Sinnentaumel - Ines Ebert - E-Book

Sinnentaumel E-Book

Ines Ebert

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Beschreibung

Rätselhafte Todesfälle im idyllischen Allgäu des 18. Jahrhunderts - ein spannender Kriminalroman von der Autorin von "Sommergarben". Es ist eine illustre Gesellschaft, die sich im Sommer des Jahres 1745 in der malerisch gelegenen Badwirtschaft bei Leutkirch zu einer Trink- und Badekur einfindet. Die Idylle wird jedoch jäh gestört, als der Wirt Franz Graf bei einem seiner morgendlichen Kontrollgänge im Ufergebüsch eines Weihers die schaurig schöne, aufrecht im Wasser stehende Leiche der jungen Theresie Baumann entdeckt. Ein bedauerlicher Unfall? Die Kurgäste ergehen sich aufgeregt in wilden Spekulationen und gegenseitigen Verdächtigungen. Sie vermuten ein Verbrechen. Und tatsächlich: Bereits zwei Tage später ereilt den Nächsten aus ihren Reihen der Tod. Neben einer packenden Krimihandlung eröffnet Ines Ebert in ihrem neuen Roman einen faszinierenden Blick in die Anfänge des Kurtourismus.

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Ines Ebert

Sinnentaumel

HistorischerKriminalroman

Ines Ebert, geboren 1949 in Heubach im Ostalbkreis, ist Diplom-Museologin (FH) im Ruhestand und arbeitete freiberuflich für Städte und Gemeinden in den Bereichen Museum und Archiv. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Katze Lilli in Wangen im Allgäu.

© 2012 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Covergestaltung: Anette Wenzel, Tübingen,unter Verwendung des Gemäldes »Aufziehendes Gewitter«von Albert Rieger (1834–1905).Lektorat: Bettina Kimpel, Tübingen.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1528-4E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1529-1Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1212-2

Besuchen Sie uns im Internetund entdecken Sie die Vielfalt unseres Verlagsprogramms:www.silberburg.de

Donnerstag, 15. Juli anno 1745

Dort, wo die ersten Strahlen der frühen Morgensonne auf die Wasseroberfläche trafen, begann das Wasser des Weihers zu glitzern und zu funkeln, wie wenn es mit Edelsteinen besetzt wäre.

Eigentlich war der Ellerazhofer Weiher gar kein Weiher, sondern ein See von beträchtlichem Ausmaß, der vor Hunderten von Jahren einmal künstlich aufgestaut worden war. Auch seine Namensgebung war eine Ungereimtheit, so zumindest ließ der Wirt des Willerazhofer Bades, Franz Graf, jeden wissen, der es hören wollte oder auch nicht. Lag doch seine Badwirtschaft wesentlich näher an dem Gewässer als das Dorf Ellerazhofen, das ihm einst den Namen verliehen hatte. Überhaupt müsste der Ellerazhofer Weiher, ginge es nach Franz Graf, Willerazhofer See heißen. Zum einen nach dem nahe und malerisch auf einem Hügel über dem See gelegenen Dorf Willerazhofen mit seiner weithin sichtbaren, der heiligen Margarethe geweihten Kirche, und zum anderen wegen seiner Größe.

Wie jeden Morgen war Graf gleich nach Sonnenaufgang auf seinem Anwesen unterwegs. An diesem Morgen wunderte er sich, dass die Haustür nicht, wie sonst üblich, verschlossen war. Der Schlüssel steckte Tag und Nacht von innen und entweder er oder seine Frau schlossen jeden Abend ab, bevor sie zu Bett gingen.

»Seltsam«, murmelte Graf. »Maria muss gestern vergessen haben abzuschließen.«

Nachdem er das Gelände um das Haus mit einem kurzen Blick auf den in voller sommerlicher Pracht stehenden Gemüse- und Kräutergarten und die auf einer Anhöhe hinter dem Haus liegende gefasste Heilquelle inspiziert hatte, untersuchte er die hölzerne Leitung, die das Heilwasser ins Haus führte, sorgfältig auf undichte Stellen. Als er alles in bester Ordnung fand, nahm er die Sense aus dem Verschlag, in dem er sein Werkzeug aufbewahrte, und überquerte den Fahrweg, der zwischen der Wirtschaft und dem See verlief. Sozusagen im Vorübergehen mähte er in kaum einer Viertelstunde mit weit ausholenden, kräftigen Schwüngen die Wiese am Ufer. Sie war mit Stühlen und Bänken bestückt und diente den verehrten Kurgästen tagsüber zum bequemen Aufenthalt im Freien. Danach betrat er den hölzernen Steg, der ein Stück in den Weiher hinausführte und an dessen Ende die Badehütte auf hölzernen Stelzen im Wasser stand.

