Sigmund Freud - Revolutionär der Seele -  - E-Book

Sigmund Freud - Revolutionär der Seele E-Book

0,0

Beschreibung

Lustprinzip und Libido, Über-Ich, Unbewusstes und Schuldgefühle – die Bedeutung Sigmund Freuds für unsere Sprache und unseren Alltag ist unbestritten. Aber was genau fangen wir im 21. Jahrhundert an mit Traumforschung, Sexualtheorie und Redekur? 160 Jahre alt wäre Freud in diesem Jahr geworden. In diesem E-Book würdigt der SPIEGEL ihn umfassend: als Abenteurer der Seele, Literat, Naturforscher, Arzt, Kulturtheoretiker und Jahrhundertgenie. In Artikeln, Gesprächen, Titelgeschichten und Essays aus vier Jahrzehnten kommen glühende Bewunderer und Feinde des Begründers der Psychoanalyse gleichermaßen zu Wort. Unter anderem: •Der französische Philosoph Michel Onfray begründet seinen Totalangriff auf Freud mit dessen Irrtümern und seinem angeblichen Desinteresse für Menschen. •Freud-Biograf Peter Gay beschreibt den einflussreichsten Theoretiker der Seele als "Bourgeois, der Bomben baut" und illusionslosen Propheten. •Der Hirnforscher und Psychoanalytiker Mark Solms untersucht das Verhältnis zwischen den modernen Neurowissenschaften und Freuds Theorien

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 196

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Sigmund Freud - Revolutionär der Seele

Vorwort

SIGMUND FREUD

Mehr als eine Theorie der Seele
Freud-Biograf Peter Gay über Sigmund Freud und die Psychoanalyse

WIEDERENTDECKUNG FREUDS

Die Natur der Seele
Die Hirnforschung entdeckt Sigmund Freud
Triebwerk im Keller der Seele
Freuds Sexualtheorie auf dem Prüfstand
Was bleibt von Freud?
Essay des Hirnforschers und Psychoanalytikers Mark Solms
Knebel für die Triebe
Seelenkundler fordert ein Recht auf Ängste und Macken

KRITIK AN FREUD

Angriff auf das Reich des König Ödipus
Freuds Lehre unter Beschuss
„Er baute auf Hirngespinste“
Der Philosoph Michel Onfray über Freuds Irrtümer

BIOGRAFISCHES

Kompaktkurs in Psychoanalyse
Über Peter Gays Freud-Biografie
Aus einer verdrängten Jugend
Über den Briefwechsel mit einem Schulfreund
Verfluchte Briefe
Die Korrespondenz zwischen Freud und Carl Gustav Jung

ERINNERUNGEN UND GEDENKEN

Schwierige Menschen
Freuds Haushälterin Paula Fichtl erinnert sich
Schamlos verunstaltet
Freuds Londoner Villa wird zum Museum

