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Drei Freunde, die vor vielen Jahren eine Reise nach Mittelamerika gemacht haben, treffen sich am Silvesterabend. Während des mehr gängigen Menüs werden nach und nach neue und alte Geheimnisse aufgetischt. Es entsteht ein psychologisches Verwirrspiel von Wahrheit und Verdrängung.
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Seitenzahl: 366
Veröffentlichungsjahr: 2022
Liebe ist der Wunsch, etwas zu geben, nicht zu erhalten. BERTOLT BRECHT
In diesem Sinn hat meine Frau durch ihr Lektorat viel Liebe gegeben und dafür bin ich ihr dankbar.
Dieses Buch ist allen indigenen Völkern gewidmet, die im Kampf gegen ihre Unterdrücker nie den Mut und die Hoffnung auf ein friedliches, gerechtes und lebenswertes Leben verloren haben.
SILVESTERMARATHON
Verdrängte Wahrheiten
Paul Allgäuer hat nach seinem ersten Roman »Davosmarathon«, der von einer turbulenten Entführung im Engadin erzählt, in seinem Gedächtnis gekramt und aufbauend auf einer Jugenderinnerung den Roman »Silvestermarathon« in Form eines Kammerspiels geschrieben. Seine Reiseerfahrungen, seine Liebe zur indigenen Bevölkerung und sein Wissen über soziale Zusammenhänge und innerfamiliäre Ereignisse haben aus dem Roman ein Buch mit vielen Facetten und großer Spannung gemacht.
Ein neuer Roman von PAUL ALLGÄUER
© 2022 Paul Allgäuer
Umschlag, Illustration: Matthias Alpen
Lektorat, Korrektorat: Kathrin Weber
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback
978-3-347-77893-1
e-Book
978-3-347-77894-8
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Gedanken zu Silvester
Kapitel 1 – Vorspiel
Kapitel 2 – Die Vorbereitung
Kapitel 3 – Der erste Gang
Kapitel 4 – Der zweite Gang
Kapitel 5 – Der dritte Gang
Kapitel 6 – Der Hauptgang
Kapitel 7 – Das Dessert
Kapitel 8 – Die Reise
Kapitel 9 – Die Reise zweiter Teil
Kapitel 10 – Prosit Neujahr
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Gedanken zu Silvester
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Gedanken zu Silvester
Silvester ist der Tag der Erwartungen. Nicht irgendwelcher Erwartungen. Monatelang, manchmal sogar ein Jahr im Voraus wird geplant und gespart. An Silvester wollen die Menschen Ballast abwerfen und hoffen auf eine bessere Zeit im neuen Jahr. Ein unwiederbringlicher, einzigartiger Tag, dessen Ende im Mittelpunkt steht. Das Ende ist nur eine Sekunde lang und dieser kurzen Zeitspanne gilt die volle Konzentration. Vergessen das alte Jahr mit seinen Mühen und Lasten, seinen Sorgen und Leiden, seinen unerfüllten Hoffnungen und gescheiterten Vorhaben. Alle wollen feiern. Weltweit.
Der Tag vor Neujahr wird von vielen Menschen künstlich aufgeladen. Anstatt sich dem neuen Jahr frei von Zwängen zu nähern und einfach nur gemeinsam zu feiern, wird ein immer gleiches Schauspiel ungeahnten Ausmaßes veranstaltet. Für keine andere Sekunde eines Jahres wird so viel Aufwand betrieben und konsumorientierter Druck aufgebaut. Nur wenige nutzen die Zeit vor und nach dem Jahreswechsel für Besinnliches. Sollte man sich nicht mindestens einmal im Jahr zurücklehnen, sich Zeit nehmen für das Gewesene und Kommende? Silvester bietet die einmalige Chance, sich einmal keine Gedanken über die Gegenwart zu machen. Sich nicht um das Hier und Jetzt zu kümmern.
Stattdessen begehen viele den Fehler, die Zeit des Wartens auf null Uhr mit Terminen, Gesprächen, Ritualen so voll zu stopfen, dass für das Wesentliche keine Zeit bleibt. Sie gehen im letzten Moment noch Verpflichtungen ein und sprechen auf die Schnelle spontane Einladungen aus. Einige kaufen überteuerte Karten für Theater-, Oper- oder Tanzveranstaltungen, weil sie sich davor fürchten, Silvester allein zu verbringen und hinterher nichts zu erzählen zu haben. Sie leisten sich ein kostspieliges Silvestermenü, das eine Stunde vor Jahreswechsel beendet sein muss. Sie verreisen auf eine Insel oder sonst einen Ort weit weg von zu Hause, ohne sich bewusst zu machen, dass man vor dem Jahreswechsel nicht flüchten kann.
Das größte Übel jedoch sind die Silvesterknaller und -raketen. So schön ein Feuerwerk sein kann, an diesem Tag übertreiben es die meisten. Sie sorgen sich nicht um die Umwelt, den ohrenbetäubenden Lärm und den Dreck, der mancherorts noch Wochen liegenbleibt.
Silvester kann man mittlerweile vergleichen mit dem Heiligen Abend, völlig überfrachtet mit Gewohnheiten und Ritualen: Blei gießen, Fondue essen, Sekt trinken, bestimmte Silvesterfilme gucken, alte Schlager hören, Tarotkarten legen, immer mit demselben Freundeskreis feiern. Jeder, wie er mag oder muss. Rituale verbinden, strukturieren den Tag, aber sie rauben dem Einzelnen die Möglichkeit, sich wenigstens an einem Tag im Jahr „frei“ zu nehmen von Verpflichtungen.
Dazu kommt, dass die Medien sich in Rückblenden ergießen, Politiker auftreten und der Bevölkerung ins Gewissen reden. Auch die Wirtschaft feiert fleißig mit, Partyveranstalter und Restaurants machen das große Geschäft. Böllerverkäufer verdienen sich eine goldene Nase und Sektkellereien leeren ihre Lager. Es fließt Geld in Konfetti, Süßes, Salziges und hochpreisiges Essen. An diesem Tag darf nicht gespart werden und Verkäufer wissen das. Die Preise ziehen kräftig an und der Konsum von Silvesterware steigert Umsatz und Gewinn.
Es wird laut und ausgelassen gefeiert, anstatt zu reflektieren. Will man sein alltägliches Leben ändern, dann ist Silvester sicherlich ein guter Anlass, doch in den meisten Fällen werden die Vorhaben und Pläne im neuen Jahr nicht alt. Die größte Leistung eines neuen Jahres ist das große Vergessen.
