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Pleasure or Pain - woher kommt deine Zauberkraft? Entdecke die magische Welt von »Silvercloak«!
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Zwölf Jahre Magierschule. Fünf Jahre Straßenpatrouille. Wenige Minuten bis zu ihrer Prüfung. Endlich steht Saffrons Abschluss an der Silvercloak-Akademie bevor. Nur die besten Magier dürfen ihren Mantel silbern färben und fortan die verbrecherischen Bloodmoons zur Strecke bringen. Aber Saffron gehört nicht zu den Besten: Sie bedient sich der gleichen unlauteren Mittel wie die Bloodmoons: List, Betrug, Lüge. Kein Wunder, dass ausgerechnet sie für eine verdeckte Ermittlung unter den Bloodmoons auserkoren wird, in deren Reihen nicht nur Saffs Leben in höchste Gefahr gerät, sondern auch ihr Herz ...
Mit Bonuskapitel exklusiv in der deutschen Ausgabe!
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Zwölf Jahre Magierschule. Fünf Jahre Straßenpatrouille. Wenige Minuten bis zu ihrer Prüfung. Endlich steht Saffrons Abschluss an der Silvercloak-Akademie bevor. Nur die besten Magier dürfen ihren Mantel silbern färben und fortan die verbrecherischen Bloodmoons zur Strecke bringen. Aber Saffron gehört nicht zu den Besten: Sie bedient sich der gleichen unlauteren Mittel wie die Bloodmoons: List, Betrug, Lüge. Kein Wunder, dass ausgerechnet sie für eine verdeckte Ermittlung unter den Bloodmoons auserkoren wird, in deren Reihen nicht nur Saffs Leben in höchste Gefahr gerät, sondern auch ihr Herz …
Die preisgekrönte Autorin L.K. Steven stammt aus der nördlichsten Stadt Englands. Unter dem Namen Laura Steven hat sie mehrere Jugendbücher geschrieben, darunter den YA-Fantasy-Roman »Our Infinite Fates«. Ihre erwachsenen Leser*innen führt L.K. Steven mit »Silvercloak« in eine düstere Welt, in der Magie durch Lust und Schmerz erschaffen wird. Die romantische Fantasy-Trilogie, in der eine zaubernde Detektivin eine gefährliche Verbrecherorganisation infiltriert, wird in zahlreiche Sprachen übersetzt und erobert noch vor Erscheinen die Herzen der Romantasy-Leser*innen im Sturm.
L.K. STEVEN
Unter Feinden
Roman
Deutsch von Maike Hallmann
Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »Silvercloak« bei Del Rey, London.
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Copyright der Originalausgabe © 2025 by Laura Steven
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München.
All rights reserved.
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Catherine Beck
Umschlaggestaltung: Marie Graßhoff
Umschlagmotiv: © AdobeStock (Aleksandra Konoplya, An, Arafat, Arthit, Diego, HWWO Stock, Klyaksun, KRvisualPRO, Ortis, panaceaart, rraya, sangidan, setory); © Marie Graßhoff
BL · Herstellung: fe
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-32520-6V003
www.penhaligon.de
Für Chloe Seager, die all meine kühnsten Träume wahr werden ließ
GEWÖHNLICHZaubererBraumeister
UNGEWÖHNLICHElementaristHeiler
SELTENBezwingerHellseher
AUSGEROTTETZeitweber
VOR ZWANZIG JAHREN
Die Haustür der Killorans wechselte die Farbe, je nachdem, wer daran klopfte.
Himmelblau zeigte eine angenehme Bekanntschaft an, Herzblutrot eine Liebschaft, ob gegenwärtig oder bereits verflossen. Kleegrün stand für einen böswilligen Feind, ein sattes, an Marmelade erinnerndes Pflaumenviolett für einen alten Freund. Senfgelb verkündete Familie oder – wegen einer kleinen Ungenauigkeit der Zauberformel – einen reisenden Händler.
An dem Tag jedoch, als die Bloodmoons kamen, verfärbte sich die Tür zu einem tiefen Schwarz wie am Grund eines bodenlosen Brunnens.
Mellora war gerade von einer langen Schicht im Saint Isidore zurückgekehrt, dem nahegelegenen Krankenhaus für magische Leiden, und hatte ihren Mann Joran und ihre Tochter Saffron ausgelassen kichernd angetroffen. Joran war damit beschäftigt, in aller Ruhe und ganz methodisch alles im Haus in Würste zu verwandeln, einschließlich der Wasserhähne in der Küche, des gesamten Bestecks in der obersten Schublade, mehrerer Zimmerpflanzen, des zornig zuckenden Schwanzes der Katze und seiner eigenen schmalen, leicht gebogenen Nase.
»Sei gegrüßt an diesem schönen Nachmittag«, sagte er sehr ernsthaft zu Mellora, während sie ihren violetten Heilermantel abstreifte. Weil seine Nase eine Wurst war, klang er ein wenig verschnupft. Mit dem dünnen, gewundenen Zedernholzstab tippte er einmal dagegen, und seine hübschen, scharfgeschnittenen Gesichtszüge kehrten zurück.
Saffron stand neben ihm, beide Arme um sein Bein geschlungen, und weinte vor Lachen, die wilden silberblonden Locken fielen ihr ins Gesicht. »Papa, hör auf! Ich kriege keine Luft mehr!«
Wärme flutete Melloras Brust.
Oh, sie liebte die beiden so sehr.
Das Haus der Familie Killoran war rund und recht windschief und über und über mit Wildblumen bewachsen, und Joran hatte für seine Tochter jeden nur denkbaren Winkel verzaubert: In den Bücherregalen fanden sich stets neue Geschichten, im Wohnzimmer bildeten in Laternen gefangene winzige Sterne einen eigenen Mikrokosmos, und der Wasserkocher pfiff, sobald der Tee fertig war, das alte Seemannslied von der Seeschlange. Sämtliche Teppiche konnten jederzeit ganz nach dem Zufallsprinzip abheben und die vor Vergnügen quietschende Saff durch das kleine Dorf tragen. Am besten allerdings gefiel ihr die Wendeltreppe, die sich in eine Rutsche verwandelte, wann immer Saffron das obere Ende erreichte – eine recht anspruchsvolle, an Umgebungsbedingungen geknüpfte Transmutation, die gewöhnliche Magier nicht fertigbringen würden.
Mellora war von viel ernsthafterem Wesen als ihr Mann – schon als Kind war sie unbeugsam geradlinig gewesen –, aber gerade deshalb wusste sie Jorans Albernheiten umso mehr zu schätzen.
Sie hätte sich für ihr einziges Kind keinen besseren Vater wünschen können.
Sie trat an den Schrank mit dem Honigwein und schenkte sich einen großen Kelch voll ein. Sobald der süße, scharfe Wein auf ihre Zunge traf, spürte sie, wie sich ihr Magiequell – erschöpft nach einem langen Tag, an dem sich ein Heilzauber an den nächsten gereiht hatte – wieder zu füllen begann.
Magische Macht war eine endliche Ressource, die sich schnell verbrauchte, aber man konnte sie durch Genuss wieder auffüllen. In ihrem Haus brannten stets duftende Nelkenkerzen, leise Geigenmusik hallte von den Dachsparren wider, und sämtliche Wände hingen voller prächtiger Kunstwerke. Ein Fest für die Sinne, und alles hier diente der Erholung.
Eine andere Möglichkeit, Macht zu gewinnen, war der Schmerz.
Während Genuss die Quantität der Magie steigerte, die einem Magier zur Verfügung stand, steigerte Schmerz die Qualität. Ein uralter Überlebensmechanismus, der die magische Kriegsführung ebenso brutal wie unberechenbar machte.
Mit Schmerz jedoch wollten die Killorans nichts zu tun haben. Nicht nach allem, was Joran erlitten hatte.
»Du verschwendest so viel Zeit damit, mit diesem Haus herumzualbern«, sagte Mellora zu ihm, während er ein Messer verzauberte, damit es wie von selbst Gemüse säuberlich in gleich große Stücke schnitt. »Stattdessen solltest du lieber im Königlichen Kabinett sitzen und das Reich beschützen. Oder an einer Universität lehren. Oder meinetwegen auch magische Heilmittel erforschen. Die Akademie für Arkane Übel und Unpässlichkeiten sucht derzeit …«
»Vielleicht sind mir aber die ganz alltäglichen Freuden genug«, erwiderte er schlicht, strich ihr eine Korkenzieherlocke aus dem Gesicht und küsste sie auf den Mund. Sein langes Haar hatte er mit einem abgenutzten Lederriemen zurückgebunden, und plötzlich verspürte Mellora den Drang, mit den Fingern hindurchzufahren, auf der Suche nach einer ganz anderen Art Genuss.
Und da klopfte es an der Tür.
Gleichzeitig drehten sie sich um.
Beim Anblick des tintenschwarz verfärbten Holzes erbleichte Mellora und stellte mit zitternder Hand ihren Kelch ab. »Saff, du musst dich verstecken.« Die Worte fühlten sich an, als säßen Knochensplitter in ihrer Kehle.
»Aber, Mama«, protestierte Saffron und starrte mit großen, braunen Augen erst ihre Eltern an, dann die Tür, dann wieder ihre Eltern. Sie war sechs Jahre alt und sah plötzlich so ängstlich aus wie ein erschrockenes Rehkitz. »Wer ist das? Ich habe noch nie gesehen, dass die Tür schwarz wird.«
»Bitte«, sagte Joran heiser und legte das erst halb verzauberte Messer weg. Verwirrt klapperte es auf dem Holzbrett herum. »Bitte, Saffy.«
Sie wussten nicht, wer sich auf der anderen Seite der Tür befand. Aber sie wussten es.
Ein weiteres Klopfen, diesmal nachdrücklicher, als wäre dies der letzte kurze Aufschub.
