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» Help, I need somebody! « Emely liebt Quizshows und ganz besonders liebt sie es, sich diese gemeinsam mit ihrer Mutter anzuschauen. Ihre Mutter ist für sie die »Königin des Silberregens« beziehungsweise war sie das. Denn statt Fragen zu beantworten, wirft sie momentan eher welche auf. Warum schläft sie so viel? Warum steht sie morgens oft nicht auf? Und wie kann Emely das vor den Nachbarn, Lehrern und ihrem besten Freund Mathis verheimlichen? Christine Werner greift das Thema Tablettensucht der Eltern einfühlsam, lebensnah und mit Leichtigkeit auf. Durch Emelys Geschichte bekommen Millionen Kinder in Deutschland erstmals eine erzählerische Stimme in dieser Altersstufe.
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Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Wer ist die Königin des Silberregens?
Achtung, aufgepasst! Wir kommen jetzt zur großen Preisfrage! Zum ultimativen Hauptgewinn von einer Million Euro! Ein Trommelwirbel saust durch unser Wohnzimmer. Mein Körper steht unter Hochspannung. Ich hole tief Luft, mache eine kurze Pause – und frage mit meiner Quizmasterinnen-Stimme:
Wie heißen die leckeren Puddingteilchen, die beim Bäcker Schilling so schnell ausverkauft sind?
A: cremige Schokoschnitten
B: fruchtige Blaubeermuffins
C: luftige Vanillepuddingherzen
Der Trommelwirbel wirbelt noch einmal. Der Sessel unter mir quietscht, weil ich vor lauter Aufregung nicht still sitzen kann. Ich schaue in die Runde. Papa kratzt sich am Kinn und schüttelt den Kopf. Okay, war klar, er mag keine süßen Teilchen. Mein kleiner Bruder Lukas verzieht gelangweilt das Gesicht. Er stopft sich lieber ganze Schokoladentafeln in den Mund. Hannah ist noch zu klein, sie sitzt auf Mamas Schoß und guckt mich mit großen Augen an. Aber Mama! Sie ist Quizexpertin für fremde Länder, ihr WAHRES Spezialgebiet aber sind süße Teilchen.
Sie lächelt mich an und sagt: »Ganz klar, Antwort C. Ich sehe sie genau vor mir, diese luftig weichen Vanillepuddingherzen. Sie riechen sooo gut und schmecken himmlisch. Und wenn man nicht rechtzeitig aus dem Bett kommt, sind alle ausverkauft.«
Ich strahle sie an, springe auf den Sessel, hüpfe darauf herum, dass er schnauft und ächzt, tröte einen Tusch – und schütte eine ganze Tüte Silberpapierchen über Mama aus. Die Papierchen segeln auf ihre Haare, bleiben an ihrem kuscheligen Pullover hängen, fallen auf Hannah. Mama sitzt in einer großen, glitzernden Silberregenwolke. Plötzlich steht sie auf, tanzt mit Hannah im Arm und lacht. Mama ist meine Königin des Silberregens.
Piep, piep, piep, piep …
Ich haue auf den Wecker.
Wie lange sitze ich schon auf der Bettkante? Fünf Sekunden, fünfzig Minuten, fünfhundert Stunden? Auf dem Boden vor dem Bett liegt ein Silberpapierchen. Aber Mama tanzt nicht. Sie schnarcht nur leise.
Piep, piep, piep, piep …
Ich beuge mich zu ihr herunter, rüttele sie vorsichtig an der Schulter.
»Mama, aufstehen«, flüstere ich ihr ins Ohr. »Es gibt zwar keine Vanilleherzen, aber ich kann dir einen Kaffee machen. Der riecht auch sehr gut.«
Mama blinzelt mich kurz an, zieht aber nur die Bettdecke höher. Ihre Augen sind geschlossen, an ihren Wimpern klebt etwas schwarze Schminke. Kurz vor der Bettdecke guckt ihre Nase wie eine Sprungschanze in die Luft. Ich mag ihre Sprungschanzen-Nase. Mit meinem Finger fahre ich mit etwas Abstand daran entlang.