Anhang

Impressum
Sigmund Freud - Revolutionär der Seele • Einleitung

Vorwort

Lustprinzip, Libido, Über-Ich und Schuldgefühle – die Bedeutung Sigmund Freuds für den Alltag und das Selbstverständnis der Moderne ist unbestritten. Kaum etwas hat den Blick auf das menschliche Dasein so tiefgreifend verändert wie seine große Menschheitserzählung von der Macht des Unbewussten. Nicht nur unsere Sprache, auch die Auffassung dessen, was unsere Persönlichkeit formt, was sie zu zerstören vermag und was sie aufbaut, ist im 21. Jahrhundert tiefer denn je durchdrungen von Freuds Entdeckungen. 
Jahrzehntelang verstellte der ideologische Kampf um sein geistiges Erbe die Sicht auf das zugleich Fundamentale wie Visionäre seiner Arbeit. Mittlerweile laufen, was Freud betrifft, die Erneuerer den Orthodoxen den Rang ab und legen den Blick auf das Wesentliche wieder frei. Selbstverständlich entwickeln wir unser Verständnis von der Bedeutung der frühen Kindheit oder der Sexualität für unser Leben weiter – auch wenn der Ödipuskomplex nur noch als Metapher dient. Längst erforschen wir bis in die molekulare Struktur der Neurotransmitter die „organische Begründung des Seelischen“ – die Freud zeitlebens zugrunde legte, im Bewusstsein, sie mit den damaligen Methoden nicht nachweisen zu können. Und fraglos erkennen wir an, dass Reden hilft – auch wenn die gute alte „Redekur“ auf der Couch heute um zahlreiche neue Formen ergänzt und bereichert ist. 
Der Schöpfer von Psychoanalyse und Traumdeutung begriff seine Arbeit selbst nie als abgeschlossen und mahnte, man solle sein „Gerüste nicht für den Bau halten“. Als Vorbild und Seelenverwandten nannte er Kolumbus, den Abenteurer. Wie dieser drang Freud in einen fremden Kontinent vor, den dunklen Kontinent der Seele. Was er von dort aus dem „untersten Stockwerk“ ans Licht holte – die Faszination der Schlafzimmergeheimnisse mit ihren verbotenen, verdrängten Phantasien – schockierte und elektrisierte die braven Bürger des viktorianischen Zeitalters gleichermaßen; mit einem Mal schlummerte in jedem die Perversion. Freud sah sich als Arzt der Gesellschaft, empfahl den „freien sexuellen Verkehr“ zwischen jungen, unverheirateten Menschen. Es mache die jungen Damen krank, sie „luftdicht vom Leben abgeschlossen“ zu halten, schädlich sei die „planhafte Aufzüchtung von Angst“. Damals erwarb sich die Psychoanalyse den Ruf einer Befreiungsbewegung.
Der Weg, den der Sohn eines jüdischen Wollhändlers aus der Josephsstadt zurücklegte, könnte weiter kaum sein: Als junger Neurowissenschaftler erforschte er in Wien mit Skalpell und Mikroskop die Reizweiterleitung in den Hoden des Aals; seine letzte Studie „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ gab er kurz vor seinem Tod 1939 im Londoner Exil heraus. Zwischen beiden Stationen liegt ein unvergleichlich vielseitiges, furcht- und tabuloses, kreatives und zugleich stringentes Lebenswerk.  
160 Jahre alt wäre Freud in diesem Jahr geworden. Anlass genug für den SPIEGEL, ihn umfassend zu würdigen: Als Literaten und Revolutionär der Seele, als Naturforscher, Arzt, Kulturtheoretiker und Jahrhundertgenie. Dessen gedankliche Sprengkraft traf seit jeher auf glühende Bewunderer und Feinde – auch im SPIEGEL, der sich in über 50 Artikeln und Titelgeschichten mit Freud auseinandersetzte, mal getragen von Bewunderung und Respekt, mal von Skepsis, Spott, Verachtung, Neugier. 
Die Auswahl der 12 Essays, Artikel und Gespräche für dieses E-Book spiegelt diese wechselhafte Beziehung – und damit zugleich das Auf und Ab der gesellschaftlichen Moden und Wellen der Rezeption, die sich auch in Zukunft an Freuds Werk brechen werden. Denn das Abenteuer der Seele geht weiter.
Beate Lakotta
SIGMUND FREUD • SPIEGEL 53/1998

