Sikander gegen die Götter, Band 2: Der Zorn der Drachengöttin (Rick Riordan Presents) - Sarwat Chadda - E-Book

Sikander gegen die Götter, Band 2: Der Zorn der Drachengöttin (Rick Riordan Presents) E-Book

Sarwat Chadda

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer sich mit den Göttern anlegt, der hat sie echt nicht mehr alle … Ich will ganz ehrlich sein: Nichts wünsche ich mir sehnlicher, als dass mein großer Bruder Mo wieder bei mir ist. Kein Wunder also, dass es mir diese schicke antike Steintafel angetan hat, mit der man die Vergangenheit verändern kann. Klingt super, oder? Äh, na ja … Sagen wir mal so: Mein Wunsch wurde erfüllt. Aber dafür wütet nun ein Gott des Wahnsinns unter den Menschen und eine uralte Drachengöttin strebt danach, den gesamten Kosmos zu vernichten. Ups! Persönlich empfohlen von "Percy Jackson"-Autor Rick Riordan! Entdecke alle mythologischen Abenteuer aus der Reihe "Rick Riordan Presents": "Sikander gegen die Götter" von Sarwat Chadda Band 1: Das Schwert des Schicksals Band 2: Der Zorn der Drachengöttin (November 2023) "Zane gegen die Götter" von J. C. Cervantes Band 1: Sturmläufer Band 2: Feuerhüter Band 3: Schattenspringer "Ren gegen die Götter" von J. C. Cervantes Band 1: Nachtkönigin (September 2023) "Aru gegen die Götter" von Roshani Chokshi Band 1: Die Wächter des Himmelspalasts Band 2: Im Reich des Meeresfürsten Band 3: Das Geheimnis des Wunschbaums Band 4: Die Magie der goldenen Stadt (Dezember 2023)

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 419

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


In der Reihe „Rick Riordan Presents“ sind erschienen:

Zane gegen die Götter

Sturmläufer

Feuerhüter

Schattenspringer

Ren gegen die Götter

Nachtkönigin

Band 2 erscheint im Herbst 2024

Aru gegen die Götter

Die Wächter des Himmelspalasts

Im Reich des Meeresfürsten

Das Geheimnis des Wunschbaums

Die Magie der goldenen Stadt

Der Trank der Unsterblichkeit

Sikander gegen die Götter

Das Schwert des Schicksals

Der Zorn der Drachengöttin

Tristan gegen die Götter

Band 1 erscheint im Sommer 2024

Weitere Bände sind in Vorbereitung

Als Ravensburger E-Book erschienen 2023 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2023 Ravensburger Verlag Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel „Fury of the Dragon Goddess“ bei Disney • Hyperion, einem Imprint von Buena Vista Books, Inc. Copyright © 2023 by Sarwat Chadda Cuneiform text copyright © 2023 Digital Hammurabi Published by arrangement with Rights People, London. Übersetzung: Leo Strohm Covergestaltung: Miriam Wasmus unter Verwendung einer Illustration von Kerem Beyit. Weitere verwendete Bilder von © Alex Shadrin, © Creative HQ, © dadn_pm, © koosen, © AnthonyR, © Alx, © garikprost, alle AdobeStock Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51203-4

ravensburger.com

Für Sarah, weil du immer an mich geglaubt hast

Dann gab sie ihm die Tafel des Schicksals und befahl ihm, sie an seine Brust zu drücken. „Deine Aussagen sollen niemals verändert werden! Dein Wort soll Gesetz sein!“

Aus dem babylonischen Schöpfungsmythos Enuma Elisch

1

„Salaamu alaikum, Sik!“

„Waa alai … Uufff!“

Kaum stand ich vor der Tür der Hotel-Suite, da umschlang mich Daoud mit beiden Armen und riss mich buchstäblich von den Füßen. Ya salam! Der Typ hatte echte Superkraft-Umarmungen drauf. Als ich irgendwann kurz vor dem Ersticken war, ließ er mich wieder los und musterte mich gründlich von Kopf bis Fuß. Dann grinste er und fuhr mit dem Handrücken über meine Wange. „Mashallah! Sind das etwa Bartstoppeln?“

„Ich bin vierzehn, Daoud“, murmelte ich. Aber trotzdem … ein kleines bisschen stolz war ich schon auf die wenigen Härchen, die ich hervorgebracht hatte. Mein Englischlehrer fand, sie würden mir einen gewissen „Bad-Boy-Charme“ verleihen. Bitte sagt es nicht weiter, aber ich habe auch angefangen, den „coolen Killerblick“ zu üben. Das ist ein totales Alpha-Männchen-Ding. Wenn du den richtig machst und die Augen ganz langsam zu schmalen Schlitzen zusammenkneifst, dann fangen deine Feinde auf der Stelle an zu zittern und die Mädchen fallen reihenweise in Ohnmacht.

Ich stellte meinen Koffer ab und blickte mich um. „Eine ziemliche Verbesserung im Vergleich zu unserem Deli, stimmt’s?“

Die Decke war ungefähr so hoch wie unser ganzer Wohnblock zu Hause und die Kronleuchter tauchten das riesige Wohnzimmer in ein einziges Lichtermeer. Die Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten, boten freie Sicht über den Green Park. Goldglänzendes Sonnenlicht fiel ins Zimmer und die elfenbeinfarbenen, hauchdünnen Gardinen wiegten sich sanft in der warmen Brise. Die Wandgemälde wurden von reich verzierten, goldenen Bilderrahmen umgeben und die Ming-Vase neben der Tür enthielt eine überquellende Pracht aus wilden Orchideen. Ich fühlte mich durch den Duft der Blumen in einen Traum versetzt, der mir irgendwie außerirdisch vorkam, und das war vermutlich gar nicht so verkehrt. Zwischen diesem Ort hier und meinem Zuhause in Manhattan lagen jedenfalls Welten.

„Gefällt es dir? Die Agentur hat darauf bestanden, dass ich im Ritz absteige.“ Daoud drehte den Kopf, sodass ich sein Profil im Blick hatte. „Die Cosmopolitan schreibt, ich sei ‚das heißeste Wüstengeschöpf seit dem Rennpferd‘.“

So seltsam dieser Vergleich im ersten Moment auch klingen mochte, aber je länger ich darüber nachdachte, desto passender erschien er mir. Daoud besaß eine wilde, wehende Mähne – sehr schwarz, sehr glänzend – sowie sanfte hellbraune Augen. Seine langen Gliedmaßen wirkten grazil und geschmeidig, und dazu besaß er eine natürliche Anmut. Als er bei meinen Eltern im Deli gearbeitet hat, gab es niemanden, der den Kohl mit solcher Eleganz geschnitten hatte wie er.

Ich setzte mich versuchsweise in den Polstersessel. Sehr bequem. „Endlich Ruhm, Ehre und Reichtum, stimmt’s?“

„Man muss die guten Zeiten teilen! Warte, bis du dein Zimmer gesehen hast. Die Badewanne ist so groß, dass du darin Runden schwimmen kannst! Und auf dem Balkon hörst du die Glocken von Big Ben!“

„Ich habe einen Balkon?“

Hey, kein Neid! Zu Hause habe ich nichts als ein rissiges Fensterbrett mit ein paar ziemlich vertrockneten Pflanzen drauf.

„Tut mir leid, dass ich an deinem Geburtstag keine Zeit hatte. Hast du meine Geschenke bekommen? Warte mal …“ Daoud schnüffelte. „Hugo Boss Body Lotion. Lancôme Shampoo. Und ist das … das Sandelholz-Deo? Sieh zu, dass du das immer dabei hast. Es ist der beste Freund eines männlichen Teenagers.“

„Das hast du doch niemals mit einmal riechen erkannt“, gab ich zurück und widerstand dem Drang, an meinen Achselhöhlen zu schnuppern. „Oder?“

Er tippte sich an die Nase. „Die hier lügt nicht, Sik. Wie geht es deinen Eltern?“

„Gut. Sie sagen salaam.“

„Ich habe auch ihnen Flugtickets zuschicken lassen, weißt du. Sie hätten mitkommen können.“ Er zeigte mit großem Schwung auf den Rest der Suite. „Ist ja genug Platz.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Wann haben Baba und Mama das letzte Mal den Deli allein gelassen? Im Sommer ist immer am meisten los.“

„Ja, klar. Bedauernswerte Workaholics.“ Daoud legte mir den Arm um die Schultern. „Na, egal. Jetzt mache ich mit dir eine kleine Stadtführung, Bruderherz. London ist eine unvergleichliche Stadt!“

Genau!

