihr Zimmer.

Nun sind die Ängste fort. Sie sagt, sie sei angekommen. Angekommen auf dem Gipfel ihres Seins. Sie habe einen Zustand erreicht, der es ihr ermögliche zu gehen. Nach Hause. Es komme nicht auf die Zahl der Jahre an, einzig deren Intensität zähle. Ihr Leben sei jetzt erfüllt. Auch durch mich. Nie zuvor habe sie das Gefühl gehabt, jemandem den Rücken zuwenden zu können. Sie sei glücklich, wirklich glücklich, in mir einen Partner gefunden zu haben, auf den sie sich verlassen könne und wie sie ihn ihr ganzes Leben lang gesucht habe. Auch jetzt und in Anbetracht des Weges, den sie gehen will.

Denn sie will es nicht dem Schicksal überlassen, wie sie weggeht – sie möchte ihr Ende aufrecht erleben, es gestalten.

Oft sprechen wir über die Mittel, die diesen Weg ermöglichen könnten. Sie möchte sich unter einen Baum in meinem Garten legen, die ganze Nacht lang, noch den Sonnenaufgang erleben und dann nichts mehr in dieser Welt. Indianer gehen in den Wald, um zu sterben. Niemand soll bei ihr sein, diesen Weg will sie ganz allein und ganz bewusst gehen, er soll ihr letztes Erlebnis sein, das größte von allen.

Sie will alleine sein, weil es ihr Bedürfnis ist.

Doch ich werde ihr nah sein, weil es mein Bedürfnis ist.

Aber WIE?

Es soll schön sein zu erfrieren. Alkohol kann dabei helfen. Eine Nacht unter kalten Sternen, der Sonnenaufgang bringt keinen neuen Tag.

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Die Freundin

In der Nacht vor der zweiten Operation, in der man den Magen ganz entfernte, war sie nicht allein. Ihre engste Freundin Andrea, seit damals fünfzehn Jahren schon, hat mit ihr im Krankenhausbett geschlafen, um ihr in der Angst beizustehen. Um ihr Wärme zu geben in dieser angstvollen Nacht. Die Krankenschwester, die sie frühmorgens zur Vorbereitung der Operation weckte, wies vorwurfsvoll darauf hin, dass dies verboten sei. Wie sonst aber wäre das schreckliche Alleinsein zu vermeiden gewesen, die Einsamkeit vor dem risikoreichen Eingriff, der das ganze Leben verändert – wenn er gelingt? Die Schwester hat es eingesehen.

Die Freundinnen und der operierende Chirurg hatten es nicht leicht, sie zur Zustimmung zu dieser Operation und zu den Chemotherapien zu bewegen. Das erfahre ich erst jetzt. Der Entfernung des Magens war ein erster Eingriff vorausgegangen, nach einem plötzlichen Magendurchbruch. Dies sei eine Standardoperation, sagte man ihr, und sie müsse sich davor nicht so sehr fürchten. Doch sie sagt, sie habe gewusst, dass es mehr sei als eine Standardoperation, sehr viel mehr, was sich schon bald anhand der entnommenen Gewebeproben bestätigte. Ein verzweifeltes Ringen setzte ein, ob sie die ihr bevorstehenden Qualen auf sich nehmen sollte.

Eine wunderbare Rolle in dieser Zeit hat der Chirurg gespielt, der sich allabendlich, nach seinen anstrengenden Tagen, an ihr Bett setzte und sie allmählich davon überzeugte, dass es sich lohnen würde, den Versuch zu wagen.

Und nun, etwas mehr als drei Jahre später, ist er einer der beiden Überbringer der fatalen Nachricht.

Sie lag nicht im Einzelzimmer damals, war eine ganz normale Patientin. Dennoch stellte man das zweite Bett ihren Freundinnen und ihrer Schwester zur Verfügung. Nie war sie allein, und oft war sie heiter, fröhlich sogar, am Tropf und mit Schläuchen verbunden. In dieser Zeit, und erst in dieser Zeit erlebte sie, dass sie geliebt wird, der Liebe wert ist. Dazu musste sie fast dreiundvierzig Jahre alt werden, dazu musste sie dieses Leiden erleben. Weihnachten feierte sie nur sieben Tage nach der großen Operation, und sie gestaltete es festlich mit ihrer Schwester und mit Andrea. Sogar etwas Schokolade durfte sie essen.

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Der Augenblick

Ich sitze neben ihr, als sie die Bestellung ihres neuen Autos storniert.

Warum wollen Sie denn vom Vertrag zurücktreten?

Weil ich bald sterben werde.

