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Die Reise mit dem Segelschiff wird für die beiden Brüder Geronimo und Nikolai zum Abenteuer ihres Lebens. Statt bekannten Küstenlinien entlang zu segeln und in der Abendsonne genüsslich einen Drink zu schlürfen finden sie sich plötzlich in dem ihnen unbekannten Land Silberwasser wieder. Die faszinierende neue Welt mit einer unglaublichen Tierwelt wird überschattet von einem dunklen Geheimnis, welches das harmonische Leben der drolligen Einwohner zu zerstören droht. Gemeinsam machen sie sich auf, der drohenden Gefahr ein Ende zu setzen. Dabei setzen sie ihr Leben gleich mehrmals aufs Spiel und wissen nie, ob ihre Kräfte und ihr Verstand reichen, um ihr Ziel zu erreichen.
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Seitenzahl: 264
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Epilog
„Willst du noch mehr?“, fragte Geronimo seinen Bruder Nikolai, der soeben gedankenverloren den letzten Bissen Kartoffelstock in seinen Mund geschoben hatte. Die Frage drang nicht bis an sein Ohr, sondern wurde von einer angenehm kühlen Brise auf das offene Meer hinausgetragen. Nicht einmal die gellenden Schreie der Möwe, die auf dem Hauptmast von ihrem Segelboot sass, konnten Nikolai aus seinen Gedanken reissen. Erst als Geronimo mit einer dampfenden Tasse Espresso aus der Kombüse auf das Deck zurückkehrte, kam Nikolai mit seinen Sinnen in die Gegenwart zurück.
„Hast du mich gerade etwas gefragt?“, wollte er wissen, doch Geronimo winkte ab. „Trink deinen Kaffee, bevor er kalt wird.“ Schweigend sassen sie auf ihrem friedlich dahingleitenden Segelboot und genossen die letzten Strahlen der Sonne, die wie eine Feuerkugel langsam im Ozean zu versinken schien.
„Das Segelboot war definitiv das beste Geschenk, das uns unsere Eltern je gemacht haben.“
„Und wahrscheinlich auch das teuerste!“, erwiderte Nikolai mit einem verschmitzten Lächeln. Er war es gewesen, der den Vorschlag von einer längeren Reise auf dem Wasser gemacht hatte. Ursprünglich hatte er sogar die Idee gehabt, auch seine Eltern auf das Abenteuer mitzunehmen. Sein Dad war sofort Feuer und Flamme gewesen bei der Vorstellung, dass er wochenlang von den Früchten des Meeres leben würde, doch die Mutter war nicht zu überzeugen gewesen, da sie weder ihre Töpferscheibe noch ihre Katzen hätte mitnehmen können. Lange Reisen waren ohnehin nie ihr Ding gewesen.
Natürlich war das Segelboot nur ein günstiges online Schnäppchen von einem alten, klapprigen Kahn gewesen, aber nach stundenlangen Renovationsarbeiten, bei denen mit liebevollen Details nicht gespart wurde, konnte es die Seeschwalbe mit jedem neuen Boot aufnehmen. Nikolai strich sanft über den gebürsteten Altholztisch. „Es hat sich gelohnt; das kann ich jetzt schon sagen, auch wenn erst knapp eine Woche verstrichen ist, seitdem wir in See gestochen sind.
„Ich bin müde“, sagte Geronimo gähnend und verschwand nach einer brüderlichen Umarmung im Bauch der Seeschwalbe. Nikolai blieb noch eine Weile länger sitzen und liess seine Gedanken in seine Kindheit zurückschweifen. Sie hatten ein gutes Zuhause gehabt. Das wusste er zu schätzen, denn viele seiner Freunde sassen auf einem riesigen Scherbenhaufen aus Streit, Scheidung, Armut und Alkoholmissbrauch. „Eigentlich erfasst das Wort Ungerechtigkeit in keiner Weise die Tiefe seiner Bedeutung in der realen Welt“, dachte er. Ihm wurde zugleich warm und kalt um sei Herz, denn einerseits freute er sich über seine gesunden Wurzeln, die auf fruchtbarem Boden in die Tiefe wachsen konnten, anderseits aber fühlte er mit all denjenigen, deren Leben auf Hass, Lügen und Lieblosigkeit bauten.
Bevor er zu stark von seinen Gedanken eingenommen werden konnte, erhob auch er sich, räumte die beiden Espressotassen ab und stellte sie auf die Küchenablage zu all dem anderen schmutzigen Geschirr, das darauf wartete, abgewaschen zu werden.
„Aufwachen, du Faulpelz“, raunte Geronimo seinem Bruder am nächsten Morgen gut gelaunt und ausgeschlafen ins Ohr. „Heute ist Putztag, also packen wir es an!“
Nikolai zog sich erst einmal die Daunendecke über beide Ohren und entzog sich der Realität des neuen Tages. Immerhin war es eine Ferienreise. Da konnte die Arbeit problemlos noch ein paar Minuten länger warten. Er versank erneut in einen oberflächlichen Schlaf, in welchem er von singenden Delfinen, Meerjungfrauen und brennenden Wassertropfen träumte.