Neben dem Sitzen im Heilwasser, das die Kurgäste in Wannen und Bottichen im Badehaus im Inneren der Badwirtschaft genießen konnten, hatte Graf die zunehmend aufkommende Mode der Körperertüchtigung und des Schwimmens in Flüssen und Weihern unverzüglich aufgegriffen, den Steg ausbessern und an dessen Ende anstelle der alten eine größere Badehütte errichten lassen, um die neuen Bedürfnisse der Erholungsuchenden sogleich in klingende Münze umzusetzen.

Langsam schlenderte Graf über den vom Morgentau feuchten Steg und genoss dabei die herrliche Aussicht auf die Alpen, die sich im Morgenlicht mit spitzen Zacken in der Ferne abzeichneten. Er warf einen Blick in die Badehütte und stellte zufrieden fest, dass alles sauber und bestens in Schuss war – der Tagesbetrieb konnte also getrost beginnen.

Gemächlich trat er den Rückweg an und kontrollierte dabei das einseitige Geländer des Steges, indem er ein paar Mal daran rüttelte – alles war fest, nichts wackelte. »Das wäre ja auch noch schöner, wenn ein Gast wegen eines morschen Geländers ins Wasser fiele«, dachte er. Vom Haus her drangen bereits die üblichen morgendlichen Alltagsgeräusche zu ihm herüber, höchste Zeit also, sich zu sputen und das Tagesgeschäft aufzunehmen.

Er hatte den Steg schon fast hinter sich gelassen, als sich ihm ein Anblick bot, der ihn abrupt stehen bleiben ließ. Sein Nacken versteifte sich und ein kalter Schauer jagte ihm den Rücken hinunter. Zwischen den bis in den See überhängenden Ästen einer Weide ragte der leblose Oberkörper einer Frau aus dem Wasser. Graf war in seinem eisigen Schrecken seltsam fasziniert von dem schaurig schönen Anblick, den die Leiche bot – denn dass es sich um eine Leiche handelte, daran bestand für ihn kein Zweifel. Sie war mit einem weißen Nachthemd bekleidet, das sich an einer Stelle sanft über der Wasseroberfläche bauschte. Ihr Kopf saß gerade auf den Schultern und die haselnussbraunen, langen Haare hatten sich derart in den Zweigen verfangen, dass sie wie ein Strahlenkranz das Gesicht umrahmten. Sie schien einfach nur dazustehen und die Landschaft zu bewundern. Die Augen waren weit geöffnet und um ihren Mund spielte ein feines Lächeln.

Graf bekreuzigte sich ein ums andere Mal, unfähig, seinen Blick von der Gestalt abzuwenden. Langsam, dann siedend heiß drang das Erkennen in sein Bewusstsein vor. Ein Gast! Die Tote war ein Gast! Theresie Baumann aus Ulm! Erst vor zwei Tagen war sie in Begleitung ihrer Tante, der Jungfer Viktoria Baumann, angereist.

Graf stöhnte auf und ein »Ach du lieber Himmel!« entrang sich seinen Lippen. Ein nervöses Leiden hatte sie hierhergeführt, wie er sich erinnerte. Sie hatte Linderung durch eine Badekur gesucht.

Grafs Starre löste sich, er rannte zurück zum Haus und schrie: »Zu Hilfe! Zu Hilfe!«

Peter Natterer, der heute in aller Frühe zum Brotbacken in die Badwirtschaft gekommen war, stürzte herbei und rief: »Um Himmels willen, was ist denn los?«

Graf packte ihn wortlos am Arm und zog ihn hastig ein Stück auf den Steg hinaus. Beim Anblick der Leiche blieb nun auch Natterer wie angewurzelt stehen, seine Hand fuhr zum Mund, wie um zu verhindern, dass sich daraus ein Schrei lösen konnte.