Zu all dem kommt die Tatsache, dass man allein oder gemeinsam auf eine bestimmte Uhrzeit wartet und wartet und wartet. Kein Feiertag, kein festlicher Anlass, keine Party oder Geburtstag konzentriert sich auf so wenig Zeit und beeinflusst gleichzeitig so viel Zeit. Wenn es null Uhr geschlagen hat, ist eigentlich alles vorbei. Bis dahin darf im Grunde genommen noch nicht gefeiert werden und danach ist eigentlich alles Geschichte. Ein Paradox.
Kapitel 1 – Vorspiel
Ich habe jahrzehntelang versucht, an Silvester gute Vorsätze zu formulieren, Tarot-Karten befragt und einmal sogar einen Weissager bezahlt, um einen Blick in meine Zukunft zu werfen. Eine Zeitlang habe ich mich intensiv mit den Vorhersagen der Karten und des Hellsehers beschäftigt, dann landeten sie wie so vieles abgeheftet im Ordner ‚Mein Leben‘. Vielleicht sind die vorhergesagten Ereignisse wie Berufswechsel, neue Freundschaften, tiefes Leid, Kinder und anderes mehr nicht eingetreten, weil ich nicht fest genug daran geglaubt und die jeweiligen Zeichen nicht erkannt habe. Vielleicht lag es auch daran, dass ich gute Vorsätze im engeren Sinn nicht benötige, ich bin weder Raucher noch Trinker oder lebe sonstige Süchte aus. Warum etwas ändern, wenn es bisher gut gelaufen ist, wenn andere mit meinem bisherigen Verhalten und meinel Entscheidungen gut leben konnten? Nur weil Jahreswechsel ist?
Ich bin ein Mensch, von Menschen erzogen, mit Menschen erwachsen geworden. Von dem ein oder anderen mehr oder weniger beeinflusst, bin ich meinen Weg gegangen und habe mich seit Jahren nicht davon abbringen lassen. Das bedeutet nicht, dass ich nicht auf andere höre. Wer mich kennt, weiß, dass ich ein guter Zuhörer bin, dass ich gern meiner Arbeit nachgehe, gern koche, naturverbunden bin, eine gewisse soziale Ader habe. Ich liebe meine Frau, kümmere mich um unseren Haushalt und um Tikal, unseren Hund und meinen besten Freund. Ich bin nicht fehlerfrei. Ich kann einstecken, aber auch austeilen. In den letzten Jahrzehnten habe ich Standards entwickelt, anhand derer ich unbewusst darüber entscheide, wen ich mag und wie mein Leben verlaufen soll. Immer wieder stelle ich fest, dass ich aus Erlebtem gelernt habe und meine eigenen Interessen durchaus Vorrang vor denen anderer haben. Ich will nicht jedermanns Freund sein, das ist in der Jugend wichtiger als in meinem Alter. Neue Bekanntschaften bezeichnen mich zuerst als arrogant und meine Nachfragen verunsichern sie. Smalltalk ist nicht meine Sache. Gute, sehr gute Freunde treffen sich mit mir, weil sie das offene Gespräch suchen, Rat und Hilfe, keine diplomatischen, pseudopsychologischen Wahrheiten. Ich gebe mittlerweile unumwunden zu, dass mein Timing nicht immer stimmt. Seit Längerem versuche ich, meine Worte vorsichtiger zu wählen und platze nicht gleich mit der Tür ins Haus. Auch ich will Mitgefühl und Mitgefühl vermitteln. Natürlich weiß auch ich, dass in manchen Situationen Einfühlungsvermögen angesagt ist und Besserwisserei nicht zum erhofften Ziel führt. Ich lerne noch, zum Meister werde ich es dabei wohl nicht bringen, es strengt mich zu sehr an.
Was ich auf jeden Fall nicht brauche, ist ein Silvesterabend, an dem ich beschließe, mein Verhalten ändern zu wollen. Dafür ist jeder Tag gleich gut. Wenn man wie ich bereits mehrere Jahrzehnte auf diesem Planeten lebt, ist einem bewusst, dass die meisten Vorsätze an Silvester im Rausch der Neujahrsfeierlichkeiten und im Alltag schnell vergessen sind.
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Heute, am Tag vor Neujahr, ist einiges anders als sonst. Der Zufall will es, dass ich kurz vor Silvester eine Nachricht erhalten habe, die so bedeutsam, so bahnbrechend für meine Zukunft ist, dass ich sie nicht an einem gewöhnlichen Wochentag verkünden möchte. Mein Privatleben und mein berufliches Leben werden sich im kommenden Jahr, wenn nicht sogar Jahrzehnt von Grund auf verändern. Kein Stein wird auf dem anderen bleiben. Ich werde meine Alltagsgewohnheiten umstellen, mehr Öffentlichkeit in mein Leben lassen und mit ziemlicher Sicherheit Geldzahlungen im Voraus erhalten. Mein Konterfei wird nicht nur auf meinem Pass und Personalausweis zu sehen sein. Ehemalige Lehrer, Ausbilder, Dozenten und Freunde werden sich an mich erinnern und mit stolz geschwellter Brust über die gemeinsame Zeit erzählen. Mein Vater, der so fern von mir weilt, wird wieder an meinem Leben teilhaben und meine geliebte Mutter wird Geschichten aus meiner Kindheit zum Besten geben. Aufhalten lässt sich das nicht, es sei denn, ich lehne das Angebot ab und bleibe, was ich bin. Ich bin mir sicher, meiner Frau Paola wird weder das eine noch das andere gefallen. Aber wir werden nicht lange brauchen, um uns zu entscheiden. Herausforderungen gehören zu unserem Alltag und wir werden auch diese gemeinsam meistern. Weder Haus noch Hof noch Hund, Familie und Freunde oder liebgewonnene Gewohnheiten werden uns aufhalten.