London! In England! Das Land der Könige und Königinnen und des Nachmittagstees. Das Land, in dem man auf der falschen Straßenseite fährt. Ich war erst eine Stunde hier und wäre schon zweimal beinahe überfahren worden.

Sehr schade, dass Mama und Baba nicht hatten mitkommen können, aber trotzdem war ich nicht alleine hier. Ich warf einen Blick über die Schulter. „Gerade eben war sie noch da.“

In diesem Augenblick hörte ich draußen auf dem Flur lautes Kläffen. Sofort war ich in Alarmbereitschaft. „Einen Moment, Daoud.“

Ich lief zurück in den ganz in Marmor gehaltenen Korridor und entdeckte sie bei den Fahrstuhlschächten neben einer alten Dame und ihrem Pudel. Rabisu hatte sich in die Hocke gesetzt und kraulte den Hund hinter den Ohren. Ihr Turban – hundert Prozent Vierzigerjahre-Hollywood – hatte sich schon ein bisschen gelöst und gab den Blick auf zwei kleine Stummelhörner frei. Zum Glück bedeckte ihr bodenlanger Kaftan den Rest ihrer Dämonengestalt.

„So ein appetitliches, kleines Hündchen“, sagte Rabisu.

Die alte Dame kicherte. „Das ist sie, nicht wahr? Sag guten Tag, Fifi.“

Der Hund kläffte und Rabisu leckte sich die Lippen. „Die könnte ich auf der Stelle verspeisen.“

Dann stand ich neben den beiden und hakte mich bei Rabisu unter. „Sag auf Wiedersehen zu der netten Dame und ihrem Haustier.“

Rabisu schnaufte verärgert. „Ich hätte sie ja gar nicht aufgefressen.“

Der Fahrstuhl bimmelte, die Tür glitt auf, und die Dame betrat zusammen mit Fifi die Kabine. Sie machte eine ängstliche Miene und drückte immer wieder auf die Tasten, bis die Tür endlich wieder zu glitt.

Puuuhh. Das war knapp. „Weißt du noch, was ich zum Thema Lügen gesagt habe?“

„Also gut. Ich hätte sie aufgefressen“, fauchte Rabisu mich an. „Aber du hast echt seltsame Regeln, was das Verzehren von Lebewesen angeht. Hühnchen, gut. Menschen, schlecht. Kühe, ja. Hunde … kommt drauf an, ob sie einen Namen haben oder nicht.“

„Und dieser Hund da hatte einen Namen, also stand er auch nicht auf der Speisekarte.“ Ich packte sie an ihrer Klaue. „Komm schon. Daoud wartet.“

Rabisu versuchte, ihren zerzausten Turban zu richten, und wenige Augenblicke später standen wir wieder in Daouds Suite. Er war gerade dabei, uns Eistee einzuschenken. „Rabisu, das ist Daoud. Daoud, das ist Rabisu.“

Rabisu räusperte sich laut und vernehmlich.

„Im Ernst?“, sagte ich. „Also gut. Daoud, das ist Rabisu, der Schrecken von Nimrud. Die lautlose Pirscherin über das Schlachtfeld, deren bloße Namensnennung die …“

„… die Euter aller Kühe schrumpfen lässt“, ergänzte Rabisu.

„Genau, die Euter-Schrumpferin. Und dann war da noch das mit den Kamelen, die vor Angst ihre Höcker verlieren, und irgendwas mit den Chaldäern, die zu deinen Ehren einen Schädelhügel errichtet haben. Das ist dann aber alles, oder?“

Rabisu streckte Daoud eine Klaue entgegen, genau so, wie ich es ihr beigebracht hatte. „Rabisu, Dämonin der Fehlbildungen. Nicht, dass du welche hättest. Oder möchtest du vielleicht gern welche kriegen?“

Daoud zuckte nicht einmal mit der Wimper und das brachte ihm meine größte Hochachtung ein. Er knipste einfach nur sein freundlichstes Lächeln an und schüttelte ihr die Klaue. „Salaamu alaikum, Rabisu. Was für wunderschöne Hörner du hast.“

Rabisus Schwanz zuckte unter dem Kaftan. „Du siehst absolut perfekt aus. Für einen Sterblichen.“

Ihr fragt euch vielleicht, wieso ich ausgerechnet mit einer echten, aus der Unterwelt entsprungenen Dämonin Urlaub mache. Also, erstens hatte ich das alles ganz anders geplant. Aber Rabisu ist gewissermaßen bei mir hängen geblieben, nachdem ich ihren Chef Nergal, den antiken Gott der Seuchen, getötet hatte. Dadurch war das Verhältnis zwischen Rabisu und mir zu Anfang ein wenig belastet gewesen, aber inzwischen kommen wir gut miteinander aus. Zweitens wirkt sie nicht ganz so monströs wie Nergals andere Handlanger. Alle halten ihre Klauen für sehr exklusive Handschuhe aus Schlangenleder, die Hörner verbirgt sie normalerweise unter einem Turban und ihr Schwanz wird ohnehin von ihrem Kaftan verhüllt. Nur ihre Hauer erregten immer wieder eine gewisse Aufmerksamkeit, aber die Leute waren in der Regel höflich genug, sie nicht darauf anzusprechen. Nicht jeder kann sich schließlich einen guten Zahnarzt leisten. Sie war gerade mal einen Meter fünfzig groß, aber davon sollte sich niemand täuschen lassen. Sie besaß trotzdem dämonische Kräfte und war standhaft wie ein Bergmassiv.

Und jetzt hatten wir uns also hier versammelt, in der teuersten Suite des Ritz: Ich, der Sohn irakischer Einwanderer in die USA und Deli-Besitzer, dazu eine antike mesopotamische Dämonin und Daoud, zurzeit das angesagteste Gesicht der internationalen Modewelt und jahrelang der beste Freund meines Bruders. Obwohl wir nicht verwandt waren, nannte er mich deshalb immer Bruderherz. Es würde ein toller Urlaub werden.

Ich konnte es nicht erwarten, dass es endlich losging. Darum zog ich eine Broschüre aus der Tasche und fuchtelte den anderen damit vor der Nase herum. „Hier will ich auf jeden Fall zuerst hin – in den Tower von London. Der gruseligste Ort in ganz Großbritannien. Vielleicht sehen wir ja Anne Boleyn mit abgeschlagenem Kopf durch die Gänge geistern.“

Ziemlich schaurig, ich weiß. Aber der Tower ist nun mal so was wie der Prototyp einer Burg. William der Eroberer hat ihn bauen lassen, kurz nachdem er zum König gekrönt worden war. Und wenn man einer angstschlotternden Bevölkerung klarmachen will, dass man sich ganz bestimmt nicht demnächst wieder aus dem Staub machen will, dann gibt es vermutlich nichts Besseres als eine massive steinerne Festung mitten in der Hauptstadt des Landes. Es gab sogar einen Ort, der den Spitznamen „Der blutige Kerker“ bekommen hatte.

Daoud spähte mir über die Schulter. „Ja, genau, und die Kronjuwelen können wir uns auch anschauen – falls das überhaupt noch geht. Nach dem Einbruch im Louvre letzte Woche haben sie die Sicherheitsmaßnahmen bestimmt noch mal verschärft.“

Ich runzelte die Stirn. „Louvre? Das ist doch dieses Museum in Paris, stimmt’s?“

Daoud nickte. „Hatte da kürzlich ein Shooting. Ich und die Mona Lisa. Das Thema war ‚Schönheit im Lauf der Zeiten‘, glaube ich“, sagte er. „Jedenfalls ist der Tower gar nicht weit von hier. Und wer weiß, vielleicht werde ich ja zur nächsten Krönungszeremonie eingeladen. Mit Hermelinmütze würde ich einfach fantastisch aussehen. Und vielleicht mit einer Krone. Oder zwei.“

„Der König ist aber noch sehr lebendig“, entgegnete ich. „Und hat noch viele Jahre vor sich.“

Daoud lachte. „Kann sein. Aber wer weiß, vielleicht auch nicht. Jetzt, wo du hier bist.“

„Was soll das denn heißen?“

„Also, ich mein ja nur … wo du bist, da ist immer jede Menge los, oder nicht?“

Ich versetzte ihm einen Klaps mit der Broschüre. „So was wie mit Nergal kommt garantiert nicht wieder vor. Das hier wird ein vollkommen undramatischer Urlaub, kapiert?“

„Wenn du das sagst, Bruderherz.“ Sein Blick fiel in einen Spiegel in der Nähe. „Nun sieh dir das mal an. Eine Falte, jetzt schon. Allah sei Dank für Photoshop.“

Rabisu beugte sich über das Sofa, legte das Kinn auf die Fäuste und seufzte. „Du bist so wunderschön. Ich könnte dich auf der Stelle auffressen.“

Ich starrte sie an.