Rasch zog Joran einen Umschlag aus der Tasche seines Umhangs, steckte ihn in die Besteckschublade und fuhr voller Bedauern mit dem Zeigefinger über die kursive Schrift darauf. Mellora beobachtete ihn voller Grauen. Ihr Mann fürchtete sich genug, um einen Abschiedsbrief zu verfassen … dabei fürchtete Joran sich eigentlich vor nichts und niemandem.
»Saffron, wir lieben dich«, flüsterte Mellora und küsste ihre Tochter auf die Wange. Saff schmeckte nach sahniger Butter und Erdbeermarmelade. »Wir sehen uns bald wieder.«
Joran schob ihre Tochter zur Speisekammer, die ebenfalls verzaubert war: Sie verbarg jeden Killoran, der sich darin versteckte, vor den Augen und Ohren eines jeden, der kein Killoran war.
Und auf einmal war Mellora froh, dass ihr genialer Ehemann seine Zeit damit verschwendete, mit ihrem Haus herumzualbern.
Möglicherweise würde nur das jetzt das Leben ihrer Tochter retten.
Im selben Moment, als sich die Speisekammertür mit einem Klicken hinter Saffron schloss, flog die Haustür auf, hing lose in den Angeln, als wäre auch sie völlig verängstigt. Langsam sickerte die Farbe heraus – die Magie –, und das Teakholz nahm wieder sein natürliches schlichtes Braun an. Eine Handbreit unter dem silbernen Türklopfer in Form eines Dämmerwolfs verblasste der Abdruck des Zaubers, mit dem die Tür aufgesprengt worden war.
Im schwindenden Tageslicht traten zwei hünenhafte Gestalten über die Schwelle. Ihre Umhänge waren tief scharlachrot und wurden am Hals von runden Rubinbroschen zusammengehalten, das Revers war mit schwarzem und goldenem Garn bestickt und bildete die Mondphasen ab. Ansonsten waren sie ganz in Schwarz gekleidet, von den kniehohen Stiefeln mit den goldenen Schnallen über die sorgfältig geschnürten Tuniken und weiten Reithosen bis hin zu den Blicken, in denen der Tod stand.
Melloras Magen krampfte sich zusammen.
Bloodmoons.
Eilig trat sie vor, schob sich schützend vor ihren Mann.
»Können wir Euch irgendwie helfen?«, fragte Joran mit schwankender, heiserer Stimme.
»Wir brauchen einen Nekromanten«, erwiderte der kleinere der beiden Männer. Seine Stirn war niedrig, die Stimme klang kratzig. Er verströmte nervöse Energie – wie auch immer ihr Auftrag lautete, er gebot ihnen größte Eile. Und wenn es um die Bloodmoons ging, war nichts so gefährlich wie Verzweiflung.
Joran straffte die Schultern. »Hier werdet Ihr keinen finden.«
»Ach nein?« Der größere der beiden Bloodmoons kniff die grauen Augen zusammen.
Beide starrten Mellora an.
Vor Angst krampfte sich alles in ihr zusammen. Kurz überlegte sie in ihrer Verzweiflung, einen Praegelos-Zauber zu sprechen, um sich ein wenig kostbare Zeit zum Denken zu verschaffen … aber was half das schon, wenn der Teufel bereits mitten unter ihnen war? Das Einzige, was sie jetzt noch hätte retten können, wäre ein Teleportationszauber, aber den hatte man vor langer Zeit aus allen Zauberstäben des Landes verbannt.
Verwirrt warf ihr Joran über die Schulter einen Blick zu. »Mellora?« Er umklammerte seinen Zauberstab so fest, dass die Knöchel weiß anliefen. »Meine Frau ist Heilerin. Das kann ich Euch ganz leicht beweisen.« Er deutete mit dem Zauberstab auf seine Handfläche und vollführte eine Bewegung, als würde er etwas zerschneiden. »Sen incisuren.«
Ein Schnitt klaffte in seiner Haut auf – zu tief, dachte Mellora erschrocken, er hat zu tief geschnitten – und erblühte in dunklem Rot. Er zuckte nicht mal mit der Wimper.
Mellora hob ihren geschmeidigen Stab aus Weidenholz und murmelte, wie sie es schon tausendmal zuvor getan hatte: »Ans mederan.«
Heile.
Obwohl sie ihre erschöpfte Magie nur durch wenige Schlucke Honigwein aufgefüllt hatte, fügten sich die Wundränder wieder zusammen, allerdings alles andere als makellos. Es würde eine Narbe zurückbleiben – wenn sie denn noch lange genug lebten.
Voller Verachtung starrten die Bloodmoons Jorans Hand an.
»Ich nehme an, Ihr wisst ebenso gut wie wir, dass die Nekromantie eine Unterdisziplin der Heilmagie ist«, sagte der hochgewachsene Bloodmoon. »Oder Ihr seid wirklich so schwachsinnig, wie Ihr ausseht.«
Jorans blasse Wangen röteten sich vor Zorn, und Mellora flehte ihn stumm an, diesen Ungeheuern keinen Grund zu geben, ihm wehzutun. Doch sie bekam kein Wort über die Lippen, um ihn dazu zu bewegen, einen kühlen Kopf zu bewahren, und wie üblich hörte er nicht auf ihr stummes Flehen. Er hob den Zauberstab, aber einer der Bloodmoons war schneller.
»Sen ammorten.«
Der tödliche Zauber traf Joran mitten in die Brust, und er stürzte zu Boden wie ein Sack voller Bezoare.
Mellora schrie erstickt auf … und spürte den erwartungsvollen Blick der beiden Eindringlinge. Sie wussten, was sie jetzt tun würde, und sie tat es.
Denn sie konnte Joran, ihren Joran, nicht einfach vor ihren Füßen sterben lassen.
Die Bloodmoons, die seit vielen Dekaden verzauberte Spielhallen betrieben und ihre Kunden manipulierten, waren Experten darin, ihr Gegenüber zu zwingen, die Karten offen auf den Tisch zu legen.
Der Faden, der Melloras Körper und ihren Geist miteinander verband, riss.
Ohne nachzudenken, kauerte sie sich neben Joran nieder und riss seine Tunika auf. Direkt über seinem Herzen, dort, wo ihn der Zauber getroffen hatte, befand sich ein sternförmiger Abdruck. Sie legte die Hand flach darauf und spürte Kälte, so eisig wie Silberwasser. Dem Tod durch Magie haftete ein ganz eigener Geruch an; nicht der nach Blut und Fäulnis, sondern nach Rauch und Asche, dazu eine honigsüße Note.
Eine Hand auf Jorans stiller Brust, hob sie mit der anderen ihren Zauberstab.
»Ans visseran«, rief sie, und in ihr stieg Ekel vor sich selbst auf. »Ans visseran. Ans visseran.«
Kehr zurück. Kehr zurück. Kehr zurück.
Ihr war, als würde abgrundtiefe Verderbtheit sie anfallen und mit knorrigen Fingern umklammern.
Nekromantie war nicht nur verboten – sie war ein Sakrileg. Sie verstieß gegen die Natur selbst, gegen alles, wofür die Götter und Heiligen standen, die Ascenfall einst hervorgebracht hatten. Im Tod ging dem menschlichen Geist etwas Wesentliches verloren, und man konnte es nicht wieder zurückholen durch den Schleier zwischen dort und hier, ganz gleich, wie fähig der Magier auch sein mochte.
Aber hier ging es um Joran. Sie musste es wenigstens versuchen.
»Ans visseran. Ans visseran. Ans visseran.«
Im ersten Moment geschah gar nichts, aber so etwas brauchte seine Zeit. Das Herz musste wieder anfangen zu schlagen, das Blut wieder ins Fließen kommen. Es war eins der unausweichlichen Gesetze der Physik, Magie hin oder her – ein in Bewegung befindliches Objekt wollte in Bewegung bleiben, ein in Ruhe befindliches wollte in Ruhe bleiben.
Aber ganz sicher will Jorans Herz nicht reglos bleiben, dachte Mellora verzweifelt. Ganz sicher wehrt es sich dagegen, so still zu sein. Bestimmt kann er mich spüren, hier drüben, direkt auf der anderen Seite des Schleiers.
Die Bloodmoons sahen zu, wie sie die Zauberformel aufsagte, immer und immer wieder, aber unter ihrer Handfläche war kein verräterisches Zittern zu spüren. In ihrer Verzweiflung biss sie sich so fest auf die Zunge, dass sie Blut schmeckte, gab sich dem Schmerz hin, der in ihrem Mund erblühte.
Genuss war wie eine Ruhepause, um Magie wiederherzustellen. Schmerz hingegen wirkte wie Adrenalin und steigerte die Magie. Ein kurzer, heftiger Energieschub, der einem inmitten der größten Not außergewöhnliche Kraft verlieh.
Und die Heiligen wussten, dass Mellora diese Kraft dringend brauchte.
»Ans visseran. Ans visseran.«
Jordans Herz blieb so reglos wie ein Stein.
Aber es musste klappen. Und zwar hier und jetzt. Es ging um Joran. Um Saffrons Vater.
Saffron.
Mellora betete zu Omedari, dem Schutzpatron der Heiler, dass ihre Tochter den Mord an ihrem Vater nicht mit angesehen hatte. Sie war in der Vorratskammer, aber wenn sie ganz dicht ans Schlüsselloch rückte und hindurchspähte …
Bedrohlich aus der Konzentration gerissen, blickte Mellora rasch zur Vorratskammer hinüber – gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich der goldene Türknauf bewegte.
Nein, brüllte es in Mellora auf, aber dessen ungeachtet drehte sich der Türknauf weiter.
Wenn die Bloodmoons Saff entdeckten, würden sie auch sie töten.
Mellora wirbelte herum und richtete ihren Zauberstab auf den am nächsten stehenden Bloodmoon.
Nie zuvor hatte sie die Magie darauf verwendet, jemanden zu töten. Aber sie würde alles tun, um Saff zu retten.
»Sen ammort…«
Sie verstummte, von zwei tödlichen Zaubern zugleich in die Brust getroffen.
Der goldene Türknauf hörte auf, sich zu drehen.
Es wurde vollkommen still.
Die Stille dauerte an, senkte sich über das Haus wie die anbrechende Nacht.