Geronimo wusste genau, was in solchen Situationen zu tun war. Er gab seinem Bruder ein paar Minuten Gnadenfrist, bevor er mit einem Kübel Eiswürfel wieder in den Bauch der Seeschwalbe hinabstieg. Er hob die Daunendecke bei den Füssen ein kleines Bisschen an und schüttete die ganze Ladung der eiskalten Herrlichkeit über die nackten Füsse. Die Reaktion liess nicht lange auf sich warten. Ein verstrubelter Kopf mit zwei grossen, ungläubigen Augen schossen am anderen Ende der Koje in die Höhe und mit einem Satz war Nikolai auf den Beinen. Wortlos und mit einem bösen Blick stolzierte Nikolai an seinem Bruder vorbei. Er hätte ihn liebend gerne unter einer Schimpfworttirade begraben, aber eben, anständiges Sprechen war etwas, das ihm seine Eltern schon in jungen Jahren beigebracht hatten. Immer wenn er ungehobelte Wörter in seinen Mund nahm, hatte ihn die Mutter ermahnt, seine Wortwahl zu überdenken. Sein Dad hatte ihm manchmal auch kurzerhand ein kleines Stück Seife in den Mund gesteckt, wenn sonst nichts mehr half. „Da muss wohl wieder einmal eine angefaulte Zunge eingeseift werden“, pflegte er zu sagen, während er seinem Sohn verschmitzt zusah, wie er das Stück Seife schuldbewusst wieder ausspuckte und dann für längere Zeit im Badezimmer verschwand, um den ekligen Seifengeschmack loszuwerden.
Während Nikolai noch immer im Badezimmer weilte, hatte Geronimo begonnen, den Teig für frische Brötchen zu mischen. Schliesslich konnten sie auf hoher See nicht einfach schnell mal beim nächsten Bäcker vorbeischauen.
„Du knetest den Teig genau wie unsere Mutter es jeweils getan hat“, begrüsste Nikolai seinen Bruder in versöhnlichem Ton. „Es sieht aus, wie wenn du ein neugeborenes Kaninchenbaby mit deinen Fingern massieren würdest.“
Mit vorgetäuschter Entrüstung rechtfertigte Geronimo sein Werk. „Ich achte eben darauf, dass ich die Hefemoleküle nicht erwürge, damit der Teig dann auch schön aufgehen kann.“
Jetzt mussten beide losprusten, denn diese spontane Antwort kam ungewöhnlich überraschend. Ja, ihre Mutter hatte in ihrer Kindheit viel für sie getan. Sie hatte es geliebt, für sie zu stricken, zu kochen, zu waschen und mit ihnen kreative Dinge zu basteln. Aber am meisten schätzten die beiden Brüder natürlich diejenigen Dinge, die sie ihnen beigebracht hatte, damit sie auf eigenen Beinen stehen konnten. Dazu gehörte unter anderem auch das Brotbacken. So konnten sie nun, anstatt auf hartem Zwieback herumkauen zu müssen, jederzeit ihre eigenen frischen Brötchen geniessen.
„Also, dann wollen wir mal“, sagte Geronimo, während er versuchte, unter fliessendem Wasser den restlichen Teig von seinen Fingern zu waschen. „Ich bin dran mit Bad und Wäsche machen, du darfst derweilen das Deck schrubben und die Küche putzen.“
Nikolai nahm Bürste und Eimer aus dem Putzschrank und verschwand mit einer fröhlichen Melodie auf den Lippen auf dem Deck. „Wie gut wir uns doch verstehen“, freute sich Geronimo und machte sich daran, den grossen Wäschekorb zu leeren. „Wäre ich Erfinder, hätte ich längst Wäsche erfunden, die man nicht waschen muss“, murmelte er vor sich hin, während er die schmutzigen Kleider sortierte. Der Geruch von abgestandenem Schweiss zog wie ein unsichtbarer Nebelschwaden durch den engen Gang der Seeschwalbe. Geronimo packte den farbigen Haufen mit angehaltenem Atem und schob ihn in die kleine Waschmaschine, die auch heute wieder pflichtbewusst alle Flecken und unangenehmen Düfte wegzaubern würde.
Die sich drehende Waschtrommel hatte eine hypnotisierende Wirkung auf Geronimo. Während sein Blick scheinbar durch die Trommel hindurch in eine andere, unsichtbare Welt blickte, drehte sich das Rad der Zeit seiner Gedanken zurück in seine Kindheit. „Aufräumen, Bubu“, hörte er seine Mutter in unmissverständlichem Ton sagen, „morgen ist Sonntag.“ Auch wenn er es gehasst hatte, jede Woche einmal sein geliebtes Chaos in einen von der Mutter erfundenen Originalzustand zurückzuversetzen, war er heute sehr dankbar für ihre konsequenten Erziehungsmethoden.
Undenkbar, wenn er und sein Bruder auf dem engen Raum der Seeschwalbe nicht pingelig Ordnung halten würden. Trotz der klaren Regeln war ihre Kindheit aber auch ein Spielplatz der Freiheit für das Ausprobieren von immer wieder neuen Dingen gewesen. Ihre Eltern hatten Geronimo und Nikolai zwischendurch auch auf die Nase fallenlassen, damit sie ihre eigenen Grenzerfahrungen machen konnten. Aber sie waren immer sofort zur Stelle, um den Beiden die Tränen abzuwischen und ihnen ein heilendes Pflaster auf blutende Wunden zu kleben.