„Was denn?“, empörte sie sich. „Das ist doch bloß eine Redewendung!“

„Ich wollte nur sichergehen.“ Das konnte bei Rabisu nie schaden. „Sollen wir uns schon Tickets für morgen kaufen?“, wandte ich mich an Daoud.

Er winkte ab. „Das bezahlt die Agentur. Ich habe ein Spesenkonto mit einem Tagessatz.“

„Wie viel?“

Er zeigte auf sein Gesicht. „Wenn du gestattest? Das hier ist das Cover der neuen Vogue.“

Typisch Daoud. Er schwebte einfach auf der Wolke seines unverschämt guten Aussehens durch das Leben. Mir ist schon klar, dass wir vor allem auf die inneren Werte achten sollten. Das Problem ist nur, dass man mit inneren Werten nichts verkaufen kann. Also, wirklich gar nichts. Aber Daouds Geschäft bestand im Verkaufen von Träumen und für ihre Träume waren die Menschen bereit, alles zu geben, was sie hatten. Wieso auch nicht? Manchmal sind sie das Einzige, was uns noch antreibt.

„Hogwarts!“, rief Rabisu. „Lasst uns nach Hogwarts fahren!“

„Das ist nur ausgedacht“, gab ich zurück.

Sie kniff die Augen zusammen. „Genau das sollst du ja glauben. Letztes Jahr habe ich so ein Sommer-Camp entdeckt, auf der Nordseite von Long Island. Da waren lauter Kinder, die …“

Ein lautes Klopfen an der Tür unterbrach sie.

Mit ein paar hastigen Schritten war Daoud dort. „Ich habe eine Überraschung für dich, Sik. Sie ist heute Morgen angekommen.“

Wen konnte er bloß meinen? Ich kannte doch sonst keine Leute, die auf Reisen gingen, außer …

Daoud zog die Tür auf. „Ta-daaa!“

Sie hatte sich kein bisschen verändert.

Ihre dunklen Augen starrten genauso eindringlich und finster unter ihrem sauber geschnittenen Pony hervor wie früher. Die Haare hatte sie zu einer ordentlichen Zopfkrone geflochten – ja, genau, Daoud hat mir die Namen von allen möglichen Frisuren beigebracht – und dazu trug sie eine seidig glänzende schwarze Hose und ein T-Shirt. Das Outfit sah ziemlich gewöhnlich aus, hatte aber vermutlich ein ganzes Monatsgehalt gekostet. Dazu hatte sie sich eine Art Holzkelle unter den Arm geklemmt, die mit einer großen roten Schleife verziert war. Als sie mich sah, fing sie an zu lächeln.

Dieses Lächeln haute mich um. Ich stand nur da und starrte sie an. Und wahrscheinlich würde ich jetzt noch da stehen und sie anstarren, wenn Daoud mich nicht angestoßen hätte. Das ist unser Geheimzeichen für Glotz nicht so blöd. Sag was.

Ich erwachte aus meiner Erstarrung. „Salaamu alaikum, Belet.“

Belet. Das Mädchen, das New York vor dem Gott der Seuchen gerettet hatte. Tochter der Göttin Ishtar. Belet, härter als hart, zu sich selbst und anderen. Und meine beste Freundin.

„Belet?“, knurrte Rabisu, während ihre roten Knopfaugen zu glühen begannen. „Mörderin der Dämonen!“

Au weia.

„Dämonin!“, fauchte Belet.

Uuuund … das war’s dann mit meinem undramatischen Urlaub.

2

Rabisu kreischte laut und sprang mit einem Satz über die Sofalehne. Ich wollte sie noch am Schwanz packen, aber da war sie schon quer durch das Zimmer gejagt, um ihre Klauen in Belets Kehle zu schlagen. Belet packte die Holzkelle mit beiden Händen und knallte sie mit voller Wucht seitlich gegen Rabisus Schädel. Der Aufprall ließ das Holz splittern, sodass Belet nur noch den Griff in der Hand hatte, doch die Dämonin ließ sich davon nicht aufhalten. Ineinander verkrallt kugelten die beiden über den Fußboden.

„Die sollen aufhören“, brüllte Daoud. „Pass auf, dass sie nicht …“

Belet schleuderte Rabisu über ihren Kopf hinweg durch die Luft, sodass sie direkt auf der Ming-Vase landete. Einen Augenblick später hockte die Dämonin, mit Orchideenblättern und Porzellansplittern übersät, auf dem Fußboden.

Daoud stieß mich an. „Mach was, Sik!“

„Was denn?“

Rabisu stemmte den Polstersessel hoch über ihren Kopf, als wäre er aus Plastik.

Ich stellte mich zwischen die beiden Kampfhähne. „Hört mir zu! Da muss doch wirklich nicht s…“ Leider konnte ich meinen Satz nicht zu Ende bringen, sondern musste mich mit einem Sprung aus der Flugbahn des Möbelstücks retten.

Belet wich mit einem geschmeidigen Schritt zur Seite aus, doch dann ließ die Dämonin ihre Klauen von links und rechts auf sie niedersausen, fest entschlossen, ihrer Erzfeindin die Eingeweide aus dem Leib zu reißen. Belet blockte alle Angriffe mit dem Holzgriff ab.

„Schluss jetzt, ihr beiden!“ Ich packte Rabisu am Rücken ihres Kaftans und zerrte sie weg. Dann funkelte ich Belet, die bereits wieder mit dem Griff ausholte, wütend an. „Weg damit!“

Belet verzog das Gesicht und klatschte mir das Ding in die Hand.

„Shukran“, sagte ich. Die Schleife war immer noch dran. „Ist das für mich?“

„Willkommen in England“, sagte Belet mit einem absoluten Minimum an Freude und verpasste Rabisu gleichzeitig einen coolen Killerblick wie aus dem Lehrbuch. Wenn sie das machte, dann war es eindeutig ein Alpha-Ding. „Das ist … das war ein Kricketschläger.“

„Kricket wollte ich schon immer mal lernen“, sagte ich und versuchte alles, was ich nur konnte, um die Atmosphäre im Raum wieder ein bisschen unter Alarmstufe Dunkelrot zu drücken.

„Was hat die denn hier zu suchen?“, wollte Belet mit gerümpfter Nase wissen. „Letzten Herbst wollte sie dich noch umbringen.“

„Du hast Tirid getötet“, fauchte Rabisu zurück. „Sie war meine Freundin.“

Belet winkte verächtlich ab. „Unmöglich. Du hast gar keine Freundinnen.“

Ya Allah.

Ich baute mich zwischen den beiden auf. „Ich weiß, dass es mit euch beiden nicht immer einfach war, aber …“

„Nicht immer einfach?“, fuhr Rabisu mich an. „Sie hat Tirid den Kopf abgeschlagen!“

Belet lächelte. „Für mich war das ein ganz besonderer Moment. Für Tirid vielleicht nicht ganz so.“

Ich funkelte sie wütend an. „Das bringt uns jetzt nicht weiter.“

Allen beiden verdankte ich mein Leben, und zwar mehrfach. Aber ich hatte nicht die Absicht, mich auf eine Seite zu schlagen, weil nämlich beide Seiten im Unrecht waren. „Ihr seid Daouds Gäste. Wie lautet die alte Wüstenregel?“ Ich wandte mich an ihn. „Du stammst doch aus einer Beduinenfamilie.“

Daoud, der gerade dabei war, die Blumenvasensplitter einzusammeln, hob den Blick. „Das Gesetz der Gastfreundschaft? Drei Tage. Der Gastgeber ist verpflichtet, dem Gast drei Tage lang Nahrung und Schutz zu bieten.“

Rabisu verschränkte die Arme vor der Brust, ließ aber lautstark ihre Klauen spielen. „Ich kann locker drei Tage warten.“

Belet hob eine Augenbraue. „Kein Problem.“

„Das will ich damit doch gar nicht sagen. Aber ihr müsst euch …“

Von der Tür her ertönte ein höfliches Räuspern und wir drehten uns um. „Ist alles zu Ihrer … Oh. Oh je.“

„Oh, Pierre.“ Daoud sprang mit einem großen Satz über die Überbleibsel des Sessels hinweg und ging auf den Mann im makellos sauberen, maßgeschneiderten Anzug zu. Das musste ein Hotelmanager sein. „Lassen Sie mich erklären. Irgendwie.“

Pierre schüttelte den Kopf. „Mr Hassan, wir befinden uns hier im Ritz …“

Na klar, lebenslanges Hotelverbot. So ein Mist. Ich hatte noch nicht mal die ganzen Fläschchen mit Shampoo und Hautcreme eingesammelt.