Wortlos brannten die Eindringlinge Halbmonde in die leblosen Wangen ihrer Opfer. Unter den Spitzen ihrer Zauberstäbe flammte die bleiche Haut in einem grellen Burgunderrot auf und schlug Blasen.
Wenn ein Tod nicht seinem ursprünglichen Ziel diente, konnte er wenigstens dazu genutzt werden, Angst und Schrecken zu verbreiten.
Schließlich verschwanden die Bloodmoons, ließen die Tür, die aus den Angeln gerissen war wie ein verfaulter Zahn, offen stehen. Und als Saffron Killoran irgendwann die Speisekammertür öffnete – es mochte nur Augenblicke später sein oder aber auch Stunden oder Tage –, roch die Luft nach verkohltem Fleisch. Und nach Rauch und Asche und zugleich honigsüß.
Sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber kein Laut kam heraus.
Zwei Magier in langen, silbernen Mänteln, am Hals von Saphirbroschen zusammengehalten, kauerten über dem Leichnam ihrer Mutter. Dann zog einer von ihnen eigenhändig einen Kreidekreis um ihren Vater, während der andere die aus den Angeln gerissene Tür untersuchte. Sie unterhielten sich leise miteinander, während ihre Zauberstäbe Anmerkungen in schwebende Notizbücher kritzelten.
Als Saffron auftauchte, blickte einer der Ermittler auf. Es war eine Frau, blass, schmalnasig und spindeldürr, und für einen unendlich kurzen Augenblick zuckte tiefer, trostloser Schmerz über ihr Gesicht.
»Oh, Zuckerling«, sagte sie leise zu Saffron und schirmte sie gegen den Anblick der Toten ab. »Komm her. Du bist jetzt in Sicherheit.«
KADETTIN
DIE KOHORTE
Bei Sonnenuntergang würde sich Saffrons Umhang silbern färben – wenn sie nicht vorher bei einer Lüge ertappt wurde.
Nur noch eine Viertelstunde, ehe die letzte Prüfung begann.
Zwanzig Jahre Trauer und Entschlossenheit, geronnen zu einem einzigen Augenblick.
Sie zwang ihrem Gesicht einen neutralen Ausdruck auf und legte eine Polderdash-Karte ab, mit der sie das Spiel für sich entschied. Die darauf abgebildete Priesterin zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
Ihr Gegner Gaian gab ein Ächzen von sich wie ein sterbendes Schwein. »Das ganze Jahr schon ziehst du mich ständig ab, und trotzdem falle ich noch auf deinen Köder rein.« Er schob eine perlweiß schimmernde Ascen-Münze über die Bank, und Saffron steckte sie mit einem Grinsen ein. »Du musst doch inzwischen reicher sein als die Stadtbank.«
Das kam der Wahrheit tatsächlich ziemlich nah. Saffron hatte nahezu ihr gesamtes Erwachsenenleben damit verbracht, gegen ihre Kameraden und Landsleute zu spielen, und das mit großem Erfolg. Alle außer ihr, fand sie, waren unsagbar schlecht darin.
Während Saffron geistesabwesend die Karten mischte, ließ sie den Blick durch das Laboratorium schweifen. Goldrot strömte Sonnenlicht durch die Sprossenfenster herein und ließ die in der Luft schwebenden Staubpartikel aufglühen wie Leuchtkäfer. Regale säumten die hohen Wände, gefüllt mit Gläsern voller handelsüblicher Zutaten für unterschiedlichste Tinkturen: Kräuter und Gewürze, Asche und Erde, Krallen von Dämmerwölfen und Schnäbel von Trauerkrähen, Fleisch und Blut und Knochen. Mitten im Laboratorium standen parallel zueinander sechs lange Holztische, bestückt mit Zinnkesseln und vergoldeten Instrumenten. Zwischen diesen Tischen pirschten zwei schnurrende Samtkatzen entlang, schlanke Geschöpfe mit violetten Augen und schwarzem Fell, deren seidig kühler Atem die Haut vor lauter Behagen kribbeln ließ. Sie strichen Tag und Nacht durch die Silvercloak-Akademie und erfrischten den Magiequell ausgelaugter Magier.
Alle sechs Kadetten hatten sich vor ihrer letzten Prüfung hier im Laboratorium versammelt, damit Auria und Sebran – die beiden hatten sich auf das Tränkebrauen spezialisiert – ihre Tinkturen abfüllen konnten. Obwohl sich die Mitglieder ihrer kleinen Kohorte seit zwölf Monaten miteinander im Wettstreit befanden, waren sie doch unerwartet eng zusammengewachsen, und auch wenn keiner von ihnen es zugegeben hätte, wollten sie aus der verbleibenden Zeit das Beste machen. Schon bald würden sie alle mit ihren ersten Aufträgen in die entlegensten Winkel des Kontinents gesandt werden – vorausgesetzt natürlich, dass sie alle bestanden –, und dann war es vorbei mit der gemeinsamen Zeit.
In der Luft hing eine fast unerträgliche Spannung. Die Kadetten standen genau an der Schwelle zwischen Ende und Neuanfang, und ihnen allen war zumute, als würden sie den scharfen Grat dieses Übergangs direkt unter den Füßen spüren.
»Jetzt seht doch nicht so düster drein, ihr Lieben.« Auria leuchtete regelrecht, strahlend und zugleich von tiefem Ernst erfüllt; ihre Energie war wie immer ungebrochen. »Heute Abend werden wir alle sehen, wie sich unsere Mäntel silbern färben. Ich spüre es ganz deutlich.«
Eine Samtkatze streifte ihren Arm und drückte mit einem genüsslichen Schnurren den Kopf gegen ihre Kehle, als die Kadettin gerade die letzten drei Fläschchen in ihren Tinkturengurt steckte.
Nissa hatte sich aus dem Bogenfenster gelehnt und rauchte eine handgedrehte Achullah. Der Rauch roch nach Orange und Nelke und einer erdigen Tabaksorte, die in einem der heißesten Winkel der Diqar-Wüste angebaut wurde.
»Hast du jemals geglaubt, und sei es nur für eine Sekunde, dass wir es vielleicht nicht schaffen?«, fragte Nissa gedehnt und stieß einen Rauchring aus. Das schwarze Haar fiel ihr glatt und glänzend bis zur Taille hinunter. »Trotz aller Indizien dafür, dass es schiefgehen könnte?«
Auria strahlte sie mit ihrem aufrichtigen Lächeln an. »Nein, eigentlich nicht.«
Nissas Mundwinkel zuckten. »Weißt du … in Nyrøth hält man blinden Optimismus für ein Zeichen geringer Intelligenz.«
»Wie gut, dass wir nicht in Nyrøth leben«, entgegnete Auria fröhlich.
Insgeheim empfand Saffron Aurias sonniges Gemüt als tröstlich, aber sie sagte nichts. Sie hatte bis zu ihrem zwölften Lebensjahr geschwiegen – sechs Jahre lang –, aber obwohl sie das mittlerweile längst überwunden hatte, redete sie immer noch nicht gern.
Nissa sah Saffron an, warf ihr quer durchs Laboratorium ein Lächeln zu, das nur für ihre Augen bestimmt war, und in Saffrons Bauch sprudelte ein Gefühl hoch, als hätte sie eine Handvoll Galgenkraut verschluckt – als würde ihr Innerstes auf einmal Blasen werfen.
In den letzten Monaten hatten Saff und Nissa in aller Heimlichkeit eine Beziehung miteinander gehabt. Es hatte damit angefangen, dass sie miteinander geschlafen hatten, um Stress abzubauen, und sich ganz langsam zu etwas Tieferem, Sanfterem entwickelt. Hier ein Streicheln über die Wange, dort eine Blume auf dem Kopfkissen: Ich habe sie gesehen und an dich gedacht. Doch vor ein paar Wochen hatte Nissa es beendet. Hatte gesagt, sie müssten sich auf ihre Zukunft konzentrieren und die ausgesprochen hohe Wahrscheinlichkeit bedenken, dass sie Hunderte Meilen voneinander entfernt landen würden. Nissa war der festen Überzeugung, dass die besten Silvercloaks Gefühlsduseligkeiten an der Wurzel packten und sich einfach aus der Seele rissen. Aber Saffron war allein aus emotionalen Gründen hier.
Sie wandte den Blick von Nissa ab, sammelte ihre Spielkarten ein und verstaute sie wieder in ihrem weißen Mantel.
Tiernan – ein hochgewachsener Heiler mit fragilem Selbstvertrauen, der hauptsächlich auf der Akademie war, weil sein Vater es von ihm erwartete – war bisher unruhig auf und ab gelaufen. Jetzt blieb er stehen und warf Nissa einen vernichtenden Blick zu.
Nun ja – so vernichtend, wie Tiernan, der lieber gestorben wäre, als jemanden zu kränken, eben dreinsehen konnte.
»Also ich weiß Aurias Zuversichtlichkeit durchaus zu schätzen.« Errötend fuhr er sich durch die hellbraunen Locken. Er und Auria waren ineinander verliebt, glaubten aber beide, der andere würde ihre Gefühle nicht erwidern. »Ihre spielerische Sichtweise macht es mir leichter, die Tatsache auszuhalten, dass wir sowohl Kameraden als auch Konkurrenten sind.«
Da sprach er einen durchaus wichtigen Punkt an: Bei der abschließenden Beurteilung ging es nicht nur um die persönlichen Fähigkeiten eines jeden Kadetten, sondern auch um die Frage, wie sie als Feldeinheit zusammenarbeiteten.
Auf der Akademie duldete man ausschließlich die Besten der Besten, und Saffrons Gruppe bestand aus nur sechs Magiern.
Da war einmal Saffron selbst, stur, listig und von einer unerbittlichen Zielstrebigkeit getrieben, die nur von ihrer noch unerbittlicheren Vorliebe für Süßes übertroffen wurde und ihrem erschreckenden Talent für das Glücksspiel. Eine Zauberin, wie die Akademie annahm – auch wenn es nicht ganz der Wahrheit entsprach.