„Was läuft denn da Spannendes im Programm der Waschmaschine?“, kicherte Nikolai die Treppe hinunter.
Geronimo löste sich widerstrebend von den Erinnerungen der Vergangenheit und blickte auf zu dem dunklen Umriss seines Bruders mit Besen in der Hand. „Weisst du noch, als wir damals in den Ferien mit zwei Besenstielen unsere ersten Erfahrungen mit Schwertkämpfen gemacht hatten? Genau so hast du jeweils am Ende des Kampfes ausgesehen: Während du dich kaum mehr am Besenstiel halten konntest, habe ich als Sieger zum finalen Stoss ausgeholt.“ Bei diesem Gedanken schwoll seine Brust unmerklich an, doch er hatte nicht mit der Reaktion seines Bruders gerechnet.
„Nimm dir einen Besen und triff mich in fünf Minuten auf Deck. Ich werde dir zeigen, wer hier der Schwertkönig ist.“ Ohne ein weiteres Wort gab er den Türrahmen wieder frei und liess dem gleissenden Sonnenlicht freie Bahn in den Schiffsbauch.
Mit zugekniffenen Augen fragte sich Geronimo, warum er bloss sein Plappermaul nicht hatte halten können. Natürlich war er mit neun Jahren seinem Bruder in Geschick und Kraft überlegen gewesen. Doch jetzt sah das ganz anders aus. Die unzähligen Stunden im Kraftraum und die Wachstumsgene von Dads Seite hatten Nikolai zu einer hünenhaften Figur anwachsen lassen, gegen die Geronimo nicht den Hauch einer Chance haben würde in einem Schwertkampf. Es würde ein aussichtsloser Kampf werden wie bei David und Goliath, bloss dass diesmal der Ausgang der biblischen Geschichte neu geschrieben werden würde zugunsten von Goliath.
„Hätte ich doch bloss gesagt, dass er im Licht der Sonne aussieht wie ein Superbunny. So hätte er mich wenigstens zu einem ebenbürtigen Duell herausfordern können.“ Noch vor ihrer Schulzeit hatten Geronimo und Nikolai mit zwei süssen Stoffhasen immer wieder neue Geschichten erfunden. Weil dabei die Hasen stets die Helden gewesen waren, waren sie irgendeinmal ganz zuoberst in die Hierarchie der Kampfhasen aufgestiegen und so zu Superbunnies geworden.
Geronimo wollte um jeden Preis einen Schwertkampf mit seinem Bruder vermeiden. Fieberhaft überlegte er, wie er sich vor seiner sicheren Niederlage drücken konnte, als ihm die Büchse mit den frisch gebackenen Brownies einfiel. „Brownies konnte Nikolai noch nie widerstehen“, frohlockte Geronimo, ergriff die Büchse und einen Besen, um sich dann vorsichtig nach oben zu wagen.
Wie eine furchteinflössende Gallionsfigur stand Nikolai ganz vorne am Bug mit gezücktem Besenstiel. „Möge der Kampf beginnen!“ Selbstsicher donnerten seine Worte über die Seeschwalbe und liessen Geronimo zusammenzucken.
„Lieber Bruder, o heldenhafter Kämpfer“, setzte er in leicht gebückter, demütiger Haltung zögernd an, um sogleich von einer weiteren Welle der Herausforderung überrollt zu werden. „Was ist, willst du nun kämpfen oder lieber mit Brownies nach mir werfen?“ Während Geronimo für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte, schnappte Nikolai japsend vor Lachen nach Luft.
„Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass ich gegen meinen schwachen Bruder das Schwert erheben werde?“, prustete Nikolai von neuem los und stellte seinen Besen an die Reling.
Langsam löste sich die Schockstarre bei Geronimo. Flink griff er in die Keksdose und warf nun tatsächlich ein Brownie nach seinem Bruder. Dieser fing es geschickt auf und steckte es sich genüsslich in den Mund.
„Danke mein Bruderherz. Ich nehme gerne noch ein zweites.“ Mit diesen Worten fielen sie sich in die Arme und klopften sich mit brüderlicher Liebe auf den Rücken. „Komm, wir setzen uns doch einen Moment und geniessen deine exquisiten Brownies.“
Das Geheimrezept hatte ihm seine Mutter verraten. Immer wenn sich Schokolade in der Vorratskammer aufgetürmt hatte, die niemand wirklich mochte, hatte sie daraus die besten Brownies des ganzen Universums gezaubert. Aber es war nicht das einzige Rezept, das den beiden Brüdern von ihren Eltern mitgegeben worden war. Sie hatten nicht nur die kulinarischen Feinheiten des Lebens, sondern auch die zwischenmenschlichen Rezepte für gute Beziehungen mitbekommen. Es war den Eltern immer ein zentrales Anliegen gewesen, dass ihre Söhne zu anständigen jungen Männern heranwachsen würden, deren Haltungen und Werte in gesundem und fruchtbarem Boden verwurzelt sein sollten. Und genau das war ihnen gelungen. Geronimo und Nikolai wussten sich stets vorbildlich zu benehmen, und wenn es dann doch einmal zu einem Streit kam, dauerte es nicht lange, bis einer der beiden seine Hand zum Frieden ausstreckte.