„… und wir hatten bereits Königinnen, Päpste und die größten Rockbands der Welt zu Gast. Es ist unsere Aufgabe, unseren Gästen jeden noch so kleinen Wunsch zu erfüllen, nein, nicht nur unsere Aufgabe, es ist unsere heilige Pflicht.“ Bei diesen Worten hatte Pierre die Hände wie zum Gebet gefaltet. „Und dieser Schaden hier ist ganz bestimmt geringer als das, was der Damenchor aus Cardiff am letzten Wochenende hier hinterlassen hat. Ich lasse es sofort sauber machen. Dürfen wir Ihnen als Wiedergutmachung für die Unannehmlichkeiten vielleicht eine Gratis-Flasche Champagner bringen lassen? Alkoholfrei, selbstverständlich.“

„Das wäre … nett?“, erwiderte Daoud misstrauisch. Doch dann wurde ihm klar, dass der Hotelmanager das keineswegs scherzhaft gemeint hatte, und er blickte sich um. „Braucht noch jemand irgendwas?“

Pierre nahm unsere Bestellungen entgegen – Rabisu wollte sämtliche Vorspeisen auf der Karte haben – und verabschiedete sich mit einer unterwürfigen Entschuldigung. Sanft zog er die Tür hinter sich ins Schloss.

„Gut aussehender Sterblicher, wo ist dein Badezimmer?“, wandte Rabisu sich an Daoud. „Ich muss jetzt schreien, und zwar eine ganze Weile, bevor ich etwas mache, was Sik möglicherweise bereuen könnte.“

„Dritte Tür links“, sagte Daoud.

Rabisu nickte und marschierte los, allerdings nicht ohne Belet mit einer Serie giftiger Pfeile zu durchbohren. Pfeile? Eher brennende Krummschwerter, würde ich sagen.

Der Schrei aus dem Badezimmer war lang, durchdringend und wurde von einem Geräusch abgelöst, als würde jemand seinen Kopf – oder ihre Hörner – gegen eine Wand rammen.

„Wann kümmerst du dich um sie?“, zischte Belet mich an.

Vermutlich lag es am Jetlag, jedenfalls kapierte ich nicht sofort, was sie wirklich meinte. „Ich soll mich um sie kümmern?“

Belet beugte sich dichter zu mir. „Gilgamesch hat dir die mächtigste Zauberwaffe aller Zeiten überlassen. Abubu, der Himmelsschnitter, ist nur zu einem einzigen Zweck geschmiedet worden: um Dämonen zu vernichten, und zwar äußerst gewaltsam und dauerhaft.“

„Rabisu ist gar nicht so schlimm! Sie hat nur ein bisschen Mühe, die … äh, die Regeln zu begreifen. Aber das bringe ich ihr noch bei.“

„Sie ist eine Dämonin, Sik. Die Regeln für diese Wesen, egal ob männlich oder weiblich, sind sehr einfach und haben sich seit der Zeit des Codex Hammurapi nicht verändert: Du sollst den Dämon töten.“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass du dir das gerade eben ausgedacht hast.“

„Steht im Anhang“, gab sie ungerührt zurück. „Ist ja nicht meine Schuld, dass du kein Babylonisch lesen kannst.“

Typisch Belet. Lässt keine Gelegenheit aus, ihre gesamte Umgebung daran zu erinnern, wie überlegen sie uns gewöhnlichen Sterblichen aus dem öffentlichen Schulsystem ist.

„Du müsstest sie einfach nur besser kennenlernen.“

Belet verschränkte die Arme vor der Brust. „Niemals.“

Es gab Zeiten – und zwar öfter, als mir lieb war –, wo Belets Sturheit und ihr großes Talent für gezielte Gewaltanwendung ein echter Vorteil waren. Sie hatten uns mehr als einmal vor dem sicheren Tod bewahrt. Belet konnte unhöflich, schmerzhaft grob und fast schon krankhaft arrogant sein, aber gleichzeitig war sie die beste Freundin, die ich je hatte. Ich wusste, dass sie mich niemals im Stich lassen würde, ganz egal, wie die Umstände waren, und ohne irgendeine Gegenleistung zu verlangen. Solche Menschen begegnen einem nicht oft. Was ich damit sagen will: In Bezug auf Belet war ich bereit, in der Regel beide Augen zuzudrücken – solange sie nicht tatsächlich jemandem die Augen zudrückte.

„Wir müssen uns unterhalten“, sagte ich. „Und zwar sofort.“

„Na gut“, gab sie so verdrießlich zurück, dass ihre Mutter dabei in Tränen ausgebrochen wäre. „Da geht’s zu meinem Zimmer.“

„Du wohnst auch hier? Aber was ist mit …? Ach, vergiss es.“

Sie ging voraus, aber kaum waren wir in ihrem Zimmer, knallte ich die Tür hinter uns zu. „Was ist denn bloß los mit dir?“

„Mit mir? Du hast doch die Dämonin angeschleppt. Wie ist sie überhaupt hierhergekommen?“

„Ah, also das war ganz schön merkwürdig. Rabisu wollte mich in New York eigentlich nur zum Flughafen bringen und dann hat sich rausgestellt, dass Lady Gaga im selben Flugzeug saß. Irgendjemand hat gedacht, Rabisu gehört zu ihrer Begleitung, und noch bevor ich kapiert hatte, was da abgeht, hat sie in der ersten Klasse gesessen, mit den anderen zusammen Sekt geschlürft und auf Alt-Sumerisch BornThisWay gesungen. Ich musste natürlich auf den billigen Plätzen sitzen. Aber immerhin haben wir Backstage-Pässe für das Lady-Gaga-Konzert kommenden Freitag hier in London bekommen.“

„Das ist die lächerlichste Geschichte, die ich je gehört habe, aber da ich dich kenne, ist sie wahrscheinlich sogar wahr.“

„Ich schwöre auf meinen Tod.“

„Was ja nicht besonders wahrscheinlich ist, stimmt’s?“

Habe ich schon meinen seltsamen körperlichen Zustand erwähnt? Nein, es ist nicht ansteckend oder so. Aber da die Wahrheit sowieso früher oder später ans Licht kommen wird, kann ich es euch auch jetzt gleich sagen.

Ich bin unsterblich.

Absolut nicht tot zu kriegen und ihr könnt mir glauben, es ist schon mehrfach versucht worden.

Kann ich mit den Einzelheiten vielleicht bis später warten? Ich würde gern in der Gegenwart bleiben.

Belet schnaufte laut und versuchte alles, um meinem Blick auszuweichen. „Heißt das, dass diese Rabisu jetzt dein Kumpel ist oder was?“

„Ich wollte sie ja wieder zurück in die Unterwelt schicken, aber da ist irgendwas schiefgegangen, also, an der Grenze zwischen den verschiedenen Realitäten, und dann hat es kurz so ausgesehen, als würde die gesamte Existenz vernichtet werden. Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung.“ Ich tippte an die Wand. „Siehst du? Ganz fest, jede Dimension ist genau da, wo sie sein soll.“

Mir ist schon klar, dass auch das absolut lächerlich klingt. Aber trotzdem ist jeder Buchstabe wahr. Ich lasse ja sogar aus, wie Rabisu und ich einen ganzen Schwarm antiker Anti-Götter mit einer Schaufel besiegt haben und dass wir kurz ein Kind auf dem Rücken eines bunten Einhorns gesehen haben. Oder habe ich diese letzte Episode womöglich halluziniert? So ganz sicher bin ich mir da immer noch nicht.