Mehr als eine Theorie der Seele

Nichts hat den Blick auf das menschliche Dasein so verändert wie die Lehren Freuds. Doch seine Psychoanalyse bleibt umstritten: für die einen Schlüssel zur Seele, für die anderen Scharlatnerie. Im Zeitalter der Psychokulte sind Millionen weiter auf der Suche nach sich selbst. Von Peter Gay
Der Autor
Peter Gay, 1923 als Peter Fröhlich in Berlin geboren und später mit seinen jüdischen Eltern vor den Nazis nach Amerika geflohen, lehrte von 1969 bis 1993 Geschichte an der Yale University. Der Historiker mit psychoanalytischer Ausbildung wurde 1987 mit seinem Monumentalwerk „Freud. Eine Biographie für unsere Zeit“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main; 904 Seiten) zum international bekannten Freud-Interpreten.
Wir alle sprechen die Sprache Freuds, ob wir es wissen oder nicht, ob wir ihn hoch verehren oder tief verachten. Die psychoanalytische Lehre, oder zumindest der psychoanalytische Jargon, ist unaustilgbarer Bestandteil unserer Welt geworden. Wir sprechen von Ödipuskomplexen, Sublimierung, Penisneid, Ambivalenz oder von Repression, vielleicht ohne die geringste Ahnung, woher diese Worte stammen oder ob wir sie richtig anwenden. Kurz: Freud ist berühmt.
Berühmt, aber nicht beliebt. In den zwanziger Jahren, als er dem allgemeinen Publikum ein Begriff wurde, war er „Dr. Sex“, der Arzt, der in sexueller Promiskuität das unfehlbare Heilmittel für neurotische Beschwerden sah. Daß dies eine grobe Entstellung der Freudschen Lehre war, ist erst später klar geworden. Und bis heute bleibt er oberflächlichen Angriffen und tendenziösen Vorbehalten ausgesetzt.
Unsere seelische Welt ist einfach undenkbar ohne ihn und wird es auch bleiben, jedoch in einer Weise, die Freud selbst nur verwirrt oder verärgert hätte. Er hat vorausgesagt, daß seine Theorien nicht ohne Anhänger bleiben würden, besonders in den Vereinigten Staaten. Anhänger, die, so fürchtete er aber auch, seine psychoanalytischen Einsichten über kurz oder lang ruinieren würden.
Dazu ist es nicht gekommen, jedoch der Einfluß Freuds und dessen kulturelle Bedeutung sind heute so umstritten wie vor einem Jahrhundert, als er seine ersten psychoanalytischen Schriften veröffentlichte.
Freuds Leben ist so kontrovers wie seine Lehre, und seine unerbittlichsten Gegner versuchen seit langem, die letztere mit oft schlecht begründeten Anekdoten aus dem ersten zu diskreditieren. War er ein Papst, der über seiner Gemeinde thronte? Ein Diktator, der keinen Widerspruch tolerieren konnte? Ein Lügner, der seine Fallstudien „korrigierte“, bevor er sie der Öffentlichkeit unterbreitete, und noch dazu ein untreuer Ehemann, der mit seiner Schwägerin eine Liebesaffäre hatte? Dann kann seine große „Erfindung“, die Psychoanalyse, auch nichts taugen. So urteilen seine Feinde, unlogisch in ihrem Zorn.
Sigismund Schlomo Freud (er hat seinen jüdischen Vornamen nie verwendet und seinen Rufnamen schon als junger Student abgekürzt) kam am 6. Mai 1856 in dem mährischen Städtchen Freiberg, dem heutigen Příbor in Tschechien, zur Welt. Als Erstgeborener Amalia Freuds ist er immer ihr Liebling geblieben. Amalia war Jacob Freuds dritte Frau, 20 Jahre jünger als ihr Mann, gut aussehend, selbstbewußt und nicht wenig herrschsüchtig. Freuds Vater war ein kleiner, beinah mittelloser Textilhändler, dem es im Lauf der Jahre langsam pekuniär besserging, besonders nachdem die Familie Freud 1860 in Wien Fuß fassen konnte.
Es war eine jüdische Familie, in der die religiöse Observanz jedoch eine ziemlich kleine Rolle spielte. Sigmund Freud selbst wurde schon als Halbwüchsiger ein aggressiver Atheist und hat diese Haltung niemals aufgegeben. Seine Bereitschaft, sich ohne Gott durch das Leben zu schlagen, bedeutete allerdings nicht, daß er sich nicht zum Judentum bekannt hätte.