Gemeinsam bargen sie die Leiche und legten sie auf der frisch gemähten Wiese ab. Sie hatten große Mühe gehabt, die Haare der Toten von den Zweigen zu trennen, an denen sie zur Verwunderung der Männer wie angeknüpft waren und den Leichnam dadurch aufrecht im Wasser gehalten hatten.

Inzwischen hatten sich auch Grafs Frau Maria, die vier Kinder, die Magd Veronika und die anderen zehn Gäste eingefunden.

Die schnell herbeigerufene Tante eilte schluchzend heran und rief fassungslos: »Theresie! Mein Gott, Theresie! Das arme Kind! Warum ist es nur ins Wasser gegangen! Sie war doch noch so jung!«

»Was für eine Tragödie«, murmelte Agatha Bäuerle, während sie ihrer Schwester Martha einen bedeutsamen Blick zuwarf.

Die beiden stammten aus Ravensburg und waren ungefähr im gleichen Alter wie Viktoria Baumann, in den Fünfzigern. Sie befanden sich bereits seit einer Woche hier. Beide litten seit einigen Jahren an der Gicht, die Zehen und Finger ausgiebig mit schmerzhaften Knoten befallen hatte. Die Schwestern waren gutem Essen sehr zugetan und entsprechend beleibt. Sie kleideten sich zwar stets nur schwarz, aber die teure und ausgesuchte Qualität ihrer Garderobe war nicht zu übersehen. Fast alle Kleidungsstücke waren mit feinen, ebenfalls in Schwarz gehaltenen Seidenstickereien ausgeziert. Beim Gehen stützten sich beide auf einen Krückstock mit silbernem Knauf, der es ihnen immerhin ermöglichte, sich mit mühsamen, kleinen Schritten auf den schmerzenden Füßen fortzubewegen. Wenn sie allerdings morgens nach dem Frühstück im warmen Wasser ihrer Badezuber saßen, fühlten sie sich leicht und wie neu geboren, was ihre Hoffnung nährte, dass die Kur sie womöglich doch noch ganz von ihrem lästigen Leiden befreien könnte.

»Ja, was für eine Tragödie!«, pflichtete Martha ihrer Schwester bei und warf einen mitleidigen Blick auf Viktoria Baumann, die weinend und kreideweiß im Gesicht auf den leblosen Körper ihrer Nichte starrte.

»Wie konnte denn nur so etwas geschehen?«, flüsterte Anna Leistner ihrem Mann zu, der daraufhin lediglich mit den Schultern zuckte.

Das ungleiche Ehepaar Leistner kam aus Isny. Joseph Leistner, ein ehemaliger Wirt und Viehhändler, war schon hoch in den Sechzigern und schwer vom Rheumatismus geplagt. Es bereitete ihm große Mühe, seinen massigen Körper fortzubewegen, und vor Anstrengung stand ihm, sobald er sich in Bewegung setzte, sofort der Schweiß auf der Stirn. Mit seiner hübschen, blonden und mehr als dreißig Jahre jüngeren Frau Anna war er in dritter Ehe verheiratet.

Im Gegensatz zu ihrem Gatten erfreute Anna sich bester Gesundheit. Leistners Ehen waren alle kinderlos geblieben und so hatte er vor ein paar Jahren seine gutgehende Wirtschaft verkauft. In der freien Reichsstadt Isny, die sich in den letzten hundert Jahren von der Pest und zwei Stadtbränden nur schwer erholte, hatte er sich günstig und mit dem Entgegenkommen des Magistrats an der unteren Stadtmauer ein schönes neues Haus gebaut. Anna war früher eine seiner Bedienungen gewesen. Als es mit ihm gesundheitlich immer mehr bergab gegangen war, hatte er Anna die Ehe und eine großzügige Versorgung angetragen, wenn sie sich bis an sein Lebensende um ihn kümmerte. Die Vereinbarung klappte seither ganz gut, sah man einmal davon ab, dass Anna gelegentlich darunter litt, dass ihr Mann seinen ehelichen Pflichten nicht mehr nachkommen konnte. Aber schließlich, so sagte sie sich in den Momenten des Verlangens, hatte sie von Anfang an gewusst, worauf sie sich mit dieser Ehe eingelassen hatte.