„Ich hätte dabei sein sollen, Sik. Ich hätte euch helfen können.“

„Ich weiß. Aber es ging alles so schnell. Rabisu ist wirklich eine von den Guten, Belet. Du musst mir vertrauen.“

„Okay“, erwiderte sie zögerlich.

Wow. Einfach so? Ich hatte zumindest mit einer sarkastischen Bemerkung gerechnet, wahrscheinlich auf Latein. „Was ist denn los, Belet?“

Sie schnaufte erneut. „So hatte ich mir das alles ehrlich gesagt nicht vorgestellt. Ich wollte dich überraschen.“

„Das ist dir auf jeden Fall gelungen.“

„Aber da ist noch was.“ Belet schob ihren Koffer vom Bett auf den Boden und ließ sich auf die Matratze plumpsen. „Du weißt, wie ich aufgewachsen bin. Mutter hat erkannt, dass in meinem Herzen etwas Düsteres wohnt, Sik, und sie hat alles versucht, um es zu heilen. Mit ihrer Leichtfertigkeit, ihren Versuchen, Delfine in unserem Swimmingpool anzusiedeln, all den Ballettstunden, den lächerlichen Partys und den luxuriösen Klamotten. Ich fand das alles bescheuert und sinnlos, aber weißt du was?“

„Das alles fehlt dir. Ich verstehe. So war Ishtar, das alles hat sie ausgemacht.“

„Sie wollte mir zeigen, dass das Leben auch eine andere Seite hat“, fuhr Belet fort. „Ich habe immer nur Streit gesucht. Alles, was ich will, ist kämpfen, Sik, und jetzt, wo sie nicht mehr da ist, wird es immer schlimmer. Ich bin so voller Wut.“ Sie biss die Zähne zusammen und drückte die Faust an ihre Brust. „Da drin, da liegt eine Bombe, die nichts anderes will als explodieren. Und ich dachte, wenn ich dich wiedersehe …“

„Würdest du dich freuen?“

„Freuen.“ Sie nickte bedächtig, als müsste sie sich die Bedeutung eines fremdartigen Wortes zusammenreimen. „Mutter konnte sich immer freuen, stimmt’s?“

„Es wird Zeit, dass du mir sagst, was los ist, Belet“, sagte ich. „Du bist doch nicht bloß wegen mir nach London gekommen. So groß ist mein Ego dann doch nicht, dass ich das ernsthaft glauben würde.“

„Kurz bevor Mutter … also, sie hatte eine Reise nach London geplant.“

„Lass mich raten: zur London Fashion Week.“

„Zum Shopping.“ Sie griff nach einem Aktenordner, holte ein Foto heraus und gab es mir. „Und das hier wollte sie kaufen.“

Ich ging davon aus, dass sie mir gleich ein Paar Schuhe oder vielleicht auch einen Palast zeigen würde. Aber mit einer Platte aus Ton hatte ich nicht gerechnet. „Eine Schrifttafel? Was steht da drauf?“

Sie rutschte ein Stück zur Seite, damit wir uns beide das Foto anschauen konnten. „Bis jetzt ist es noch niemandem gelungen, die Keilschrift zu entziffern. Sie ist weder sumerisch noch babylonisch noch assyrisch und ist auch keiner anderen bisher bekannten Periode zuzuordnen. Es ist wohl eine Protosprache. Vielleicht die ursprüngliche Keilschrift, aus der sich alle anderen entwickelt haben.“

„Die Tafel sieht stark beschädigt aus. Vielleicht sind die Schriftzeichen einfach nur verwittert? In der irakischen Wüste liegen Massen von diesen Dingern herum.“

Das waren die ersten Anfänge der Schrift. Bestimmte Zeichen, in Lehm geritzt, waren im Lauf der Jahrhunderte zu einem System, zu einer Sprache, zum Beginn der Geschichtsschreibung geworden. Und unzählige Schrifttafeln hatten die Zeiten überdauert – ganze Bibliotheken voll. Diese hier war angeschlagen, wurde von mehreren Rissen durchzogen, und die keilförmigen Zeichen waren kaum mehr zu erkennen. „Was ist an der da so bedeutend?“

Belet gab mir ein zweites Foto. „Erkennst du den?“

Es zeigte eine Statue. Sie lag auf der Seite und war zur Hälfte mit Sand bedeckt. Ein Archäologen-Team war gerade dabei, sie auszugraben, und ein Teil des Gesichts sowie die linke Seite der Statue waren bereits zu erkennen.

„Alexander der Große?“

„Sehr gut. Wir machen noch einen Gelehrten aus dir. Und was hat er in der Hand?“

„Eine Schrifttafel. Komisch. Normalerweise wird er doch mit Zepter oder Schwert dargestellt. Sie muss wirklich wichtig gewesen sein.“

Belet klappte den Ordner auf und brachte einen Stapel Papiere und Fotos zum Vorschein. „Das hat Mutter auch vermutet. Und sie war nicht die Einzige. Das hier stammt aus der Zeit der ayyubidischen Dynastie.“

Es war eine Fotokopie eines Gemäldes. Darauf war ein Mann zu sehen, der mit einer Schrifttafel im Schoß in einem Garten saß. Eine Verwechslung war ausgeschlossen – es handelte sich um den unbestritten größten Helden der islamischen Welt.

„Saladin“, sagte ich.

„Warum hat er die Schrifttafel bei sich?“, sagte Belet nachdenklich. „Damals hat man schon seit tausend Jahren nicht mehr auf Lehm geschrieben. Er müsste eigentlich eine Papyrusrolle in der Hand halten.“

„Ist das dieselbe Tafel? Bist du sicher?“

„Warum sonst sollte Mutter das Foto in ihrem Ordner haben? Hier ist auch ein Brief von Kleopatra. Der Kleopatra. Anscheinend hat auch Julius Caesar die Tafel eine Weile besessen. Mutter hätte sie ihm zu gerne abgekauft, aber als sie ihn schließlich aufgestöbert hatte, war er schon einem Attentat zum Opfer gefallen. Die Schrifttafel ist in den Wirren des anschließenden Bürgerkriegs verloren gegangen. Und dann ist sie erst bei dem da wieder aufgetaucht, Sultan Mehmet II.“ Sie griff nach einem weiteren Faksimile. Der Eroberer starrte mir mit Habichtaugen entgegen. In seiner Handfläche lag die Schrifttafel.

„Der war doch Osmane, oder? Nicht unbedingt meine Lieblingsepoche.“

Belet sammelte die verschiedenen Unterlagen wieder ein und legte sie in den Ordner zurück. „Er hat Konstantinopel erobert und das Römische Reich endgültig in die Knie gezwungen.“

„Alexander. Saladin. Caesar und Mehmet. Wenn wir eine Liste mit den einflussreichsten Personen der Menschheitsgeschichte anfertigen würden, dann wären die vier garantiert in den Top Ten.“

„Mutter hat die Tafel bis zum Museum für Altertümer in Bagdad zurückverfolgt. Aber das war 2003 und du weißt ja, was 2003 passiert ist.“

„Der Irakkrieg“, sagte ich. „Mama und Baba haben mir alles erzählt.“

„Haben sie dir auch erzählt, dass damals auch die Museen geplündert wurden? Dass unbezahlbare Artefakte von den Anfängen der Zivilisation zusammengerafft und auf irgendwelchen Lastwagen über die Grenze geschmuggelt wurden, nur um an den nächstbesten Typen mit einem Schuhkarton voller Geld verschachert zu werden?“

Die Wut in Belets Stimme war nicht zu überhören. Dieses Mädchen hatte eine Mission und mochte Allah allen beistehen, die es wagten sich ihr in den Weg zu stellen.