Seine jüdischen Mitbürger, die sich assimilieren wollten und sich aus Berechnung taufen ließen, verabscheute Freud zutiefst. Er hatte zwar, wie er mehrfach betonte, sowenig für die jüdische wie für alle anderen Religionen übrig. Besonders in seinen letzten Lebensjahren war er jedoch geneigt, ein geheimnisvolles ererbtes jüdisches Element in seinem Wesen zu erkennen und zu begrüßen, ein Element, das irgendwie die Jahrhunderte überlebt hatte. Und auf diese Erbschaft war er stolz.
„Ich habe nie begriffen“, schrieb er 1925 in seiner „Selbstdarstellung“, „warum ich mich meiner Abkunft, oder wie man zu sagen begann, Rasse, schämen sollte.“ Wann auch immer der Antisemitismus sein häßliches Haupt erhob – 1873 an der Universität Wien, 1897, als der Antisemit Karl Lueger Bürgermeister von Wien wurde, in den zwanziger Jahren, als die Nazis in Deutschland zu lärmen begannen –, es mangelte Freud nie an Courage. In einem Interview im Jahre 1926 – er war 70 – faßte er seine Haltung klar und bündig zusammen: „Meine Sprache ist deutsch. Meine Kultur, meine Bildung sind deutsch. Ich betrachtete mich geistig als Deutschen, bis ich die Zunahme des antisemitischen Vorurteils in Deutschland und Deutschösterreich bemerkte. Seit dieser Zeit ziehe ich es vor, mich einen Juden zu nennen.“
Zum Stolz seiner Eltern zeigte sich der junge Freud brillant und frühreif. In der Schule und im Gymnasium war er meistens der Primus. Auch als Student ab 1873 an der Universität Wien enttäuschte er seine Familie und seine Professoren nicht. Seine frühesten Arbeiten beweisen eine außerordentliche Auffassungsgabe, einen intellektuellen Wagemut und ein Talent für lesbare, oft originelle Prosa.
Er wollte Jura studieren, aber das, was er „eine Art von Wißbegierde“ nannte, eine Leidenschaft, die keine Grenzen kannte, bewegte ihn, auf Medizin umzusatteln. Die Aussicht, Arzt zu werden, erfreute ihn nicht besonders; doch hoffte er, den Geheimnissen des seelischen Lebens, die ihn schon als jungen Mann fasziniert hatten, auf die Spur zu kommen. Nur seine finanzielle Misere und seine Leidenschaft für Martha Bernays, in die er sich 1881 verliebte, veranlaßten ihn schließlich, eine private Praxis zu eröffnen, so daß er 1886 endlich heiraten konnte.
Bald spezialisiert auf das, was man in jenen Jahren unter der vagen Rubrik „Neurasthenia“ verstand, begann Freud, von seinen neurotischen Patienten – meist Patientinnen – zu lernen. Er fing an, ihre (und auch seine) Träume niederzuschreiben, und es wurde ihm klar, daß ein schweigsames und geduldiges Zuhören ergiebige Resultate in der Psychotherapie bringen kann. 1895 analysierte er seinen ersten Traum, bekannt als der Traum von „Irmas Injektion“, den er später in seinem ersten Meisterwerk, „Die Traumdeutung“ (1900), als ein Modell benutzte, um zu erklären, wie er als erster Psychoanalytiker der Welt Träume interpretieren konnte und wie solche Interpretationen dem Verstehen von Neurosen dienen können.
In den neunziger Jahren hatte er auch entdeckt, wie stark sexuelle Wünsche und Ängste die Krankheitsgeschichte seiner Patienten beeinflußten. Ein heikles Thema, das die meisten Ärzte seiner Zeit mit größter Vorsicht vermieden. Freud kannte solche Hemmungen nicht. Einige Jahre lang vertrat er sogar die extreme These, daß sexueller Mißbrauch von Kindern alle Neurosen verursache.
1897 mußte er die Unhaltbarkeit dieser Erklärung zugeben. Es war ein schwieriger Moment für Freud. Schlimmer noch, dieser Fehlschlag seiner sensationellen These konfrontierte ihn, wie schon mehrfach vorher, mit einer persönlichen Niederlage: Er war über 40 Jahre alt, Vater von sechs Kindern mit einem ziemlich schwankenden Einkommen. Sein Leben lang sah er sich als ehrgeizigen Wissenschaftler, der unbedingt etwas Außerordentliches leisten, etwas entdecken wollte, das ihn berühmt und finanziell unabhängig machen würde.