Jakob Nagel, der neben den Leistners stand, beschränkte sich angesichts des traurigen Vorfalls darauf, mehrmals den Kopf zu schütteln. Er war peinlich berührt vom Anblick der Toten, der das nasse dünne Nachtgewand am Körper klebte. Ihre zarten weiblichen Formen ließ es deutlich erkennen, anstatt sie anständig zu verhüllen. Nagel war Schreiber in einem großen Ravensburger Handelshaus. Vor einem Vierteljahr hatte er einen leichten Schlaganfall erlitten, dem die behandelnden Ärzte mehrere Aderlässe und Schröpfkuren folgen ließen. Die gewünschten Erfolge blieben allerdings aus und so hing sein rechter Arm nach wie vor kraftlos an seinem Körper herunter und verhinderte, dass er seinen Beruf wieder ausüben konnte.

Nagel konnte nur schwer mit seiner Krankheit umgehen, denn in seinem bisherigen Leben – er war einundvierzig Jahre alt – war es ihm stets gutgegangen. Ein lediger Onkel hatte ihm sein Haus und eine beträchtliche Summe Bargeld hinterlassen, was ihn finanziell völlig unabhängig machte. Eigentlich hätte er es nicht mehr nötig gehabt zu arbeiten. Doch er vermisste seine berufliche Tätigkeit sehr, da ihm das renommierte Handelshaus, in dem er arbeitete, im Laufe der Jahre zur zweiten Heimat geworden war und er, davon einmal abgesehen, einfach nicht wusste, was er mit seiner Zeit sonst anfangen sollte. Bis vor ein paar Jahren hatte er noch recht behaglich mit seiner Mutter zusammengelebt, was ihn mit der Zeit zu einem eigenwilligen Hagestolz werden ließ, der nach dem Tod der Mutter nun alleine dastand.

Er war mittelgroß, schlank, blond und sah recht passabel aus. An interessierten Damen hatte es ihm nie gefehlt und dennoch war sein Interesse am anderen Geschlecht so schwach, dass er sich einfach nicht dazu aufraffen konnte, einer Frau den Hof zu machen. Jetzt, nach seinem Schlaganfall, hatte er sowieso andere Sorgen, denn seine erklärte Absicht war es, wieder ganz gesund zu werden. Er ließ nichts unversucht und hatte deshalb sogar das Schwimmen erlernt, was ihm trotz des lahmen Armes erstaunlich gut gelang. Nun zog er mit eiserner Disziplin täglich ein paar Runden im Ellerazhofer Weiher, um damit seinen Körper und vor allem seinen Arm zu kräftigen.

Die Schwestern Ursula, Sybille und Regine Mendler aus Leutkirch standen etwas abseits und zischelten sich unablässig gegenseitig etwas zu, während ihre Blicke abwechselnd über die Anwesenden und die Tote schweiften. Sie waren alle drei auffallend blass, viel blasser noch, als es das gängige Schönheitsideal vorschrieb, und sehr schlank. Genau genommen waren sie ausgesprochen dünn, aber nicht eigentlich krank.

Sie waren zwischen 28 und 33 Jahre alt und ledig. Ihr dringlichstes Ziel war es, möglichst bald einen Ehemann zu finden und eine Familie zu gründen. Zu einer mehrwöchigen Badekur in der Willerazhofer Badwirtschaft hatten sie sich nicht zuletzt deshalb entschlossen, weil diese wegen ihrer außergewöhnlich guten und reichhaltigen Küche bekannt war. Die Schwestern wollten unbedingt ein paar Pfunde zulegen, um mit weichen, weiblichen Rundungen endlich Heiratskandidaten auf sich aufmerksam zu machen. Wie die anderen Gäste setzten auch sie sich jeden Morgen in einen Badezuber mit warmem Heilwasser, das den Ruf hatte, sich auch auf die weiblichen Organe günstig auszuwirken. Dass sich zwei alleinstehende Herren derzeit ebenfalls hier zur Kur aufhielten, belebte die Schwestern ungemein und ließ sie keine Gelegenheit versäumen, ein paar Sätze mit dem Junggesellen Jakob Nagel oder dem Witwer Karl König zu wechseln und ihnen dabei ihr schönstes Lächeln zu schenken.