Piep, piep, piep, piep …
Abgestürzt.
Eine große braune Locke fällt Mama ins Gesicht. Ich schiebe sie zur Seite, beuge mich noch weiter runter.
»Mama!«, rufe ich lauter in ihr Ohr und schüttele sie etwas heftiger. Sie reagiert nicht. Es kommt nur ein kleines Prusten aus ihrem Mund.
Ich schaue auf den Wecker, der Sekundenzeiger rückt weiter. Es wird Zeit. Ich stehe auf, lehne die Schlafzimmertür an und – drei, zwei, eins – los geht es: Über den Flur, in mein Zimmer abbiegen, mein Mäppchen in den Rucksack packen, Sportbeutel schon mal auf den Flur schleudern, Rock anziehen, Socken. Wo ist mein T-Shirt? Wieder raus aus meinem Zimmer, auf der Geraden im Flur einen kurzen Zwischenstopp bei Lukas und Hannah einlegen, die Zimmertür zuziehen, damit sie noch ein paar Minuten Ruhe geben, und auf zum Endspurt Richtung Badezimmer. Oh nein, ein ungeahntes Hindernis!
Ich rutsche auf Lukas’ Hose aus, verliere fast das Gleichgewicht und kann mich gerade noch an der Wand abfangen. Der letzte Meter noch – geschafft!
Ich bremse vorm Waschbecken und nehme die Schmetterlingsfee aus ihrem Becher, um ihr Guten Morgen zu sagen. Ich habe immer eine Zahnbürste mit einer Schmetterlingsfee drauf. Die erste hat mir damals Onkel Hanno geschenkt. Vor dem Zähneputzen die Fee auf dem Griff kitzeln – das bringt Glück, hat er gesagt. Und Glück kann nicht schaden.
Habe ich bei Mama den Wecker richtig ausgemacht?
Hoffentlich schläft Lukas noch eine Weile.
Ist noch Milch im Kühlschrank?
»Brrrrruuummmm. Brrrruuumm. Alle weg, Straße frei.«
Mist – Lukas ist wach. Mit der Schmetterlingsfee im Mund mache ich drei Schritte auf den Flur, da stößt auch schon sein blauer Flitzer gegen meinen linken Fuß.
»Mach Platz, Straße frei!«
Lukas spielt mal wieder A8, weil Papa dort oft unterwegs ist. Er schiebt sein kleines Auto um meine Füße herum, wird aber kurz dahinter von seiner Hose ausgebremst.
»Brrrrmmmm. Brrrrmmmm«, macht er immer lauter.
»Pscht, Lukas. Hannah äft och.«
Beim Sprechen quillt links und rechts Zahnpastaschaum aus meinem Mund. Ich muss grinsen, laufe schnell ans Waschbecken und spucke den Rest aus. Der Schaum läuft langsam den Rand runter. Rosa Schaum. So rosa wie der Rucksack von Frau Wolfgramm. Mist! Wir haben heute die erste Stunde bei Frau Wolfgramm. Ich spüle meinen Mund schnell aus, stelle die Schmetterlingsfee in ihren Becher zurück, da piepst in meiner Rocktasche mein Handy.
Bin am Gutknecht.
Schon? Dann ist Mathis bald da. Immerhin steht er nicht mehr plötzlich im Hof, sondern schickt inzwischen Vorwarnungen. Er meint ja, damit ich keine Panik kriege, dass wir zu spät zur Schule kommen. Aber eigentlich hat er keine Lust unten ewig auf mich zu warten. Da bin ich mir so sicher wie Mama bei den Puddingteilchen.
»Ich will Kakao!!!« Lukas hat es mit seinem Flitzer um die Hose im Flur geschafft und ruft aus der Küche. Ich wische mir mit der Hand über den Mund und rufe halblaut zurück: »Ich komme ja!«
»Emely, Kakao!«, ruft er noch einmal.
»Lukas, sei leise, Hannah wird sonst wach.« Lukas ist fast vier – und kann echt nerven. Vor allem, wenn er Hunger hat und Kakao will.