Dann der schüchterne, unbeholfene Tiernan, dessen Vater im Königlichen Kabinett saß. Ein begabter Heiler, trotz seiner ewigen Nervosität.
Auria war ein Bücherwurm, sehr aufgeweckt und davon besessen, stets getreulich alle Regeln zu befolgen. Sie verfolgte das ehrgeizige Ziel, eines Tages Hohe Mittlerin zu werden. Dank ihrer ungewöhnlichen Begabung beherrschte sie gleich drei Klassen der Magie – das Zaubern, das Brauen und das Heilen. Sie arbeitete sehr präzise, wenn auch nicht sonderlich einfallsreich, und kannte Moderne Tränke und Tinkturen: Band IV praktisch auswendig.
Nissa war Elementaristin – und sie beherrschte Rauch und Flammen mit einer drachengleichen Kraft, für die sie der Orden bewunderte, sogar Kommandantin Aspar. Sie war heißblütig und rauchte ständig … aber nicht, weil sie süchtig nach Achullah wäre, sondern um jederzeit einen Funken zu ihrer Verfügung zu haben.
Und dann waren da noch Sebran und Gaian, die jeweils nur eine einzige Magieklasse beherrschten – das Brauen von Tränken beziehungsweise die Zauberei –, aber diese Beschränkung durch ungeheuren Mut wettmachten (Sebran) beziehungsweise einen fast beängstigend scharfen Verstand (Gaian). Gaian besaß die unheimliche Fähigkeit, Lügen zu erkennen. Ganz ohne Wahrheitselixiere brachte er bei Verhören stets zuverlässig die Wahrheit ans Licht. Und doch hatte er Saff beim Kartenspiel noch nie geschlagen.
»Es geht um Konkurrenz, ganz schlicht und einfach«, sagte Sebran und verkorkte ein Fläschchen mit tiefvioletter Tinktur, die nach Anis roch. Er war breitschultrig und muskulös, hatte dunkelbraune Haut und einen fast vollständig geschorenen Schädel. Niemand wusste so recht, woher er eigentlich stammte; sie wussten nur, dass er vorher auf der Militärakademie gewesen war. Er redete nie über seine Familie oder Heimat. »Ich bekomme diesen Posten in Pons Aelii, und wenn es mich umbringt.«
»Keine Chance«, sagte Gaian kühl und strich sich das lange blonde Haar aus dem Gesicht. »Pons Aelii gehört mir.«
Nissa leckte sich mit der gespaltenen Zunge über die Unterlippe. »Oder aber sie geben diesen Posten der einzigen Halb-Egoranerin unter uns.«
Die Einsatzziele für die Absolventen waren vor einer Woche am Schwarzen Brett ausgehängt worden – und für die sechs Kadetten gab es nur fünf freie Stellen.
Drei ganz gewöhnliche Ermittlerposten hier in Atherin.
Eine Stationierung auf einem Grenzvorposten in Carduban, in den Bergen der Verheißung, deren reiche Ascenit-Vorkommen vor der Gier des benachbarten Egora geschützt werden sollten. Diesen Posten wollte keiner, da die Egoraner seit Jahrzehnten keine nennenswerten Vorstöße in diese Richtung unternommen hatten – die Mission würde vermutlich hauptsächlich darin bestehen, Streit zwischen erbosten Bergziegen zu schlichten.
Der letzte Posten war eine verdeckte Ermittlungsoperation in Pons Aelii, der Hauptstadt von Egora. Nissa, Sebran und Gaian lieferten sich schon seit Tagen einen regelrechten Krieg um diesen Posten. Verdeckte Ermittlungen – das brachte ein gewisses Prestige mit sich, und wer sich bei seinem ersten Auftrag bewährte, bei dem gleich schon so viel auf dem Spiel stand, würde es im Orden der Silvercloaks vermutlich weit bringen. (Außerdem klang es einfach sexy.)
Aber sie interessierte sich nicht für Pons Aelii. Wenn sie die Bloodmoons zur Strecke bringen wollte, die ihr die Kindheit gestohlen hatten, musste sie einen Posten in jener Stadt bekommen, in der die Bloodmoons ihre Wurzeln hatten – und das war hier in Atherin.
»Alles in Ordnung, Saff?«, fragte Auria. »Du bist so still. Noch stiller als sonst, meine ich.«
Saff spähte durchs große Doppelfenster hinaus. Die aus hellem Stein erbaute Akademie thronte auf einem Hügel am Stadtrand von Atherin, und die Umrisse der Hauptstadt verschwammen in der Hitze; die violetten Saphirkuppeln der Augurentempel verschmolzen mit den hoch aufragenden scharlachrot-goldenen Obelisken zu Ehren der Schutzheiligen, den aufwendig verzierten Marmorpantheons mit ihren saphirblauen Turmspitzen und den smaragdgrün schimmernden Kacheln und sonnengebleichten Wänden der sich dazwischenschmiegenden Stadthäuser. Ein prächtiges, in Juwelentönen gehaltenes Durcheinander von einer Stadt, in der Genuss und Gewalt um die Vorherrschaft rangen.
Das malerische Dorf Lunes, in dem sie aufgewachsen war, fühlte sich unendlich weit entfernt an, mehr denn je zuvor. Ihr Herz pochte schmerzlich bei der Erinnerung an üppig wuchernde Wildblumen und gepflasterte Höfe, schäbige alte Mäntel und freundliche Gesichter; an den Geruch nach Rosmarin und Honigwein.
»Alles gut«, antwortete sie ausweichend. »Ich bereite mich nur vor.«
Als hätte sie damit nicht die beiden letzten Jahrzehnte zugebracht. Als würde sie nicht schon seit zwei Jahrzehnten grübeln und kalkulieren, Pläne schmieden und sie wieder verwerfen, um sämtliche Hindernisse auszuräumen, die ihr Natur oder Umstände in den Weg stellten, während sie sich mit dem großen Warum herumschlug, das ihr unaufhörlich im Hinterkopf herumspukte.
»Genau das macht mich so verrückt.« Tiernan kaute auf seiner Unterlippe herum. »Wir können uns nicht wirklich vorbereiten, weil wir überhaupt nicht wissen, um was genau es bei der Beurteilung überhaupt geht.«
»So ist das Leben nun mal«, erwiderte Sebran mit soldatischer Schroffheit, seine haselnussbraunen Augen wirkten gleichmütig. »Wir werden ja wohl kaum vor jeder gefährlichen Situation einen ausführlichen Lagebericht bekommen, hm?«
»Solange ich nur am Ende eine Stelle bekomme …« Nervös zupfte Tiernan an den Riemen seiner Tunika herum. »Wenn ich ohne Posten nach Hause komme, wird mein Vater mich enthaupten. Selbst Carduban wäre mir lieber.«
»Ich lasse Aspar wissen, dass du dich freiwillig meldest.« Grinsend drückte Nissa ihre Achullah auf dem steinernen Fensterbrett aus.
Insgeheim empfand Saff ähnlich wie Tiernan. Sie verspürte zwar keine große Lust darauf, eine überbezahlte Grenzkontrollbeamtin zu werden, aber selbst das wäre ihr noch lieber, als gar keinen Posten zu bekommen.
Nach ihrem langen Kampf, um hierherzukommen, durfte sie auf keinen Fall kurz vor dem Ziel doch noch versagen.
Zwölf Jahre Magierschule. Vier Jahre im Norden an der Universität von Novarin, wo sie mit dem Abschluss ihre Ritterschriftrolle in Neuerer Geschichte erworben hatte. Fünf Jahre lang war sie mit der Straßenwacht durch Atherin patrouilliert, so wie alle angehenden Anwärter auf den silbernen Mantel; war als Erste an den Schauplätzen blutiger Verbrechen gewesen, hatte Diebe, Gauner und Mörder zusammengetrieben und die fluchenden, spuckenden Gestalten nach Duncarzus geschleppt. Sie hatte Narben gesammelt und Traumata und Wissen, für das sie einen hohen Preis bezahlte. Ihr war bewusst, dass der kleine Rest Unschuld, den sie sich nach dem grausamen Mord an ihren Eltern noch bewahrt hatte, zusehends erodierte und der Erkenntnis wich, dass das Böse überall war, alltäglich und banal. Diese Erkenntnis würde sie nie wieder abschütteln können.
Und dazu kam die schlichte Tatsache, dass sie all dieses Wissen, all diese Erfahrung auf der Grundlage von Lug und Trug erworben hatte.
Aber jetzt musste sie diese Täuschung nur noch einen Tag lang aufrechterhalten. Eine letzte Stunde.
Die sechs Kadetten standen vor dem Großen Atrium und starrten die Buchstaben an, die über der Tür in der Luft schwebten.
Zutritt nur für Anwärter – laufende Prüfungen.
Vor der Tür stand ein blasser Professor mit rabenschwarzem Haar – derselbe, der sie in nicht enden wollenden Stunden in der Kunst des Kampfes unterrichtet hatte, bis sie sich mit schmerzenden Muskeln und unzähligen Prellungen davongeschleppt hatten. Als sie protestiert hatten und darauf hinwiesen, dass sie dank ihrer Zauberstäbe nicht auf körperliche Kraft angewiesen waren, hatte Professor Vertillon nur erwidert, dass sie jederzeit darauf gefasst sein mussten, ihren Zauberstab zu verlieren – schließlich sei er nicht untrennbar mit ihrer Hand verbunden –, sei es durch einen Entwaffnungszauber oder weil sie ihn in der Hitze des Gefechts aus Nervosität oder reiner Ungeschicklichkeit fallen ließen.