„Die Schrifttafel wurde gestohlen?“

„Sie haben das gesamte Museum leer geräumt. Aber Mutter hat die Tafel aufgespürt“, fuhr Belet fort. „Die momentane Besitzerin heißt Lady Fitzroy. Sie handelt mit Antiquitäten, aber nicht nur das. Sie geht auch einer interessanten Nebentätigkeit als Hehlerin für antike Artefakte nach. Absolut illegal. Heute Abend findet auf ihrem Landsitz eine Privatauktion statt und die Schrifttafel ist eines der Stücke, die dort versteigert werden sollen.“

„Ich schätze mal, dass man da nicht ohne Weiteres eine Einladung bekommt, wenn es so illegal ist. Was hast du vor? Machst du auf Ninja?“

„Viel besser.“ Sie ging zu ihrem Schrank und holte ein Kleid heraus. „Auf Vivienne Westwood.“

„Ganz hübsch, aber vielleicht ein bisschen zu schick, meinst du nicht? Damit kannst du jedenfalls keine Festungsmauern hochklettern.“

„Ich klettere nirgendwo hoch und krieche auch nicht durch irgendwelche Abwasserkanäle oder schwimme mit einem Dolch zwischen den Zähnen durch den Festungsgraben. Ich spaziere einfach durch die Haustür. In adligen Kreisen, musst du wissen, geht es nicht darum, was du bist, sondern wen du kennst.“

Und? Wen kannte sie? „Das ist doch nicht dein Ernst. Daoud?“

„Er steht auf jeder Gästeliste.“

„Aber sind da nicht auch … also … jede Menge gefährlicher Typen dabei? Kriminelle und so?“

„Ein paar der allerschlimmsten“, bestätigte Belet. „Aber ich beschütze ihn.“

Jede Hoffnung auf einen ganz normalen, entspannten Urlaub war mit einem Mal in sehr weite Ferne gerückt. Ich hatte noch nicht einmal ausgepackt und schon steckten wir bis zum Hals in allen möglichen Gefahren. Belet würde schon zurechtkommen – um sie brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. „Wenn Daoud da hingeht, dann komme ich auch mit.“

„Ich weiß.“ Belet ließ die Schranktür aufschwingen und brachte noch ein weiteres Kleidungsstück zum Vorschein. „Den habe ich dir mitgebracht.“

„Einen Anzug?“

„Einen Smoking. Mutter hat gesagt, dass jeder junge Mann mindestens einen besitzen sollte.“

Ich trat näher und fuhr mit den Fingerspitzen über den weichen Stoff des Ärmels. „Woher willst du wissen, dass er mir passt?“

Sie grinste spöttisch. „Du bist alles andere als ein Mysterium, Sikander Aziz.“

„Das heißt ja wohl, dass ich ziemlich langweilig bin, oder?“

„Das heißt, dass du ehrlich bist.“ Belet nahm den Smoking heraus und reichte ihn mir. „Zieh an. Wir gehen auf eine Party.“

3

„Mama? Baba? Könnt ihr mich sehen? Ich kann euch nicht sehen.“

„Wir können dich hören, Habibi!“

„Hast du vielleicht den Daumen auf der Kamera?“

„Oh“, sagte Baba. „Und jetzt?“

Mit einem Mal tauchten sie beide auf meinem Display auf. Baba fuhr sich noch schnell durch die Haare und Mama richtete ihren Hijab, den aus Seide, den Daoud ihr geschickt hatte. Sie hatten das Smartphone auf den Tisch gestellt, sodass ich in ihrem Rücken einen Blick auf Mo’s Deli bekam. In Manhattan war es früher Morgen. Die Sonne schien durch die Fenster und tauchte die Tische in einen goldenen Glanz. Ich konnte den Kaffee, der auf dem Herd blubberte – Mama macht ihn immer noch auf die altmodische, türkische Art –, beinahe riechen und mit einem Mal überfiel mich starkes Heimweh.

„Salaamu alaikum!“, rief Baba, als müsste er besonders laut sprechen, um auf der anderen Seite des Atlantik gehört zu werden. „Ist das Daoud?“

Daoud schob sich neben mir ins Bild. „Salaam, Onkel!“

„Gut siehst du aus, Daoud“, sagte Mama. „Ein bisschen dünn vielleicht. Isst du auch genug?“

„Natürlich nicht. Dein Essen fehlt mir, Tantchen. Ich hatte gehofft, dass Sik etwas von deiner Baklava mitbringt.“

„Hatte ich auch.“ Ich warf Rabisu einen Blick zu. „Aber irgendjemand hat während des Fluges alles aufgegessen.“

Der Dämon reckte beide Daumen in die Höhe. „Es war köstlich.“

„Das war eigentlich für alle gedacht, Rabisu.“

Sie verdrehte die Augen. Es war nicht das erste Mal, dass wir diese Diskussion führten. „Dämonen teilen nicht mit anderen.“

Ich wandte mich wieder dem Display zu. „Wie läuft es sonst zu Hause?“

Baba brach in schallendes Gelächter aus. „Wir kommen zurecht, mein Junge. Sogar ohne dich.“

„Ich wünschte, ihr wärt hier“, sagte ich.

Rabisu beugte sich über das Sofa und schob mich beiseite. „Ich wünschte auch, dass ihr hier wärt. Ihr müsst unbedingt Tauben-Pastete auf die Speisekarte setzen.“

Babas Augen wurden groß. „Hast du gerade ‚Tauben-Pastete‘ gesagt?“

Ich drängte mich wieder ins Bild. „Nein, hat sie nicht. Die Verbindung ist ziemlich schlecht.“

„Und Aale! Die sind voll lecker! Die glitschen einfach so runter!“ Rabisu schmatzte laut. „Und Haggis! Was Besseres als Schafsgedärme, gestopft mit Leber und Lunge, gibt es gar nicht!“

Ich stieß sie vom Sofa. „Hier möchte noch jemand Hallo sagen – Belet.“

Jetzt riss Mama die Augen weit auf. Ihre Lippen formten sich zu einem stummen Ooh.

„Sie ist nach London gefahren, um dich zu besuchen?“, sagte Baba. „Mashallah!“

„Siks Freundin wollte mich umbringen!“, krähte Rabisu vom anderen Ende des Zimmers herüber.

„Sie ist nicht meine … und allmählich bedauere ich, dass sie sich nicht ein bisschen mehr Mühe gegeben hat!“

Rabisu schnaubte. „Noch drei Tage, dann wissen wir es genau, oder?“ Sie stapfte in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Puuh. Ich wandte mich wieder dem Display zu. „Tut mir leid. Das ist bestimmt der Jetlag.“

Mama schob ihre Hand in Babas. „Mo hat so viel von dieser Stadt gesprochen, dass ich das Gefühl habe, als würde ich sie schon kennen. Er hatte doch diesen Stadtplan, wisst ihr noch? Wo er alle Sehenswürdigkeiten markiert hat, die er besuchen wollte? Der hängt immer noch an der Wand. Zu schade, dass er es nicht mehr …“ Sie hielt inne, um sich wieder zu sammeln. „Er würde sich so darüber freuen, dass ihr jetzt dort seid. Du erzählst es ihm doch, oder?“

„Er ist hier bei mir, Mama. Das ist er immer.“

Mamas Augen glitzerten. „Habe ich dir jemals gesagt, wie wundervoll du bist?“

Hinter der Tür wieherte Rabisu schallend los. Ja, sie wieherte tatsächlich. Wer hätte geahnt, dass Dämoninnen so gute Ohren haben?

Baba legte Mama die Hand auf die Schulter. „Du machst ihn verlegen. Was nicht bedeutet, dass du nicht recht hast.“

Daoud wuschelte mir durch die Haare. „Ich passe auf ihn auf, Onkel. Sik wird den besten Urlaub aller Zeiten erleben.“

„Wir müssen allmählich den Deli aufschließen, Sik. Genieß die Zeit und schick uns ein paar Fotos“, sagte Baba. „Ma’assalamah, mein Junge.“

„Yalla bye.“ Das Display erlosch und ich steckte das Handy weg. „Was meint ihr? Ist zu Hause wirklich alles in Ordnung? Ich meine, ich hätte da im Hintergrund was gesehen, so ein …“

Daoud sprang auf und streckte sich. „Alles bestens, Sik. Du musst jetzt dringend mal abschalten. Das hier ist deine große Reise. Wir müssen Partys besuchen, Sehenswürdigkeiten besichtigen, Essen essen. Das wird absolut fantastisch und den Anfang macht die Soiree heute Abend bei Lady Fitzroy.“

„Kannst du mir noch mal sagen, woher du sie kennst?“

„Von einer Wohltätigkeitsveranstaltung vor ein paar Wochen mit Bella Hadid. Ihr habt doch bestimmt von der Dürre im Irak gehört, oder? Euphrat und Tigris führen beide kein Wasser mehr. Lady Fitzroy hat eine Spendengala organisiert und ihr wisst ja, wie die Reichen sind. Nichts lieben sie mehr, als anderen Leuten für ihre Projekte Geld aus der Nase zu ziehen. Mein Agent hat gemeint, dass es gut wäre, wenn ich mich dort blicken lasse.“ Er stand am offenen Fenster und ließ den Blick über den Green Park schweifen. „Ist das wahr? Siehst du Mo noch gelegentlich?“

„Wir sprechen ab und zu miteinander, ja.“

Daoud wagte nicht, sich umzudrehen, aber ich sah, wie er sich verkrampfte. „Hat er … äh … also, hat er je von mir gesprochen?“

„Er weiß, was du für ihn empfunden hast, Daoud. Und ihm ging es genauso. Du warst sein bester Freund.“

„Echt? Das hat er gesagt?“

Ich nickte.