Glücklicherweise war es typisch für Freuds Charakter, daß er fruchtbare Konsequenzen aus dieser Episode ziehen konnte: Sie zeigte ihm den Weg zu einer bisher vernachlässigten seelischen Tätigkeit, der Phantasie, die für den Psychoanalytiker genauso „wirklich“ ist wie eine realistische Erfahrung. Das einzigartige Experiment, das er in diesen Jahren unternahm, eine Selbstanalyse, wurde seine Einführung in die dunkle Welt der Psychoanalyse.
Zugegeben, er hatte seine Vorgänger. Man denke an den Heiligen Augustin, an Montaigne oder an Rousseau, vielleicht an Goethe. Aber keiner von ihnen hatte das Abenteuer der Selbstprüfung so weit getrieben, so systematisch verfolgt wie Freud. Das Rohmaterial für diese Analyse bildeten seine eigenen Fehlleistungen, seine Träume, seine obskursten Gedankengänge. Die erste Psychoanalyse blieb somit eine rein interne Angelegenheit: Sie war ein ernstes Spiel, für das er erst die Regeln erfinden mußte und das für seine Findigkeit und seine Offenheit steht.
Dann, im November 1899 (mit dem Impressum 1900), veröffentlichte Freud schließlich sein bis dahin wichtigstes Buch, das mit seiner Selbstanalyse eng verbunden war, „Die Traumdeutung“. Es war überraschend sowohl in der Konzeption als auch in der Ausführung. Freud, jetzt schon ein renommierter Neurologe, hatte viele Jahre einer großangelegten Studie über eine allgemeine menschliche Erfahrung gewidmet: Alle Menschen träumen und haben immer geträumt.
Freuds strategische Absicht bei der Wahl seines Themas war klar: Er hatte nicht weniger im Sinn, als das Fundament einer universalen Psychologie zu legen, und er konnte das am besten mit einem Thema bewirken, das jeder Leser am eigenen Leib – oder besser, in seiner eigenen Seele – erfahren hatte. Kompliziert wie „Die Traumdeutung“ sein mag, mit ihren reichen Beispielen, ihren sorgfältigen Analysen von der unbewußten Taktik des Träumers, von dem berühmten, schwersten, letzten Kapitel des Buches ganz zu schweigen, das Werk bietet eine im Grunde einfache Erklärung des Traumes an: Er zeigt mit allen seinen Umwegen, allen seinen Verzerrungen und innerer Zensur verborgene Wünsche als erfüllt.
Fünf Jahre später erschien eine weitere Stütze der Psychoanalyse, sein zweites Meisterwerk: „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, ein Thema, das ihn schon lange beschäftigt hatte. Anfangs sehr schmal, wurde die berühmte Studie mehrfach neu aufgelegt und mit jeder neuen Auflage erweitert. Ruhig und überlegt erläuterte Freud die „Perversionen“ ohne moralischen Affekt und reihte sie in den breiten Fächer des „normalen“ Liebeslebens ein. Die „Drei Abhandlungen“ waren Freuds Tribut, den er dem Sexualtrieb zollte. Seither ist die Libido nicht mehr vernachlässigt worden.
Mittlerweile hatte Freud seine ersten Anhänger gefunden. Von 1902 an hatte sich eine kleine, langsam wachsende Gruppe jeden Mittwochabend in Freuds Wohnung versammelt, rauchte starke Zigarren und diskutierte Freuds Ideen anhand von Interpretationen von Romanen und Fallstudien.
Freud selbst machte sich 1905 daran, seine eigenen Fallstudien herauszubringen. Fünf von diesen vieldiskutierten Fällen, unter ihnen das immer noch heißumstrittene „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“, der sogenannte Fall Dora, werden in psychoanalytischen Instituten noch heute als beispielhaft oder wenigstens als wegweisend gelesen. Und in diesen Jahren wandte sich Freud auch anderen Gebieten menschlicher Tätigkeit zu, jeweils bestrebt, die Psychoanalyse als eine allgemeine Psychologie anzuwenden.
In dieser vielversprechenden Atmosphäre ließ die Organisation einer kleinen internationalen Schar von Psychoanalytikern nicht lange auf sich warten. Freuds System hatte Anhänger in anderen Ländern gewonnen, besonders in Großbritannien, der Schweiz und den Vereinigten Staaten, und es schien an der Zeit, Tagungen und Zeitschriften ins Leben zu rufen.