Professor Vertillon nickte Sebran knapp zu – bevor Vertillon den Lehrauftrag an der Akademie angenommen hatte, hatte er an der Militärakademie unterrichtet – und grüßte dann auch die anderen, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. »Jetzt steht uns die letzte Prüfung bevor«, verkündete er in seinem tiefen Bariton. »So gründlich wir uns auch vorbereiten, am Ende müssen wir immer auch den unberechenbaren Zufall mit in Betracht ziehen. Ein Zauberstab, der mitten während einer Razzia zerbricht, ein Tinkturengürtel, der zu Boden fällt, sodass sämtliche Fläschchen zerbrechen, schwere Verletzungen, widersprüchliche Informationen …« Er hielt sechs cremefarbene Umschläge in die Höhe. »Ihr alle werdet für diese letzte Prüfung einen Umschlag ziehen. Drei von Euch müssen keine Nachteile in Kauf nehmen. Einer wird seinen Zauberstab abgeben. Einem anderen wird vorübergehend ein Glied eingefroren. Und einer von Euch wird andere Informationen erhalten als seine Mitspieler. Ihr zieht die Umschläge in der alphabetischen Reihenfolge Eurer Nachnamen.« Mit seinen wettergegerbten Händen fächerte er sie auf und hielt sie als Erstes Sebran hin. Sebran zog einen Umschlag, öffnete ihn und nickte steif. Tiernan zog den nächsten, dann Saffron.
Ihr erleidet keinen Nachteil.
Das stimmte zwar nicht ganz – mit ihrer eigenwilligen Magie hatte sie ohnehin immer zu kämpfen –, aber eine Erleichterung war es dennoch.
Während Auria und Nissa die beiden letzten Umschläge zogen, musterte Saff Tiernan, der sichtlich zitterte. Der leichte grüne Schimmer auf seinen Wangen hatte sich noch verstärkt. Ganz eindeutig hatte er einen Nachteil erhalten.
Und dabei hatte er doch sowieso schon solche Angst, seinen strengen und grausamen Vater zu enttäuschen.
Niemals würde Saffron ihre erste Woche bei der Straßenwacht vergessen. Eine bösartige Straßenbande, die man die Whitewings nannte, hatte mehreren Kindern, die zufällig Zeugen eines Raubüberfalls geworden waren, die Zungen herausgeschnitten und mit magischem Feuer verbrannt, um zu verhindern, dass man sie wieder annähte. Saff, Tiernan und Auria waren als Erste am Tatort gewesen, und Tiernan hatte die ersten zwanzig Minuten damit verbracht, sich die Eingeweide aus dem Leib zu kotzen.
Als Tiernans Vater vom schwachen Magen seines Sohns erfuhr, hatte Kesven Flane ihn an einen Stuhl gekettet und ihn einen Monat lang Nacht für Nacht gezwungen, lebensechte Folterungen mit anzusehen – hervorgebracht von jener Art der Illusionsmagie, mit der Saff ihr Geheimnis vor allen anderen verbarg. Am Ende schließlich hatte Kesven einen betrunkenen Ludder ins Haus gebracht – eine arme Seele, die ohne Magie geboren worden war –, ihm wirklich und wahrhaftig die Zunge herausgeschnitten und Tiernan dazu gezwungen, ihn zu heilen. Und das immer, immer wieder, ein ums andere Mal, bis schließlich der Ludder vor Schmerz das Bewusstsein verloren hatte. In dieser Nacht hatte Tiernan einen kleinen Teil seiner Seele eingebüßt.
Und jetzt würde Kesven erfahren, dass sein Sohn bei der abschließenden Beurteilung, beim allerletzten Kräftemessen vor dem Zuteilen der künftigen Posten, geschwächt gewesen war. Auch wenn es reiner Zufall war und Tiernan daran keinerlei Schuld trug, würde Kesven es als Schande für den Namen der Familie betrachten.
»Tausch mit mir«, flüsterte Saffron ihm zu.
Tiernan fuhr zu ihr herum. »Was?«
»Tausch den Umschlag mit mir.«
Einen Sekundenbruchteil lang starrte er sie unentschlossen an – offenbar überlegte er, ob sie ihn auf den Arm nehmen oder irgendwie übers Ohr hauen wollte –, dann drückte er ihr seinen Umschlag in die Hand, und sie gab ihm ihren. Professor Vertillon bekam nichts davon mit.
Saffron warf einen Blick auf ihr neues Schicksal.
Eins Eurer Beine wird für die Dauer der Prüfung eingefroren.
»Ich habe keinen Nachteil«, verkündete Auria.
»Ich auch nicht«, sagte Tiernan und warf Saffron einen dankbaren Blick zu.
»Ich auch nicht«, schloss sich Gaian an.
»Kein Zauberstab«, brummte Sebran und rieb sich die Wange, als wollte er überprüfen, ob er sich auch anständig rasiert hatte. »Aber ich gehe davon aus, dass ich die hier behalten darf?« Er klopfte auf seinen Tinkturengürtel, und Vertillon nickte.
»Es ist ein bisschen dreist, ausgerechnet der Fremdländerin falsche Informationen an die Hand zu geben«, murmelte Nissa.
»Nicht falsch«, korrigierte Saff. »Der Professor hat von anderen Informationen gesprochen.«
»Und außerdem hat das Los entschieden, Nissa«, sagte Auria erbost. Kritik an der Akademie nahm sie schnell persönlich, auch wenn sie keinerlei familiäre Verbindungen zu ihr hatte, sondern nur tiefe Ehrfurcht vor den Regeln und der gesamten Institution. Eine zukünftige Hohe Mittlerin durch und durch.
»Wie lauten diese Informationen?«, wollte Gaian wissen.
»Das weiß ich nicht. Vermutlich bekomme ich sie während der Prüfung?« Fragend sah sie Vertillon an, und er nickte.
»In der Tat. Sebran – ich meine, Kadett Aduran – wird beim Übertreten der Schwelle zum Großen Atrium seinen Zauberstab abgeben, und in diesem Moment wird auch Kadettin Killorans Bein eingefroren.« Er trat beiseite. »Ihr dürft nun eintreten.«
»Jetzt geht es los«, flüsterte Auria und strich zum ungefähr tausendsten Mal über ihren Tinkturengürtel. Ihre Augen leuchteten voller Vorfreude. Sie glaubte aufrichtig daran, dass sich alles fügen würde. Saff beneidete sie darum, dass die Welt ihr diese Zuversicht noch nicht aus dem Leib geprügelt hatte.
Sie überprüfte ihren eigenen Gürtel. Sie braute keine Tinkturen, also war er stattdessen mit einigen Waffen bestückt und der Ausrüstung, die sie bei der Straßenwacht stets mit sich führten: Seile, Handfesseln, Aderpresse, Schlagstock. Ganz gleich, wie mächtig ein Magier auch war, Materie konnte nicht aus dem Nichts erschaffen werden, also musste manches mitgeführt werden. Zudem steckte eine runenverzierte Quellklinge in einem Lederholster am Gürtel – solche Klingen gab es nur bei den Silvercloaks. Sie war so verzaubert, dass selbst eine oberflächliche, von eigener Hand beigebrachte Wunde eine gewaltige Woge aus Schmerzlust durch den ganzen Körper schießen ließ. Eine schnelle Methode, um im Notfall den Magiequell wieder aufzufüllen.
Nicht dass das bei Saffron jemals funktioniert hätte. Ebenso wenig wie der Atem einer Samtkatze.
Sie musste sich ihren Genuss auf althergebrachte Art verschaffen.
Jenseits der gewaltigen Doppeltür erhob sich dumpfes Stimmengewirr. Wer stand wohl auf der Galerie oben an der Südseite des Atriums und würde über sie alle urteilen? Natürlich Kommandantin Aspar und ihre anderen vorgesetzten Offiziere, aber Auria vermutete, dass auch einige höhere Beamte aus dem Königlichen Kabinett hier waren, um die vielversprechendsten Anwärter für den Hof des Hauses Arollan auszuwählen.
Doch Saffron würde kein anderes Angebot annehmen.
Es war ihr Schicksal, den silbernen Mantel zu tragen.
Dieses Schicksal war ihr Gott, ihr Glaube, ihre Kirche. Nur aus diesem Grund hatte sie nicht längst schon aufgegeben. Sie glaubte mit jeder Faser ihres Wesens daran, dass dieses Schicksal im entscheidenden Moment ihres Lebens festgeschrieben worden war.
Saffron stieß die hohen Doppeltüren auf und sah staunend, was dahinterlag.
ABSCHLUSSPRÜFUNG
Im höhlenartigen Inneren des Großen Atriums erwartete sie die Rekonstruktion eines Augurentempels aus hellem Stein, umgeben von rot belaubten Bäumen.
Augurentempel erbaute man in der Form eines geöffneten Auges: Die beiden gewölbten Außenwände trafen sich im spitzen Winkel, darüber erhob sich ein gewölbtes violettes Dach. Im Innern umgab ein gewundener Korridor wie eine spiralförmige Iris die Gebetskammer in der Mitte – die Pupille. Diese Tempel dienten dazu, die prophetische Macht der Fünf Auguren zu ehren, aber die Bauweise führte dazu, dass es hier oft zu Geiselnahmen kam: Sobald Eindringlinge im spiralförmigen Gang waren, saßen die Betenden in der Mittelkammer in der Falle.
Und das hier sah sehr nach einer Nachstellung einer solchen Geiselnahme aus. Zwei stämmige Männer flankierten den gewölbten Eingang. Sie trugen lange, scharlachrote Umhänge mit schwarzen und goldenen Stickereien, die die Mondphasen darstellten, die Umhänge wurden von den unverwechselbaren Rubinbroschen zusammengehalten.
Bloodmoons.
Bei dem Anblick begann Saffrons Haut zu kribbeln. Auch wenn sie natürlich wusste, dass diese Magier nur verkleidete Mitglieder des Ordens waren, reagierte ihr Körper instinktiv wie auf eine echte Bedrohung, und ihr war, als würde sich ihr das Fell sträuben wie einem zornigen Dämmerwolf.
Von einer Sekunde auf die andere war sie wieder sechs Jahre alt und beobachtete durch ein winziges goldenes Schlüsselloch den Mord an ihren Eltern. Roch das verbrannte Fleisch, den Gestank nach Asche und Honig. Hörte ihren toten Vater dumpf auf den Boden schlagen. Spürte, wie blankes Entsetzen ihr die Brust zusammenpresste.