Als ich in die Küche komme, sitzt er unter dem Tisch und macht dort mit seinem Auto Geländefahrten über Zeitungen, eine Keksschachtel und Kuscheltiere. Auf dem Tisch liegt ein Zettel von Papa:
Ich wünsche euch einen schönen Tag.
Hab euch lieb.
Papa
Er musste früh los.
Bbbbrrrr, ffflusch, dong – der blaue Flitzer knallt mit Karacho gegen ein Tischbein.
»Komm raus, Lukas!« Ich beuge mich unter den Tisch, packe ihn am Arm.
»Lass mich.« Er zieht seinen Arm zurück. Ich halte ihn fest.
»Los, komm! Es gibt ja gleich Kakao.«
Ich ziehe ihn unter dem Tisch hervor, drücke ihn auf einen Stuhl, streiche ihm kurz durchs Haar. Aus dem Kühlschrank hole ich die Milch und gieße sie in einen Becher. Es reicht nur für halb voll. Aber Lukas gibt Ruhe.
Auf Zehenspitzen gehe ich in das Zimmer von Hannah und Lukas, öffne leise die Schublade der Kommode und angele ein frisches T-Shirt für Lukas raus. Ein kurzer Blick auf Hannah. Sie liegt ruhig in ihrem Bettchen. Ich schleiche wieder raus, gucke im Flur auf das T-Shirt in meiner Hand und muss grinsen: Ich habe das Superman-T-Shirt erwischt. Lukas als Superman – das wäre die Lösung!
»Mama?«
Es hat geklappert.
Fast so, als wäre sie im Bad.
Aber im Badezimmer ist niemand. Ich drehe mich um und sehe durch die angelehnte Schlafzimmertür Mamas Locken auf dem Kissen. Es war Hannah, die geklappert hat. Als ich wieder ins Kinderzimmer komme, sitzt sie im Schlafsack in ihrem Gitterbettchen und spielt an den Stäben.
»Na, meine Süße. Gut geschlafen?« Sie strahlt mich an und streckt mir ihre Arme entgegen. Ich hebe sie hoch, gebe ihr einen Kuss, reibe meine Nase an ihrer weichen Haut. Hannah strampelt in ihrem Schlafsack und spielt an meinen Haaren.
»He, wir können nicht spielen. Es geht zum Wickeln, Kleine.« Ich klemme mir Hannah, das Superman-T-Shirt und ein Kleid unter den Arm und ab geht’s ins Bad. Hannah brabbelt beim Wickeln fröhlich vor sich hin. Sie ist supergut gelaunt. Als ich den letzten Knopf an ihrem Kleidchen zumache, pfeift es unten. Mathis hat einen neuen Geschwindigkeitsrekord aufgestellt! Ich reiße das Fenster auf: »Mathis, noch drei Minuten!« Er guckt hoch und streckt einen Daumen in die Luft. Dann sehe ich ihn nicht mehr. An dem Gerüst am Haus hängt zum Teil Abdeckfolie. Sie flattert leicht im Wind.
Habe ich gerade drei Minuten gesagt? Okay! Ich nehme Hannah, setze sie auf den Boden, drücke ihr zum Spielen ihr Badewannen-Krokodil in die Hand, laufe in die Küche. »Lukas, komm Zähneputzen!« Er rutscht vom Stuhl und will unter den Tisch krabbeln. Ich schnappe ihn, bringe ihn ins Bad. Vor dem Waschbecken hampelt er herum und erzählt mir was von seinem Flitzer.
»Lukas, mach schon.« Ich drücke ihm seine Zahnbürste in die Hand, stelle mich hinter ihn, beobachte ihn im Spiegel. Er schrubbt brav hin und her. Ich nehme die Bürste von der Ablage, fahre damit durch meine Haare und lasse Lukas nicht aus den Augen. Auf dem Boden erzählt Hannah dem Krokodil Geschichten.
»Ist okay, gut geputzt.« Ich ziehe Lukas das T-Shirt über den Kopf. Superman kommt mir mit gestreckter Faust entgegen, sein roter Umhang weht. Stark sieht er aus. Unbesiegbar.
