Simply Green - Anika Neugart - E-Book

Simply Green E-Book

Anika Neugart

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Beschreibung

Slow Fashion, Minimalismus, Tiny Houses – nachhaltige Lebensstile sind voll im Trend. Doch was verbirgt sich jeweils dahinter – und sind sie auch wirklich nachhaltig? »Simply Green« gibt Orientierung und stellt 16 Nachhaltigkeitstrends rund um Wohnen und Mobilität, Konsum und Ernährung, Reisen und Spiritualität vor. Dabei beleuchtet das Buch Hintergründe, setzt sich kritisch mit den Bewegungen auseinander und gibt Tipps zur Umsetzung. Kultig oder übertrieben, alltagstauglich oder unrealistisch, effektiv oder zeitraubend: Mit dieser Orientierungshilfe weiß man über jeden Trend bestens Bescheid.

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Anika Neugart
SIMPLYGREEN
Von Achtsamkeit bis Zero Waste: Nachhaltige Lebensstile im Faktencheck
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2022 oekom verlag, Münchenoekom – Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Umschlaggestaltung: Mirjam HöschlLektorat: Annika Christof-AnsarianInnenlayout & Satz: Ines SwobodaKorrektorat: Maike Specht
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-877-5
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen beziehen sich auf Personen jeglicher Geschlechtsidentität mit Ausnahmen bei direktem Bezug zu einer Person.
Prolog – Warum es sich lohnt, nachhaltig zu leben
Konsumverhalten
MinimalismusLokal statt global
Kleidung
Capsule WardrobeSlow Fashion
Wohnen
Tiny HouseAutarkie
Ernährung
VeganismusLebensmittelrettenUrban Gardening
Abfall
PlastikfreiZero Waste
Mobilität
AutofreiLastenrad
Reisen
MikroabenteuerSlow Travel
Spiritualität
Achtsamkeit
Epilog – Was die Trends verbindet
Weiter informieren – Die Trends in Büchern, Filmen und im Netz
Anmerkungen
Danksagung
Die Autorin

Prolog – Warum es sich lohnt, nachhaltig zu leben

Wer das aktuelle Weltgeschehen betrachtet, könnte oftmals verzweifeln. Wir haben ein Wirtschaftssystem geschaffen, das auf ständigem Wachstum beruht, die endlichen Ressourcen der Erde verbraucht und gleichzeitig die Umwelt so stark verschmutzt, dass der Lebensraum von Mensch und Tier vernichtet wird. Der Klimawandel, vor dem bereits seit Jahrzehnten gewarnt wird, ist überall auf der Erde spürbar. Ein Temperaturrekord jagt den anderen, Gletscher schmelzen, der Meeresspiegel steigt, und heftige Naturkatastrophen häufen sich. Letztere treffen verstärkt die Länder des Globalen Südens und damit die Ärmsten der Weltbevölkerung. Im Gegensatz dazu leben wir in den westlichen Industriestaaten privilegiert und in Wohlstand. Immer mehr Unwetter, Hitzewellen, Hochwasser, Waldbrände und sogar Tornados ereignen sich aber auch in Europa. Allein im Jahr 2021 gab es flächendeckende Waldbrände in Griechenland, Italien und der Türkei, Tornados in Niedersachsen und Tschechien sowie die Überschwemmung des Ahrtals in Deutschland. Darüber hinaus entstehen erste klimabedingte Migrationsbewegungen. Aufgrund von Überschwemmungen, Wetterextremen und Ernteausfällen sehen sich z. B. viele Menschen in Äthiopien gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Die Anzahl solcher Klimaflüchtlinge wird unter anderem wegen der Verschlechterung der Wasserversorgung, des Landverlusts durch den Meeresspiegelanstieg sowie langer Dürreperioden stark zunehmen.
Das Anthropozän, die Ära des enormen menschlichen Einflusses auf die Umwelt und das Klima, hat das sechste Massenaussterben eingeleitet. Das fünfte Massenaussterben wird 66 Millionen Jahre zurückdatiert, als ein riesiger Asteroid auf der Erde einschlug. Damals wurden 75 Prozent aller Arten auf dem Planeten vernichtet – das Zeitalter der Dinosaurier ging zu Ende. Die CO2-Emissionen in der Erdatmosphäre steigen, ähnlich zum Kohlenstoffspiegel, derzeit schneller an als je zuvor in den vergangenen 66 Millionen Jahren. Die CO2-Werte liegen sogar bedrohlich nahe an denen, die laut Berechnungen zu einem Abschmelzen des Eisschilds in der Antarktis führen. In den arktischen Regionen sind die Veränderungen schon im Gange.1
Wie weit vorangeschritten ist die Klimaerwärmung?
Die Erde erhitzt sich laut wissenschaftlichen Erkenntnissen viel schneller als von offiziellen Stellen wie dem Weltklimarat (IPCC) vorhergesagt. Im Vergleich zum vorindustriellen Niveau hat sich heute die Durchschnittstemperatur bereits um 1,2 Grad erhöht. Zwar soll die Erderwärmung laut dem Pariser Klimaabkommen bis zum Jahr 2100 unter 2 Grad bleiben, aber bei dem gegenwärtigen Kurs steigt die Temperatur eher um 4 Grad, möglicherweise sogar um 8 Grad.2 Im August 2021 bestätigte dies auch der Weltklimarat in einer Veröffentlichung, die erste Ergebnisse des IPCC-Berichts für 2022 vorwegnahm. Neuen Berechnungen zufolge wird in den nächsten zwanzig Jahren die 1,5-Grad-Grenze der Erderwärmung überschritten, wenn keine sofortigen, umfassenden Maßnahmen zur Reduktion der Treibhausgase ergriffen werden.3
Angesichts der besorgniserregenden Entwicklungen besteht großer Handlungsbedarf. Wenn wir Umwelt und Klima schützen wollen sowie ein friedliches Miteinander auf der Erde wünschen, dann müssen wir einiges ändern – allem voran das Wirtschaftssystem. Auch die Verwendung und Verteilung der globalen Ressourcen muss gerecht und nachhaltig werden. Globale Klima- und Umweltschutzregelungen müssen greifen. Und die von unserer Gesellschaft angestrebten Werte wie Macht, Geld und Besitztum, aber auch die Ich-Fixiertheit und Ellenbogenmentalität müssen sich ändern. Ein Großteil dieser Aufgaben und deren Umsetzung obliegen Politik, Unternehmen und Bildungsinstitutionen. Aber gesellschaftliche und systemische Veränderungen werden immer von Vordenkern ausgelöst, von einzelnen Individuen. Oder wie es die britische Sozialhistorikerin und Ökonomin Joan Thirsk formulierte: »Die Geschichte zeigt uns, dass wesentliche Veränderungen normalerweise von einigen wenigen Idealisten vorweggenommen werden, von geduldigen, hartnäckigen Individuen, die ihren persönlichen Überzeugungen über viele Jahre nachgegangen sind, bevor irgendeine Krise auftrat.«4
Solche Idealisten gibt es auch in unserer heutigen Zeit. Sie treten für den Tier-, Umwelt- und Klimaschutz ein, für eine nachhaltige Wirtschaft, für weniger und regionalen Konsum, für mehr Unabhängigkeit, soziale Gerechtigkeit und ein friedliches Miteinander. Es ist die Hinterfragung und Abwendung vom gängigen konsumorientierten Verhalten, das die schädlichen Systeme unterstützt. Ihre Bestrebungen formulieren sich in zahlreichen alternativen Lebensstiltrends, wie z. B. SLOW FASHION, MINIMALISMUS, ZERO WASTE oder ACHTSAMKEIT. Gemeinsam ist diesen Bewegungen das Streben nach gesellschaftlichen Verhaltensänderungen. Die Verfechter des jeweiligen Lebensstiltrends, die an die Öffentlichkeit treten, sind äußerst kommunikativ und vernetzt. Sie verbreiten ihre Gedanken und Konzepte über Social-Media-Plattformen sowie eigene Websites und Publikationen. Das Wissen um die alternativen Lebensstile ist für alle frei zugänglich, denn es werden Mitstreiter gesucht. Das heißt, wir alle profitieren von den Ideen der zeitgenössischen Idealisten und haben die Möglichkeit, unser eigenes Leben nachhaltig auszurichten.
Jeder kann die eigenen Gewohnheiten hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Mensch und Umwelt untersuchen. So kann sich beispielsweise gefragt werden: Welche (endlichen) Ressourcen wurden verwendet, um ein bestimmtes Produkt zu fertigen? Werden Tierleid oder soziale Missstände wie Kinderarbeit oder zu niedrige Löhne mit dem Kauf unterstützt? Trägt ein Produkt oder eine Dienstleistung aktiv zur Umweltverschmutzung bei? Benötige ich gewisse Dinge wirklich, oder kann ich auch darauf verzichten? Was geschieht mit dem Gegenstand, wenn ich ihn nicht mehr gebrauchen kann? Es geht letztlich darum, ein Bewusstsein für das eigene Verhalten zu entwickeln und es gegebenenfalls anzupassen. In Summe tragen solche Verhaltensveränderungen von Privatpersonen nicht nur zu mehr Nachhaltigkeit bei – sie üben gleichzeitig Einfluss auf Wirtschaft und Politik aus. Wenn ökologisch und ethisch bedenkliche Produkte abgelehnt werden sowie der eigene Konsum reduziert wird, beeinflusst dies Unternehmen sowie das soziale Umfeld.
Dieses Buch stellt 16 der aktuellen Nachhaltigkeitstrends vor. In die Texte flossen Informationen aus zahlreichen Büchern, Artikeln sowie Blogbeiträgen zu den jeweiligen Trends ein. Jeder deckt einen bestimmten Lebensaspekt ab: Konsumverhalten, Kleidung, Wohnen, Ernährung, Abfall, Mobilität, Reisen und Spiritualität. Die Lektüre von Simply Green soll inspirieren, die eigenen Gewohnheiten zu verändern und etwas zum Umwelt- und Klimaschutz beizutragen.
Der Begriff »Trend«
Die folgenden Kapitel drehen sich um Lebensstiltrends. Aber was ist damit eigentlich gemeint? Der Begriff »Trend« bedeutet auch »Richtung«, »Strömung«, »Mode« oder »Tendenz«. Bezogen auf den Lebensstil handelt es sich um die vermehrte Hinwendung der Menschen zu einem bestimmten Verhalten, das sich über einen gewissen Zeitabschnitt bemerkbar macht. Diese Tendenzen im Lebenswandel der Menschen sind anhand von Meinungsumfragen und statistischen Erhebungen gut nachvollziehbar. Die beschriebenen Trends stammen größtenteils von Menschen aus Industriestaaten mit einem entsprechend privilegierten Lebensstil. Das bedeutet, sie sind als »westlich« anzusehen. Im Gegensatz zu Menschen aus Ländern des Globalen Südens haben wir mehr Auswahlmöglichkeiten, zu handeln oder zu konsumieren. Wir sind vergleichsweise reich und können es uns leisten, mehr zu zahlen oder freiwillig auf Dinge zu verzichten. Wer arm ist und auf etwas verzichtet, tut dies meist aus Not und nicht freiwillig.
Konsumverhalten