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Heute, an diesem Silvesterabend, werde ich die Katze aus dem Sack lassen. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, habe ich zwei Jugendfreunde eingeladen, mit denen ich fast den Tod gefunden hätte. Seit mehreren Jahren sehen und sprechen wir uns nur noch selten. Trotzdem will ich, dass sie heute Abend anwesend sind und die Neuigkeit zusammen mit Paola als erste erfahren. Während ich den Inhalt des Briefes vorlese, möchte ich in ihre Gesichter sehen und ihre Reaktion genießen. Heute Abend soll es ausschließlich um mich und die Anerkennung meiner Arbeit der vergangenen Jahre gehen. Ich möchte, dass sie meine Leistungen endlich würdigen und erkennen, dass ich mehr kann, als sie mir immer zugetraut haben. Sie, die mich immer mit meiner Schreiberei und meinem Adelstitel aufgezogen haben.
Nach Erhalt des Briefes habe ich mir einen Plan zurechtgelegt. Damit dieser gelingt, musste ich zuerst meine Frau überzeugen, Silvester nicht wie üblich mit Freunden in Berlin zu verbringen. Das war nicht so leicht wie gedacht. Paola lebt in festen Strukturen und Gewohnheiten. Sie davon abzubringen, ohne den Grund zu nennen, war mein Meisterstück. Kurz vor Neujahr wird sie meinen ausgefallenen Wunsch verstehen. Der Inhalt des Briefes wird unsere finanziellen Probleme beenden. Wir werden endlich wieder in den Urlaub fahren und den Kühlschrank sowie die Weinvorräte mit Leckereien und besonderen Tropfen auffüllen können. Paola wird wieder in der Lage sein, unser Anwesen auf Vordermann zu bringen, notwendigl Reparaturen beauftragen und Verschönerungen vornehmen.
Als ich Paola über die neuen Pläne für Silvester und Neujahr in Kenntnis setzte, reagierte sie nicht böse oder aufbrausend. Der Streit zwischen uns fing erst an, als ich ihr von meinen Gästen erzählte. Schließlich stand Silvester, dieser einmalige Tag im Jahr auf dem Spiel, da wollte sie partout nicht mit Unbekannten feiern. Obwohl ich mit Paola seit Jahren verheiratet bin, hat sich nie die Gelegenheit ergeben, meine Jugendfreunde und sie gemeinsam an einen Tisch zu bekommen. Es lag nicht an der Entfernung, sondern ausschließlich an mir. Paola verstand auch nicht, warum ich für den Abend ein opulentes Menü von ihr erwarte. Mindestens fünf Gänge, beste Getränke und ein gemeinsames Frühstück am Neujahrstag. Alles war mit Arbeit und Kosten verbunden.
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Wir wohnen auf einem abgelegenen Gutshof, einem ehemaligen Schloss. Paola führt hier das Kommando. Seit wir den Gutshof übernommen haben, dreht sich in ihrem Leben alles um das Anwesen. An zweiter Stelle komme - so glaube ich zumindest - ich, danach folgt ihre Großmutter und dann unser Hund. In den letzten Jahren hat sie mehrere Räume zu attraktiven Appartements und Zimmern umgestaltet. Neben der Vermietung del Appartements führt sie in dem ehemalig herrschaftlichen Haus eine kleine Pension, die uns ausreichend Einnahmen beschert, um immer etwas zu essen zu haben. Die Einnahmen aus den Appartements fließen ausschließlich in die Renovierung und Instandhaltung des Gebäudes. Am Jahresende steht auf unseren Konten immer eine Null.
Die Bank macht uns keine Schwierigkeiten mehr, seitdem einige Sommergäste sich als Stammgäste etabliert haben. In den Wintermonaten leben wir eher allein, denn die Gegend verfügt nicht über attraktive Wintersportangebote. Es gibt weder einen Berg zum Skifahren noch gespurte Loipen zum Langlaufen. Es liegt auch keine historische Stadt mit einem Weihnachtsmarkt in der Nähe. Ganz häufig haben wir nicht einmal Schnee. Überlastete Manager oder gestresste Familien finden in den Monaten um Weihnachten bei uns keine Ablenkung oder romantische Winterlandschaften. Es fehlt ein Wellnessangebot, wie es andere Hotels mittlerweile anbieten. Von einem Spa-Angebot ganz zu schweigen. Unsere finanziellen Mittel reichen nicht aus, um den Gutshof an die Ansprüche lukrativer Gäste aus aller Welt anzupassen. Paolas Kochkünste ebenfalls nicht, obwohl sie hervorragend kocht - alle Zutaten sind regional und biologisch - und ihr Handwerk versteht. Von gehobener Hotelküche kann man allerdings nicht sprechen, das ist auch nicht ihr Ansatz. Es schmeckt, macht satt, ist gesund und das ist uns wichtig. Wenn Gäste länger als zehn Tage bei uns sind, komme ich ebenfalls in der Küche zum Einsatz. Ich beherrsche ein paar Rezepte aus dem amerikanischen Raum, die für Abwechslung sorgen wie Hotdogs, Hamburger, Steaks und Pancakes.
Paola und ich führen eine harmonische Ehe, die nur getrübt wird durch ihre Großmutter. Sie hat schweren Herzens mit ihrer Enkelin ihr geliebtes Südtirol verlassen und eine kleine Wohnung in Rostock gefunden. Dass sich Paola mit mir eingelassen hat, wir das Anwesen gekauft haben und als Pension nutzen, hat sie mir bis heute nicht verziehen. Aus ihrer Sicht übe ich einen schlechten Einfluss auf ihre Enkelin aus. Sie ist der Meinung, dass ich keiner ordentlichen Arbeit nachgehe und mich verhalte wie Paolas Vater, der seine Frau den ganzen Tag schuften ließ und die Einnahmen aus dem kleinen Hotel mit Restaurant verprasste. Paolas Großmutter darf uns nur nach Anmeldung besuchen. Vieles ist zwischen uns vorgefallen und hat zu dieser drastischen Entscheidung geführt, die Paola vollumfänglich mitträgt. Denn sie weiß, dass ihre Großmutter eine tiefe Abneigung gegen Deutsche hegt. Paola weiß auch, dass ich nicht wie ihr Vater bin und auch nie sein werde. Niemals würde ich unser sauer verdientes Geld ohne ihr Wissen ausgeben, sie betrügen oder Haus und Hof verspielen.