Karl König war Ende vierzig und kam aus Memmingen. Er stand stocksteif in der Runde und es war ihm nicht anzusehen, was er von dem unglückseligen Vorfall hielt. Die zusammengekniffenen Lippen konnten alles Mögliche bedeuten. Sein Magen schmerzte und statt Mitgefühl machte sich Ärger in ihm breit. Auf solche Unannehmlichkeiten konnte er gut und gerne verzichten. Schließlich war er hierhergekommen, um sich auszukurieren.

Dass es ihn gerade hierher zur Kur verschlagen hatte, verdankte er seinem Schwager aus Reichenhofen, dem Bruder seiner verstorbenen Frau, der auf die Heilkraft des Willerazhofer Wassers schwor. Tatsächlich hatte er hier vor ein paar Jahren eine lange schwärende Beinwunde auskurieren können, die sich nicht schließen wollte.

König litt seit einigen Monaten unerklärlicherweise an andauernden, schmerzhaften Magen- und Darmbeschwerden. Magenbrennen und Blähungen beeinträchtigten sein Leben so stark, dass es ihm bald unmöglich wurde, die Kundschaft in seinem Stoff- und Kurzwarengeschäft angemessen zu bedienen. Nicht genug, dass die Magenschmerzen ihm meist einen säuerlichen Atem und einen ebensolchen Gesichtsausdruck bescherten, die Blähungen plagten ihn derart, dass er des Öfteren den Laden verlassen musste, um seine Winde ziehen zu lassen. Als sich eines Tages eben einer dieser Winde unkontrolliert und laut, mit einem Geräusch wie reißender Stoff, inmitten des Ladens vor der Kundschaft entlud, glaubte er, augenblicklich im Boden versinken zu müssen. Fluchtartig war er mit hochrotem Kopf in seine Wohnung im ersten Stock hinaufgestürzt und hatte, nachdem er den ersten Schrecken über das Unfassliche überwunden hatte, beschlossen, endlich etwas gegen seine Leiden zu unternehmen. Sein Sohn, der ohnehin mit im Geschäft tätig war, und seine Schwiegertochter führten nun während seiner Abwesenheit den Laden. Bei ihnen wusste er das Geschäft in den allerbesten Händen.

Alles Zischeln, Murmeln und Flüstern verstummte, als sich Viktoria Baumann, von einem heftigen Schluchzen geschüttelt, über ihre tote Nichte beugte.

»Die Kur hatte doch sogar schon nach der kurzen Zeit gut angeschlagen!«, weinte sie leise, während sie sich umständlich auf die Knie niederließ und sanft die Hand der Toten ergriff.

Das nachlässig unter dem Kinn gebundene schwarze Häubchen saß ihr schief auf dem Kopf, denn in der Eile hatte sie keine Zeit mehr gefunden, einen prüfenden Blick in den Spiegel zu werfen.

Alle standen um die Tote und die in einem fort schluchzende Tante herum und starrten beide wortlos an.

»Wir können sie doch nicht hier liegen lassen«, sagte endlich Grafs Frau.

»Wir bringen sie in die Kammer hinter der Badstube«, entschied Graf. »Zudem wäre es bestimmt kein Fehler, wenn wir den Anton Gaile von Willerazhofen herbeiholen würden. Der ist immerhin Schöffe beim Landgericht in Isny, der soll den Vorfall vorsichtshalber protokollieren.«

Anton Gaile besaß nicht nur einen großen Hof im Dorf, er hatte sich auch während seiner langjährigen Tätigkeit als Schöffe schon mit allerhand Verbrechen befassen müssen. Sobald ihn die Nachricht erreicht hatte, eilte er, so schnell er konnte, zur Badwirtschaft.

Mit einem geschulten Blick für das Wesentliche nahm er zuerst die Tote, die mittlerweile auf einem Tisch in der als Waschküche genutzten Kammer hinter der Badstube lag, in Augenschein und besah sich danach den Schauplatz. Er befragte Graf, der ihm mit starrem Gesicht kurz und knapp schilderte, wie er die Tote aufgefunden hatte.