Minimalismus

»Souverän ist nicht, wer viel hat, sondern wer wenig braucht.«
Niko Paech, deutscher Ökonom und Nachhaltigkeitsforscher
Minimalismus ist die Reduzierung des Besitzes und die Konzentration auf das Wesentliche. Es ist ein freiwilliger Verzicht auf die zahlreichen Produktangebote und ein Ausstieg aus der Konsumgesellschaft. Ziel ist es, Kaufgewohnheiten entgegenzuwirken und ein erfülltes, unabhängiges Leben zu führen. Minimalismus ist eine »Lebensphilosophie des Essenziellen«.1
Schlichte Lebensweisen gibt es schon lange. Einfachheit und Bescheidenheit gelten als Weg zur spirituellen Erfüllung. Sie finden sich in Religionen wie auch in Philosophien der griechischen Antike. Das Christentum, der Hinduismus, der Buddhismus und der Sufismus sprechen sich für das einfache Leben aus. Im Hinduismus, der etwa 500–200 v. Chr. in Indien entstand, gibt es beispielsweise asketisch lebende Wandermönche. Die sogenannten Sadhus lassen noch heute all ihren Besitz hinter sich, um durch Meditation, Yoga und ein einfaches Leben zur Erleuchtung zu gelangen. Auch Siddharta Gautama, später Buddha genannt, wurde zum Wandermönch und zog ohne Besitztümer auf die Straße. Zu den Ordensregeln buddhistischer Klöster zählt bis heute, dass die Nonnen und Mönche nicht auf hohen Betten schlafen dürfen. Ein hohes Bett war im alten Indien Ausdruck für Luxus. Mit dem Begriff »Sufismus« werden asketische, spirituelle Strömungen des Islams zusammengefasst. Sie entstanden etwa 600 n. Chr. Die frühen Sufis waren allein lebende Asketen, die sich von Besitztümern abwandten.
Jesus lebte ebenfalls ein einfaches Leben und ermutigte seine Anhänger, es ihm gleichzutun, denn Gier und die Ansammlung von Materiellem beeinträchtigten die Beziehung zu Gott.2 Christliche Minimalisten sehen in ihm den Vorreiter der Minimalismusbewegung. Der im Christentum gepriesenen Bescheidenheit folgte auch Franziskus von Assisi. Er lebte so einfach wie möglich und gründete später den Franziskanerorden. In den Ordensregeln heißt es, man solle Geld nicht mehr wertschätzen als Stein.3
Zu den Philosophien des einfachen Lebens zählen der Kynismus und der Stoizismus. Der Kynismus befürwortet ein naturbezogenes, genügsames Leben mit dem Notwendigsten. Diogenes von Sinope ist der wohl berühmteste Kyniker. Er lebte im 4. Jahrhundert v. Chr. in einem großen Fass in Athen und besaß nur ein Bekleidungstuch und eine Trinkschale. Als er einen Jungen aus seinen Handflächen trinken sah, warf er auch die Schale weg.4 Im Stoizismus, etwa 300 v. Chr. gegründet, wird der Mensch als Teil des großen Weltkomplexes und der Natur gesehen. Nach Einsicht strebend wird ein genügsames, autarkes Leben propagiert. Von den Aufzeichnungen des Gründers der Philosophie sind nur wenige erhalten. Lehrinhalte wurden über seine Anhänger verbreitet. Cicero schrieb beispielsweise, dass selbst die Mächtigen, die in Besitz von Schätzen und Häusern seien, ihre Sehnsüchte und Begierden nie befriedigen könnten. Sie unterlägen nicht nur dem Zwang, ihren Besitz immer weiter zu vermehren, sondern auch der Angst, alles zu verlieren. Erst durch die Überwindung dieser Zwänge entstehe wahre Autorität. Seneca beschrieb Stoizismus hingegen als einen individuellen Prozess aus aktiven Beurteilungen. Er betonte, dass Geldmangel kein Beweis für ein autarkes Leben sei.5 Als Seneca auf sein Leben im Wohlstand mit Wein und eleganten Möbeln angesprochen wurde, entgegnete er: »Die Philosophie verlangt nach einem simplen Leben, aber nicht nach Buße.«6
Eine ähnliche Argumentation führen zeitgenössische Minimalisten in Bezug auf ihre Designermöbel oder teuren Kleidungsstücke an. Ein minimalistisches Leben entspreche nicht dem Verzicht auf gute Produkte. Konsumiert würde nach dem Credo »Qualität vor Quantität«. Stoizismus wird auch gerne in Form von bewusstem Verzicht in die Minimalismuspraxis integriert. Wie ist es, einige Monate ohne Handy, Shopping oder Internet zu Hause auszukommen? Was davon ist Konsumgewohnheit, was ist Notwendigkeit?7 Neben dem Stoizismus berufen sich Minimalisten auch auf den Einfluss des Zen-Buddhismus. Durch Meditation entständen mehr ACHTSAMKEIT und Einfachheit im täglichen Leben.8 Zu berühmten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, die einen einfachen Lebensstil führten und mit Minimalismus in Verbindung gebracht werden, zählen unter anderem Mahatma Gandhi, Albert Schweitzer, Albert Einstein, Mutter Teresa und Steve Jobs. Lebende Berühmtheiten, die mit Minimalismus assoziiert werden, sind z. B. Barack Obama und Mark Zuckerberg. Ihr Minimalismus drückt sich hauptsächlich über immer dieselben Outfits, sogenannte CAPSULES, aus.

Wie entstand Minimalismus?