Ich sitze neben ihr, als sie den Patienten ihrer osteopathischen Praxis, jedem einzelnen persönlich, sagt, dass sie sie nicht weiter wird behandeln können. Und ich nehme Teil an ihrem Life-Dancing, zu dessen Beginn sie ankündigt, dass dies vermutlich ihr letztes sei, denn sie sei sehr, sehr krank. Und die besonders vielen Menschen, die gekommen sind, sollten tanzen mit allem, was sie haben: mit ihrer Trauer, mit ihrer Not, ihrer Liebe, auch ihrer Verzweiflung. Sie liebt es so sehr, Menschen durch Bewegung zu sich selbst zu führen.

Alles wirkliche Leben ist Bewegung!

Sie wünscht sich, dass die Freunde nach ihrem Weggehen tanzen.

Wir betrachten die Maiglöckchen, deren spitze Blätter zahlreich sprießen. Mai ist bald, in zehn Tagen schon, doch wir leben ohne Zukunft. Nicht einmal für zehn Tage. Wir leben den Augenblick, den der Gedanke an den nächsten Tag sogleich zerstört. Und der Augenblick kann schön sein, wunderschön, heiter sogar, auch warm und zart und nah.

Und wir sehen uns Hubble-Fotografien von fernen Galaxien an. Diese Weiten sind so unermesslich schön, so unermesslich reich, zauberhaft und ganz real. Der kosmische Maßstab ist faszinierend, er gibt so etwas wie Halt.

Dort werde ich sehr bald sein, sagt sie leise beim Anblick einer Spiralgalaxie.

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Dignitas

»Dignity war der Titel der ersten Ausstellung, die wir gemeinsam besuchten, etwa sechs Wochen nach unserer Begegnung. Als Name einer Institution wird dieser Begriff uns wenig später eine Hoffnung bedeuten.

Die Ausstellung zeigt Porträts von Menschen aller Ethnien, aller Hautfarben, nur wenige Weiße darunter. Es scheint, als nähmen die hochentwickelten Räume der Weißen mit ihren alles erstickenden Regelwerken der Würde und ihrer Entfaltung den Raum. Die Ausstellung zeigt das Lebenswerk der Fotografin Dana Gluckstein, und allen Porträts ist die sichtbare, über den Moment der Fotografie weit hinausgehende Ausstrahlung von Würde gemein. Die Ausstellung bewegt uns sehr: Das Foto einer jungen Inderin, die mit ihrem wunderschönen, strahlend farbigen Sari aufrecht und stolz über eine Müllhalde schreitet; der Schmutz und die Ratten berühren sie nicht. Das Foto einer alten Indianerin, deren schwarze Augen eine unergründliche, leuchtende Tiefe zeigen – und Güte. Ob ein Zusammenhang besteht zwischen Würde und Güte? Wir sehen kein Gesicht, das nicht auch gütig wäre, und natürlich sehen wir keinen Hochmut und keine Eitelkeit. Wir sprechen tage- und nächtelang darüber, dass Hochmut und Eitelkeit, auch Geiz und Sarkasmus der Würde den Raum nicht geben, dessen sie bedarf. Vanitas heißt nicht nur Eitelkeit, sondern auch Vergeblichkeit, und en vain heißt nur noch vergeblich. Würde ist nie vergeblich, kann vergeblich nicht sein. Würde ist ein eigener Wert, einer der Ur-Werte wie Anstand, Treue – und Liebe. Und zweifellos ist Würde nicht abhängig von Wohlstand und auch nicht von Bildung, jedenfalls nicht von der, die wir in der Regel als solche bezeichnen. Sie hat offensichtlich eine andere Basis, die in die Tiefe des menschlichen Seins reicht und von der sich das Phänomen, das wir Zivilisation nennen, zunehmend weiter entfernt. Auch scheint sie einer gewissen Kraft zu bedürfen.

Die Würde wird uns zu einem wichtigen Thema, die Diskussion darüber begleitet uns, und kein Tag vergeht, ohne dass wir darüber sprechen. Welche Rolle spielt die Würde am Ende unserer Tage? Sie meint, dass der Betrüger in seiner letzten Stunde sein Tun bereue, und ich entgegne, dass er vielleicht stolz sei, viele Menschen hereingelegt zu haben, und daraus eine Überlegenheit ableite. Aber einig sind wir darin, dass sein Tod nicht glücklich sein kann, so wenig wie sein Leben. Dies eröffnet die Frage nach dem Zusammenhang von Würde und Glück.