„Die Brownies sind dermassen gut, dass sie mir beinahe den Verstand rauben. Vor meinem inneren Auge sehe ich einen rosafarbenen Nebel“, träumte Nikolai halblaut vor sich hin.
In diesem Moment packte ihn Geronimo am Arm und riss ihn zurück in die Gegenwart. „Das ist kein Nebel vor deinem inneren Auge! Schau doch genau hin!“, rief Geronimo und sprang mit einem Ruck auf seine Beine. „Der Nebel ist echt.“
Inzwischen hatte der Wind wieder eingesetzt, so dass sie dem rosafarbenen Nebel rasch näher kamen. Durch den trüben Schleier hindurch schimmerte ein furchteinflössender und immer grösser werdender Schatten, der unaufhaltsam näher kam. Für eine schnelle Halse war es zu spät, einzig durch das Reffen des Hauptsegels konnte Geronimo die Seeschwalbe verlangsamen, aber es war schon zu spät. Sie wurden von einer starken Strömung erfasst, die sie wie ein Magnet erbarmungslos gegen den schwarzen Schatten zog. Und dann plötzlich erkannten sie, worauf ihr Schiff Kurs genommen hatte.
Mit vereinten Kräften versuchten sie die Seeschwalbe von dem drohenden Unheil wegzusteuern. Doch die Kraft der Strömung war inzwischen so stark geworden, dass das Schiff unkontrollierbar wie eine Nussschale auf den Wellen tanzte.
Sie hielten sich krampfhaft an der Takelage fest und starrten wie versteinert auf das riesige schwarze Nichts, das sich direkt vor ihren Augen auf der Meeresoberfläche aufriss. Der dunkle Schlund starrte ihnen mit einem hämischen Grinsen entgegen, als ob er sagen wollte: „Euer Ende ist gekommen!“ Die Seeschwalbe war nun komplett den Fängen des sich immer schneller drehenden Strudels ausgeliefert. Nikolai löste sich als erster aus seiner Erstarrung und schrie seinem Bruder durch das Tosen des Wassers zu: „Binde dich mit einem Seil am Schiff fest, damit du nicht über Bord geschleudert wirst.“ Er selbst fesselte sich behelfsmässig an den Hauptmast. So würde er wenigstens zusammen mit seinem geliebten Schiff untergehen.
Plötzlich hörte Nikolai durch das Brausen des Wassers, wie sein Bruder mit kräftiger Stimme ein Loblied anstimmte: „Lord I lift your Name on high…“. Sein Bruder hatte schon immer einen starken Glauben gehabt, aber dass es ihm gelang, sogar in dieser ausweglosen Situation Gott zu preisen, hätte Nikolai nicht für möglich gehalten.
„Lord I want to sing You praises…“, stimmte er nun mit ein, obwohl das Tosen der aufspritzende Gischt inzwischen jeglichen menschlichen Laut verschluckte. Während sie ihr Loblied aus voller Kehle in den Himmel schrien, zog sie der Strudel immer tiefer in das dunkle Nichts. Konnte es wirklich sein, dass Gott die beiden jungen Abenteurer zu sich rief, ohne ihnen die ganze Fülle eines reichen und langen Lebens gegeben zu haben?
Langsam versank die Seeschwalbe in den unergründlichen Tiefen des Nichts; zuerst der Rumpf, gefolgt von den beiden Segeln und dann der Spitze des Masts, an dem sie eine Flagge mit einer Seeschwalbe als Zeichen der Freiheit befestigt hatten.
„Viel zu jung von den unergründlichen Tiefen des Meeres in die Ewigkeit gespült“, erschien Geronimo der Text seines eigenen Leidzirkulars vor seinem inneren Auge. „Ja, wirklich viel zu jung“, seufzte er und blickte zu seinem Bruder. Dieser starrte mit weit aufgerissenen Augen in den Abgrund, schien aber eher Neugierde als Todesangst auszustrahlen. Da er sich etwas erhöht am Hauptmast angebunden hatte, hatte er den besseren Überblick über die Geschehnisse als Geronimo, der sich in letzter Sekunde zwischen zwei massiven Aufbewahrungskisten gezwängt hatte und nun in dem Strudel mit dem ganzen Oberkörper in die enge Lücke gequetscht worden war. Geronimo fühlte sich wie ein Kleidungsstück im alten Wäschetrockner seiner Mutter, mit dem Unterschied, dass er dabei klitschnass wurde von den Wassermassen, die sich inzwischen über das ganze Deck ergossen. Er konnte es kaum glauben, dass sein Bruder in dieser aussichtslosen Lage mit solch stoischer Ruhe in die Tiefe blicken konnte.