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Bereits wenige Tage nachdem wir das Anwesen bezogen hatten, war klar, wie die Rollenverteilung zwischen Paola und mir aussehen würde. Auf Grund ihrer Erfahrung als Tochter eines Hotel- und Restaurantbesitzers übernahm sie in weitestgehender Alleinregie die Pension und Vermietungsarbeit. Sie kümmert sich um die Gäste, deren Wohl und die damit verbundenen finanziellen Transaktionen. Mein Job ist es zu schreiben und sie hat mir erlaubt, meiner Tätigkeit ungestört in einem alten amerikanischen Wohnwagen außerhalb des Hauses nachzugehen. Damit sorge ich für zusätzliche und mittlerweile regelmäßige Einnahmen. Der umgebaute Wohnwagen ist mein Büro, hier entstehen vierteljährliche Ausgaben einer Science-Fiction-Groschenromanserie. Mehrere Autoren arbeiten zusammen an einer Ausgabe, wir sind über das Internet verbunden und produzieren seit vielen Jahren diese mäßig erfolgreichen Romane, die allerdings eine relativ treue Leserschaft auf allen Kontinenten haben. Unsere Autorennamen sind eher unbekannt und werden vom Verlag nicht beworben. Unser Brötchengeber hat nur ein Ziel: die längste Romanreihe der Welt zu erschaffen. Diesem Ziel ist alles untergeordnet. Daher haben ich und meine Kollegen noch nie Autogramme gegeben und durften auf keiner Messe auftreten. Jeglicher Kontakt zu den Medien ist uns verboten. Die Verträge haben immer nur eine Laufzeit von zwölf Monaten, so bleiben wir kleine abhängige Schreiberlinge.
Kapitel 2 – Die Vorbereitung
Der Wecker hat bereits vor einer halben Stunde geklingelt. Die tiefstehende Sonne taucht die Winterlandschaft in ein herrliches Licht. Von unserem Schlafzimmerfenster aus sieht es draußen aus wie auf einer kitschigen Postkarte: Die tiefverschneite Straße wird von schneeweiß gepuderten Bäumen gesäumt. Zentral steht eine über hundert Jahre alte Eiche, die noch eine Lichterkette von Weihnachten und kleine Kristallmäntel auf ihren Ästen trägt. Nur vereinzelt sind im Schnee Spuren von Leben zu sehen. Kohlmeisen, Gimpel, Drosseln, Saatkrähen und Amseln, die das Land nicht in Richtung Süden verlassen haben, fliegen bedächtig nach Essen suchend zwischen den Bäumen und den wenig schneefreien Erhebungen hin und her. Ich weiß nicht mehr, wann wir das letzte Mal am 31. Dezember so viel Schnee hatten.
Fasziniert von dem Anblick verharre ich vor dem Schlafzimmerfenster und achte nicht darauf, was ich Paola frage. An ihrer Tonlage wird deutlich, dass ich mich in ihre Angelegenheiten eingemischt habe und ihre Antwort lässt erkennen, dass ich mich bei der Zubereitung des Silvestermenüs heraushalten soll. Ich nehme ihre Reaktion gelassen hin, weil mich seit dem Aufstehen vor allem ein Gedanke beschäftigt: Wann wird sich Paolas Großmutter melden und den lang geplanten Abend torpedieren? Ich befürchtete, dass ihre bisherige Zurückhaltung nicht anhalten wird und sie meine Pläne für diesen für mich so besonderen Tag doch noch durchkreuzt. Ich weiß, dass Paola ihr bereits vor Tagen am Telefon von meinem Plan, Silvester einmal anders zu verbringen, erzählt hat. Seitdem herrscht eine ungewöhnliche, merkwürdige Funkstille.
»Haben deine Freunde eigentlich verbindlich zugesagt?«, weckt mich Paola aus meinem tranceähnlichen Zustand. Sie wiederholt die Frage, weil ich im Moment nicht weiß, was ich antworten soll. Obwohl ich keine hundertprozentige und verlässliche Information habe, versuche ich es mit einem vorsichtigen: »Ja, mein Schatz.« »Du lügst mich doch an. Wehe, wenn ich mir die Arbeit völlig umsonst gemacht habe«, zetert sie. Ich bin mir sicher, gleich wird es hier temperamentvoll zugehen. Vorsichtig versuche ich lautlos das Schlafzimmer zu verlassen und unbemerkt am Badezimmer, in dem sie gerade vor dem Spiegel steht, vorbeizuschleichen. Vergeblich. »Ruf sofort bei beiden an und lass dir ihr Kommen bestätigen. Noch können wir mit unseren Freunden in Berlin feiern oder mit Großmutter in Rostock.« Ich breche meinen Fluchtversuch ab und kontere sofort: »In Berlin bekommst du für heute Abend kein Hotelzimmer mehr und mit deiner Großmutter zu feiern kommt überhaupt nicht in Frage, dann feiern wir lieber allein.« Noch während ich die letzten Worte ausspreche, versuche ich einen zweiten Fluchtversuch, um außer Hörweite zu gelangen. »Halt, halt mein Lieber. Weich mir nicht aus!« Leider hat sie mich auf frischer Tat ertappt und stellt sich mir in die Quere. Ich versuche völlig verzweifelt vom Thema abzulenken und entgegne ihr, so als ob ich sie nicht verstanden habe: »Was willst du frühstücken? Café oder Tee, vielleicht ein weichgekochtes Ei? Es ist immerhin Silvester, da sollten wir wie sonntags üblich ausgiebig frühstücken.« Sie antwortet schnell und direkt: »Du sollst nicht andauernd ablenken. Hörst du mir eigentlich zu? Ruf jetzt sofort bei den beiden an!« »Die schlafen sicherlich noch, in Berlin ist zu dieser Zeit niemand wach. Nur wir Landbewohner stehen früh auf und erfreuen uns an der aufgehenden Sonne und der Unberührtheit der Natur«, fabuliere ich wenig überzeugend. »Was für einen Nonsens redest du da? Wir sind nicht in einem deiner Romane. Los ruf an! Das Telefon liegt auf meinem Nachttisch.«
Widerwillig drehe ich mich um die eigene Achse und folge ihr ins Badezimmer, anstatt wie befohlen ins Schlafzimmer zu gehen. Jetzt hilft nur die sanfte Tour mit Charme und Zärtlichkeit. Ich lege meine Arme um sie und küsse sie sanft am Hals. Ein fataler Fehler.