Doch statt die Erinnerung abzuschütteln, hieß sie sie willkommen. Sie konnte den Schmerz entweder unterdrücken oder ihn benutzen, und sie war nur deshalb so weit gekommen, weil sie sich stets für Letzteres entschied.
Sie übertraten die Schwelle, und Sebrans Kieferzauberstab flog in Vertillons ausgestreckte Hand. Nissa legte eine Hand ans Ohr, um ihren anderslautenden Informationen zu lauschen.
Saffrons Bein hingegen fror natürlich nicht ein, so wie es vorgesehen war. Aber sie war es gewohnt, anderen etwas vorzutäuschen: Sie änderte ihre Gangart und zog den linken Fuß hinter sich her, als wäre er vollkommen gefühllos.
»Willkommen, Anwärter«, dröhnte ihnen die leicht verzerrte Stimme von Kommandantin Aspar entgegen, die nirgends zu sehen war. Die Akustik des gesamten Raums war magisch verstärkt worden. »In der Betkammer befinden sich zwölf Geiseln. Der Tempel wurde von Bloodmoons besetzt, ihre genaue Zahl ist nicht bekannt. Eure Aufgabe ist es, beim Einsatz so viele Geiseln zu retten wie irgend möglich. Wie immer gilt: Keine tödlichen Zauberformeln. Wenn es unbedingt nötig sein sollte, aber nur dann, nutzt Effigias, um Eure Gegner in Statuen zu verwandeln und damit ihren Tod zu simulieren. Der besten Kohorte in der Geschichte der Akademie ist es gelungen, alle zwölf Geiseln zu retten und sämtliche Bloodmoons lebend gefangen zu nehmen. Dieses Ergebnis solltet auch Ihr Euch zum Ziel setzen. Viel Glück.«
Die sechs Kadetten starrten einander verblüfft an.
»Wir sollen alle Bloodmoons am Leben lassen?«, brummte Nissa und nahm die Hand von ihrem Ohr. »Wieso das denn?«
»Um Informationen aus ihnen herauszuholen«, antwortete Gaian. »Du weißt schon – der Grund, weswegen wir hier sind.«
»Und damit keine unschuldigen Geiseln aus Rache ermordet werden.« Aurias Stimme klang ein wenig hohl und hallte nach – auch ihre eigenen Stimmen wurden durch die verzauberte Akustik verstärkt. Sie strich sich eine Strähne ihres kraus gelockten roten Haars hinter das blasse Ohr. »Auf den ersten Blick würde ich sagen, dies ist eine Rekonstruktion des Amuilly-Tempels aus dem Apothekerviertel. Er wurde vor etwa siebenhundert Jahren erbaut, was heißt, seine Mauern dürften etwa ein Meter zwanzig dick sein, und es gibt keinen Fluchttunnel, wie man ihn in vielen neueren Augurentempeln findet. Könntest du vielleicht einen graben, Nissa?«
»Ich bin kein verdammter Maulwurf«, zischte Nissa.
Auria runzelte die Stirn. »Nein, aber Elementaristen können das Erdreich manipulieren. Ich weiß nicht, warum du so …«
»Ich weiß nicht recht, ob das die beste Lösung wäre.« Der stets um Frieden bemühte Tiernan kratzte sich am Kopf und sah zur schimmernden violetten Kuppel empor. »Mein Vater hat mir stets gepredigt, wie wichtig das Ansehen des Ordens ist. Was, wenn wir versehentlich den Tempel beschädigen? Wenn wir zu tief graben und das Fundament zerstören? Wenn uns versehentlich der ganze Tempel einstürzt, haben wir nicht nur die Geiseln umgebracht, sondern auch dem Ansehen des Ordens in der Augurengemeinschaft großen Schaden zugefügt.«
Nissa verdrehte die Augen. »Scheiß aufs Ansehen.«
Gaian schmunzelte. »Weißt du, es ist wirklich nicht immer ganz klar zu erkennen, wofür oder wogegen du eigentlich gerade argumentierst.«
»Vielleicht streite ich mich einfach gern.« Nissa hob die Finger an die Lippen, als würde sie eine Phantom-Achullah rauchen.
Saffron schluckte mühsam, sah rasch weg und versuchte verzweifelt, den Gedanken daran zu verdrängen, wie es sich anfühlte, wenn sich ihre nackten Leiber aneinanderschmiegten. Saffs Weichheit und Nissas harte Kantigkeit, Kerzenwachs, das auf ihre nackte Hüfte tropfte – der Tanz auf jener hauchfeinen Grenze zwischen Schmerz und Lust, der die exquisiteste Magie hervorbrachte.
»Welche Informationen hast du bekommen?«, fragte Auria Nissa.
Die allerdings zögerte. »Ich weiß nicht, ob ich euch das sagen soll.«
Aurias Finger krampften sich um ihren zierlichen Zauberstab zusammen. Sie und Nissa gerieten so oft aneinander, dass Gaian inzwischen eine Strichliste führte.
»Lasst uns mal darüber nachdenken, wie wir dieses Gebäude auf militärischem Wege einnehmen könnten«, sagte Sebran. Ehe er sich an der Silvercloak-Akademie eingeschrieben hatte, war er in der Vallischen Infanterie gewesen. »Wir haben hier zwei Bloodmoons, die den Eingang bewachen, und in der Zentralkammer vermutlich mindestens zwei weitere, die die Geiseln im Auge behalten. Vermutlich noch vier oder fünf im Spiralgang, die sich uns entgegenstellen werden.« Mit dem Zeigefinger klopfte er sich gegen die Unterlippe. »Nissas heraufbeschworener Wind würde in Kombination mit Effigias eine tödliche Waffe darstellen. Könnte sämtliche Bloodmoons im Gang auf einen Rutsch fällen.«
»Aber wir sollen die Bloodmoons nicht töten«, entgegnete Auria. Sie klang wie eine Mutter, die sich darum bemühte, Geduld mit einem aufmüpfigen Kind zu haben. »Wir müssen wie Zauberer denken, nicht wie Soldaten. Mit welchen Zaubern könnten wir die Geiseln befreien, ohne überhaupt mit den Bloodmoons in Berührung zu kommen?«
»Wie willst du das denn anstellen? Willst du etwa deine kleinen Fläschchen durch den gewundenen Korridor rollen, damit die Bloodmoons daran nippen können?« Nissas Lachen klang alles andere als freundlich.
Aber sie hatte recht: Die Zentralkammer besaß kein einziges Fenster, sie war vollkommen von der Außenwelt abgeschottet. Wie sollten sie ihre Magie präzise einsetzen, wenn sie die Ziele nicht sahen? Auf so indirektem Weg funktionierte Magie nicht.
»Wir könnten ein Unsichtbarkeitselixier nehmen«, schlug Auria vor. »So könnten wir uns leichter hineinschleichen und die Bloodmoons entwaffnen.«
»Denk doch mal nach«, erwiderte Sebran gereizt. »Die Wachen würden sehen, wie sich die Türen zum Tempel öffnen. Und selbst wenn sie uns dann nicht sofort erwischen, wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass wir uns gegenseitig mit unseren eigenen Zaubern …«
Während ihre Kohorte miteinander zankte, drehte sich Saffrons Verstand mit der Geschwindigkeit eines Rouletterads.
So war es immer. Die anderen redeten, sie dachte nach. Wog jedes Wort sorgfältig ab, ehe sie einen Gedanken laut aussprach. Denn die Heiligen wussten, was geschah, wenn man seine Handlungen nicht gut genug durchdachte. Wenn man den Türknauf um eine Winzigkeit drehte und deshalb die eigenen Eltern ermordet wurden, zwischen einem Herzschlag und dem nächsten.
Jedenfalls stand fest: Sie gingen es ganz falsch an.
Zu oberflächlich, zu eindimensional. Sie preschten schon zur Lösung vor, ohne dem Problem selbst die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen.
Sie vergaßen einen ganz elementaren Punkt: das Warum.
Saff unterbrach Sebrans Tirade darüber, dass die akzeptable Zahl an zivilen Opfern höher als null sei, und sagte: »Warum sollten die Bloodmoons denn überhaupt einen Augurentempel zum Ziel einer Geiselnahme machen? Sollten wir nicht als Allererstes ihre Motive verstehen?«
»Wir sind doch keine verdammten Diplomaten.« Nissa starrte sie mit ihren goldbraunen Augen an, und sie spürte ihren Blick so körperlich wie eine nahe Hitzequelle. Es kursierten Gerüchte darüber, dass Nissas Großmutter ein Drache gewesen sei, aber das war, fand Saff, allein schon aus … logistischen Gründen schwer vorstellbar.
»Auria, wäre es denkbar, dass sich im Amuilly-Tempel etwas Kostbares befindet?«, fragte sie. »Etwas, das den Bloodmoons diesen Aufwand wert ist?«
Auria schürzte die Lippen. »Einige ältere Betkammern enthalten Reliquien-Zauberstäbe aus dem Zeitalter der Fünf Auguren. Nicht die Stäbe der Auguren selbst, sondern die von anderen zeitgenössischen Sehern. Viele Anhänger glauben, dass diese Reliquien noch immer irgendeine alte Macht besitzen und in den richtigen Händen neue Prophezeiungen hervorbringen könnten.«
Saff nickte eifrig. »Vielleicht sollten wir uns auf die Bergung dieser Reliquien konzentrieren. Um die Bloodmoons von den unschuldigen Geiseln abzulenken, denen in Wirklichkeit gar nicht ihr Interesse gilt.«
»Die Idee gefällt mir.« Aurias blaue Augen funkelten. »Aber solche Reliquien befinden sich vermutlich irgendwo in unterirdischen Kammern. Wenn wir sie sehen könnten, dann könnten wir sie hinauslevitieren, aber …«
»Das ist doch lächerlich.« Verächtlich schüttelte Sebran den Kopf. »Ihr missversteht absichtlich unseren Auftrag. Aber in einer hierarchisch strukturierten Institution ist es von entscheidender Bedeutung, Befehle weisungsgemäß auszuführen. Die Kommandantin hat uns ausdrücklich befohlen, die Geiseln zu retten, und nicht irgendwelche Reliquien, die womöglich völlig irrelevant sind oder nicht einmal existieren.« Er sprach ein wenig deutlicher als sonst, als wollte er sichergehen, dass die Vorgesetzten seine Worte klar und deutlich hörten.