Aber schon vor dem Ersten Weltkrieg machten sich mehrere von Freuds Getreuen selbständig, um ihre eigenen Schulen zu gründen. Diese Selbstbefreiung ging nicht ohne gegenseitige Vorwürfe und Bissigkeit ab. Die renommiertesten unter den „Abtrünnigen“ waren der Wiener Arzt und Sozialist Alfred Adler, der mit seiner optimistischen „Individualpsychologie“ Freuds zentraler Bedeutung von triebgebundener Sexualität und Aggression widersprach, und der weit respektierte Zürcher Psychotherapeut Carl Gustav Jung, für den in seiner eigenen „Analytischen Psychotherapie“ die Sehnsucht des Menschen nach Verschmelzung mit einem höheren Selbst im Mittelpunkt stand.
Freud ließ Adler gehen, ohne viel zu trauern. Andererseits war 1912 die „Desertion“ Jungs ein besonders schwerer Verlust und schmerzte ihn sehr. Er hatte Jung als seinen „Kronprinzen“ aufs Panier gehoben und als seinen Nachfolger auserkoren. Jung war, im Unterschied zu Freuds Wiener Anhängern, kein Jude, und Freud war auf jeden Fall bedacht, seine Errungenschaften als Seelenforscher nicht als eine jüdische Wissenschaft abgetan zu sehen.
Er hatte aber kaum erwarten können, daß im heikelsten Gebiet der Seelenforschung, in dem man ungeniert über die privatesten Angelegenheiten diskutieren konnte, alles friedlich verlaufen würde. Das menschliche Sexualleben war ein Gebiet, in dem auch die bestinformierten Spezialisten, manchmal sogar Freud, im dunkeln tappten. Fortwährende Einstimmigkeit zu erwarten war reine Utopie.
Die Zwiste, die die Psychoanalytiker entzweiten, wurden nicht nur von unterschiedlichen theoretischen, sondern auch von therapeutischen Ansätzen ausgelöst. Von Anfang an war die Psychoanalyse für Freud mehr als eine Theorie der Seele. Sie war in der therapeutischen Praxis geboren und nahm den Verlauf und die Resultate psychoanalytischer Behandlung als echte Beweise – oder Widerlegungen – von Aspekten der Theorie.
Diskussion von Fällen auf analytischen Tagungen oder an neugegründeten Instituten waren Wege, Fragen zur Methode aufzuwerfen und zu klären. Und von 1911 an, allen Zerwürfnissen in Wien und Zürich zum Trotz, machte sich Freud daran, seinen Kollegen, mit rund einem halben Dutzend von Aufsätzen, Ratschläge zu erteilen.
Diese Artikel waren offen didaktisch, als Anweisungen für Psychoanalytiker gedacht. Seither ist in der analytischen Praxis viel geschehen. Diese Texte jedoch, kurz, klar, witzig, über den ersten Tag der Behandlung, der Handhabung von Träumen während der Analyse, über die „Übertragungsliebe“ des zu Analysierenden für seinen (oder ihren) Analytiker und andere Themen sind, wenngleich nicht unumstritten, aktuell geblieben; sie haben dem Analytiker immer noch viel zu sagen.
Obwohl diese Artikel als die Gesetze der Psychotherapie gelten sollten, hielt sich Freud oft nicht daran, sondern ignorierte sie, wenn es ihm paßte. So fing er kurz nach dem Ersten Weltkrieg an, seine Lieblingstochter Anna zu analysieren, eine grobe Verletzung der Grundregel, daß ein Analytiker nie gute Freunde, geschweige denn Verwandte auf die Couch legen soll, weil damit die notwendige Distanz zwischen Analytiker und Analysand nicht vorhanden ist. Es war, als ob er seine Anna keinem anderen Analytiker anvertrauen konnte, als ob Freud Freud nicht gelesen hätte.
Die vier Kriegsjahre, in denen er um seine drei Söhne in der österreichischen Armee bangte, hatten ihm auch ungesuchte, in der Tat unwillkommene Freizeit gegeben, die er genutzt hatte, seine fundamentalen Theorien durch- und umzudenken und dem Gebäude der Psychoanalyse seine endgültige Form zu geben – endgültig wenigstens aus Freuds Sicht. In zwei Abhandlungen, „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) und „Das Ich und das Es“ (1923), legte er die Struktur der Seele dar. Sie besteht – so Freud – aus drei Instanzen:
Das „Es“ ist das geheime, unzugängliche Reservoir, das aus Angeborenem sowie aus Verdrängtem besteht, sich dem Bewußtsein des Menschen völlig entzieht und sich nur indirekt, durch Träume, Symptome und Fehlleistungen bemerkbar macht.
Das „Ich“ andererseits, obwohl auch teilweise unbewußt, setzt sich zusammen aus vernünftigem Kontakt mit der Außenwelt und aus Abwehrmechanismen, die Menschen vor überwältigenden Reizen schützen sollen. Ohne das Ich gibt es keine Selbstkontrolle, keine Zivilisation.
Endlich, drittens, das „Über-Ich“, das dem Gewissen ähnlich ist, obwohl ein Teil dieser Instanz ebenfalls unbewußt bleibt. Hauptsächlich hier spielen sich die inneren Konflikte ab, unter denen auch die gesundesten Menschen leiden müssen.
Bis in sein sechstes Lebensjahrzehnt hinein hatte sich Freud guter Gesundheit erfreut, doch 1923 erkrankte er an Rachenkrebs. Der passionierte Zigarrenraucher, der ohne seine Havanna nicht auskam, kaum klar denken konnte, war gezwungen, sich in den folgenden 16 Jahren mehr als 30 schmerzhaften Eingriffen zu unterziehen. Es fiel ihm schwer, klar zu sprechen. So beauftragte er seine Tochter Anna, die sich inzwischen einen Namen als Kinderanalytikerin gemacht hatte und des Vaters hochgeschätzte und geliebte „Ananuensis“ geworden war, ihn bei feierlichen Anlässen oder bei Kongressen zu vertreten. Doch Freud hörte nicht auf, zu analysieren und einflußreiche Aufsätze zu schreiben.
Die meistgelesenen unter ihnen waren „Die Zukunft einer Illusion“ (1927), sein endgültiges Fazit über die Religion, und „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930), eine brillante Zusammenfassung seiner politischen Philosophie. Dieser Essay über die Kultur steht im Zeichen dieser unruhigen Jahre und der wachsenden Bedrohung durch die Nazis in Deutschland.
Im März 1938, fünf Jahre nachdem Hitler Kanzler geworden war, mußte Freud erleben, wie sein Wien, eine Großstadt, die er haßte und liebte, von deutschen Truppen besetzt wurde. Hitler war triumphierend nach Österreich zurückgekehrt. Nach wenigen Tagen, nach brutalen Mißhandlungen von Juden in den Straßen der größeren Städte, wurde Österreich vom Nazi-Reich Deutschland annektiert. Alt und krank und nachdem seine Tochter Anna von der Gestapo verhört worden war, entschied sich Freud, nach England auszuwandern. Und dort, in London, am 23. September 1939, ist er, um seine Sprache zu benutzen, in Freiheit gestorben.
Sein Tod war wie sein Leben eine mutige Entscheidung, mit der er eine gewisse Kontrolle über sein Schicksal behielt. Sicher, daß er dem Sterben nah war, bat er seinen Arzt Max Schur, die Angelegenheit mit seiner Tochter Anna zu besprechen und, falls sie zusagte, ihm genug Morphium zu spritzen, daß das baldige Ende unvermeidlich war. Freuds Tod war ein stoischer Selbstmord mit ärztlicher Beihilfe.
Zwei Ideen stellte Sigmund Freud bei den Grundlagen der Psychoanalyse in den Vordergrund: die Allmacht der Kausalität und die Unvermeidlichkeit der Konflikte.
Erstens: Freud sieht die menschliche Seele als einen Bestandteil der Natur. Die Regeln, denen sie folgt, sind schwer zu ergründen. Es ist die Hauptaufgabe der psychoanalytischen Forschung, sie zu entdecken. Kurz: Das Seelenleben unterliegt kausalen Gesetzen wie alle anderen natürlichen Phänomene.
Es gibt zwar Zufälle in Freuds Welt, alle sind aber unvorhergesehene Konsequenzen von Ursachen, die sich überkreuzt haben. Keine Resultate ohne Ursachen. Das bedeutet, daß seelische Vorgänge wie Träume, Fehlleistungen und Symptome, so bizarr und sinnlos sie erscheinen mögen, alle ihre Ursachen haben.