Die Würde und der Mut war der Titel einer lange Jahre zurückliegenden Ausstellung des Galeristen Georg Nothelfer in Berlin; das dazu erschienene Buch steht in meiner Bibliothek. Auch Mut scheint neben der Selbstbestimmtheit eine der Grundlagen für Würde zu sein.

Von den vielen Verletzungen, unter denen sie leidet, wirklich leidet, ist eine wesentliche verursacht durch eine Würdelosigkeit, die sie wahrnimmt. Würdelosigkeit und Verachtung. Der Raum, dessen die Würde bedarf, wird geschaffen durch den Respekt.

Dieser Begriff der Würde, immer klarer erkannt, wird uns begleiten in den schweren Tagen, die vor uns liegen. Die Würde ist ein Maßstab, sie gibt eine kleine Sicherheit in all dem Ungewissen, das uns bevorsteht. Man kann sich an ihr festhalten.

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Die Suche

Wie soll, wie kann sie weggehen? Sie sagt, sie würde den rechten Zeitpunkt fühlen. Sie will gehen, bevor die zerstörten Gefäße durchbrechen, vor einem Darmverschluss, vor dem Verschluss des Harnleiters, vor einer finalen Entzündung, vor einer Perforation – eine lange Liste der möglichen Schrecken. Dies alles kann täglich geschehen, stündlich. Wann ist der rechte Zeitpunkt, wird sie ihn wirklich spüren? Und sind dann die Mittel da, die ihr helfen, aufrecht davonzugehen, mit wachen Sinnen diesen Übergang in ein anderes Sein, in die Ewigkeit, aus der wir kommen, diese Rückkehr zu erleben? Wir brauchen so viel mehr als den hilflosen Rat, im Internet gebe es Bücher zu diesem Thema. Wir brauchen Freunde, Menschen, wir brauchen Hilfe!

Wir sprechen über den Tod meiner Frau Sarah, der es gelungen ist, selbstbestimmt zu gehen. Damals verfügten wir über ein Mittel, von dem wir jedoch nicht wussten, woraus es bestand. Es war das letzte Geschenk eines engen Freundes, der Arzt gewesen ist, das er uns zwei Tage vor seinem Tod übergab mit den Worten, er benötige es nun nicht mehr. Das Versagen nahezu aller Organe ließ ihn friedlich einschlafen.

Wir sprechen über die Golden Gate Bridge. Alle, die den Sprung in die Tiefe überlebt haben und die man nachher befragen konnte, sagten, dass es im Augenblick des Springens nur noch ein einziges Problem gegeben habe: den Absprung wieder rückgängig zu machen. Plötzlich schien alles andere unbedeutend und lösbar. Dies kann hier nicht eintreten, nicht so, aber in etwas anderer Form: Vielleicht gibt es doch noch Augenblicke, Stunden, Tage, kleine Ewigkeiten, für die es sich zu bleiben lohnt?

Mit den Opfern des Anschlags von Toulouse, bei dem vor einer jüdischen Schule vier Menschen erschossen wurden, hat sie großes Mitleid, weil ihnen keine Zeit blieb, sich auf ihr Ende vorzubereiten. Weil sie sterben mussten, ohne sich dessen bewusst werden zu können. Weil sie fremdbestimmt sterben mussten.

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Wünsche

Nur ein einziges Mal erlebten wir zusammen Silvester. An der Ostsee, auf dem Darß. In der Stunde des Jahreswechsels saßen wir in dicken Mänteln auf Faltstühlen im Sand direkt am Meer, weit abseits von den Feiern und den Raketen, die aus dieser Entfernung, im Meer sich spiegelnd, sehr schön anzusehen waren. Wir haben Champagner getrunken und auf ein neues Jahr angestoßen und auf viel Glück gehofft, uns sehr viel Glück gewünscht. Später dann, zu ihrem Geburtstag im Februar, sind wir nach Bad Vals gefahren, haben im warmen Wasser schwebend alle Schwere verloren.

In Bad Vals hat sich etwas ereignet.

Noch nie zuvor war sie an jemandes Brust eingeschlafen. Noch nie zuvor hatte sie Nähe zugelassen. Am Nachmittag ihres Geburtstags sind wir auf einer Alm gewesen, mit dem Bus hochgefahren und zu Fuß hinuntergegangen. Eine Landschaft wie im Bilderbuch bei einem Bilderbuchwetter. Unser Leben – schön wie ein Traum.

Als sich die Schwere ihres Weges zu zeigen beginnt, geben wir ein Fest. Ein Fest für die Familien, für alle Freunde. Jeder Gast soll ein Gedicht mitbringen, das sie begleiten wird.