Nikolai hatte allen Grund, das wilde Geschehen um ihn herum zu vergessen, denn was sich da vor seinen Augen auftat, hatte er noch nie vorher auch nur in annähernder Ähnlichkeit gesehen. Ein unbeabsichtigtes „What the…“ entwich seinem Mund beinahe lautlos. Dabei löste sich die in ihm aufgestaute Angst vor dem Tod in Luft auf. Das böse F-Wort blieb ihm im Hals stecken, was wohl damit zu tun hatte, dass sein Vater ihm lange genug immer wieder eine Predigt über Sinn und Unsinn von solchen sprachlichen Verstärkern gehalten hatte, sobald dieses Wort sich im Wohnzimmer manifestierte. „Auch wenn es nicht wirklich ein Fluchwort ist“, pflegte er seine langfädigen Ausführungen zu beenden, „hast du das wirklich nicht nötig, mein Sohn.“ Wahrscheinlich aber hätte sogar sein Vater, wäre er in der gleichen Situation gewesen wie seine Söhne jetzt, einen oder gar mehrere sprachliche Verstärker gebraucht, um die Situation in Worte zu fassen.
Oder aber er wäre ganz verstummt. So wie das Tosen und Brausen auch ganz plötzlich verstummte. Wie von einem unsichtbaren Fallschirm getragen glitt die Seeschwalbe in eine Welt hinein, die Nikolai völlig vergessen liess, dass er gerade noch mit dem sicheren Tod gerungen hatte. Nun entfuhr auch dem eingeklemmten Geronimo ein „What the…“, das die Stille wie ein Küchenmesser zerschnitt. Aber auch er hatte gelernt, das böse dritte Wort zu verschlucken und stattdessen die künstliche Pause als Verstärker wirken zu
Immer noch eingepfercht wie eine Sardine in der Büchse beschloss er, sich erst einmal aus seiner misslichen Lage zu befreien. Doch der ruppige Ritt durch den Strudel hatte ihn dermassen zwischen die beiden Kisten gequetscht, dass er nur noch seinen Kopf und seine Zehenspitzen bewegen konnte.
Plötzlich tauchte ein Schatten über ihm auf, der ihn das Schlimmste befürchten liess. Doch als er seinen Kopf nach hinten kippte, blickte er erleichtert in das kecke Grinsen seines Bruders. „Na, wolltest du herausfinden, wie viel Fleisch man in diese Ritze stopfen kann?“
„Blödmann, hilf mir besser aus meiner misslichen Lage“, schmollte Geronimo zwischen den beiden Kisten hervor. Mit einem kräftigen Ruck an beiden Armen und einem unterdrückten Schmerzensschrei war Geronimo frei. Seine Lippen formten sich zu einem „Danke“, während er gierig seine Lungen mit frischer Luft füllte und dazu seine schmerzenden Gelenke massierte. „Das war vielleicht ein Abenteuer“, murmelte er leise, doch Nikolais ganze Aufmerksamkeit galt der neuen Welt, die sich vor ihren Augen öffnete. Weit unter der Seeschwalbe dehnte sich eine goldglänzende Ebene aus, die in der Ferne von undefinierbaren Schatten umsäumt wurde. Über ihnen erstreckte sich eine Art türkisfarbener Himmel, an dessen Oberfläche mehrere Lichtquellen wie überdimensionale Leuchter hingen. „Unter dem Meer ist über dem Meer?“ Staunend sog er jedes Detail wie ein ausgedörrter Schwamm in sich auf und konnte sich kaum sattsehen an den kräftigen Farben, welche die neue Welt wie ein Bild von van Gogh leuchten liessen.
Geronimo interessierte sich indessen mehr für das langsame Hinabgleiten der Seeschwalbe als für die Farbenpracht, in welche sie eingetaucht waren. „Warum bloss fallen wir nicht wie ein Stein nach unten?“, fragte er in Gedanken seine wissenschaftlich interessierte Seite. Sein Vater würde jetzt bestimmt irgend eine surreale Geschichte erfinden über eine ganze Armee von durchsichtigen, fliegenden Schnecken, welche sich wie Saugnäpfe an die Seeschwalbe angeheftet hatten, um diese mit zarten Flügelschlägen vor dem freien Fall zu retten. „Wahrscheinlich ist die Anziehungskraft hier weniger gross“, mutmasste er, obwohl er wusste, dass dies nicht stimmen konnte, denn wenn er in die Luft sprang, glitt er nicht etwa langsam wieder zurück auf die Seeschwalbe, sondern spürte die genau gleiche Anziehungskraft wie immer. Unbewusst liess Geronimo seine Hand über die Reling gleiten um die durchsichtigen, fliegende Schnecken zu ertasten. Sofort zog er seine Hand zurück. Nein, es musste eine andere Erklärung geben, auch wenn er sie selbst nicht geben konnte.
„Es ist unglaublich schön hier“, haucht Nikolai in die Stille hinein, während seine Hirnzellen auf Hochtouren versuchten, aus den ungewöhnlichen Daten, die ihm von seinen Augen übermittelt wurden, Sinn zu machen. Immer noch befand sich die Seeschwalbe im sanften Sinkflug mit Kurs auf eine neue Welt, die entdeckt werden wollte. Diese neue Welt empfing die beiden Brüder mit einer geheimnisvollen, jedoch nicht unfreundlichen Ruhe, welche sie mit einem angenehmen Flüstern zu begrüssen schien.