Das Bett seit Jahren zu teilen ist nicht dasselbe wie das Bad. Das Badezimmer und die Toilette sind heilige Orte für sie, die sie allein nutzen will. Außerdem scheint sie mein Manöver durchschaut zu haben. Mit einem strengen Blick und ein paar italienischen Schimpfwörtern werde ich aus dem Zimmer verwiesen. »Was fällt dir ein?«, schleudert sie mir entgegen. Nicht nur der Ton ihrer Stimme, sondern auch ihre eindeutige Geste weisen mir den Weg. Gegen ihr italienisches Temperament bin ich machtlos. Einerseits wirkt sie so noch attraktiver, andererseits sollte ich in all den Jahren gelernt haben, dass sie es ernst meint und dies die letzte Stufe vor einem großen Krach ist. Jeder, der sie in solchen Momenten zum ersten Mal sehen würde, würde sofort Abstand nehmen und wäre auf Tage hinaus sauer. Ich kenne sie inzwischen besser. Ihre heftige Reaktion auf Äußerungen, die ihr nicht gefallen oder auf Handlungen, die ihr zuwider sind, fallen heftig aus und werden mit vollem Körpereinsatz vorgetragen, aber sie meint es nicht so böse, wie es sich anfühlt und anhört. Man muss wissen, dass sie zu den wenigen Menschen gehört, die nicht nachtragend sind, was das Zusammenleben mit ihr angenehm macht. Bei ihren temperamentvollen Ausbrüchen will sie nicht verletzen, sondern ein klares Zeichen setzen: bis hier her und nicht weiter. Den Sturm, den sie entfacht, gilt es richtig zu deuten. Meist ist er von kurzer Dauer und ohne weitreichende Folgen. Trotzdem sollte man ihrem Wunsch folgen - und zwar sofort - und alles andere, was man in solchen Momenten denkt und erwidern möchte, auf später verschieben.
Anfangs, als wir uns noch nicht so gut kannten, habe ich auf derartige Schimpfkanonaden wütend und aggressiv reagiert, mittlerweile habe ich gelernt damit umzugehen. Wichtig ist, Distanz aufbauen und sich auf die Sachebene zu konzentrieren. Dadurch vermeidet man jeden unnötigen Konflikt. Im heutigen Fall hat sie allerdings durchaus recht. Ich bin es, der sich nicht traut, meine Gäste zu einer verbindlichen Zusage zu bewegen.
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Die beiden Freunde, die ich eingeladen habe, sind speziell und haben einen ganz besonderen Platz in meinem Leben. Wir haben die gesamte Kindheit und Jugend miteinander verbracht. Man könnte sagen: Wir sind wie Geschwister aufgewachsen. Das Besondere an dieser Freundschaft ist die Tatsache, dass wir aus drei unterschiedlichen sozialen Schichten stammen. Ich, Sohn einer gräflichen Familie mit Stammbaum bis ins frühe Mittelalter. Adlig, mit einem von vor dem Nachnamen, aber weder reich noch wohlhabend. Mein Vater sagte immer: »Unsere Familie hat sich immer verantwortlich gefühlt für die Bauern und Bürger. Wir haben für sie gesorgt, in guten wie in schlechten Tagen. Adel verpflichtet, mein Sohn, vergiss das nie! Ohne den Bauern- und Handwerkerstand können wir nicht überleben. Wir sind ihnen Führung und Fürsorge schuldig. Ein guter Draht zum Volk ist überlebenswichtig und in der heutigen Zeit gilt dies ganz besonders. Auch wenn der Adel heute keine besonderen Rechte mehr hat, so sind wir auf Grund unserer Vergangenheit immer noch in der Verantwortung. Nimm dir diese Worte zu Herzen und lebe danach, es wird sich für dich auszahlen.«
Diese Einstellung bildete die Grundlage seiner Erziehung. Sie hat mich zu einem umsichtigen, verantwortungsvollen Freund und Ehemann werden lassen. Zu einem sozialen Wesen, das Gesellschaft und Gemeinschaft als zentrale Errungenschaften der Zivilisation sieht. Ich versuche ein guter Staatsbürger zu sein, die Rechtsordnung zu wahren und eventuell auch zu verteidigen. Ich bin durch und durch Demokrat mit traditionellen, konservativen Wurzeln. Sicherheit und Natur liegen mir am Herzen, schließlich war mein Vater nicht nur Burgherr, sondern auch Forstbeamter und hat mir seine Liebe zur Fauna und Flora erfolgreich eingeimpft. Ich bin ein typisches Einzelkind, wohnte wie ein kleiner Lord in einer Burg in Süddeutschland. Diese Burg bot für einen Jungen viel Raum für Fantasien: zahlreiche Zimmer, eine gut ausgestattete Bibliothek, einen Thronsaal, Ritterrüstungen, ein Verlies und Stallungen. Es war ausreichend Platz zum Spielen, aber allein machte das keinen Spaß und so suchte ich mir frühzeitig Freunde aus dem benachbarten Dorf.
Mein erster richtiger Freund wurde Caspar, der älteste Sohn des Hufschmieds. Damals ein ehrenwerter Beruf, der heute weitgehend ausgestorben ist. Caspar war als Kind ein absoluter Comic-Fan, in jeder freien Minute las er irgendwelche spannenden Bildergeschichten, von den amerikanischen Comic-Helden wie Superman und Batman, über die damals angesagten charismatischen Formel-1-Piloten bis zu Prinz Eisenherz. Da kam ihm meine Freundschaft gerade recht. Er war völlig aus dem Häuschen, als ich ihn zum ersten Mal in die Burg einlud und ihn durch die Räumlichkeiten führte. Caspar kam in jeder freien Minute auf die Burg, stromerte mit mir durch die furchterregenden Kerkerräume und dunklen Keller oder benahm sich im sogenannten Thronsaal wie ein Ritter der Tafelrunde. Wir liebten es, die Ritterwelt spielerisch wiederzubeleben.
Meine Mutter war davon nicht gerade begeistert. Sie fand, dass das Leben im Mittelalter zu stark romantisiert wurde und war der Meinung, dass das Leben auf einer Burg, inmitten mittelalterlicher Ausstattung und überholter Ansichten, nichts für junge, leicht beeinflussbare Jungs sei. Ihre Einstellung führte häufig zu Streit zwischen ihr und meinem Vater. Er unterstützte unser Ritterspiel nur allzu gern und erzählte uns Geschichten über die Staufer, Habsburger und andere Herrscherfamilien. Er mimte durch und durch den Grafen. An manchen Abenden gab er Caspar und mir Nachhilfeunterricht im Ritterhandwerk und berichtete mit Begeisterung vom höfischen Leben.