Mit einem breiten Grinsen im Gesicht drehte Daoud sich um. „Wir sollten diesen Urlaub zur Mo-Tour machen. Bitte deine Eltern, den Stadtplan zu fotografieren, und dann haken wir jeden Ort darauf ab, einen nach dem anderen.“

Mein Bruder war schon seit drei Jahren tot. Er ist bei einem Motorradunfall im Irak ums Leben gekommen. Und trotzdem rechnete ich jederzeit damit, dass er ins Zimmer kam oder hinter der Tür sein Lachen ertönte. Ishtar hatte mir gesagt, dass Liebe sogar Raum und Zeit überwindet, und wer könnte das besser beurteilen als sie?

Mo lebte unter dem Supernova-Himmel der Unterwelt von Kurnugia das bestmögliche Leben. Ich hatte ihn dort besucht und wir hatten ein letztes gemeinsames Abenteuer bestanden, aber das bedeutete nicht, dass er mir nicht tagtäglich fehlte. Und als ich Daoud ansah, war mir klar, dass ich nicht der Einzige war.

„Sind wir startklar?“ Belet betrat in ihrem Partykleid das Wohnzimmer.

Wow. Ich meine, ya salam.

„Was ist denn mit dir passiert?“

Wieder einmal kam Daoud mir zu Hilfe. Er legte die Fingerspitzen von Daumen und Zeigefinger an die Lippen und schnipste ihr ein Luftküsschen zu. „Alles bestens. Schwarze Diamanten stehen dir ausgezeichnet.“

Belet lief rot an. Sie lief tatsächlich rot an. „Das sind doch bloß Pailletten, Daoud.“

„Aber an dir nicht. An dir wirken sie echt. Findest du nicht auch, Sik?“

„Ääh, genau. Hübsch siehst du aus. Richtig hübsch.“ Zugegeben, das war nicht gerade das poetischste aller Komplimente, aber es war mein Ernst. Doch dann fiel mir noch etwas auf. „Ist das wirklich nötig?“

„Das? Das ist doch bloß ein Accessoire.“

„Es ist ein Schwert, Belet.“

Sie zog die Klinge aus der Scheide und drehte sie von einer Seite auf die andere. Die Schneide funkelte im Licht der Kronleuchter. „Ich konnte ihn unmöglich zurücklassen.“

Der Stahl ächzte, und als er anfing zu reden, breitete sich ein öliges Muster über der Klinge aus. „Ist das etwa Soldat Clown? Was passt ihm denn jetzt schon wieder nicht?“

„Salaam, Kasusu“, sagte ich.

So sah also jetzt mein Leben aus. Dämoninnen, Abenteuer und sprechende Schwerter. Kasusu war eine legendäre Klinge und hatte im Lauf der Jahrhunderte eine Persönlichkeit, ein eigenes Leben entwickelt. Überflüssig zu betonen, dass er auch die eine oder andere feste Überzeugung hatte, und zwar vor allem in Bezug auf mich.

„Und, bist du auch mit von der Partie?“, fuhr Kasusu fort. „Pass einfach auf, dass du mir nicht in die Quere kommst, sobald es losgeht.“

„Was soll denn losgehen?“ Ich wandte mich an Belet.

Aber noch bevor sie sich irgendeine Ausrede ausdenken konnte, kam Rabisu ins Zimmer geplatzt. Sie trug einen reich bestickten Kaftan und schwenkte ein langes goldenes Tuch durch die Luft. „Kann mir jemand den Turban umbinden? Ich schaffe es ni… Bei Ea! Was hat sie denn mit demda vor?“

„Ich rieche Dämon“, knurrte Kasusu. „Ich hasse Dämonengeruch.“

Warum ist mein Leben eigentlich so kompliziert geworden? „Steck das Schwert weg, Belet.“

Sie gehorchte, wenn auch zögerlich. „Niemand hat was davon gesagt, dass die Dämonin auch mitkommt.“

Rabisu schnipste mir mit ihren Klauen vor der Nase herum. „Er will mich nicht alleine hier lassen. Er traut mir nicht.“

„Sehr richtig. Ich traue dir nicht“, erwiderte ich. „Hier im Ritz haben die Leute ihre Haustiere dabei. Ich habe genau gesehen, wie dir unten im Foyer das Wasser im Mund zusammengelaufen ist. Als wärst du bei einem All-you-can-eat-Büffet. Daoud, hilf ihr mit dem Turban.“

Wenige Augenblicke später hatte er das Tuch perfekt um ihre Hörner geschlungen. Rabisu betrachtete sich im Spiegel. „Wunderbar. Das Gold bringt das Rote in meinen Augen so schön zur Geltung.“

Wir waren bereit, der Welt zu begegnen. Aber war die Welt auch bereit für uns?

Daoud und Belet zogen los, um das Auto aus der Parkgarage zu holen, während Rabisu und ich am Straßenrand warteten. Es war ein warmer Abend. Moschusduft hing in der Luft. Das West End brummte mit all den Samstagabendbesuchern, die in die Theater, Clubs und Bars des Viertels strömten, und alles wirkte wie eine große Schlacht zwischen grellem Neonlicht und altehrwürdigem, georgianischem Marmor. Ich betrachtete mich in den verspiegelten Fenstern eines wartenden Rolls Royce.

Es war das erste Mal, dass ich einen Smoking trug. Er besaß sogar einen Kummerbund aus schwarzer Seide – das ist eine Art Schärpe um die Hüften. Die Schuhe waren nagelneu, aber das Leder so weich und geschmeidig, dass sie sich wie Hausschuhe anfühlten. Und die Manschettenknöpfe bestanden aus zwei winzigen Krummsäbeln. Vielleicht hört es sich ja ein wenig peinlich an, weil ich es selbst sage, aber trotzdem: Ich sah richtig guuuut aus.

Rabisu blickte die Straße entlang. „Da ist er wieder.“

Ich folgte ihrem Blick. „Was meinst du?“

„Diesen Bus da. Der mit der Regenbogenflagge, der so bunt angemalt ist. Den habe ich vorhin schon gesehen. Der dreht hier ständig seine Runden. Jetzt kommt er wieder.“

Ein gelber VW-Campingbus kam langsam näher gerollt und blieb vor der Ampel stehen. Von der Antenne baumelte ein schlaffer Regenbogenwimpel und zahlreiche selbst gemalte Bildern zierten die Karosserie – Porträts von Gandhi und Martin Luther King sowie die Symbole aller Weltreligionen und vieler kleinerer dazu. Hinzu kamen jede Menge Aufkleber. Einer – „WOODSTOCK 69“ – fiel mir sofort ins Auge. Der Bus sah aus, als hätte er schon genauso viele Jahre auf dem Buckel.

Der Typ am Steuer ließ den Arm aus dem Fenster baumeln und lächelte mich an.

„Guten Abend“, sagte ich.

Er nickte. „Der Abend ist mehr als gut, der ist wunderschön, Mann. Nimm dir Zeit, den Moment zu genießen. Halt inne und wink der Sonne beim Untergehen zu … tanz im Regen.“

Er wirkte harmlos. Ich hätte ihn auf Mitte dreißig geschätzt, aber durch den Vollbart, die langen Haare und das Stirnband war es nicht so genau zu beurteilen, und dazu wurden seine Augen von einer rosafarbenen Sonnenbrille verdeckt. Dann machte er mit Zeigefinger und Mittelfinger das Victory-Zeichen, legte den ersten Gang ein und fuhr los. Das Kennzeichen passte zu allem anderen: PEACE.