„Schau mal, das sieht aus wie ein Meer aus Ahornsirup“, sagte Geronimo fasziniert zu seinem Bruder, als die Seeschwalbe leicht wie eine Feder auf der goldglänzenden Flüssigkeit aufsetzte. Vorsichtig tunkte er seinen kleinen Finger in eine der tanzenden Wellen, die sich an der Schiffsseite graziös vorbeibewegte. „Schmeckt wie eine Mischung aus Ahornsirup, Apfelschorle und Rosenwasser, ergänzt mit einem Hauch von Erdnussbutter.“
Nach dieser Beschreibung wollte auch Nikolai den köstlichen Geschmack auf seinen Lippen spüren. Ihm genügten aber nicht ein paar Tropfen am kleinen Finger, sondern er legte sich gleich flach auf seinen Bauch, damit er sich die leicht klebrige Flüssigkeit mit beiden Händen zu seinem Mund schöpfen konnte. Nach dem ersten Zusammentreffen des köstlichen Nass mit den Geschmacksknospen auf Nikolais Zunge hielt er einen Moment verzückt inne, um dann gleich wieder mit beiden Händen weiterzumachen.
„Hei, du kleiner Säufer, mach mal Pause!“, lachte Geronimo bei dem erbärmlichen Anblick seines Bruders, der wie ein Wasserrad im Schnellgang die goldglänzende Flüssigkeit in sich hineinschaufelte. „Lass noch ein bisschen von dem süssen Wasser übrig für unsere Weiterfahrt.“
Jetzt musste auch Nikolai lachen und verschluckte sich dabei hustend an dem letzten Schluck. „Du hast natürlich recht. Lass uns die Segel wieder richten, um dann die neue Welt zu erobern.“
Schweigend, aber zutiefst erleichtert darüber, dass sie dem frühzeitigen Tod entkommen waren, machten sie die Seeschwalbe wieder flott und segelten in das Ungewisse hinein. Eine leichte Brise schob sie sanft nach Osten. Die beiden Brüder beschlossen, sich einfach treiben zu lassen, denn sie hatten ja keine Ahnung, in welcher Richtung sie auf Land treffen würden und ob überhaupt. „Was machen wir, wenn sich kein Land am Horizont zeigt?“, fragte Nikolai mehr sich selbst als seinen Bruder, als sie gemeinsam ihren Wohnraum im Schiffsbauch aufräumten.
„Da brauchen wir uns im Moment sicher keine Sorgen zu machen. Unsere Vorräte reichen für mehrere Monate und trinken können wir das Meerwasser dieser neuen Welt.“ Geronimo war schon immer derjenige gewesen, der sich nur mit Fragen beschäftigte, die sich auch beantworten liessen. Was wollte er sich Sorgen machen über ihre Situation, wenn er keine verlässlichen Informationen hatte?
Zum Glück war die Inneneinrichtung der Seeschwalbe so konzipiert, dass auch bei einem heftigen Sturm die meisten Dinge an ihrem Platz festgehalten wurden. So war der Schaden rasch behoben—Nikolai wischte den Inhalt der zerbrochenen Zuckerdose vom Boden auf, während Geronimo die Konfitüre von den Wänden schabte, die sie nach dem Morgenessen auf dem Tisch hatten stehen lassen. Auch auf Deck gab es nicht viel zu tun. Nur gerade die Seile waren durcheinandergeraten und waren schnell wieder zu kunstvollen Schnecken zusammengerollt. Zufrieden setzten sich die beiden Brüder nach getaner Arbeit auf das Deck und liessen ihre Füsse auf der Backbordseite in die süsse Flüssigkeit hinunterbaumeln.
„Wasser zum Trinken nehmen wir dann aber von der Steuerbordseite“, schmunzelte Geronimo, während er missbilligend auf die schwarzen Ränder unter seinen Zehennägeln schaute. Schweigend beobachteten sie eine Weile die sanften Wellen, während sie gemächlich dem Unbekannten entgegensegelten. Plötzlich zog Geronimo erschrocken seine Füsse aus dem Wasser und stammelte verwirrt: „Da wachsen Tannen im Wasser.“
Nikolai schaute halb belustigt und halb besorgt zu seinem Bruder hinüber: „Haben dir die vielen Sonnen deine…?“ Abrupt hielt er mitten in seinem Satz inne und wusste sogleich, dass entweder die Sonnen am Firmament auch in seinem Kopf Halluzinationen hervorriefen, oder aber dass Geronimo tatsächlich recht hatte. Unter ihnen breitete sich ein ganzer Wald voller Tannen im Wasser aus, die verkehrt herum etwa einen Meter unter der Oberfläche schwebten. Sie schimmerten wie schwarze, bedrohliche Schatten durch das goldglänzende Wasser und schaukelten rhythmisch mit den Wellen hin und her. Nun zog auch Nikolai seine Füsse ganz auf das Deck, denn der Anblick dieser unbekannten Unterwasserwelt wirkte nicht gerade vertrauenserweckend.
„Möglicherweise ist das ein Zeichen, dass wir uns dem Festland nähern, sofern es das hier gibt.“ Kaum hatte Geronimo diese Vermutung ausgesprochen, tauchten auf der Steuerbordseite eine ganze Reihe von Inseln auf. Sie sahen aus wie frisch gebackene, fein säuberlich aufgeschichtete Pancakes mit einem Durchmesser, der kaum mehr als die doppelte Länge der Seeschwalbe mass.