Ihr Vater hat ein Cello-Quartett zusammengestellt, das alternierend zu dem Vortrag der Gedichte spielt. Mein Gedicht ist die erste Strophe der Urworte, orphisch von Goethe, ergänzt durch eine kurze Beschreibung:

Ihr hoher Gang

ihre edle Gestalt

ihres Mundes Lächeln

ihrer Augen Gewalt.

Manche Gäste lesen ihr Gedicht vor, manche überreichen es, viel Rilke natürlich, Kinder schenken Gemaltes. Ihre meistgeliebte Dichterin ist die scheue Wisława Szymborska, deren Begriff Sonderfisch, den sie auch auf sich bezieht, sie fasziniert. Harlin, unsere balinesische Freundin, erzählt vom Flusskiesel und vom Diamanten, eine Geschichte, die von ihrem Großvater stammt, dem letzten König von Bali. Es geht um die Alternativen, als Flusskiesel rund und glatt mit anderen zu liegen oder als schmerzhaft geschliffener Diamant allein und leuchtend, funkelnd.

Dies ist zugleich ein Abschiedsfest. Die Atmosphäre ist intensiv und einzigartig, voller Liebe und Achtung, auch die Stille hat darin ihren Platz.

Die Stärkste an diesem Nachmittag, der bis weit in den Abend geht, ist sie. Die Schönste ohnehin. Aufrecht und mit leuchtendem Blick.

Aus den Gedichten, den Bildern der Kinder und aus beziehungsreichen Fotos entsteht später ein Buch mit mehr als hundertfünfzig Seiten: Ayoooh Sonderfisch – Das Buch der Liebe. Meinen einführenden Worten vorangestellt ist ihr Credo:

Ich lebe, weil es wirklich Liebe gibt.

Dann folgt ein Text des in Indien geborenen Sufi-Lehrers Hazrat Inayat Khan, den sie an unsere Gäste verteilt hat:

Sobald die Seele sich zu entfalten und den in ihr verborgenen Sinn zu erkennen beginnt, beginnt sie auch, sich dessen zu erfreuen und das Vorrecht zu würdigen, dass sie lebt: Sie beginnt, alles zu schätzen und über alles zu staunen. Denn jede gute und auch jede schlechte Erfahrung bringt ihr eine gewisse Freude, eine gewisse Erfüllung des Lebensziels. Diese Freude fühlt sie nicht nur in der Lust, sondern selbst im Schmerz, bei einem Erfolg und bei einem Misserfolg. Freude ist nicht nur der Heiterkeit des Herzens eigen; auch wenn das Herz bricht, fühlt esim Verborgenen eine gewisse Freude. Denn keine Erfahrungist wertlos. Besonders für die Seele, die ihr Ziel zu erkennen beginnt, ist kein Augenblick im Leben verloren. Denn unter allen Umständen und in jeder Erfahrung wird sie des Sinns ihres Lebens gewahr.

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Emahó

Eine ganze Woche lang ist Emahó in Berlin, ihr enger Freund aus Santa Fé, indianischer Schamane, ihr wichtiger Lehrer und Mentor. Mit ihm arbeitet sie jeden Tag mehrere Stunden lang an ihrer aufrechten Haltung und ihrer inneren Stärke.

Oft hat sie an seinen Workshops in Europa teilgenommen, hat ihn mehrmals sogar in seiner Heimat besucht. Viel von dem, was sie auszeichnet, fand und erarbeitete sie sich durch ihn. Durch ihn habe sie ihre Würde zurückerhalten.

Zurückerhalten, sagt sie.

Die Angst habe er ihr genommen.

Nicht ich bin krank, es ist nur mein Körper.

Deshalb ist auch das Leuchten ihrer Augen nie erloschen, nicht einmal in der schweren Zeit vor drei Jahren. Ich kannte sie da noch nicht nah, von ihrem Schicksal erfuhr ich erst später. Die Ärzte, die ich erst jetzt kennenlerne, sprechen von diesem besonderen Menschen, der sie für ihr ganzes Leben beeindruckt hat.

Mein Verhältnis zu Emahó ist zurückhaltend, obwohl er versucht, mich zu integrieren mit den Worten I’m proud of you – I’m really proud of you! Ihm Nahestehende sagen mir, dass dies eine hohe Anerkennung bedeute. Mir aber ist das Schamanische fremd. Doch werde ich nie das stark leuchtende Glück in ihren Augen vergessen, das mich über die Menge der versunken Tanzenden anstrahlte, als es mir zum ersten Mal gelang, mich in das Geschehen bei einem seiner Workshops zu integrieren.