»Soll ich dir eine Laterne holen, Sebran?«, fragte Saff zuvorkommend.
Sebran runzelte die Stirn. »Wozu das denn?«
»Falls es dir beim Arschkriechen zu dunkel werden sollte.«
»Sen effigias«, ertönte es plötzlich neben Saff. Und dann noch einmal: »Sen effigias.«
Es war Nissa, die die Geduld verloren und die beiden Wachen am Eingang niedergestreckt hatte.
Statuengleich standen sie da, in aschgrauen Stein verwandelt.
Nach den Regeln dieser Übung galten sie als tot.
»Wollen wir dann mal?«, fragte Nissa liebenswürdig und steuerte auf den Tempeleingang zu.
Kurz verschlug es Saff vor Zorn den Atem.
»Was zum Teufel?«, zischte Auria.
Nissa drehte sich zu ihnen um, und die auf ihren Hals tätowierte senkrechte Runensäule blitzte auf. »Es gibt nur einen Weg in den Tempel, und den haben sie versperrt. Irgendwann hätten wir sowieso an den beiden vorbeigemusst.«
»Nein. Die Kommandantin sagte, es sei möglich, die Aufgabe zu erfüllen, ohne dass es Tote unter den Bloodmoons oder den Geiseln gibt.« Aurias Wangen waren vor Wut rot angelaufen. »Mir fallen unzählige Zauber ein, mit denen wir an ihnen vorbeigekommen wären. Exarman, um sie zu entwaffnen. Vertigloran, um sie benommen zu machen. Es war nicht nötig, dass du den Auftrag versaust, noch ehe wir überhaupt …«
»Ich schicke Wind durch den Tunnel«, unterbrach Nissa sie. »Wer ist dabei?«
Sebran salutierte spöttisch und folgte ihr, zauberstablos. Gaian zögerte kurz, und seine ohnehin blasse Haut wirkte noch bleicher als sonst. Dann lief auch er hinterher.
Auria seufzte und ließ die Schultern hängen. »Jetzt bleibt uns also nur noch die Wahl, unsere Gruppe aufzusplitten und uns eine schlechte Bewertung für die Zusammenarbeit einzuhandeln, oder bei diesem Irrsinn mitzumachen.«
Saff biss die Zähne zusammen. »Es war Nissa, die jegliche Zusammenarbeit zum Teufel gejagt hat. Lasst es uns auf unsere Weise angehen. Beweisen wir, dass wir Wert darauf legen, das hier vernünftig zu erledigen.«
Auria nickte, aber Tiernan sah nervös Nissa hinterher, zum Tempel und dann zur Galerie hinauf, wo sein Vater saß. »Tut mir leid«, sagte er und rieb sich den Hinterkopf. »Mir fällt nichts Besseres ein.«
Und damit lief er Nissa, Sebran und Gaian hinterher.
»Das hätte ich nicht von dir gedacht, Tiernan«, murmelte Auria, und mit einem Mal wirkte sie nicht mehr ganz so zuversichtlich wie sonst.
Nissa riss die Tempeltüren auf, und von drinnen hallte ihnen eine verzerrte Stimme entgegen: »Sen effigias.«
Sie wich dem Fluch aus, und er traf Tiernan direkt in die Stirn.
Er verwandelte sich von Kopf bis Fuß in grauen Stein, und dann brach ein wilder Kampf aus zwischen Nissa, Gaian, Sebran und wem auch immer dort drinnen im Tempel.
»Ich gönne es ihm, dass es so schlecht für ihn ausgegangen ist«, schnaubte Saff. Aber in Wirklichkeit war sie vor allem wütend, weil er den vertauschten Umschlag vergeudet hatte. »Sehen wir uns schnell um, solange sie abgelenkt sind. Irgendwo muss doch etwas sein, das wir nicht bedacht haben. Ein Hintereingang, ein offenes Fenster, ein Baum, von dem aus wir einen besseren Blick auf die Lage haben.«
Auria nickte und warf im Gehen noch einen verächtlichen Blick zu den anderen hinüber. Sebran lag benommen hinter der Tiernan-Statue auf dem Boden, die Fläschchen aus seinem Tinkturengürtel waren ringsum auf den Pflastersteinen zersplittert. Nissa und Gaian waren nirgends zu sehen.
Saff ermahnte sich, die Sache mit ihrem Bein nicht zu vergessen – sie zog es hinter sich her, als sei es nicht zu gebrauchen. Es war bereits sehr unangenehm, ihre linke Hüfte wurde stark beansprucht, im Gelenk pulsierte schon jetzt ein dumpfer Schmerz. Aber wie Professor Vertillon nicht müde wurde, sie zu erinnern: So etwas konnte jederzeit passieren. Möglicherweise würde sie eines Tages wirklich schwer verletzt kämpfen müssen.
Das Leben war selten fair. Wer wüsste das besser als sie?
Die Akademie hatte sich bei der Gestaltung der Szene wirklich große Mühe gegeben, realistische Bedingungen zu schaffen. Rings um den Tempel standen Händlerkarren und boten Erfrischungen an, um den Magiequell wieder aufzufüllen: Aprikosenküchlein und Mandelnougat, schaumgekrönter Karamell-Kaffee und heiße Schokolade mit Schuss. Neben einem Heuhaufen standen mehrere zufrieden kauende Pferde, und an einem ausklappbaren Picknicktisch saßen ein paar ältere Magier und spielten Polderdash, ein Kartenspiel, bei dem die Farben der Heiligen und Priester mitten im Spiel wechselten. Ein junger, gut aussehender Musiker mit feuerrotem Haar spielte auf seiner Laute das Lamento der Knochenkönigin, die Augen hatte er in demonstrativer Trauer geschlossen, während seine Finger über die Saiten glitten. Die schwermütigen Klänge waren bittersüß und so rein und klar wie ein Glockenspiel, und Saffron spürte, wie sich ihr Freudenquell um eine winzige Nuance füllte.
Doch so sorgfältig die Szenerie auch belebt worden war – weder Saffron noch Auria entdeckten irgendeinen anderen Weg in den Tempel.
»Schade, dass Portari nicht mehr infrage kommt«, murmelte Saff so leise, dass die von Regeln besessene Auria es nicht hörte.
Der Teleportationszauber war bereits vor Jahrzehnten gebannt worden – man hatte ihn aus sämtlichen Zauberstäben des Landes entfernt –, und normalerweise war Saffron froh darüber, weil auf diese Weise weniger Kriminelle der Festnahme entgingen. Aber in diesem Augenblick fragte sie sich, weshalb der Orden keine Sondergenehmigung erhalten hatte.
Doch dann formte sich langsam ein anderer Plan in ihrem Kopf.
»Das Dach«, sagte sie und spähte an dem prachtvollen Gebäude empor. Die gewölbte violette Glaskuppel schimmerte wie der Hort eines Drachen. »Es ist nahezu undurchsichtig, aber vielleicht schaffen wir es ja, ein paar Löcher hineinzuritzen. Dann werfen wir einen Blick ins Innere der Zentralkammer. Und vielleicht können wir sogar ein paar Zauber hindurchwirken.«
»Ja!«, stimmte Auria so begeistert zu, dass eins der Pferde erschrak. »Ich habe drei Levitationstinkturen dabei – ich wusste doch, dass sie sich noch als nützlich erweisen würden.«
Aus dem Tempel hallte ein leiser Aufschrei, gefolgt von dem unverwechselbaren Ping eines Zaubers, der von einer steinernen Mauer abprallte. Auria zog zwei schimmernde weiße Tränke aus ihrem Gürtel, beschriftet mit Ascevolo. Einen reichte sie Saff, dann entkorkte sie ihren eigenen und stürzte ihn in einem Zug hinunter.
Im nächsten Moment schwebten Aurias Füße auch schon mehrere Zentimeter über dem Boden.
Saff wusste, dass das Elixier bei ihr keine Wirkung haben würde, aber sie musste den Anschein aufrechterhalten. Also schluckte sie den Trank mit größter Selbstverständlichkeit, als würde sie davon ausgehen, dass er die gewünschte Wirkung entfalten würde.
Aber natürlich passierte überhaupt gar nichts.
Auria, die inzwischen zwei Meter über dem Boden schwebte und sich an einem Ast festhielt, blickte verwirrt zu ihr hinunter. »Hast du ihn schon genommen?«
»Ja.« Saff tat so, als wäre sie ebenso verwirrt. »Aber irgendwie funktioniert es nicht.«
»Das kann nicht sein, sie stammen aus demselben Kessel.«
»Seltsam.«
»Vielleicht habe ich nicht gut genug gerührt? Vielleicht ist in deinem nicht ausreichend Ulmenasche.«
Saff musterte den nächstgelegenen Baum. Weit unten ragte ein langer, dünner Ast aus dem Stamm.
»Sen efractan«, murmelte sie, und er brach ab. Bei ihr selbst funktionierte Magie zwar nicht, aber andersherum war sie durchaus in der Lage, Menschen oder irgendwelche Gegenstände zu verzaubern.
Rasch sammelte sie ein großes Büschel aus dem Heuhaufen der Pferde – beim Laufen gab sie ein angestrengtes Ächzen von sich und tat so, als würde ihr linkes Bein nicht mitspielen – und drückte es an ein Ende des Asts.
»Ein Besen!«, rief Auria entzückt. Sie hegte eine aufrichtige, fast schon kindliche Begeisterung für Magie.