„Tatsächlich, wir scheinen eine gute Richtung gewählt zu haben. Wenn wir Glück haben, sind diese Inseln erste Anzeichen für festes Land. Lass uns doch an einer der Inseln anlegen, um deren Spitze zu erklimmen. Vielleicht sehen wir von oben mehr.
Geronimo hatte die genau gleiche Idee gehabt und hatte das Steuer schon herumgerissen, noch bevor sein Bruder seinen letzten Gedanken fertig ausgesprochen hatte.
Nikolai zeigte mit ausgestrecktem Arm auf eine Einbuchtung bei dem ihnen am nächsten gelegenen Pancake Haufen. „Diese Stelle scheint mir zum Anlegen ideal zu sein“. Er packte Seil und Haken, um die Seeschwalbe an der Insel zu vertäuen. Beide rechneten mit einem unsanften Schlag beim Anlegen, denn das Manövrieren in dem leicht dickflüssigen Wasser gelang nicht mit der gleichen Präzision wie im Salzwasser der Weltmeere. Doch statt eines unsanften Rucks fühlte es sich an, als ob sie gegen einen Wattebausch stiessen. Nikolai sprang auf die unbekannte Landmasse, bereute aber den kühnen Sprung sofort, denn der Boden empfing ihn wie ein Trampolin und schleuderte ihn unkontrolliert in die Höhe. Wie ein Hase hüpfte er ein paarmal auf und ab, bis er schliesslich mit einem lauten Platschen neben der Seeschwalbe im Wasser zum Stillstand kam.
Prustend und von der sirupähnlichen Flüssigkeit durchnässt zog er sich vorsichtig auf den weichen Untergrund, um dann den Haken in den Boden zu treiben und den Bug daran festzubinden. Geronimo tat das Gleiche beim Heck, so dass die Seeschwalbe sich nicht plötzlich selbständig machen konnte. Vorsichtig kletterten sie nun an den Pancake Schichten hoch, bis sie sich schliesslich ganz verschwitzt und ausser Puste auf der obersten Schicht aufrichten konnten. Die Seeschwalbe sah von hier nur noch wie eine Nussschale aus, aber der anstrengende Aufstieg hatte sich gelohnt.
„Siehst du es auch?“, keuchte Geronimo, von der Kletterei am Gummiberg noch ganz benommen, aufgeregt seinem Bruder zu.
Das war natürlich nur eine rhetorische Frage gewesen, denn die sanften Hügelzüge in der Ferne, welche grünlich in dem diffusen Licht dieser neuen Welt schimmerten, hätte sogar ein Blinder von hier oben erahnen können. „Land“ war das einzige Wort das Geronimo ehrfurchtsvoll über die Lippen brachte.
Der Abstieg von der Pancake Insel erwies sich als viel einfacher als der Aufstieg, denn sie konnten auf dem Hosenboden von einer Schicht zur nächsten rutschen, ohne dabei Angst vor Verletzungen haben zu müssen. Der weiche Untergrund federte alle ihre Bewegungen sanft ab.
Zurück auf der Seeschwalbe nahmen sie nun voller Tatendrang Kurs auf die Landmasse, welche sie von der Spitze der Insel erspäht hatten. Je näher sie dem Festland kamen, desto mehr Leben nahmen sie im Wasser und in der Luft wahr. Zuerst waren es nur erbsengrosse Wasserkäfer, die sich wie Knallfrösche wild über und unter der Wasseroberfläche vorwärts katapultierten. Dann entdeckten sie knallrote Fische mit unzähligen Knopfaugen am ganzen Leib, hakenschlagende Rüsselwürmer, die einander aus Spass zu jagen schienen und goldene Kugeln, die sich wie Ballone aufbliesen und dann die Luft wieder abliessen, um in einem eleganten Bogenmuster vorwärtszukommen. Ganz besonders fasziniert waren die beiden Brüdern von den senkrechtstehenden, schnorchelförmigen Gebilden, die sich in regelmässigen Abständen an die Oberfläche schoben, um frische Luft durch ihre grün gefärbten Nasenlöcher einzusaugen.
Dabei wackelten sie mit ihren behaarten, halbrunden Ohren, um sich über Wasser halten zu können. Allerdings spritzten sie sich durch die wilden Bewegungen selbst Wassertropfen in die Nase, was dazu führte, dass in unregelmässigen Abständen Wasserfontänen aus ihren Nasenlöchern schossen.
Auch die Luft war mit sonderbaren Lebewesen bevölkert. Zuerst waren es nur ganz kleine, katzenähnliche Wesen, die mit einem rotierenden Schwänzchen summend durch die Luft glitten. Dann schipperten sie durch einen Schwarm Libellen, die zwei Flügel zum Fliegen, zwei zum Steuern und zwei zum Trommeln brauchten. Das ständige Trommeln auf ihren Hinterleib machte dermassen Krach, dass sich Geronimo und Nikolai die Ohren zuhalten mussten. Aber auch bunte Vögel in allen Formen und Farben glitten in ihren Flugbahnen dahin, ohne sich gross von den Eindringlingen stören zu lassen.