Wann braucht man Superkräfte?
A: im Schlaf
B: beim Zähneputzen
C: mit kleinen Geschwistern
»Mama, ich gehe jetzt.«
Keine Reaktion.
»Lukas geht gleich mit Nico in den Kindergarten und ich bringe Hannah in die Krippe.«
Ihre Bettdecke hebt und senkt sich.
Ich lausche, höre Mamas Atem, sonst ist es still.
»Du kannst ruhig noch liegen bleiben.«
Durch die offene Zimmertür fällt Licht auf das Silberpapierchen am Boden. Es glitzert leicht.
Von unten pfeift es noch mal. Diesmal lauter. Diesmal auf vier Fingern.
Ich ziehe die Schlafzimmertür zu.
Ein Stockwerk tiefer klingle ich bei Soukmans.
»Guten Morgen, Frau Soukman, können Sie Lukas vielleicht …«
Frau Soukman nickt. »Guten Morgen, ihr drei«, sagt sie und wuschelt Lukas durchs Haar. Da kommt auch schon Nico und zieht ihn in die Wohnung.
»Bis später«, rufe ich Lukas hinterher.
Er reagiert nicht mehr.
»Danke«, sage ich leise zu Frau Soukman.
»Kein Problem.« Sie lächelt mich an. »Nico freut sich immer sehr.«
Ich sprinte mit Hannah die Treppe weiter runter – so gut man sprinten kann mit einer kleinen Schwester an der Hand.
»Hi, Yleme!«, ruft mir Mathis im Hof entgegen. Er hängt grinsend über seinem Fahrradlenker.
»Was?«, frage ich kurz und schließe mein Rad auf.
»Emely. Rückwärts – Yleme. Bei Hannah ändert sich nichts. Hannah – vorwärts, Hannah – rückwärts.« Mathis guckt Hannah an, zieht Grimassen und bringt sie zum Lachen. Sie rollt auf ihrem Laufrad zu ihm und erzählt ihm irgendwas.
»Interessant«, sagt er und zuckt mit den Schultern.
Ich muss grinsen.
»Guten Morgen!«, ruft uns jemand zu. Wir drehen uns um. Einer der Männer, die am Haus arbeiten, kommt in den Hof. Er winkt und klettert aufs Gerüst.
»Was wird eigentlich an eurem Haus gemacht?«, fragt Mathis.
»Irgendwas an der Fassade.«
»Echt? Sieht doch noch voll gut aus!«
Mathis dreht sich noch mal um und begutachtet die Hauswand. Ich schiele auf meine Armbanduhr und schiebe mein Rad etwas schneller.
»Wir gehen über den Spielplatz, okay?«
»Kein Stress«, murmelt Mathis. Er macht hinter mir weiter Quatsch mit Hannah, sie kommt auf ihrem Laufrad kaum mit.
An der Kreuzung biege ich auf den Spielplatz ab. Der Weg spart fünf Minuten und wenn man am Klettergerüst vorbei ist, kann man die Kirchturmuhr sehen. Zwei große Schritte noch, ich gucke auf die großen Zeiger, schiebe mein Rad noch schneller.
»Emely, Frau Wolfgramm ist doch voll entspannt«, ruft Mathis. »Und Mathe für dich kein Problem.«
»Trotzdem.«
»Na, los«, höre ich Mathis zu Hannah sagen. »Wir sind heute zwei Wiesel, die sind superschnell.« Ihre Füße tapsen schneller auf den Boden, die beiden holen auf.
Nach zwei weiteren Ecken sind wir an der Krippe. Svenja, eine der Erzieherinnen, wartet schon auf Hannah. Durch die Luft werfe ich Hannah einen Kuss zu: »Tschüss, meine Kleine. Viel Spaß!« Als ich mich umdrehe beugt sich Mathis über seine Lenkstange und dreht seine rechte Hand um den Griff.