Als Wegbereiter des Minimalismus in den USA gilt Henry David Thoreau. Er zog 1845 für zwei Jahre in ein Waldstück eines Freundes, um Freude im einfachen Leben zu finden. Dort errichtete er sich sein eigenes Holzhaus an einem See und schrieb das Buch Walden. Oder das Leben in den Wäldern.9 Eine Erkenntnis seines Experiments war, dass die Finanzierung seines schlichten Lebens im Wald nur sechs Wochen Arbeit im Jahr erforderte. Er gilt auch als Ideengeber der TINY-HOUSE-Bewegung.10 In Deutschland ist Friedrich Nietzsche literarischer Vorreiter des einfachen Lebens. Unter anderem kritisierte er, dass mit dem Streben nach Besitztümern nichtmaterielle Bereiche im Leben, die einen Mangel erfuhren, ausgeglichen würden. In seinem Buch Also sprach Zarathustra11 schuf er eine Gestalt, die seinen Idealen vom einfachen Leben entsprach.12
Der gesellschaftliche Trend zur radikalen Besitzverminderung begann rund hundert Jahre nach Thoreau und Nietzsche mit Veröffentlichungen zum Thema Einfachheit. In den 1980er-Jahren schrieb der amerikanische Sozialforscher Duane Elgin mit einem Kollegen den Artikel »Voluntary simplicity«. Der Artikel war von einem amerikanischen Philosophen inspiriert, der in den 1920er-Jahren zu Mahatma Gandhi nach Indien gereist und vom einfachen Leben des Pazifisten beeindruckt war. Elgins Artikel lieferte ein Jahr später die Vorlage für das gleichnamige Buch, das zum Bestseller wurde. In seinem Buch erörterte er ein Leben mit äußerer Einfachheit und innerem Reichtum. Auch sagte er voraus, dass materielle Einfachheit in der Zukunft weniger asketisch, dafür jedoch ästhetischer sein werde.
Während in den Jahren darauf das Werk Elgins in Vergessenheit geriet, entstand in den 1990er-Jahren in Nordamerika eine neue Welle an Literatur und Motivationscoaching über die Vereinfachung des Lebens. Zu den Stichworten zählten Downsizingund Simplify. Das gleichnamige Buch Simplify. Das Handbuch zum einfachen Leben13 avancierte zum Bestseller. Interessanterweise ist der gesellschaftliche Trend zum einfachen Leben häufig in Krisenzeiten zu beobachten. So ist die Bewegung in den 1990er-Jahren auf die Rückkehr vieler traumatisierter Soldaten aus dem Vietnamkrieg und die Wirtschaftsrezession zurückzuführen. Viele Firmen entließen damals einen Großteil ihrer Angestellten, was diese motivierte, mit weniger Konsum auszukommen.14
Nach der Finanzkrise 2008 erlangte die japanische Aufräumexpertin Marie Kondo mit ihrem Buch Magic Cleaning. Wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert15 weltweite Berühmtheit. In ihrem Buch beschreibt sie, wie Leser durch das Befolgen einfacher Schritte ihren Besitz vermindern, nur das behalten, was Freude auslöst, ihr Zuhause ordentlich gestalten und damit ihr Leben verbessern. Auch wenn Kondo von vielen Minimalisten als Inspiration angeführt wird, stellt sie klar, dass sie keine Minimalistin sei. Ihre Aufräummethode unterscheide sich grundsätzlich von der minimalistischen: »Minimalismus propagiert, mit wenig zu leben; die KonMari-Methode empfiehlt, mit Objekten zu leben, die du wirklich wertschätzt.«16
Im Internet war Minimalismus bereits etwas früher ein Trend. In den USA schrieben zahlreiche Blogger über das Thema. Zu den einflussreichsten zählen Leo Babauta (zenhabits.net), Joshua Becker (becomingminimalist.com), Erin Boyle (readingmytealeaves.com) sowie Joshua Fields Millburn und Ryan Nicodemus von theminimalists.com. Die Blogger veröffentlichten ihre Konzepte auch in Büchern, die sich häufig zu Bestsellern entwickelten, oder wurden zu Hauptprotagonisten in Filmen, wie die Freunde Millburn und Nicodemus in der Dokumentation Minimalism des Streaming-Anbieters Netflix. Auch Marie Kondo wurde eine Netflix-Serie gewidmet: Aufräumen mit Marie Kondo.
Im deutschsprachigen Raum veröffentlichte der Autor und Pfarrer Werner Tiki Küstenmacher 2001 den Bestseller Simplify your life.17 In dem Buch wird geraten, seinen Besitz zu reduzieren, sein Leben zu entschleunigen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Ab der Finanzkrise um 2008 wurden zahlreiche Handbücher zum Thema auch ins Deutsche übersetzt. Während zu Beginn die »Vereinfachung des Lebens« oder »Simplify« in den Buchtiteln verwendet wurde, ist in den letzten Jahren ein Trend zur Verwendung des Wortes »Minimalismus« zu verzeichnen. Auch erste deutschsprachige Blogs zum Thema Minimalismus entstanden. Zu den frühen Trendsettern gehörten Alexander Rubenbauer (psychologie-journal.de), Michael Klumb (minimalismus-leben.de) und Daniel Siewert (schlichtheit.com). Heute gibt es eine Vielzahl an Youtubern und Bloggern, die regelmäßig Beiträge zu Minimalismus erstellen. Die deutsche Filmindustrie griff Minimalismus 2018 mit der Komödie 100 Dinge auf. Matthias Schweighöfer und Florian David Fitz spielen darin zwei junge Männer, die sich auf die Wette einlassen, hundert Tage lang auf Konsum und Luxus zu verzichten. Sie geben ihren gesamten Besitz ab und müssen lernen, mit weniger auszukommen.

Wie wird Minimalismus umgesetzt?

Bei vielen Minimalisten ist eine persönliche Krise der Anstoß für die Änderung der Lebensweise. Der Fokus auf die zeitaufwendige Karriere und das Geldverdienen hat sie von dem abgelenkt, was ihnen eigentlich wichtig ist, wie beispielsweise ihr Sozialleben. Der Konsum von Produkten hat ihnen im Gegensatz zu den Werbeversprechungen nicht zum inneren Glück verholfen. Sie fühlen sich durch ihren Besitz eingeengt. Die Anschaffungen haben Zeit und Geld gekostet und wollen auch noch zu Hause gepflegt werden. Hinzu kommt die ständige Reizüberflutung durch digitale Medien und die omnipräsenten Banner der Werbeindustrie. Durch die Beschleunigung der Kommunikation ist Stress in Form von Zeitdruck entstanden. Dieser ist nicht nur im Beruf, sondern auch im Privaten spürbar. Es wird sich nach Ruhe gesehnt – im Inneren sowie im materiell überladenen Wohnungsbereich. Angesichts des Klimawandels ist ein Übermaß an Konsum auch zunehmend mit schlechtem Gewissen behaftet. Viele sind sich des eigenen Handelns als Teil der kapitalistischen Wirtschaft und deren Auswirkungen auf die Natur bewusst. Das neue Credo lautet: »Weniger ist mehr.« Was einfach klingt, ist aber nicht von heute auf morgen umsetzbar. Minimalismus ist ein Prozess. Er beginnt mit der Analyse und Reduktion des eigenen Besitzes.18

Besitzanalyse – Die Trennung von unnötigem materiellen Ballast

Minimalismus wird als Erstes in den eigenen vier Wänden angegangen. Das kann aufwendig sein, denn ein Deutscher besitzt im Durchschnitt 10.000 Dinge.19 Alle Räume werden einer Inventur unterzogen. In der Regel sortieren Minimalisten Dinge aus, die doppelt oder kaputt sind sowie nie bis selten genutzt werden. Eine aufblasbare Schwimminsel wird vielleicht nur einmal im Jahr verwendet. Tennisspielen wurde bereits vor sechs Jahren aufgegeben. Und der Großteil des Bücherregals besteht aus Büchern, die man nicht zweimal liest. Solche Objekte werden aussortiert. Auch von Dingen, die nur aus Prestigegründen besessen werden, trennen sich Minimalisten. Erbstücke sind ein Spezialthema, zu dem es unterschiedliche Ansätze gibt. Beispielsweise fragen sich manche, was der Verstorbene gewollt hätte. Andere binden die Erbstücke als besondere Dekorationsgegenstände in den Raum ein. Geschenke werden hingegen behandelt wie jedes andere Objekt.
Im Anschluss wird die Anzahl der übrigen »sinnvollen« Dinge inspiziert. Macht es z. B. Sinn, unzählige Teller, Tassen, Gläser, Bestecksets und Tischdecken zu besitzen, wenn im Haushalt nur zwei Personen leben? Dinge, die bleiben, sind nützlich oder bereichern das Leben in anderer Form, wie beispielsweise als ästhetischer Hingucker. Die Entscheidungen sind hier bei jedem Menschen individuell. Nach dem Aussortieren des unnötigen Besitzes sind oft ganze Möbelstücke überflüssig. Während ein Schrank zuvor eventuell Bettbezüge und zahlreiche Handtücher beinhaltete, kommen die übrig gebliebenen Stücke nun in einer Kommode unter. Der Schrank kann als weiteres unnötiges Objekt Haus oder Wohnung verlassen. Die minimalistische Reduktion führt dadurch schnell zu einem größeren Wohnbereich, der mehr Licht und Bewegung zulässt.
Empfohlen wird auch das Digitalisieren von Gegenständen wie das Fotografieren oder Einscannen von Briefen und alten Fotos. Lieblingsdinge, von denen die Trennung schwerfällt, werden ebenfalls fotografiert, um das Weggeben zu erleichtern. Die Aufbewahrung von analogen Konsumgütern wie Filmen, Musikalben oder Büchern ist heute unnötig. Jegliche Unterhaltungsmedien finden sich auf Streamingportalen, bei Online-Musikanbietern oder in sonstiger digitaler Form. Allerdings besteht bei all diesen Möglichkeiten die Gefahr, den Besitz nur ins Digitale zu verlagern. Eine Unterkategorie lautet deshalb »Digitaler Minimalismus«. Hierbei werden die Prinzipien des Minimalismus auf die Datenspeicherung angewandt.