Meine Mutter nahm Caspar herzlich auf. Sie hoffte, dass etwas von Caspars Sportbegeisterung auf mich abfärben würde. Caspar war kräftig gebaut und spielte leidenschaftlich gern Fußball. Der Plan meiner Mutter ging nicht ganz auf, Mannschaftssportarten waren nie mein Ding, aber ich muss zugeben, dass Caspar mich überzeugte mehr Sport zu treiben. Sein gesunder Appetit, Caspar aß alles, übertrug sich auf meine damals eher spartanischen Essgewohnheiten. Für mich zahlte sich die Freundschaft zu Caspar in vielerlei Hinsicht aus. Ich hatte nicht nur endlich einen Spielkameraden, sondern auch einen Beschützer. Mit ihm im Schlepptau brauchte ich keine Angst vor anderen Jungs oder Mädchen zu haben. Keiner wagte mehr, Hand an mich zu legen, mich auf dem Schulhof zu schubsen oder meinen Schulranzen zu verstecken. Zusätzlich lernte ich ein völlig anderes Familienleben kennen. Caspars Eltern waren ganz anders als meine. Sie hatten keine Zeit, um mit ihm über Hausaufgaben oder über die Schule zu sprechen. Sie gaben kaum Geld für Bücher, Zeitungen, Fachzeitschriften oder LPs aus. Meistens musste er sofort nach der Schule nach Hause und im elterlichen Betrieb mithelfen. Ich dagegen wuchs in einer fast heilen Welt auf. Meine Eltern bemühten sich, mir viele Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Vor allem meine Mutter zeigte großes Interesse an meiner schulischen Entwicklung. Sie war sehr an Bildung interessiert und versuchte verstärkt auf meine Einstellung zu gesellschaftlichen Fragen Einfluss zu nehmen. Sie befürchtete, dass mein Vater mich mit seinem Adelssplin, wie sie es nannte, in die falsche Richtung lenkte.
Sie wäre gern die Last des Adelstitels losgeworden. Sie glaubte, dass er ihr bei der Erfüllung ihres Berufswunsches im Wege stand und die adlige Verwandtschaft ein Klotz am Bein war. Immer wieder versuchte sie mich in die Bibliothek zu locken, sprach voller Begeisterung von den Klassikern der Weltliteratur und von den Möglichkeiten, die meiner Generation offenstanden. Wenn sie das sagte, leuchteten ihre Augen. Erst viel später wurde mir bewusst, dass die Burg und die Familie meines Vaters sowie die damit verbundenen Verpflichtungen ihr ein Graus waren und sie mich davor beschützen wollte.
Da meine Eltern in ihrer verantwortungsvollen Rolle als Ahnherren viel Kontakt mit den Familien der reichen Bauern im Umland pflegten, besuchten uns ab und zu am Wochenende die Eltern von Eileen. Gelegentlich war die zierliche, blond gelockte Tochter des wohlhabenden Großgrundbesitzers, wie sich ihr Vater selbst bezeichnete, bei den Kaffeekränzchen dabei. Sie wechselte später auf meine und Caspars Schule. Ihre wirtschaftsliberale Erziehung korrespondierte mit ihrer aus unserer Sicht übertriebenen Liebe zu Büchern. Sie war sehr belesen und nahm die Schule sehr ernst. Schon bald war sie die Klassenbeste, also jemand, den man in der Freizeit eher meidet.
Mit Eileen war es jedoch anders, sie war interessiert an der Vergangenheit meiner Familie und an der Zukunft des Betriebs von Caspars Eltern. Wir wurden unzertrennliche Freunde, obwohl ihre Eltern weniger begeistert waren, dass sie sich mit zwei Jungs und dazu mit einem Kind aus der Arbeiterklasse herumtrieb. Gegen den Kontakt mit dem Adel hatten sie nichts einzuwenden. Für uns Kinder gab es diesen Unterschied nicht.
Das neu entstandene Dreigestirn, das wir alsbald bildeten, war auf vielen Feldern unschlagbar. Eileen war zuständig für regelmäßiges Lernen und hatte stets ausreichend Kleingeld dabei, um Caspar und mir in den Pausen eine Butterbrezel auszugeben. Caspar spielte eine herausragende Rolle bei allem Praktischen und beim Sport. Dank ihm blieb kein Schaden an unseren Fahrrädern lange unrepariert. Und ich hatte aufgrund der Stellung meiner Familie Zugang zu allen Einrichtungen im Dorf und den umliegenden Städten, außerdem bot unsere Burg ausreichend Platz zum ungestörten Spiel und zum Stöbern in der riesigen Literaturauswahl, die meine Ahnen angehäuft hatten.
Das erste Aufeinandertreffen von uns Dreien verlief allerdings eher unglücklich. Eileen unl Caspar konnten sich überhaupt nicht ausstehen. Caspar fand Mädchen blöd, reiche Mädchen noch blöder und reiche Mädchen, die gute Noten schrieben, super blöd. Aber schon bald erkannte er unter meiner Führung die Vorteile der Freundschaft mit ihr. Dank Eileen wurden auch seine Noten besser, was ihm nicht nur in der Schule das Leben erleichterte, sondern auch zu Hause Freiräume verschaffte. Caspar revanchierte sich, indem er ihr beim Sport half und seine Begeisterung zur Natur mit ihr teilte. Schon bald hatte sie keine Angst mehr vor Spinnen und Fröschen, den Bundesjugendspielen und vor anderen Jungs, die sie immer wieder hänselten. Er baute seine Klausurängste ab und begann mit Freude nicht nur Bildbände zu verschlingen. Und ich war glücklich, zwei Freunde zu haben, die sich nicht an meiner Abstammung störten, sondern mich wie einen normalen Jungen behandelten und aus meiner Einsamkeit in der Burg erlösten.
Unser aller Leben wäre anders verlaufen, hätten wir uns nicht gefunden. Wir waren nicht länger Einzelgänger und unseren Eltern und Lehrern hilflos ausgeliefert. Vor allem während unserer Pubertät, als wir nicht mehr auf unsere Eltern hören wollten und uns von den Ratschlägen der Erwachsenen abwanden. Jeder passte auf den anderen auf. Wir probierten zwar Alkohol und Drogen, auch mal zu viel, aber immer war einer da, um den anderen vom übermäßigen Konsum abzuhalten oder vor Dummheiten zu bewahren. Hatte jemand Liebeskummer, spendeten wir im Rahmen unserer Möglichkeiten Trost und Zuwendung, gaben Hilfestellung und Ratschläge. Wir diskutierten viel und schmiedeten früh Pläne für unser Leben nach der Schule, die sehr schnell außerhalb der Vorstellungswelt unserer Eltern lagen.