»Wrrrrroooommmm.« Er tut so, als würde er auf einem schweren Motorrad sitzen und Gas geben. »Los, Yleme! Noch vier Minuten. Wrrrrroooommmm.«
Ich schwinge mich auf mein Rad, drehe einmal kurz am Griff – Wrrroomm – und trete in die Pedale. Wir machen richtig Tempo, schaffen es gerade so mit dem letzten Klingeln ins Klassenzimmer und lassen uns auf unsere Plätze fallen.
»Geht doch«, sagt Mathis und grinst mich an.
Wie wird man ein Chamäleon?
»Guten Morgen!« Mit federnden Schritten kommt Frau Wolfgramm ins Klassenzimmer. Auf ihrem Rücken wippt der kleine zahnpastafarbene Rucksack.
»Guten Morgen«, murmeln wir zurück.
Ich rutsche auf meinem Stuhl langsam nach unten, versuche hinter Sibels Rücken zu verschwinden. Sibel hat heute ihren Pullover mit den breiten Streifen an. Grüne, pinke und gelbe Streifen – schön bunt und schön breit. Und ich habe mein dunkelblaues T-Shirt erwischt! Dunkelblau hinter bunten Streifen. Ein Chamäleon müsste ich sein.
»Emely?«
Ich zucke zusammen. Wir waren ganz sicher vor ihr im Klassenraum! Vorsichtig schaue ich hinter Sibels Rücken hervor.
»Ja?«
Frau Wolfgramm zeigt ans Board. »Kannst du den Rechenweg von Aufgabe 3 erklären?«
Ich schiebe mich auf meinem Stuhl hoch. Sie ist noch bei den Hausaufgaben! Aus meinem Mund strömt die angestaute Luft.
»Ja, klar«, sage ich.
Ich merke, dass Mathis kurz zur mir rüberguckt. Er ist froh, dass er nicht drangenommen wurde.
Es klingelt zur kleinen Pause, ich packe gerade meine Stifte zusammen, da kommt Frau Wolfgramm auf mich zu. Wir waren pünktlich, ich habe die Hausaufgaben gemacht, was will sie noch? Ich konzentriere mich auf meine Stifte, der grüne, der blaue, der rote. Frau Wolfgramm bleibt bei Adnan stehen. Mein Kiefer entspannt sich. Ich packe den schwarzen Filzstift ein, vom gelben fehlt die Kappe – plötzlich erstarre ich. Vor meinem Tisch stehen Schuhe. Die Schuhe von Frau Wolfgramm. Mein Herz klopft schneller. Meine Gedanken rotieren.
»Die ist fast bis nach vorne gerollt,« höre ich Frau Wolfgramm sagen, während sie die Kappe vom gelben Filzstift vor mich auf den Tisch legt. Ich gucke hoch, hole Luft, in meinem Brustkorb wird es leicht. »Und die Aufgabe hast du gut gelöst«, sagt sie noch, lächelt mir zu und geht zu Lena. Ich schaue ihr nach – und lächele ins Leere.
In Biologie geht es heute um wilde Tiere in Deutschland, Luchse und Wölfe und so. Herr Schneider erzählt vom Wolf und den Wölfen und dem Luchs und – da ruft Mathis dazwischen: »Ich finde Lüchse schöner.«
Lena kichert, die Schultern von Sibel vor mir beben.
»Luchse«, sagt Herr Schneider. »Es heißt Luchse, Mathis. Außerdem sollst du dich melden.«
»Wieso? Voll unlogisch«, mault Mathis.
»Das ist nicht unlogisch, sondern die Regel. Alle melden sich«, sagt Herr Schneider leicht genervt.
»Voll unlogisch«, sagt Mathis, »es heißt Wolf und Wölfe. Also warum nicht Luchs und Lüchse?«
Ich muss grinsen. Das klingt nach einer typischen Mathis-Diskussion, da kann man nur den Kürzeren ziehen.
Alima beugt sich zu mir rüber. Ihre Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, die Spitzen hat sie vor ein paar Tagen grün gefärbt. Sieht cool aus. »Schreib’s auf, für deine Fragensammlung«, flüstert sie.