Besitzreduktion – Die Befreiung von Stress

Nachdem festgelegt wurde, welche Objekte überflüssig sind, werden sie weggegeben. Für nachhaltig denkende Minimalisten ist Wegwerfen die letzte Option. Idealerweise werden die Objekte von anderen weitergenutzt und damit ihre Produktlebensdauer verlängert. Manche sprechen deshalb auch von der »Faireinfachung des Lebens«.20 Häufig sind die Objekte noch intakt und können online oder in Secondhandshops verkauft werden. Das gilt auch für kaputte Dinge, die noch reparierbar sind oder sich, wie z. B. Technikware, noch zur Ausschlachtung eignen. Sammlerstücke oder Luxusobjekte können sogar versteigert werden. Objekte werden auch getauscht oder an andere weitergegeben. Sozialkaufhäuser nehmen beispielsweise Spenden aus allen Lebensbereichen an. Bücher können in öffentlichen Bücherschränken unterkommen. Was am Ende an Objekten übrig bleibt, wird möglichst recycelt und nur als letzte Option in den Restmüll gegeben. Gegenstände aus Metall können beispielsweise auf Wertstoffhöfen oder über die Sperrmüllabfuhr abgegeben und wieder eingeschmolzen werden.
Je nach Menge und Art der Objekte benötigt die Reduktion des Besitzes Zeit und kann auch als Schleife verstanden werden. Ein Ablauf, der wiederholt wird, bis man mit dem Ergebnis zufrieden ist. Die »Korbmethode« ist sehr hilfreich für das Aufrechterhalten der Routine. Dabei wird regelmäßig mit einem Wäsche- oder Einkaufskorb die Wohnung inspiziert und wie im Laden »eingekauft«. Die Objekte, die im Korb landen, werden weggegeben.

Neue Konsumgewohnheiten entwickeln – Die Loslösung von diktierten Wünschen

Haben sich Minimalisten in ihrem objektreduzierten Leben eingerichtet, werden die nächsten Kaufentscheidungen gründlich überdacht. Eine Neuanschaffung wird erst getätigt, wenn ein Objekt ersetzt werden muss. Dadurch bleibt der Besitz auf das Notwendigste reduziert, und es entsteht keine neue Ansammlung von Unnötigem. Bei jedem Anschaffungswunsch stellen sich nun die Fragen: Wird das Produkt wirklich gebraucht? Wird es beispielsweise mindestens einmal die Woche verwendet? Kann das Objekt mehr als einen Zweck erfüllen? Wird es das Leben bereichern? Wer hat es hergestellt, und welche Ressourcen sind dabei verwendet worden? Was passiert damit, wenn es genutzt wurde?21 Manche Minimalisten setzen ihren Kaufwunsch auch auf eine Liste und warten einige Wochen ab. Durch Hinterfragen des Anschaffungswunsches wird sichergestellt, dass das Produkt wirklich benötigt wird und den eigenen Werten entspricht.
Ein genügsamerer Lebensstil wird entwickelt. Dinge werden nun genutzt, bis sie kaputt oder verbraucht sind, ähnlich der ZERO-WASTE-BEWEGUNG. Überhaupt gehen die Konsumgewohnheiten der Minimalisten oftmals mit anderen Trends, wie z. B. dem PLASTIKFREI-TREND, einher. Statt viele verschiedene Putzmittel zu besitzen, wird sich beispielsweise auf eine geringe Anzahl an alten Hausmitteln beschränkt. An die Stelle industrieller Chemieprodukte treten Essig, Natron, Zitrone, Kernseife, ätherische Öle und Kokosöl. Die Verwendung von natürlichen Produkten ist gesünder, und der Stauraum für Putzutensilien wird übersichtlicher.
Neben dem Kaufverhalten überprüfen Minimalisten auch digitale Konsumroutinen. Dazu gehören Alltagshandlungen wie unüberlegtes Surfen im Internet, Fernsehschauen oder Binge-Watching von Serien. Unternehmungen wie Kino-, Theater- und Konzertbesuche sowie das Ausgehverhalten werden ebenfalls unter die Lupe genommen. Dieser alltägliche Konsum kann stressig, teuer, ungesund und zeitaufwendig sein. Wer mehr Geld benötigt, muss auch mehr verdienen. Wer nur am Smartphone spielt, hat keine Zeit, zur Ruhe zu kommen. Wer jeden Abend Serien schaut, fragt sich eventuell, warum er keine Zeit findet, ein Hobby auszuüben.
Das Umstellen der Gewohnheiten ist zu Beginn ein anstrengendes Experiment, bei dem auch neue Dinge ausprobiert werden, die eventuell scheitern. Letztlich entwickelt jede Person ihre eigenen neuen Verhaltensweisen, die sie vorsichtig auslotet und die schließlich in den Alltag übergehen. Dabei wird keineswegs eine asketische Lebensform angestrebt. Konsumreduktion bedeutet keinen totalen Verzicht, sondern besonnene Einschränkung. Wer nicht mehr so viel braucht, wie die Werbung suggeriert, ist mit dem zufrieden, was er hat. Durch den freiwilligen Verzicht entsteht an anderer Stelle ein Mehrwert. Ein Mehrwert an Sinn, an Kreativität, an echten Beziehungen, letztlich an Lebensqualität. Dies geschieht durch aktives Handeln, ein Festlegen persönlicher Werte und Ziele. An die Stelle von materiellem Konsumverlangen rücken immaterielle Bedürfnisse.22 Minimalisten machen sich nicht mehr abhängig von Besitztümern, sondern sind zufrieden, wenn ihre Grundbedürfnisse gedeckt sind.
Wie viel Besitz bleibt im Minimalismus übrig?
Vom Buch 100 Things Challenge23 von Dave Bruno inspiriert reduzieren sich einige Minimalisten auf 50 bis 100 Dinge, Kleidung mit eingeschlossen. Doch diesem Extrem entsprechen sicherlich die wenigsten. Einigen Minimalisten hilft das Zählen von Gegenständen bei ihrem Prozess. Anderen erscheint das als zu stressvoll oder eingeschränkt. Gerne zitiert wird der Autor des Buches Der kleine Prinz,24 Antoine de Saint-Exupéry: »Perfektion ist nicht erreicht, wenn man nichts mehr hinzufügen, sondern wenn man nichts mehr weglassen kann.«25 Es gibt jedoch keine Regel, wie viele Objekte im Minimalismus am Ende übrigbleiben dürfen. Dies hängt von der eigenen Einstellung und den individuellen Lebensumständen ab. Eine Familie hat automatisch mehr Dinge als eine Einzelperson, die wohnsitzlos mit einem Rucksack reist. Minimalismus ist vielfältig.