»Es war ein entsetzlicher und schöner Anblick zugleich, wie die Jungfer Theresie da zwischen den Büschen und Bäumen im Wasser stand und glückselig in die Ferne blickte«, fügte er leise und noch ganz unter dem Eindruck des Anblicks, der sich ihm geboten hatte, hinzu.

Gaile gab zu bedenken, dass, soweit er das nach Grafs Schilderung beurteilen könne, ein Tod durch Ertrinken doch eher unwahrscheinlich sei, da sich der Kopf der Toten ja nicht unter Wasser befunden habe. Aufmerksam hörte er sich dann an, was die noch immer fassungslose Tante der Toten zur Erhellung des Vorfalls beizutragen hatte.

Maria hatte die aufgewühlte Tante inzwischen in der Gastwirtschaft an einen Tisch gesetzt, wo sich auch die anderen Gäste etwas ratlos niederließen, und allen ein Gläschen Zwetschgenwasser verabreicht.

Sie habe tief und fest geschlafen, berichtete Viktoria Baumann, und überhaupt nicht bemerkt, dass ihre Nichte irgendwann in der Nacht das gemeinsame Zimmer verlassen habe. Am Abend zuvor hätten sie sich noch so wie immer eine gute Nacht gewünscht und Theresie habe, bevor sie das Licht der Kerze löschte, noch gesagt, dass sie großes Vertrauen in das Heilwasser und die gute Luft hier habe und sich eine Verbesserung ihres Zustandes durch die Kur gut vorstellen könne.

Welcher Art das Leiden denn genau gewesen sei, wollte Gaile wissen.

»Nun ja, Theresie war schon immer sehr zart und von anfälliger Gesundheit. Schon als Kind hat sie oft über Schwindel geklagt und manchmal sind ihr die Finger eingeschlafen oder sie ist ganz weiß um den Mund herum geworden. Die Ärzte vermuteten eine Blutarmut und geschwächte Nerven.« Jungfer Baumann sprach inzwischen mit fester Stimme, da Gailes vertrauenerweckende Art sich tatsächlich beruhigend auf sie auswirkte. »Mein Bruder ist ja schon seit Jahren verwitwet«, erzählte sie weiter, »seine Frau ist gestorben, als Theresie noch ganz klein war, und er hat sich für sein geliebtes, einziges Kind viel von der Badekur hier versprochen. Ja, er hat alle seine Hoffnungen darauf gesetzt, denn die bisherigen Behandlungen haben kaum Erfolge gezeigt. Ach herrjemine, wie soll ich ihm nur sagen, dass sein Kind tot ist?« Das ganze Elend brach erneut über Viktoria Baumann herein und ihre Erklärungen gingen in einem neuerlichen, verzweifelten Schluchzen unter.

Nachdem Gaile seine Notizen sorgfältig in der Tasche verstaut hatte, trat er mit Franz Graf vor die Tür.

»Das ist ja eine schöne Bescherung«, sagte er nachdenklich. »Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, dass sich etwas Derartiges hier am See schon einmal zugetragen hätte.«

»Ja, mysteriös ist die Sache allemal.« Graf schüttelte nachdenklich den Kopf. »Gerade hier bei uns muss sich so etwas ereignen!«, stöhnte er und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Wo doch bisher immer alles friedlich seinen Gang genommen hat! Als ich damals mit Maria zusammengekommen bin, hat sie mir alles über die Badwirtschaft erzählt, auf die sie schon von jeher stolz war. Es gibt weder ein dunkles Geheimnis noch sonst etwas, das man mit dem vergleichen könnte, was jetzt geschehen ist. Hier geht alles wie immer mit rechten Dingen zu!« Um seine Worte zu unterstreichen, begann er Gaile alles zu erzählen, was er darüber wusste: »Bereits im Jahr 1669 hat der medizinische Doktor und Physikus Gabriel Furtenbach aus Leutkirch geschrieben, das Willerazhofer Bad und sein Wasser seien gar köstlich, aber im Kriegswesen ganz ruiniert und verderbt worden. Erst 1717 wurde das völlig zerstörte Bad nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges wiedererrichtet. In Willerazhofen ist es wie in vielen anderen Dörfern gewesen. Die durchziehenden Truppen haben den Menschen abgepresst, was an Lebensmitteln und Vieh vorhanden war, und danach zu allem Überfluss ihre Höfe zerstört. Und was der Krieg an Zerstörung nicht geschafft hat, hat die Pest getan. Aber das weißt du wahrscheinlich selber, Anton.«