Die erste Begegnung mit Emahó in Prag war zutiefst misslungen. Wir sind uns dort sehr fremd geworden. Für sie besitzt Emahó eine wesentliche Bedeutung auf ihrer permanenten Suche nach sich selbst und nach angstfreien Räumen, auch Räumen ohne Zeit. Sie sagt, Emahó sei der einzige Mensch, der sie wirklich kenne. Zeichnerisch hat sie die Positionen der ihr wichtigsten Personen dargestellt: ganz oben Emahó, durch eine Klammer verbunden mit der Psychotherapeutin, in der Klammer zwei Freundinnen und ich in deren Mitte.

Allerdings hat sie mir Dinge anvertraut, von denen sonst niemand weiß.

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Schmerzen

Eine ihrer engen Freundinnen besucht uns; sie ist Ärztin. Wir sprechen über den finalen Moment, sehr funktional trotz aller Emotionen. Wie verhält man sich bei einem Durchbruch, bei einem Darmverschluss, bei einer Infektion? Welche Maßnahmen wünscht sie, und welche schließt sie aus, welche Prioritäten bestehen? Wie kann sie ihr Ziel erreichen, aufrecht und bewusst wegzugehen? Wird sie ihre Würde behalten können?

Dies ist ihr großer Wunsch, der größte der wenigen möglichen Wünsche, die ihr noch bleiben.

Wann ist der rechte Augenblick, wie kann man ihn erkennen? Und vor allem: Was hilft, wer hilft? Tierärzte haben ein Mittel, um große Tiere einzuschläfern, damit sie nicht so leiden müssen wie die Menschen – doch wie bekommt man das Mittel? Es gibt eine Niederlassung von Dignitas in Hannover, an die wir uns morgen wenden werden – heute ist Sonntag. Dignitas soll über ein Mittel verfügen, das nach der Einnahme in kurzer Zeit auf gnädige Art zum Tod führt.

Die baldige Fahrt nach Hannover will sie auf sich nehmen; über dieses Mittel zu verfügen wäre zutiefst beruhigend. Wenn jemand einen Anlass hat, es einzunehmen, eines nahen Tages schon, dann sie.

Sie besitzt jetzt eine präzise Patientenverfügung, die den jeweils behandelnden Arzt verpflichtet. Und uns. Keinen Notarzt rufen. Keine Beatmung, keine Wiederbelebung, keine Antibiotika und vor allem keine Operation. Nur Linderung darf erfolgen.

Wenn der Glanz in meinen Augen erlischt, dann ist meine Zeit gekommen.

Ihr schwarzes Leuchten. Ihr klassisches Profil. Für eine Griechin wurde sie gehalten. Würde ich meine Häuser mit Karyatiden versehen, sie wäre das Modell. Auf ihren geraden Schultern trägt sie so viele, so vieles.

Heute erhält sie ihre zehnte Bestrahlung, die sie besser verträgt als erwartet. Doch die Tage werden schwerer, gestern war ein sehr schlechter Tag mit Schmerzen, Übelkeit und Schwäche. Heute ist es weniger schlecht, aber weit davon entfernt, dass man es gut nennen könnte. Sie sagt, lange könne sie diese Haltung gegenüber dem, was geschieht, vermutlich nicht mehr durchhalten. Sie sagt nicht, dass sie das Geschehen nicht mehr aushalten könne; sie spricht von ihrer Haltung, von ihrer Würde und von der Kraft, die sie dafür aufwenden muss.

Auf der Fahrt zur Bestrahlung. Einige Symptome haben nachgelassen.

Ich liebe das Leben so sehr, das kannst du dir gar nicht vorstellen!

Dignitas. Nur in der Schweiz darf man würdig sterben. Das ist in Deutschland verboten. Wie kommt man in kritischem Zustand ganz schnell in die Schweiz? Wochen später erst werde ich Fotos von Sterbezimmern sehen, die Dignitas betreibt. Hätten wir sie schon gekannt, dann hätten wir gewusst, dass dies der Weg nicht sein kann, nicht ihrer und nicht meiner. Das Sterben ist nicht zu institutionalisieren; das Sterben ist intim, es ist das Privateste, was uns im ganzen Leben widerfährt. So wie ein jeder sein eigenes Leben führt, so stirbt ein jeder seinen eigenen Tod.

Wir werden nicht als Original geboren, um als Kopie zu enden.

Meine vieljährige Freundin Margit, jetzt unsere Freundin, ebenfalls Ärztin, bereitet uns darauf vor, dass alles ganz anders kommen wird. Es wird ganz anders geschehen, als wir es uns vorstellen, und anders, als wir es vorzubereiten versuchen, warnt sie uns.