Kritik an der Minimalismusbewegung

Minimalismus ist eine Gegenbewegung zum Kapitalismus. Das bedeutet jedoch nicht, dass alles, was mit dem Trend einhergeht, diesem Konzept entspricht. Marketingabteilungen haben den Trend aufgegriffen und nutzen ihn für den Vertrieb von Produkten und Dienstleistungen. Es gibt minimalistische Armbänder, Kaffeetische, Turnschuhe, Kopfhörer und Wasserkaraffen. Sogar minimalistische Make-up-Sets und -Tutorials werden vermarktet. Was die Werbebotschaften versprechen, ist, nur noch dieses perfekte Objekt kaufen zu müssen, um nichts Weiteres in der Zukunft zu benötigen. Im Endeffekt wird später jedoch ein verbessertes Modell angeboten.26 In der Folge entstehen mehr Konsum und damit verbunden mehr Ressourcen- und Energieverschwendung und Müll.
Kritiker werfen Minimalisten in diesem Kontext vor, ihren Konsum nur oberflächlich zu verändern. Es sei ein »auffällig unauffälliger Konsum«:27 Die reichen Westler würden unglaubliche Anteile der globalen Ressourcen verbrauchen, hätten aber diskrete, schicke Methoden dafür entwickelt.28 Dabei wird unter anderem auf Apple-Produkte wie Smartphones und Laptops verwiesen, die zwar minimalistisch wirken, jedoch enorme Ressourcen verbrauchen. Minimalisten würden ihren materiellen Besitz nur einschränken. Ihr Reichtum bestehe weiter, da sie ihre Dinge in digitaler Form speicherten und den Konsum ins Internet verlagerten. Dort ständen unglaubliche Mengen an Daten zum Konsum zur Verfügung.29
Reduzierte Lebensräume wirken zudem recht spartanisch. Mit wenigen Möbeln und Dekoartikeln kann eine Wohnung ungemütlich und kalt erscheinen. Manche kreiden daher an, dass am Ende der Besitzreduktion jede Individualität der Bewohner verschwinde. Würden geliebte Sammlungen von Weihnachtsschmuck oder Baseballkarten aufgelöst, wirke das Heim am Ende steril. Minimalismus sei zwanghafte Sauberkeit, die als neue Normalität aufgezwungen werde – »egal, wie langweilig es danach aussieht oder wie beklemmend es sich anfühlt«.30
Nach der Devise »Freiwilliger Verzicht ist Luxus, unfreiwilliger Verzicht ist Not« wird Minimalismus darüber hinaus als Privileg der Reichen kritisiert. Menschen, die unfreiwilligen Verzicht erlebt haben, können das Minimalismuskonzept häufig nicht nachvollziehen. Wer in Kriegszeiten aufgewachsen ist oder aus einem armen Land stammt, versteht nicht, warum Kaufmöglichkeiten nicht genutzt werden. Oft wird in jedem Objekt noch ein Wert gesehen. Für den Fall, dass es noch Verwendung findet, wird alles aufgehoben.31 Der Aspekt der Selbstbestimmtheit ist wichtig im Minimalismus. Ohne die bewusste Entscheidung, mit weniger zu leben, als man könnte, wäre es Armut. Empfinden Menschen Mangel, führt dies nicht zu einem zufriedenen Leben.32
Besonders in neuen Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie wurden Minimalisten belächelt. In einem amerikanischen Comic hieß es beispielsweise: »Ich war es nicht, der alles herausgeworfen hat, weil es keine Freude auslöste, Robert. Viel Spaß dabei, in den nächsten Monaten deine sieben T-Shirts hin und her zu falten.«33 Natürlich konnte in der Zeit der Pandemie noch eingekauft werden. Aber die Kritik beinhaltet die Überlegung, dass eine minimalistisch lebende Person womöglich schlechter vorbereitet sei, sollte die Infrastruktur zusammenbrechen. Dem würden Minimalisten höchstwahrscheinlich widersprechen, denn Minimalismus im holistischen Sinne ist eine Vorbereitung auf Krisenzeiten. Wer lernt, nicht auf ungebremsten Konsum angewiesen zu sein, macht Dinge selbst und erweitert sein soziales Netzwerk. Dieses Wissen und soziale Umfeld kann besonders in schlechten Zeiten sehr nützlich sein.

Vorteile eines minimalistischen Lebensstils

In der Soziologie gilt Selbsteinschränkung als Grundlage für funktionierende soziale Gemeinschaften. Bereits ein Mensch der Steinzeit wurde von der Gruppe verstoßen, wenn er alle Vorräte alleine aß. Teilen war wichtig für das eigene Überleben und Glück. Der Trend zum Minimalismus und damit die Hinwendung zum einfachen Leben entsprechen dem Sozialverhalten für ein harmonisches Zusammenleben. Angesichts der globalen Umweltprobleme, die durch übermäßigen Konsum entstehen, betrifft dies auch die globale Gemeinschaft und damit das Zusammenleben aller Menschen. Im Minimalismus wird weniger konsumiert und die Umwelt entsprechend durch Warenproduktion und -entsorgung weniger belastet. Auch trägt die minimalistische Lebensweise zu einer Steigerung des Umweltbewusstseins der Minimalisten bei. Als Nebeneffekt spart die Konsumreduktion Geld ein.
Auch ist die eigene Wohnung oder das Haus aufgeräumter und bietet mehr Platz. Es werden Konsumalternativen gesucht und Produkte häufiger selbst hergestellt. Das setzt Kreativität frei. Minimalisten geben an, mehr Geld zur Verfügung zu haben und dadurch großzügiger zu sein. Sie sind zufriedener, da sie weniger auf Konsum fokussiert sind. Das führt auch zu weniger Gier und Neid. Auch die Qualität der Besitztümer steigt an. Durch überlegten Konsum wird sich oft für langlebige, hochwertigere Produkte entschieden. Die wenigen Dinge, die im Haushalt übrigbleiben, erfahren mehr Wertschätzung. Durch den Fokus auf jedes Einzelstück, das im Alltag behilflich ist, entsteht mehr Dankbarkeit. Minimalisten sind häufig vernetzter und haben mehr Kontakte zu ihren Mitmenschen, da sie beispielsweise Objekte von jemandem leihen, statt sie zu kaufen.
Die Reduktion der Konsumgewohnheiten führt zu weniger Stress und Ablenkung. Freiräume und mehr Zeit für neue Gewohnheiten entstehen. Die neue Freiheit geht oftmals mit einer gesteigerten Risikobereitschaft einher. Wer weniger besitzt, ist unabhängiger und trägt weniger Verantwortung für Garten, Haus oder Fuhrpark. Minimalisten fällt es leichter, umzuziehen, zu reisen und Entscheidungen für Karriere oder Privatleben zu treffen. Definiert man sich nicht mehr über Besitz, sondern beschäftigt sich mit dem eigenen Wachstum und den Leidenschaften, wird der Charakter origineller. Die Quelle des Glücks verlagert sich vom Materiellen zum Immateriellen. Es entstehen mehr Solidarität, Fürsorge und soziales Engagement.
Führt Geldnot zu einem minimalistischen Lebensstil?
Tatsächlich wird im Minimalismus anders mit Geld umgegangen. Beim Kauf von Neuem entscheidet man sich häufig für hochwertige, teure Produkte. Gleichzeitig wird weniger Unnötiges gekauft, wodurch mehr Geld für Wünsche und essenzielle Bedürfnisse übrigbleibt. Geld spielt aber eine zweitrangige Rolle und ist selten der Grund, warum sich Menschen diesem Lebensstil zuwenden. Eine Umfrage von rund 2.000 Personen im Jahr 2020 ergab, dass die drei Hauptgründe für das Interesse am Minimalismus sind: »mehr Platz und weniger Kram«, »mehr Umweltschutz und weniger Konsum« sowie »mehr Zeit und weniger Druck«. Erst auf dem siebten Platz landete der Grund »mehr Geld und weniger finanzielle Sorgen«. In der Umfrage wurden die Personen gefragt, welche Ziele sie durch die minimalistische Lebensweise erreichen wollten.34