Gaile nickte lebhaft und kramte nun seinerseits in den alten Geschichten: »So kam es, dass ganze Dörfer lange Zeit völlig ausgestorben waren. Bei uns in Willerazhofen war der Überlieferung nach nur noch eine einzige Frau am Leben geblieben, die Anna Hiller. Da sie nicht in einem ausgestorbenen Dorf leben wollte, ist sie nach Ellerazhofen gezogen, wo sie dann erleichtert verlauten ließ, der Tod habe nun reichlich genug Ernte gehalten – jetzt könne er von ihr aus ruhig eine längere Pause einlegen.«

Graf schmunzelte ein wenig über die Geschichte, die er bisher noch nicht gekannt hatte, und setzte seine Erzählung fort. »1724 hat Marias Vater, Johann Jakob Schmid aus Tautenhofen, eine bescheidene Badwirtschaft samt einer kleinen Badehütte am Weiher erbaut. Nach seinem Ableben im Jahr 1733 hat meine Maria, seine einzige Tochter, das gesamte Anwesen übernommen.«

»Ich erinnere mich noch gut.« Gaile nahm seine Umhängetasche ab und stellte sie auf den Boden, da die Unterhaltung länger zu werden schien. »Deine schöne, dunkelhaarige Maria war beim Tod ihres Vaters vierundzwanzig Jahre alt und keine schlechte Partie. Sie konnte unter einer stattlichen Anzahl von Bewerbern wählen!«

Graf nickte, in Erinnerungen versunken.

»Von den Bauernsöhnen mit einem eigenen Hof wollte sie ja von vornherein nichts wissen, da konnten sie noch so wohlhabend oder gut aussehend sein. Sie hat keinen Hehl daraus gemacht – jeder im Dorf wusste es –, dass sie auf ihrem schönen Anwesen bleiben und es weiter umtreiben wollte. Deshalb hat sie sich ganz bewusst nach einem geeigneten Hochzeiter umgesehen. Auf gar keinen Fall wollte sie Bäuerin werden und sich in Haus und Hof krumm und bucklig schaffen.«

»Ja, ihre Wahl ist letztendlich auf Franz Graf von Heggelbach gefallen.« Graf lächelte schelmisch. »Du musst zugeben, wir sind ein schönes Paar!«

»Das seid ihr«, pflichtete Gaile dem Wirt bei. »Beide dunkelhaarig und gutaussehend. Und du bist noch dazu ein großer, kräftiger Kerl, der auf so einem Anwesen einiges anpacken kann.«

»Dass ich schließlich das Rennen bei Maria gemacht habe, wusste niemand mehr zu schätzen als ich selbst«, erklärte Graf begeistert. »Da mein älterer Bruder später einmal den elterlichen Hof übernehmen würde, wäre mir künftig nur die Rolle eines besseren Knechts zugefallen. Um diesem Schicksal zu entgehen, wäre ich sogar bereit gewesen, auf einen Hof einzuheiraten, wenngleich mir bewusst war, dass es in solchen Fällen oft genug vorkommt, dass der einheiratende Bauer bei seiner Bäuerin und ihren Verwandten nicht allzu viel zu melden hat. Dass sich nun aber meine schöne Maria mit ihrer Badwirtschaft für mich entschieden hat, erscheint mir bis heute als das größte Glück meines Lebens.«

Graf lehnte sich an die Hauswand, sah versonnen auf den See hinaus und hing seinen Gedanken nach. Maria war selbstbewusst, aber keinesfalls herrschsüchtig, und er hatte diese ungewohnte Eigenschaft sehr bald nach der Hochzeit zu schätzen gelernt. Nicht nur dass sie ein erfreuliches Eheleben führten, dem bisher vier gesunde Kinder entsprungen waren, sie verfolgten auch beide das gleiche Ziel – die Wirtschaft voranzubringen. Wie die anderen Bäder in der oberschwäbischen Landvogtei war auch das Willerazhofer Bad frei von Abgaben, was ihnen ermöglichte, gute Gewinne einzufahren. Zudem durften sie laut den Vorschriften backen und schlachten, alkoholische Getränke ausschenken und die Gäste mit Speisen bewirten.