Endlich konnten sie Einzelheiten auf dem Festland ausmachen, das schon vor einer Weile am Horizont aufgetaucht war und wie ein Wal aus dem Wasser ragte. „Siehst du diese Bucht dort?“, fragte Geronimo aufgeregt? Nikolai hatte dieselbe Stelle zur gleichen Zeit entdeckt und war sich mit seinem Bruder einig. Die halbrunde Öffnung im Land schien sich vor ihnen wie ein Tor zu öffnen und sie mit warmer Herzlichkeit zu begrüssen.
Doch dann plötzlich tauchte aus dem Nichts ein grimmig dreinschauendes Wesen auf dem Wasser auf und hielt ihnen einen gefährlich spitz zulaufenden Speer entgegen. Das Wesen war in einen Lichtumhang gehüllt, von dem aus sich gleissende bläuliche Strahlen in alle Richtungen ausdehnten. Es sah aus, wie unzählige Laserpointer an einem Kleid, welches das Wesen wie ein leuchtendes Stachelschwein erscheinen liess. Oder wie ein von innen beleuchteter Kugelfisch. Der spitze Schnabel in seinem Gesicht erstrahlte unnatürlich blau in dem Lichtschein des Leuchtmantels. Seine Füsse glichen riesigen Flossen, mit denen er sich mit Leichtigkeit auf dem Wasser bewegen konnte. Furchtlos kam das unbekannte Wesen immer näher. „Was machen wir jetzt?“
Einerseits wirkte das Wesen mit dem grimmigen Blick, spitzen Speer und Leuchtmantel richtiggehend furchteinflössend. Anderseits war klar, dass es für die Seeschwalbe kein ebenbürtiger Gegner sein würde. Um ihre Geschwindigkeit zu drosseln, refften sie erst einmal die Segel. Doch das Wesen rannte unbeirrt in vollem Tempo auf die Seeschwalbe zu.
„Was will denn dieser unerschrockene kleine Kerl?“, frage Nikolai belustigt, doch seine Belustigung schlug in echte Besorgnis um, als er sah, wie das Wesen schnurstracks auf sie zu fegte. Das Wasser spritzte auf beiden Seiten wie bei einem frisierten Aussenbordmotor hoch in die Luft. „Will der sich umbringen oder was?“, schrie Geronimo halb Nikolai und halb dem leuchtenden Wesen zu. „Halt, stopp, das geht schief“, doch es war schon zu spät. Das kleine Kerlchen war direkt in den Bug gerannt und steckte nun mit seinem Schnabel fest. Der Leuchtmantel erlosch und die Arme hingen schlaff wie verdorrte Blumenstängel an seinem Körper hinab. Die überdimensionierten Flossenfüsse zuckten noch ein paarmal, bevor auch sie kein Lebenszeichen mehr von sich gaben, während der Speer mit einem gurgelnden Laut im Wasser versank.
Geistesgegenwärtig kniete sich Geronimo nieder, packte das Kerlchen am Nacken und erlöste es aus seiner misslichen Lage. Vorsichtig legte er es auf das Deck und wunderte sich, wie man Leben in dieser neuen Welt wieder auferwecken konnte.
„Probiere doch einfach eine Mund-zu-Schnabel-Beatmung“, schlug Nikolai vor und kam neugierig näher, um das Wesen genauer zu studieren. Ein leicht süsslicher Geruch stieg ihm in die Nase, der ihn aber an kein bekanntes Parfüm erinnerte. Nikolai musterte das Kerlchen von Kopf bis Fuss und stellte fest, dass er einem Menschen nicht unähnlich sah, abgesehen von dem Schnabel und den riesigen Füssen. Doch eine genauere Betrachtung konnte warten. Zuerst einmal mussten sie unbedingt verhindern, dass ihre erste Begegnung mit einem der Lebewesen in dieser neuen Welt mit dem Tod endete. Da Geronimo immer noch unschlüssig neben dem Wesen kniete und es aussah, also ob er mit seinen blossen Händen den Tod verscheuchen wollte, entschloss sich Nikolai, seinen Vorschlag selbst in die Tat umzusetzen. Beherzt packte er den gelblichen Schnabel und zerrte an beiden Hälften, bis eine kleine Öffnung sichtbar wurde. Damit war es vorbei mit dem süsslichen Geruch. Aus dem Schnabel entwich ein Gestank, der direkt aus der Hölle zu kommen schien. Ein Bukett aus Schwefel, Buttersäure und Katzenkacke verpestete das ganze Deck, so dass beide Brüder sich reflexartig mit einer Hand die Nase zuhielten.
„Ist vienneicht schon der Vernesungsgeruch“, meinte Geronimo, der nun krampfhaft gegen einen Würgereflex ankämpfte. Nikolai wollte nicht glauben, dass der Zusammenstoss mit der Seeschwalbe zum Tod dieses Kerlchens geführt hatte. Also füllte er seine Lungen mit der verpesteten Luft, hustete erst einmal eine Weile, bevor er es nochmals versuchte, indem er seinen Mund wie bei einer Trompete ansetzte. Mit Druck blies er Luft in den Schnabel in der Hoffnung, dass auch das Innere menschenähnlich funktionieren würde. Und