Lokal statt global

»Warum sind lokale und unabhängige Unternehmen besser als multinationale Konzerne? Warum brauchen wir Geldkreisläufe, die nicht ausschließlich auf Zentralbanken oder privaten multinationalen Banken beruhen? Warum kurze und dezentralisierte Kreisläufe? Weil die Resilienz eines Systems davon abhängt.«
Cyril Dion, französischer Aktivist und Autor des Buches Eine kurze Anleitung zur Rettung der Erde1
»Lokal statt global« bedeutet die Hinwendung zu Produkten und Dienstleistungen aus der eigenen Region. Bei der Kaufentscheidung spielen Herkunftsort und Saisonware eine Rolle. Der regionale Bezug spart Transport- und Lageremissionen ein, verringert dadurch den CO2-Fußabdruck und stärkt gleichzeitig die regionale Wirtschaft.
Wer heutzutage in einen Supermarkt geht, muss sich keine Sorgen um die Angebotsvielfalt machen. Es gibt Avocados aus Neuseeland, Mangos aus Mexiko sowie Bananen aus Südamerika. Zu jeder Jahreszeit liegen saisonale Produkte wie Erdbeeren und Spargel in der Auslage – wenn sie in Deutschland noch nicht wachsen, stammen sie eben aus Ägypten oder Spanien. Selbst Gemüse- und Obstsorten, die auch hierzulande großflächig angebaut werden, wie Äpfel, Kohl oder Kartoffeln werden aus anderen Ländern importiert. Alle Lebensmittel sind zu jeder Jahreszeit erhältlich. Dasselbe gilt für nicht essbare Waren wie Kleidung, Technik, Möbel, Fahrzeuge und Baumaterialien. Die Globalisierung ermöglicht es uns, im Handel Produkte von Herstellern aus der ganzen Welt zu erwerben. Natürlich haben internationale Unternehmen längst Einzug in den deutschen Markt gehalten. Firmen wie die schwedische Möbelkette Ikea, die spanischen Bekleidungsgeschäfte Zara und Mango, US-amerikanische Sportgeschäfte wie Foot Locker und Nike oder die niederländische Supermarktkette Spar sind seit Jahrzehnten Teil der Einkaufsstraßen Deutschlands. Auch Dienstleistungen werden importiert. Dazu zählen beispielsweise Mobilitätsangebote, Dienste im Tourismusbereich sowie Finanz- und Versicherungsdienstleister.
Der E-Commerce, der elektronische Handel über das Internet, hat die Möglichkeiten noch potenziert. Die Kundschaft bestellt nun Waren über große Onlinehandels-Plattformen oder ohne Umwege über Zwischenhändler direkt beim Unternehmen im Ausland. Die dominierenden digitalen Handelsplattformen streichen jährlich Milliarden- bis Billionenbeträge ein. Dazu zählen der US-amerikanische Konzern Amazon als auch die chinesischen Firmen Alibaba, JD.com und Pinduoduo. In der freien Marktwirtschaft gewinnt das günstigste Angebot. Fahrräder, die z. B. in Asien hergestellt werden, sind aufgrund niedriger Produktions- und Materialkosten schlichtweg günstiger als solche aus deutscher Fertigung.
Der elektronische Handel wird durch digitale Produkt- und Dienstleistungsbewertungen noch verstärkt. Online-Verkaufsberatung sowie der Austausch in Foren treten an die Stelle der Beratung vor Ort. Die empfohlenen Produkte oder Dienstleitungen sind häufig günstiger und besser bewertet als die des kleinen Unternehmens im eigenen Viertel. Dieses verliert potenzielle Kunden an Unternehmen aus dem Netz. Deren Standort ist meist weiter entfernt, wenn nicht sogar in einem anderen Land. Tatsächlich gibt es aber genauso viele Menschen, die sich in Geschäften fachlich beraten lassen, um dann das ausgewählte Produkt online zu kaufen. Insgesamt führen die ansteigenden Onlinekäufe zu einer Erhöhung des Lieferverkehrs.
Auch die Werbung hat sich größtenteils ins Internet verlagert, wo Unternehmen über Grenzen hinweg ihre potenzielle Kundschaft erreichen. Immer weniger findet sich im öffentlichen Raum wie auf Plakaten und Flyern oder in Zeitschriften. Stattdessen werden die Menschen zielgruppenspezifisch direkt über das Smartphone angesprochen. Die Werbung ist obendrein durch Targeting-Techniken auf die individuellen Präferenzen zugeschnitten. In der Folge sind Produkte von internationalen Unternehmen, die starke Marketingkampagnen durchführen, bekannter als Marken aus der eigenen Region.
Was ist der Unterschied zwischen »lokal« und »regional«?
Der Begriff »lokal« bedeutet so viel wie »örtlich« und steht entsprechend für einen begrenzten geografischen Raum, der aber von jeder Person individuell definiert wird. Dabei geht es um die Wahrnehmung, was vom eigenen Ausgangspunkt aus im eigenen Umfeld liegt. »Regional« bezieht sich auf eine Region, also ebenfalls ein geografisches Gebiet. Dieses ist allerdings nicht subjektiv bestimmt, sondern kulturell und traditionell gewachsen. Teils werden Bundesländer oder ganze Landstriche als Region bezeichnet, wie z. B. Norddeutschland. Aber auch kleinere Einheiten wie die Lüneburger Heide oder das Wendland können Regionen ausmachen.2 Der Trend, das Kaufverhalten »lokal statt global« auszurichten, bezieht sich auf regionalen Konsum.

Was sind die Hintergründe des Lokal-statt-global-Trends?