Hinter mir ertönte eine Hupe und ich drehte mich um. Aus dem Inneren eines eleganten pantherschwarzen Jaguar F-Type Coupé winkte mir Daoud entgegen. Belet saß auf dem Beifahrersitz, mit Kasusu auf dem Schoß.

„Hübsche Kiste, Daoud“, sagte ich.

„Sponsoren, Sik. Nach dem Wochenende muss ich ihn wieder abgeben, gewaschen und mit vollem Tank. Aber bis dahin …“ Er stieg aufs Gas und ließ den Motor aufheulen.

„Sind alle da?“

Der VW-Bus war nicht mehr zu sehen. Wie war er bloß so schnell im Verkehr untergetaucht?

Belet stieg aus und klappte ihren Sitz nach vorne, damit Rabisu und ich uns auf die Rückbank setzen konnten. „Suchst du was?“

„Ja, einen Campingbus. Leuchtend gelb. Gerade war er noch da.“

Ein kaum wahrnehmbares Zucken in ihrem Blick, mehr nicht. Hätte ich Belet nicht besser gekannt, ich hätte vermutet, dass es Angst war. „Was ist denn los?“

Sie hatte sich wieder im Griff. Die aufflackernde Gefühlsregung, was immer das gewesen war, verschwand wieder unter ihrer üblichen harten Maske. „Nichts. Wir sind spät dran.“

Ich quetschte mich neben Rabisu. Wir fuhren los, aber nirgendwo war eine Spur von dem VW-Bus zu entdecken.

Warum hatte Belet sich so erschrocken?

Ich verrate euch mal was: Ich liebe Burgen und Festungen! Mal ehrlich, gibt es etwas Cooleres als eine Burg? Sicher nicht. Die Wassergräben und Zugbrücken, die Türme und Zinnen, die gruseligen Kerker … ich finde, dafür kann man sich gar nicht genug begeistern. Warum sich mit Regenrinnen abgeben, wenn man auch Wasserspeier haben kann? Als ich klein war, habe ich regelmäßig Lego-Burgen gebaut und sie anschließend mit meinen Star Wars-Figuren zerstört. Bei etwas so Großem können nicht einmal Sturmtruppler danebenschießen.

Eine wichtige Rolle spielen dabei die Kreuzzüge – dieser jahrhundertelange Krieg zwischen Christen und Muslimen um das Heilige Land. Sicher sind da viele schreckliche Dinge geschehen, aber sie haben auch echte Helden hervorgebracht. König Richard Löwenherz zum Beispiel, oder Salāhad-Dīn Yūsuf bin Aiyūb, besser bekannt unter dem Namen Saladin. Er war auch Iraker. Euch ist schon klar, worauf ich hinaus will, oder?

Saladin war schlicht und einfach großartig. Ein Krieger, ein Friedensstifter und ein richtig guter Typ. Als der englische König krank war, hat er ihm seinen eigenen Leibarzt geschickt. Und als Richard mitten in der Schlacht sein Pferd verloren hatte, hat Saladin ihm eines von seinen geliehen. Trotzdem hat ihn das nicht davon abgehalten, Richard so lange in den königlichen Arsch zu treten, bis er wieder zurück in England war.

Nun schälte sich Fitzroy Castle aus dem Nebel hervor. Die Zufahrtsstraße wirkte aber nicht wie eine gewöhnliche Einfahrt, sondern wie ein Tunnel in eine andere Zeit. Als wir unter den gebogenen Zweigen der uralten Eichen entlangrollten, hatten wir das Gefühl, als würden wir tausend Jahre zurück versetzt. Die Türme besaßen Zinnen und auf ihren Spitzen flatterten Banner im Wind! Ich konnte beinahe das Hufgetrappel der galoppierenden Pferde und die Kriegsfanfaren hören.

Daoud bog von der Einfahrt ab auf eine Lichtung, wo bereits Dutzende anderer Fahrzeuge parkten. Als wir langsamer wurden, näherte sich ein Parkwächter. Ich war ein kleines bisschen enttäuscht, dass er weder Rüstung noch Hellebarde trug, aber dafür hing eine Pistole an seinem Gürtel. „Das hier ist ein privater Empfang. Die Burg hat erst morgen wieder für Besucher geöffnet.“

Belet beugte sich über Daoud hinweg. „Wir sind zum … Shoppen hier.“

Der Parkwächter leuchtete mit seiner Taschenlampe durchs Fenster, um uns besser sehen zu können. „Können Sie sich ausweisen?“

Daoud streckte ihm die aktuelle Ausgabe der Vogue entgegen. „Das bin ich.“

Der Mann runzelte die Stirn. „Ich glaube kaum, dass ein Foto von Ihnen als Tarzan … Moment mal. Sie sind Daoud Hassan?“ Seine Augen wurden groß. „Ein paar von den Jungs haben schon gesagt, dass Sie eingeladen sind, aber ich hab’s ihnen nicht geglaubt. Ich bin übrigens ein Riesen-Fan. Sie … äh … Sie könnten mir nicht zufällig irgendwo Ihr Autogramm drauf schreiben, oder?“

Daoud hatte bereits einen Filzstift gezückt. Ich schätze, so was passierte ihm öfter. „Für meine Fans mache ich alles.“

Der Parkwächter rollte seinen Hemdärmel nach oben. „Hier. Auf meinem Unterarm.“

„Geht das nicht beim Waschen wieder ab?“, wollte ich wissen.

Der Parkwächter schüttelte den Kopf. „Nicht, wenn ich mir daraus ein Tattoo stechen lasse. Dann ist es ein Andenken für die Ewigkeit.“

Schwungvoll setzte Daoud seine Unterschrift auf den Unterarm des Mannes, dann stellten wir den Wagen ab und falteten uns aus dem Jaguar ins Freie. Der Parkwächter zeigte den anderen stolz sein Autogramm.

Und Daoud sah wirklich – es gibt kein anderes Wort dafür – fabelhaft aus. Ich schwöre, dass sich buchstäblich die Wolken teilten, damit das Mondlicht ganz beiläufig seine gemeißelten Züge streicheln konnte. Und wenn die Vögel zu singen anfingen, wenn er das nächste Mal die Haare zurückwarf, es hätte mich nicht gewundert.

Belet knallte die Beifahrertür zu. „Für schöne Menschen gelten keine Regeln, oder?“

„Mit Ishtar als Mutter müsstest du das eigentlich gewöhnt sein“, sagte ich.

„Und es hat mich auch damals schon genervt. Großer Gott, dieses Getue die ganze Zeit. Wie die Leute sich aufführen, bloß weil jemand reine Haut und ebenmäßig proportionierte Gesichtszüge hat. Mehr ist das ja nicht, verstehst du?“ Belet schüttelte müde den Kopf. „Wir besorgen uns die Schrifttafel und verschwinden wieder. Keine After-Party, kapiert?“

Rabisu seufzte nur. „Hast du bemerkt, wie das Licht in Daouds Locken spielt?“

„Ja. Habe ich bemerkt. Und alle anderen auch“, erwiderte ich.

Wir näherten uns der Burg, die jetzt noch ein mittelalterliches Bonbon für mich bereithielt. „Seht euch das an. Ein Wassergraben.“

Eine schmale Brücke führte über den Kanal, der mit Seerosenblättern übersät war, zum Torhaus. Dichter Efeu wucherte an den Außenmauern empor und hatte sich um die baufälligen Türme gewickelt. Belet versteckte Kasusu in einem großen Geranienbusch.

Rabisu klopfte gegen den Kopf einer Wasserspeier-Statue auf der Brücke. „Der erinnert mich an meinen Ex, Asag. Früher haben wir regelmäßig auf den Ebenen von Irkalla gepicknickt, umgeben von unzähligen Knochen und dem ewigen Geheul der Trauergeister.“ Sie seufzte. „Das waren noch Zeiten.“

Dämoninnen konnten Liebesbeziehungen haben? Man lernt nie aus. „Was ist aus ihm geworden?“

„Ist bei einem Streitwagenrennen überfahren worden.“

„Wow. Das tut mir leid. Das muss sehr traurig für dich gewesen sein.“

„Ach, na ja, eigentlich nicht. Ich hab gewonnen.“ Sie blickte sich um. „Ob es in dem See da vielleicht Schwäne gibt? Ich will nur mal … eben nachschauen.“

„Rabisu …“

„Yalla bye!“, rief sie und verschwand zwischen den Bäumen.