Saff löste das dünne Seil von ihrem Gürtel und band das Heubündel damit fest. Auf ihren Wink hin warf ihr Auria das dritte und letzte Levitationselixier zu, und sie fing es auf und goss es über den Ast. Sofort ließ der Klammergriff der Schwerkraft spürbar nach, und Saff stieg in die Höhe, wobei sie darauf achtete, dass ihr linkes Bein schlaff herunterhing. Und als der Besen abhob und sich ihre Füße vom Kopfsteinpflaster lösten, empfand sie für einen ganz kurzen Moment dieselbe Freude an der Kunstfertigkeit eines gut ausgeführten Zaubers wie Auria.
Auf Höhe der violetten Kuppel packten Auria und Saff das Sims am oberen Ende der gewölbten Steinwand und hievten sich mit einem angestrengten Ächzen aufs Dach.
Schwer atmend kauerte Saffron auf dem Sims, ehe sie sich beide auf die Kuppel hinauswagten. Sie ließ ihren Besen los, der weiter emporstieg, bis er hoch über ihnen klappernd gegen die Decke des Großen Atriums stieß.
Das Glas war tatsächlich größtenteils undurchsichtig, aber trotzdem konnten sie in der Betkammer unter ihnen vage schattenhafte Gestalten ausmachen und hörten Stimmen – offenbar hatte es wenigstens einer der anderen Kadetten so weit geschafft.
»Sen aforam«, murmelte Saff und drückte den Zauberstab gegen das dicke, gehärtete Glas.
Magie brach aus der Spitze hervor, massiv wie ein Horn, und hinterließ ein kleines rundes Loch in der Kuppel. Auria tat es ihr gleich, und sie beide spähten durch die Löcher in die Tiefe.
Fünfzehn Meter unter ihnen herrschte das reinste Massaker. Nissa stand in der Tür, zu einer Statue erstarrt. Gaian war ein Stück weiter gekommen, ehe es ihn erwischt hatte. Ihre Körperhaltung wirkte fast ungläubig, als könnten sie es nicht fassen, dass sie getroffen worden waren. Sebran, als Soldat ausgebildet, war der letzte noch kampffähige Kadett. Er benutzte Gaian als Deckung und hatte sich offenbar seinen Zauberstab geschnappt – wahllos feuerte er einen Effigias-Zauber nach dem nächsten in die Kammer, wobei er nicht nur Bloodmoons traf, sondern auch Geiseln.
Saff verschaffte sich hastig einen Überblick. Fünf Geiseln waren »getötet«, worden, dazu vier Bloodmoons – womöglich lagen oder standen auch noch mehr im spiralförmigen Korridor. In der Kammer befanden sich drei überlebende Bloodmoons; sie hielten Geiseln als Schutzschilde vor sich und steuerten auf den in Deckung kauernden Sebran zu. Hastig zückte Sebran seine Quellklinge und schnitt sich in den Handballen, erschauerte vor Schmerzlust, aber es war zu spät, und es reichte einfach nicht: Die Gegner waren hoffnungslos in der Überzahl.
»Was für ein Blutbad«, stöhnte Auria bestürzt.
Offenbar hatte sie vergessen, dass ihre Stimme magisch verstärkt wurde.
Die Worte dröhnten durch das kleine Loch und hallten in der runden Betkammer unter ihnen wider. Die Köpfe aller drei Bloodmoons ruckten zu der purpurnen Kuppel empor. Einer von ihnen schleuderte einen Effigias hinauf und traf genau die Stelle, an der Auria kauerte. Glas splitterte, und Auria verwandelte sich in eine Statue.
Und dann brach sie durch die Kuppel und stürzte in die Tiefe.
Reglos, schnell und ganz und gar aus Stein.
Als sie auf dem Mosaikboden aufschlug, zerbarst sie in tausend Stücke.
DER RELIQUIENSTAB
Ihr Heiligen, fluchte Saffron und duckte sich hastig außer Sicht. Ihr Magen krampfte heftig.
Was bedeutete eine so vernichtende Zerstörung? Ließ sich so etwas wieder reparieren? Oder würde Auria nach der Wiederbelebung immer noch in hundert Teile zersprungen sein, wären dann Gliedmaßen und Organe über den mosaikgefliesten Boden verteilt wie der Inhalt eines verschütteten Münzbeutels? Sie wäre nicht die erste Kandidatin, die bei der Abschlussbewertung starb. So etwas kam zwar selten vor, aber Saffron hatte sehr früh gelernt: Das Schlimmste, was passieren konnte, trat normalerweise auch ein. Genau dieser Zynismus machte sie zu einer großartigen Ermittlerin – es war sehr schwierig, sie zu überrumpeln. Allerdings neigte sie ein wenig zu düsteren Stimmungen und einer pessimistischen Sicht auf ihre Mitmenschen.
Weit unter ihr nahm das Lamento der Knochenkönigin an Fahrt auf, und die Lautensaiten erbebten inbrünstig unter geschickten Fingern.
Ein zweiter Effigias-Fluch flog Richtung Saff und zerschmetterte einen weiteren Abschnitt des Glasdachs. Natürlich würde der Zauber sie nicht in Stein verwandeln … aber das durfte niemand in der Akademie wissen, sonst flog ihre gefälschte Zauberer-Zulassung auf.
Falls die Lage wirklich ernst wurde, konnte sie eine ihrer Illusionen herbeizaubern. Ihr Vater hatte ihr diese seltene Kunst beigebracht, als sie noch ein Kind gewesen war, und sie könnte die anderen durchaus glauben machen, sie hätte sich in Stein verwandelt. Aber solche Zauber waren schwierig, und sie länger als ein paar Sekunden aufrechtzuerhalten, war kostspielig … sie saugten den magischen Quell schneller leer als fast alle anderen Zauber. Deshalb verwendeten moderne Magier Illusionen nur so selten.
Unter ihr feuerte Sebran Entwaffnungszauber auf die Bloodmoons ab. Einer davon traf, und ein Zauberstab flog quer durch den runden Raum. Die anderen Bloodmoons wandten die Aufmerksamkeit von der auf dem Dach kauernden Gestalt ab und liefen auf Sebran zu. Ihre Gesichter waren finster, die Umhänge wehten hinter ihnen her wie scharlachrote Schatten.
Gleich zwei Effigias-Flüche auf einmal trafen Sebran, und er verwandelte sich in Stein. Saff war auf sich allein gestellt.
Was sollte sie tun?
Wie sollte sie diese verpatzte Prüfung jetzt noch retten und am Ende doch als Siegerin daraus hervorgehen?
Sie könnte die Bloodmoons einen nach dem anderen entwaffnen, vom Dach aus, aber dann bliebe ihr nicht genügend Zeit, um die Geiseln zu befreien. Sie müsste zu tödlichen Zaubern greifen – beziehungsweise, in diesem Fall, die Gegner ebenfalls in Stein verwandeln. Aber sie wollte unbedingt beweisen, dass es einen Weg gab, diese Prüfung auch ohne ein solches Gemetzel zu bestehen. Außerdem wäre auch ein einziger lebendig gefangener Bloodmoon als Informationsquelle außerordentlich wertvoll.
Rasch ging sie im Geiste ihr Arsenal an Zaubern durch und entschied sich für etwas, das Auria vorgeschlagen hatte, bevor alles so gründlich in die Hose gegangen war. Vertigloran – ein Zauber, der dem Ziel die Orientierung raubte.
Wäre dieser Zauber hier nützlich? Konnte sie ihn wirken und dazu noch eine Illusion ihrer selbst, um die Bloodmoons zusätzlich auszutricksen, während sie selbst sich von hinten an die getäuschten, desorientierten Gegner heranschlich? Es würde sie auf einen Schlag all ihre Magie kosten, und außerdem wüsste die Akademie dann, dass sie in der Lage war, Illusionszauber zu wirken. Aber das war es wert, wenn sie dafür als einzige Überlebende aus dieser Prüfung hervorging.
Dann musste sie ja wohl den Atherin-Posten bekommen.
In einer idealen Welt hätte sie genug Zeit, um alle möglichen und unmöglichen Verästelungen ihres Plans zu durchgrübeln. Aber dies war keine ideale Welt, ihr ganzes Leben war nicht ideal, und da alle anderen Kadetten neutralisiert waren, richteten die Bloodmoons ihre Aufmerksamkeit jetzt ganz auf sie.
Die verbliebenen violetten Glasscheiben zerbrachen, eine nach der anderen, und sie fiel.
Mit der Hand, in der sie keinen Zauberstab hielt, griff sie hektisch nach Halt und fand auch welchen, sehr zu ihrer eigenen Verblüffung: Der verzauberte Besenstiel hatte sich langsam von der Decke herabgesenkt – die Wirkung des Levitationstranks ließ nach.
Während sie sich verzweifelt daran festklammerte, zielte Saff in die untere Kammer und rief: »Sen vertigloran!« Gleich der erste Zauber traf, und sie war heilfroh über die endlosen Zielübungsstunden, die sie zu Beginn des Semesters absolviert hatten.
Einer der Bloodmoons taumelte und fiel unbeholfen auf die Knie, aber dafür blickten die beiden anderen regelrecht mörderisch drein. Der kleinere der beiden feuerte einen weiteren Effigias-Zauber auf sie ab. Er verfehlte sie knapp. Beim nächsten Mal würde sie wohl kaum so viel Glück haben.
»Ans clyptus«, brüllte Saff.
Gerade noch rechtzeitig, um den nächsten Effigias abzuwehren, bildete sich ein schimmernder Zauberschild in der Luft.
Der Bannschild flackerte, fast hätte er sich gleich wieder aufgelöst. Vor lauter Anstrengung, ihn aufrechtzuerhalten, fing Saffron an zu zittern.
Materie konnte zwar nicht aus dem Nichts erschaffen werden, aber manche Magier waren in der Lage, rohe Magie zu kanalisieren, um immaterielle Illusionen und Zauberschilde zu formen – eine seltene Unterklasse der Zauberei, auch bekannt als Materimantie. Auch das hatte ihr Vater ihr gezeigt. Saffron war – sehr zu Aurias Leidwesen – die einzige Kadettin an der gesamten Akademie, die die Materimantie so halbwegs beherrschte.