Der Blick auf das Lebensmittelangebot verdeutlicht bereits einige Effekte der Globalisierung des Handels. Nahrungsmittel in Europa werden nicht nur in rauen Mengen importiert, sondern sind auch sehr günstig, da sie einem starken Preiskampf unterliegen. Deutschland importiert im Lebensmittelbereich mittlerweile mehr, als es exportiert. Die deutsche Landwirtschaft kann nur schwer mit den Preisen des internationalen Markts mithalten. Das liegt auch an den zahlreichen Auflagen zum Tier-, Verbraucher-, Klima- und Umweltschutz in Deutschland sowie der EU. In anderen Regionen der Welt gelten diese Auflagen nicht. Um die Qualitätsstandards einzuhalten und die Kulturlandschaft zu erhalten, werden Landwirtschaftsbetriebe vom jeweiligen Bundesland, vom Bund und von der EU subventioniert. Die Direktzahlungen machen mittlerweile etwa 50 Prozent des Einkommens der Landwirte aus.3
Ein beträchtlicher Anteil der Lebensmittel in Deutschland stammt aus Südamerika und Asien. Die Produzentenländer profitieren zwar wirtschaftlich von den Exporten. Allerdings schaden die schlecht reglementierten Anbau- und Herstellungsmethoden dort Umwelt und Klima – letztlich mit negativen Auswirkungen für alle, auch für die deutsche Kundschaft. Es wird immer mehr Anbaufläche benötigt, um der hohen Nachfrage aus dem Ausland nachzukommen. Viele Wälder, insbesondere große Gebiete des Regenwalds in Brasilien und Indonesien, werden für den Lebensmittelanbau wie Ölpalmen, Mais oder Soja gerodet. Im Globalen Süden wird dazu häufig Wasser aus natürlichen Gewässern oder Grundwasser zur Bewässerung der Felder genutzt. In der Folge sinkt der Grundwasserpegel, und Gewässer können austrocknen. Ein weiteres Phänomen ist die Unterversorgung mit Nahrungsmitteln in den Exportländern selbst. Die Gewinne sind höher, wenn die landwirtschaftlichen Produkte wie Reis oder Getreide ins Ausland verkauft werden.
Der Transport der exportierten Ware verschlechtert deren Ökobilanz zusätzlich. Der Großteil der Lebensmittel wird mit Frachtschiffen nach Europa importiert. Für den weiten Weg von Übersee wird viel mehr Energie als für den Transport heimischer Produkte benötigt. Dazu werden etwa 11-mal so viel CO2-Emissionen und 28-mal so viel Schwefeldioxid ausgestoßen. Für dieselbe Menge an Emissionen könnten in Deutschland statt einem ganze elf Kilogramm Gemüse transportiert werden.4 Aber auch die nicht essbaren Importe, speziell aus Asien, füllen die Container der Schiffe. Die Nachfrage in Europa ist so hoch, dass aktuell sogar Frachtcontainer knapp werden. Darüber hinaus wird weit weniger in die asiatischen Länder exportiert, als Europa importiert. Oftmals fahren Frachtschiffe daher mit leeren Containern gen Asien, was sich zunehmend in den Preisen niederschlägt. Auch für die Meeresbewohner hat der ansteigende Schiffsverkehr negative Folgen. Wale können beispielsweise mit den Frachtern zusammenstoßen und sich verletzen. Ihr sensibles Gehör wird zudem durch den Unterwasserlärm, der durch den Antrieb entsteht, beeinträchtigt. Sie verlieren die Orientierung, was neben blutigen Gehörgängen in den schlimmsten Fällen zu Massenstrandungen führen kann.
Von einem Massensterben wird auch in Bezug auf deutsche Einzelhändler und Dienstleister gesprochen, die gegen den Onlinehandel und die internationalen Unternehmen nicht mehr ankommen. Die letzten kleinen Tante-Emma-Läden verschwinden, und selbst große Warenhäuser wie Galeria Karstadt Kaufhof geben den Betrieb auf. Kleine Handwerksbetriebe wie Schreiner, Elektriker, Maler oder Schlosser, die es früher in jedem Dorf oder Viertel gab, verschwinden zunehmend. Damit löst sich die althergebrachte Infrastruktur im nächsten Umfeld auf. Diese Betriebe waren in der Regel auch Dienstleister, die sich um kleine Reparaturen oder Reklamationen kümmerten. Wenn heute ein technisches Gerät einen Defekt hat, wird es meist durch ein neues ersetzt. Das erzeugt unnötige Abfälle und führt zu Ressourcenverschwendung. Die wenigen Handwerksbetriebe, die überleben, nennen sich mittlerweile oftmals Manufakturen. Sie produzieren hochwertige Produkte im Premiumsegment, wie z. B. Möbel, für die Kundschaft, die es sich leisten kann.
Selbst internationale Unternehmen mit Sitz in Deutschland erzeugen negative Auswirkungen im Heimatland. Die Produktion wird häufig in Billiglohnländer verlagert. Die Arbeitskräfte sind dort schlichtweg günstiger, was niedrige Preise für die Ware ermöglicht. Leider entfallen dadurch Tausende Arbeitsplätze in Deutschland. Für ungelernte Kräfte, die früher in Fabriken für einfache Tätigkeiten angelernt wurden, gibt es immer weniger Beschäftigungsmöglichkeiten. Ähnliche Prozesse sind bei technischen Entwicklungen und Fachwissen zu beobachten. In Deutschland wurden in der Vergangenheit viele Maschinen und Geräte entwickelt, die später von ausländischen Firmen übernommen wurden. Durch günstige Produktionsbedingungen überholten die ausländischen Firmen irgendwann die deutschen und übernahmen die Marktführung. Das geschah z. B. mit der Spritzgusstechnik für Kunststoffe, der Uhrenindustrie sowie jüngst der Solarindustrie.
Eines ist sicher: Die Globalisierung ist nicht mehr umzukehren. Die zahlreichen Probleme, die der digitalisierte, weltweite Handel mit sich bringt, sind vielen bekannt. Und das zeigt Wirkung, denn das Bewusstsein für lokalen Konsum steigt. Die neue Devise lautet: »Support your local dealer«, auf Deutsch »Unterstütze deinen lokalen Händler«. Dieser Trend ist vor allem im Lebensmittelbereich stark ausgeprägt, wie zuletzt der Ernährungsreport 2020 für Deutschland veranschaulichte. Demnach ist für 83 Prozent der Deutschen die regionale Herkunft ein sehr wichtiges Auswahlkriterium für Lebensmittel. Damit stieg der prozentuale Anteil im Vergleich zu den Jahren 2016 (73 Prozent) und 2017 (78 Prozent). Nur der Geschmack lag mit 97 Prozent noch weiter vorne. Zudem gab mehr als jede dritte Person an, die Landwirtschaft habe für sie während der Coronakrise an Bedeutung gewonnen. Viele erkannten, dass Nahrungsmittelproduzenten systemrelevant und damit unterstützenswert sind. Die Menschen interessieren sich zunehmend dafür, woher das Obst und Gemüse stammt oder unter welchen Bedingungen die Milch- und Fleischprodukte hergestellt werden. Auch wollen sie mit ihrem Kaufverhalten verstärkt saisonale Produkte mit kurzen Transportwegen unterstützen.5
Ähnlich setzt sich die Einstellung im Onlinehandel, bei Dienstleistern und in der Gastronomie fort. Einige »Lokalisten« schwören Plattformen wie Amazon völlig ab und versuchen, Produkte direkt beim Unternehmen zu erwerben. Auch werden kleine Cafés und Restaurants den großen internationalen Ketten, wie z. B. Starbucks oder Subway, vorgezogen. Dasselbe gilt für die Unterstützung kleiner Traditionsbäckereien anstelle von Discounterbackwaren. Der Trend zum Regionalen ist auch in der Mode durch die Unterstützung kleiner Labels aus Deutschland (SLOW FASHION) und dem Reisen in die nähere Umgebung zu verzeichnen (MIKROABENTEUER).
Besonders die weltgewandte junge Mittelschicht hat in dieser Hinsicht ein neues Wertesystem entwickelt. Laut Zukunftsinstitut versteht sich die »Generation Global«, für die Internet und grenzenloses Reisen selbstverständlich sind, zunehmend als Weltbürger. Sie identifizieren sich nicht mehr mit dem eigenen Land, sondern mit Gleichgesinnten, die ähnliche Werte, Hobbys und Interessen teilen. Das wirkt auf den ersten Blick nicht förderlich für das lokale Konsumverhalten. Jedoch sehen sie den Planeten als ihr gemeinsames Zuhause an. Globale Probleme wie Umweltverschmutzung und Klimawandel verstehen sie als die eigenen. Dadurch entstehen zunehmend lokale sowie globale Initiativen, um für diese Werte einzustehen. Das können von innovativen Apps oder Dienstleistungsplattformen auch lokale Aktionen wie das Pflanzen von Bäumen in der jeweiligen Umgebung sein – getreu dem Motto »Global denken, lokal handeln«.6

Wie funktioniert lokaler Konsum?