Zugegeben, diese kausalen Zusammenhänge sind keineswegs alle gleich einflußreich. Und um mit dem berühmten geflügelten Wort zu reden, das Freud vermutlich nie ausgesprochen hat: Manchmal ist eine Zigarre nur eine Zigarre. Freud hatte eine Art Landkarte zur Entschlüsselung dieses Labyrinths entwickelt, die den Weg von der Unverständlichkeit zur Verständlichkeit weisen kann.
Dabei ist die Arbeit des Psychoanalytikers aber nicht eine Sinngebung des Sinnlosen, denn was zunächst unsinnig erscheint, ist doch sinnvoll, muß aber erst aus seinem Versteck hervorgelockt werden. Auch wenn keine kausalen Zusammenhänge im geistigen Leben zu entdecken sind, müssen sie trotzdem irgendwo verborgen existieren. Und Freud benützte diese Folgerung als einen Beweis –nicht den einzigen – für sein heute noch umstrittenes Postulat einer dynamischen inneren Region, das Unbewußte, in die die Menschen unangenehme und angsterregende Ideen und Wünsche aus dem Bewußtsein treiben und auf diese Weise versuchen, sie loszuwerden. Freuds Fachbegriff dafür ist „Verdrängung“.
Er sieht den Menschen als ein Tier, das wünscht. Die hartnäckigsten seiner Triebe, Libido und Aggression, tun ihr Äußerstes, ihr ungeduldiges leidenschaftliches Drängen in Wirklichkeit zu übersetzen, und das so schnell wie möglich. Von den frühesten Lebensmonaten des Kleinkindes an verweigert das Leben ihm aber viele seiner Wünsche oder zwingt es, sie auf irgendeine Weise einzuschränken.
Eltern, Kindermädchen, Geschwister und später Lehrer, Geistliche oder andere Autoritäten sorgen für solch eine Anpassung an die Kultur. So wird das menschliche Leben zu einem ständigen Kompromiß. Es zwingt das Kind, auf Nahrung zu warten, seine Wut im Zaum zu halten, seine Geschlechtsteile nicht anzurühren und dergleichen mehr. Erziehung ist zu großen Teilen eine Schule der Entsagung, des SichBescheidens.
Zweitens: All dies bringt, so Freuds zweite Grundlage der Psychoanalyse, unvermeidlich innere Konflikte mit sich. Als Pessimist von Beruf hat er das innere Leben als einen beinah ständigen, oft erschöpfenden Kampf gesehen. Das Beste, was der Mensch erhoffen kann, ist ein Waffenstillstand zwischen dem Verlangen der Triebe und dem Widerstand der Kultur. Und dieser Widerstand, den das heranwachsende Kind in sich aufnimmt –„internalisiert“ –, gibt dem dringendsten seiner Wünsche den Anschein der Obszönität oder Kriminalität.
In der positiven, einfachen Version des Ödipuskomplexes tötet der Sohn seinen Vater und schläft mit seiner Mutter – kaum respektable Wünsche. Deshalb lernt das Kind, solche Wünsche soweit wie möglich von sich zu weisen, sie aus dem Bewußtsein zu verbannen – wie Freud sagt, sie zu „verdrängen“.
Diese beiden Grundregeln sind aus Freuds Sicht allgemeingültig. Kritiker haben ihm unhistorisches Denken vorgeworfen, da, nach seiner Darstellung, die alten Griechen, die sogenannten primitiven Völker der Südsee und die modernen Wiener nur triviale Unterschiede aufweisen würden. Das ist ein Mißverständnis. In Freuds Psychologie gibt es Grundtendenzen des menschlichen Lebens, die immer und überall unwandelbar sind, sich aber sehr unterschiedlich ausdrücken können.
In einer wichtigen Stelle in seiner „Traumdeutung“, die bisher nicht genug beachtet worden ist, zeigt Freud, daß etwas so Grundsätzliches wie der Ödipuskomplex nicht immer in derselben Form erscheint: „In der veränderten Behandlung des nämlichen Stoffes“, in Sophokles'' „König Ödipus“ und Shakespeares „Hamlet“, „offenbart sich der ganze Unterschied im Seelenleben der beiden weit auseinanderliegenden Kulturperioden, das säkulare Fortschreiten der Verdrängung im Gemütsleben der Menschheit.“
„Die Psychoanalyse“, schrieb Freud 1913, „hat zwar die individuelle Psyche zum Objekt genommen, aber bei der Erforschung derselben konnten ihr die affektiven Grundlagen für das Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft nicht entgehen.“