Wie heißt die Mehrzahl von Luchs?
A: Lüchse
B: Luchse
C: Luchsen
»Gute Idee«, flüstere ich zurück, nehme einen Stift und male ein wildes Gekrakel aus Strichen und Kreisen in mein Heft – einfach damit ich was in mein Heft male. Alima weiß ja nicht, dass es bei uns jetzt anders ist. Ich hab so viel Fragen auf meiner Liste – die reichen für mindestens zehn Quizshows. Oder für eine ganz lange Mega-Quizshow, die in der ersten Schulstunde anfängt und abends, wenn die echte Quizshow im Fernsehen kommt, immer noch nicht vorbei ist. In so einer Mega-Quizshow gäbe es auch einen Mega-Silberregen für den Gewinner. Von der Decke würden Millionen silberne Papierchen fallen. Es würde glitzern und funkeln, als würden alle Sterne des Universums über dem Gewinner leuchten. Auch Silberpapierchen hätte ich dafür genug.
Herr Schneider hat die Diskussion mit Mathis irgendwie beendet und zeigt uns am Board Bilder von Wölfen. Er erklärt uns, welche Tiere sie reißen, wenn sie hungrig sind. Ich muss an die leere Milch denken.
»Psst«, zische ich zu Mathis rüber. Ich will ihm sagen, dass er nach der Schule alleine heimfahren muss. Er grummelt aber vor sich hin und kriegt nichts mit. »Psst«, zische ich noch mal leise, aber nicht leise genug. Herr Schneider wirft mir einen seiner Blicke zu. Schnell ducke ich mich hinter Sibels bunte Streifen. Karl hat alles mitgekriegt und als sich Herr Schneider wieder zum Board dreht, tippt er Mathis an. Endlich schaut er mich an.
Ohne Worte sage ich: »Muss noch zum Gutknecht.«
Ich hoffe, dass Mathis besser Lippen lesen kann als zeichnen, Mathe oder Deutsch, aber er zuckt nur mit den Schultern. Ich versuche es noch einmal. Mathis verzieht seinen Mund und schneidet Grimassen. Keine Chance. Zum Glück klingelt es bald, ich packe meine Sachen in den Rucksack, schiebe Amir etwas aus dem Weg, sage Alima Tschüss und drängle mich neben Mathis aus der Tür. »Mathis, ich muss beim Gutknecht vorbei.«
»Ach so, sag das doch gleich.« Er grinst mich an. »Kein Problem, ich komme mit.« Seine Augen leuchten. Er dreht sich um, klatscht sich mit Karl ab und rennt schon den Flur runter. »Emely, los komm!«
Ich weiß genau, warum er mitkommt. Er hofft auf Gummibärchen.
Kurz hinter dem Schulhof biegen wir mit den Fahrrädern ab, auf den Weg am Bach entlang. Dort fahren keine Autos, es geht an Gärten vorbei und wo der Kies aufhört und das Gras anfängt, blühen rote und gelbe Blumen, die süß duften. Der Bach plätschert vor sich hin, manchmal schlägt er kleine Wellen, und wenn Mathis mal still ist, hört man Mücken surren, Hummeln brummen und den Wind. Bei Sonnenschein ist der Weg am Bach ein einziges frisches Gefühl – wie in unserem letzten Urlaub in Kroatien.
Für Mathis ist der Weg jedes Mal eine Übungsstrecke für Kunststücke auf dem Fahrrad. Auch heute fährt er mal freihändig, mal im Stehen oder streckt im Rollen ein Bein raus. Er will ein eleganter Kunstradfahrer sein. Aber Kunst ist nicht so sein Ding, deshalb sieht er einfach aus wie ein Radfahrer, der ein krummes Bein rausstreckt.
Ich muss lachen und rufe: »Applaus, Applaus.«
»Emely, man lacht nicht über große Künstler«, beschwert er sich von vorne. Er versucht sein Bein noch höher zu strecken, sein Rad kommt in Schieflage und alles wackelt. »Ohhhhh, verdammt«, flucht er und springt ab.