Speziell Lebensmittel werden in zunehmendem Maß mit dem Label »aus der Region« oder »Heimat« beworben. Es gibt jedoch kaum gesetzliche Regelungen bezüglich der Angaben zum Herkunftsort. Lediglich bei frischem Obst und Gemüse muss laut einer EU-Verordnung seit 2008 das Herkunftsland auf der Verpackung stehen. Zudem ist es hilfreich, die frischen Produkte neben der Herkunft auch entsprechend ihrer Saison zu beziehen. Bei verpacktem Fleisch muss nur angegeben werden, wo die Tiere geschlachtet wurden. Ist das Fleisch unverpackt, gibt es wiederum keine Pflicht zur Herkunftsangabe. Auf Fischprodukten steht das sehr weit gefasste Fanggebiet. Und bei Milch sowie verarbeiteten Lebensmitteln sind gar keine Angaben zum Herkunftsort vorgeschrieben.7 Das heißt, bei Marmelade muss nicht angegeben werden, woher das verarbeitete Obst stammt. Oftmals steht auf verarbeiteten Produkten ausschließlich der Händler, wie z. B. der Name der Supermarktkette oder des Discounters.8 Manchmal finden sich auf den zweiten Blick aber doch noch Stempel oder Adressen des Herkunftsorts. Praktisch sind z. B. die Stempel auf Eiern. Dort stehen neben dem Kürzel DE für Deutschland auch Ziffern für das Bundesland des Hühnerbetriebs.
Außerdem ist es nützlich, die wenigen Kennzeichnungen zum Herkunftsort zu kennen, die es bisher auf dem Markt gibt. Dazu zählt das rechtlich geschützte EU-Gütesiegel Geschützte Ursprungsbezeichnung (g. U.). Der »Odenwälder Frühstückskäse g. U.« stammt also mit Sicherheit aus dem Odenwald. Ein anderes EU-Gütesiegel ist die Geschützte geografische Angabe (g. g. A.). Dabei muss allerdings nur ein Produktionsschritt in der jeweiligen Region erfolgen, weshalb es nicht bei der Identifizierung von regionalen Lebensmitteln hilft. Seit 2014 gibt es in Deutschland außerdem das Regionalfenster, das die regionalen Anteile sowie den Herkunfts- und Verarbeitungsort der Ware markiert. Das Kennzeichen wird vom privaten Verein Regionalfenster e. V. getragen. Leider ist die Kennzeichnung mit rund 5.000 Lebensmitteln noch nicht weit verbreitet. Ein flächendeckend verbreitetes Regionalkennzeichen gibt es aktuell nicht.
Obwohl in den Supermärkten und Discountern auch einige Produkte aus dem Umland zu finden sind, sind Bioläden immer noch besser für den regionalen Lebensmitteleinkauf geeignet. In vielen Bioläden werden die Waren mit regionaler Herkunft gekennzeichnet. Ein weiterer guter Anlaufpunkt sind Bauern- und Wochenmärkte, bei denen die Lebensmittel aus eigenem Anbau und der Region stammen. Allerdings bieten einige Stände auch zugekaufte Waren feil. Entsprechend muss auch auf den Märkten auf die Herkunft geachtet werden. Alternativ können die Produkte auch direkt beim Erzeugerbetrieb in Hofläden gekauft werden. Wer in der eigenen Umgebung einen Hofladen sucht, kann mittlerweile zahlreiche Online-Hofladen-Finder für die Recherche nutzen. Dabei werden Hofläden und Bauernmärkte über die Postleitzahlsuche angezeigt. Solche Verzeichnisse existieren auch für Automaten mit regionalen Produkten. Außerdem gibt es neuartige Verkaufskonzepte wie das aus Frankreich stammende Marktschwärmer-Netzwerk. Hier bestellt die Kundschaft die Produkte online direkt beim Hof. Die bestellte Ware wird passgenau von diesem an die nächste »Schwärmerei« geliefert. Von diesem lokalen Umschlagplatz wird sie von der jeweiligen Person später abgeholt.
Andersherum funktioniert es ebenfalls: Die regionalen Produkte können ganz bequem als Grüne Kiste an die eigene Haustür bestellt werden. Hierbei fahren Lieferbetriebe das regionale Gemüse und Obst der Höfe in Pfandkisten aus. Für die Grünen Kisten, auch Öko-, Bio- oder Gemüsekisten genannt, gibt es zahlreiche Anbieter. Zu guter Letzt ist die Solidarische Landwirtschaft (SoLaWi) zu erwähnen, bei der es um eine konkrete Unterstützung der regionalen Landwirtschaft geht. Menschen verbinden sich längerfristig mit einem Betrieb und finanzieren gemeinsam dessen jährliche Kosten. Im Gegenzug erhalten sie einen Anteil der Ernte. Dafür verschuldet sich der Hof nicht, und die Kundschaft weiß, dass verantwortlich mit Ressourcen, Tieren und Pflanzen umgegangen wurde.
Andere ortsansässige Betriebe sind im Vergleich zu Hofläden leichter in der eigenen Region zu finden. Durch den E-Commerce ist die Onlinepräsenz für die Unternehmen extrem wichtig geworden. Daher sind sie in der Regel in einer Vielzahl von Branchenverzeichnissen wie den Gelben Seiten und auf Kartendiensten vertreten. Allerdings wird in den Online-Branchenbüchern kein Unterschied zwischen einem multinationalen Konzern und einem kleinen, familiengeführten Einzelhändler gemacht. So steht ein Baubedarfsladen mit nur einer Niederlassung in Konkurrenz zu den großen Baumarktketten. Die Kundschaft entscheidet sich meist für das größere Geschäft, da dort die Auswahl größer ist. Unter anderem aus diesem Grund sind in den letzten Jahren Branchenverzeichnisse entstanden, die auf Regionalität ausgelegt sind. Dabei wird gezielt kleineren Unternehmen eine Präsentationsfläche geboten. Ein gutes Beispiel ist die regional kann das-Plattform für Südniedersachsen, die aufgrund der Corona-Pandemie zur Unterstützung ortsansässiger Unternehmen und Dienstleister ins Leben gerufen wurde. Auch die Lokal-App Findeling aus Hamburg hat sich zum Ziel gesetzt, die Menschen wieder für kleine, inhabergeführte Läden zu begeistern.
Es gibt außerdem Regio-Verzeichnisse, über die gleichzeitig Waren verkauft werden, sogenannte lokale Online-Marktplätze. Ein gutes Beispiel ist das seit 2014 bestehende Projekt Online-City Wuppertal, das sogar Lieferungen innerhalb der Stadt am selben Tag leistet. Das Interesse der Städte und Regionen ist groß, ihren lokalen Unternehmen eine digitale Plattform zu bieten. In Wiesbaden besteht mit dem Kiezkaufhaus ein ähnliches Projekt. Eine ortsansässige Werbeagentur hat den Online-Marktplatz mit dem Wiesbadener Fachhandel ins Leben gerufen, da sie dem enormen Lieferaufkommen des Onlinehandels entgegenwirken wollte. Die Kundschaft bestellt bequem online, ohne lange Lieferwege aus anderen Bundesländern oder Übersee auszulösen. Ausgeliefert werden die Produkte nachhaltig mit E-Lastenrädern.9 In den letzten Jahren sind eine Vielzahl solcher lokalen Online-Marktplätze und Regio-Verzeichnisse entstanden. Sie können auf der Cima.digital-Onlinekarte in der eigenen Umgebung entdeckt werden. Dort sind bereits über 500 Initiativen verzeichnet.
Die zahlreichen Regionalbewegungen werden zunehmend von einem übergreifenden Regionalmarketing gestützt. Anstelle einer Stadt wie beim Stadtmarketing wird angestrebt, eine Region als Marke zu etablieren. Dabei werden die Potenziale einer Region genutzt und verschiedene ortsansässige Akteure unter einer Dachmarke zusammengefasst. Die Marke soll das jeweilige Gebiet im Konkurrenzkampf gegen andere Regionen stärken. Auch soll die Region attraktiver für ansiedlungswillige Unternehmen werden. Mancherorts geht die Initiative zur regionalen Marke von Erzeugern und Herstellern aus. Oft sind es aber auch Städte, Gemeinden oder Bildungsträger, die ein regionales Marketing anstoßen. Beispiele sind die Dachmarken Spreewald, Rügen Produkt, Regionalmarke Eifel, Unser Land (Bayern), SooNahe (Hunsrück), Weserklasse und Echt Erding. Zudem gibt es regionale Qualitätssiegel, die von Bundesländern geschaffen wurden, wie beispielsweise Geprüfte Qualität Thüringen und Gesicherte Qualität Baden-Württemberg. Allerdings sind die Kriterien von Marke zu Marke unterschiedlich und daher schwer miteinander vergleichbar.
Für zusätzliche Verwirrung sorgen Regionalmarken von Supermarktketten, wie z. B. Bestes aus unserer Region (Edeka), Ein gutes Stück Heimat (Lidl) oder Gutes von Hier (Globus). Die Anforderungen an Herkunfts- und Produktionsort sowie die Bestandteile der Produkte sind von den Einzelhandelsketten festgelegt und oftmals nicht klar nachvollziehbar. Wie regional und nachhaltig die Ware ist, bestimmt im Endeffekt die Supermarktkette. Deshalb wurde das bereits erwähnte unabhängige Regionalfenster vom Bundesverbraucherministerium in Auftrag gegeben. Es soll Klarheit in den Siegeldschungel bringen. Die Verbraucher Initiative e. V. schuf die Label Online-Website mit gleichnamiger App, über die Regionalsiegel auf einer Onlinekarte einsehbar sind und über die jeweiligen Siegelkriterien aufklären.10
Ein weiteres Konzept zur Förderung regionaler Produkte sind Regionalwährungen oder kurz Regiogeld. Das sind alternative Währungen für eine bestimmte Region, welche die staatliche ergänzen. Die Währung kann nur in einem begrenzten Gebiet genutzt werden und kurbelt dort die Wirtschaft an. In Deutschland gibt es rund 50 Regio-Währungen. Zu den bekanntesten zählen der Chiemgauer, der Lechtaler, der Roland (Bremen), der Elbtaler (Dresden), die Bürgerblüte (Kassel), der Lindentaler (Leipzig und Halle), der AmmerLechTaler und der Laustitzer (südliches Brandenburg).11 Die Etablierung von Regionalmarken und -währungen soll die regionale Wirtschaft stützen, damit sie in Konkurrenz zur globalisierten Marktwirtschaft bestehen kann. Die Region soll sich nachhaltig entwickeln und gleichzeitig andere Regionen nicht belasten.12
Als eine Bewegung zur Stärkung der regionalen Wirtschaft sind die Transition Towns zu nennen. Initiiert wurde die erste »Stadt im Wandel« 2006 durch den Umweltaktivisten Rob Hopkins im englischen Städtchen Totnes. Angesichts des Klimawandels und der Endlichkeit der globalen Ölressourcen entstand dort eine ganzheitliche Kommunalbewegung, bei der die Wirtschaft lokal und postfossil ausgerichtet wurde. Es formten sich Gemeinschaftsprojekte, die auf eine gesteigerte Resilienz des Ortes abzielten, um äußeren Entwicklungen besser standzuhalten und zur Relokalisierung beizutragen. Damit ist gemeint, dass sich politische Macht auf der lokalen Ebene abspielt und die Bedürfnisse der Menschen vor Ort wie Nahrung, Energie oder Baumaterialien lokal abgedeckt werden. Mit dem Totnes Pfund hat das Städtchen auch eine eigene Regionalwährung. Die Transition-Town-Bewegung dreht sich im Kern um LOKALITÄT und AUTARKIE, beinhaltet aber noch viele weitere aktuelle Trends wie MINIMALISMUS, URBAN GARDENING, KEIN EIGENES AUTO zu besitzen und PLASTIKFREI zu leben. Städte sollen resilienter werden, ähnlich zu in sich geschlossenen, natürlichen Ökosystemen. Mittlerweile haben sich auf der ganzen Welt über 4.000 Transition-Town-Initiativen gebildet.

Kritik am Lokal-statt-global-Trend