Wäre es nach seinen Eltern gegangen, wäre Caspar heute Geschäftsführer im Sanitärunternehmen seines Vaters, hätte zwanzig Angestellte, einen fetten Mercedes-Diesel vor der Tür, vier Kinder und würde maximal zwei Wochen Jahresurlaub am Gardasee verbringen. Als einziger Sohn wäre es seine Pflicht gewesen, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.
Eileen hätte nach den Vorstellungen ihrer Eltern eine Banklehre gemacht und wäre als erste weibliche Filialleiterin Baden-Württembergs in der Nähe des Wohnsitzes ihrer Eltern sesshaft geworden. Sie hätte den Sohn eines reichen Nachbarn geheiratet und gemeinsam mit ihm den Großgrundbesitz weitergeführt und ein Haus gebaut. An den Wochenenden würden sie mit ihren musizierenden Kindern an Orchester-Wettbewerben teilnehmen und regelmäßig zum Sonntagskaffee bei den Eltern auflaufen. Eileen war durchaus an einer vernünftigen Ausbildung interessiert, war jedoch mit der einseitigen Rolle als gebildete Mutter an der Seite eines beruflich aktiven Mannes überhaupt nicht einverstanden.
Ich war aus Sicht meines Vaters vorgesehen als Verwalter der Familienburg und als Nachfolger seiner Tätigkeit als Förster. Sprich: Oberförster mit grünem Wamst, einem Jeep und Jagdhund. Außerdem Mitglied der ortsansässigen CDU mit sehr guten Chancen auf den Landesvorsitz des Bauernverbandes. Meine Mutter hatte andere Pläne mit mir: Sie wollte, dass ich ihre Lebenswünsche erfüllte und ein weitgereister Angestellter würde, in welcher Branche war ihr nicht wichtig. Hauptsache raus aus der kleinen süddeutschen Welt und weit weg vom verwandtschaftlichen Adel. Im Nachhinein bin nicht nur ich mir sicher, dass sie es war, die unsere revolutionären Pläne stützte und auf indirekte Weise förderte.
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Es kam, wie es kommen musste. Wir wurden erwachsen und bestanden auf unserem eigenen Willen. Caspars Eltern weigerten sich standhaft, seinen überraschenden Wunsch nachzugeben, länger die Schulbank zu drücken und Abitur zu machen. Sie verstanden nicht, warum er nicht auf den elterlichen Ratschlag hören wollte und nach der Mittleren Reife eine Lehre im eigenen Betrieb absolvierte. Zu Hause wurde seine Mitarbeit dringend benötigt und Schule war nur etwas für die anderen Kinder. Er sollte so schnell wie möglich den heimischen Sanitärbetrieb übernehmen, den sein Vater aufgebaut hatte. Der ehemalige Hufschmied war mit der Zeit gegangen und hatte seine Schmiede umgebaut und modernisiert. Trotzdem war er immer noch der Meinung, dass ein Sanitär kein Abitur brauchte und schon recht kein Studium. Caspar konnte seinen Eltern nicht verständlich machen, dass er Zeit für sich benötigte und ihm die Arbeit seines Vaters keinen Spaß bereitete. Eileen und ich unterstützen ihn in all seinen Argumenten, mit aller Kraft powerten wir gegen die Pläne seiner Eltern. Das führte so weit, dass er immer häufiger bei mir in der Burg übernachtete und wir dort in Ruhe unsere Zukunftspläne schmiedeten.
Eileens Eltern waren zunächst einsichtiger. Für sie stand fest, dass ihre Tochter zumindest Abitur machen sollte. Sie liebäugelten immer noch mit einer Banklehre, ein Studium schien ihnen zu langwierig und für eine Frau nicht notwendig. Schließlich sollte ihre Tochter nicht erst im hohen Alter Mutter werden und vom Studentenleben in den Großstädten hielten sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater nicht viel. Dort lauerten aus ihrer Sicht viel zu viele Gefahren. Sie wollten ihre Tochter vor linkem Gedankengut bewahren und den Abgründen, die außerhalb ihrer Region herrschten. Eventuell verliebte sie sich dort in einen Mann, verließ das Elternhaus und den familiären Besitz und fiel in die Hände von Hippies und Faulenzern, die nach Indien reisten oder in ein anderes unzivilisiertes Land. Diese Einstellung teilte meine Mutter überhaupt nicht, aber sie drang mit ihren Argumenten nicht durch.
Auch ich weigerte mich standhaft, den für mich vorgesehenen Ausbildungsweg zum Förster einzuschlagen. Aus Protest begann ich, kleine Rollen im dorfnahen Theater anzunehmen und äußerte mich zuweilen zu Hause beim Essen offen gegen den Adel und das Leben in einer Burg. Mein Vater wetterte gegen die Theaterleute, die mein Hirn mit unsauberem Gedankengut verschmutzten. Er versuchte seinen gesamten politischen Einfluss gegen die Schauspieltruppe, der ich mich angeschlossen hatte, einzusetzen. Zuerst ging er gegen den Vermieter des Theaters vor, dann mobilisierte er die örtliche Presse gegen die Stücke zu schreiben und versuchte mich von Besuchen des Schmierentheaters, wie er es nannte, abzuhalten. Aber ich wollte partout nicht „Graf des Waldes“ werden, Eileen nicht Bankfilialleiterin und Mutter und Caspar nicht Geschäftsführer des örtlichen Sanitärbetriebs.
Heimlich planten wir unseren gemeinsamen Abgang aus der idyllischen Heimat und von den uns umsorgenden Eltern. Wir wussten, dass unsere Chancen, das Dorf und die Region zu verlassen, besser standen, wenn wir die Abiturprüfung mit Bravour bestehen würden. Wir begannen gemeinsam zu lernen und überzeugten unsere Eltern mit guten Noten, die Schulzeit zu verlängern. Sie genehmigten uns die notwendigen drei Jahre bis zur Abiturprüfung.
Beinahe wäre uns auf unserem gemeinsamen Weg Eileen abhandengekommen. Als Mädchen wuchs sie schneller heran als wir Jungs. Während wir noch Pubertierende mit Pickel und Abenteuergeschichten im Kopf waren, war ihr Körper zur Frau gereift. Das erkannten die französischen Soldaten, die überall im süddeutschen Raum stationiert waren, schnell. Sie machten ihr mit mehr oder weniger Erfolg den Hof. Aus unserer Sicht hatten wir keine Chance gegen die wesentlich erwachseneren, finanziell besser aufgestellten, gebrochen verführerisch Deutsch sprechenden Militärs. Mit Argwohn und Neid verfolgten wir ihre Ausflüge nach Frankreich. Wir hatten Angst, sie als Freundin und Helferin für die Schule zu verlieren. Doch sie kümmerten weder die Bedenken ihrer Eltern noch unsere kindische, egoistische Haltung. Für sie war es ein erstel Abenteuer in der realen Welt. Sie war weitaus mutiger als wir und verfolgte ihre Ziele ohne Rücksicht auf Verluste. Unser Fehler war es, ihr nicht zu vertrauen. Wir sahen nicht die Vorteile für sie, sondern dachten nur an uns. Eileen nutzte die Kontakte zu den jungen Soldaten, um ihr Französisch aufzubessern, eine andere Welt kennenzulernen und sich von ihren Eltern zu emanzipieren. Als ihr kurzes Tête-à-tête vorbei war, fanden wir sofort wieder zusammen und standen Mitten in unserer Abschlussprüfung.
Als wir endlich das Abiturzeugnis in den Händen hielten und uns alle Türen offenstanden, erhielt Caspar den Einberufungsbescheid von der Bundeswehr. Panisch verabschiedete er sich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion. Er bat Eileen und mich um etwas Reisegeld und flüchtete vor der fünfzehnmonatigen Wehrdienstzeit nach Berlin. Auf den Ärger, den wir mit allen drei Eltern bekamen, waren wir nicht vorbereitet. Berlin galt in ihren Augen und der gesamten ländlichen Region Süddeutschlands als Sündenpfuhl. Aus ihrer Sicht herrschten dort Sodom und Gomorrha, die geteilte Stadt war kein Ort für einen jungen Mann aus dem sauberen, traditionsbewussten, konservativen, tief katholischen und rechtsstaatlichen Süden. Auf der einen Seite der Stadt herrschte der gefährliche kommunistische Osten, auf der anderen der verwahrloste Westen - nichts für rechtschaffene Kinder aus der Heimat. Doch je mehr sie dagegen wetterten, desto stärker wurde Eileens und mein Wunsch, uns Berlin einmal näher anzusehen. Obwohl fast volljährig, standen wir unter strenger Aufsicht der Eltern und der gesamten Dorfgemeinschaft. Unser Taschengeld reichte nicht für eine Zugfahrt in die geteilte Stadt. Auch das sauer verdiente Geld, dass wir durch Gelegenheitsjobs in der Stadt verdienten, war entweder sofort für Klamotten und Musik ausgegeben oder wurde von den Arbeitgebern an unsere Eltern ausbezahlt. Ohne Caspar fehlte uns der Mut, die weite Reise anzutreten. Aber ohne Caspar waren wir nicht komplett.
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»Schatz, hast du schon angerufen?«, schallt es durch das Treppenhaus. Die Frage erreicht mich auf der letzten Stufe. Paola ist unerbittlich, spätestens jetzt muss ich folgen, sonst wird das Frühstück zum Martyrium. Wie bestellt steht Tikal, unser Hund, vor mir und wedelt mit dem Schwanz. Das ist die Gelegenheit, um Zeit zu schinden. »Der Hund muss dringend raus, ich gehe kurz mit ihm.« Ich beuge mich über ihn und versuche ihn zu einem frühen Spaziergang zu bewegen, da erscheint Paola am oberen Treppenende. »Stimmt‘s, du hast noch immer nicht angerufen? Du Feigling! Ich dachte, sie sind deine Freunde und Freunde kann man zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen. Also los! Soll ich dir das Telefon etwa auch noch bringen?« »Nein, schon gut. Ich habe nur noch nicht angerufen, weil es noch so früh ist. Du weißt doch, das sind Stadtmenschen und die schlafen nun mal länger als wir.« »Du wiederholst dich. Keine Ausreden mehr, du rufst jetzt sofort an. Der Hund kann warten. Und glaube mir, bevor du nicht angerufen hast, rühre ich keinen Finger in der Küche und du kannst dich gleich in deinen Wohnwagen verziehen, bis es Mitternacht geworden ist.« »Kann ich nicht doch vorher wenigsten mit Tikal raus?« »Nein!« Mit erhobenem Zeigefinger und Wut im Bauch wirft sie das Telefon die Treppe herunter. Im letzten Moment fange ich den Apparat auf, bevor er Tikal trifft oder der Hund ihn mit dem Maul auffangen kann.
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Natürlich sind die beiden meine Freunde, aber nur auf eine gewisse Art. Freunde der Vergangenheit, nicht der Gegenwart oder Zukunft. Mit dem Telefon in der Hand wende ich mich ab und versuche mir in Erinnerung zu rufen, warum ich die Silvesterplanung komplett umgestellt habe, die beiden unbedingt als Gäste haben will und was mich bisher davon abgehalten hat, sie anzurufen. Außerdem ärgere ich mich über Paolas Verhalten und frage mich, ob sie ausreichend Gründe hat, so mit mir umzuspringen. Das Resultat ist eindeutig: Sie hat, ich muss sofort telefonieren.
Zum Glück ist bei Eileen und Caspar nur der Anrufbeantworter dran und ich hinterlasse mit lauter Stimme, sodass Paola mithören kann, meine Botschaft. So wie ich die beiden einschätze, werden sie den Anruf ignorieren. Wie so viele Anrufe von mir zuvor. Früher waren sie anders, aber in den letzten Jahren haben wir uns auseinandergelebt. Keiner hat mehr auf den anderen Rücksicht genommen oder viel Respekt gezeigt, Einladungen ignoriert, Geburtstage vergessen, Neuigkeiten unerwähnt gelassen. Und Sorgen teilen wir schon lange nicht mehr. Eileen und Caspar, die im benachbarten Berlin leben, kaum eine Stunde Fahrzeit entfernt, führen genauso wie ich ihr eigenes Leben.