»Wir haben zusammen einiges geschafft«, sagte er dann laut zu Gaile. »Wir wollten zusätzlich zum Badebetrieb am Weiher auch die Heilquelle nutzen und so noch mehr Gäste locken. Dafür haben wir eine hölzerne Leitung gelegt und das Wasser der Heilquelle in das Wirtschaftsgebäude geführt. Dort haben wir dann eine spezielle Badstube eingerichtet, in der ein großer Kupferkessel zum Erwärmen des Heilwassers mitsamt dreißig Wannen – vom kleinen Schöpfzuber bis zum geräumigen Badezuber – Platz gefunden haben. Die einzelnen Badeplätze haben wir durch robuste, ungebleichte Leinenvorhänge voneinander abgetrennt und so jedem Gast die Möglichkeit geboten, sein Bad ungeniert und in aller Ruhe zu genießen.«

Gaile nickte ein wenig ungeduldig, da ihm die Badwirtschaft mitsamt ihrer Einrichtung ja hinlänglich bekannt war. Er wollte den geknickten Graf aber nicht in seinem Redefluss, der ihm offensichtlich Erleichterung verschaffte, unterbrechen und ergänzte daher gutmütig: »Außer für den Badebetrieb nutzt ihr ja auch noch die Wasserkraft im Winterhalbjahr für einen Öl- und Gerstenstampf. Die Bauern der Umgebung sind gottfroh darüber, dass sie im Herbst bei euch ihr Getreide und ihren Leinsamen anliefern können.«

»Ja, das verschafft uns bis ins Frühjahr hinein und bis zum Beginn der Badesaison eine gute zweite Einnahmequelle. – Wie du siehst«, sagte Graf nach kurzem Nachdenken mit gerunzelter Stirn, »ist bei uns bisher alles mit rechten Dingen zugegangen. Keine dunklen Geheimnisse, keine Unglücksfälle, keine Ertrunkenen – gar nichts dergleichen!«

»Dass ihr im ersten Stock drei Doppel- und vier Einzelzimmer mit Blick auf den Weiher ausgebaut habt, war, wie sich gezeigt hat, keine schlechte Idee«, bemerkte Gaile anerkennend.

»Eines der Doppelzimmer haben wir von vorneherein so geräumig geplant, dass bei Bedarf bequem ein drittes Bett aufgestellt werden kann.« Der Stolz in Grafs Stimme war nicht zu überhören. »Und dass uns die Gesetze der oberen Landvogtei erlauben, zur Unterstützung beim Backen und Schlachten eine Hilfe einzustellen, kam uns natürlich sehr entgegen. Mit Peter Natterer haben wir wirklich einen Glücksgriff getan. Er ist genau der richtige Mann für diese Aufgabe. Er erfüllt alle Auflagen der strengen Obrigkeit, die vorschreiben, dass er ein katholischer Bauer mit mindestens einem halben Hof sein muss.«

»Ja, da habt ihr Glück gehabt«, bestätigte Gaile abschließend.

Graf fühlte sich nach dem Gespräch mit Gaile besser. Sogar eine zarte Hoffnung keimte in ihm auf, dass bald alles wieder seinen gewohnten Gang nehmen würde.

Noch vor dem Frühstück, während Anton Gaile und Franz Graf vor dem Haus miteinander sprachen und nachdem Viktoria Baumann sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, war unter den Gästen ein lebhaftes Gespräch entstanden. Alle möglichen Gesichtspunkte waren erörtert und Vermutungen angestellt worden.

Anna Leistner hielt es für durchaus denkbar, dass die junge Frau mondsüchtig und geschlafwandelt sei. Ein kühner und ungewöhnlicher Gedanke, der aber ganz und gar nicht von der Hand zu weisen sei, fanden die Schwestern Bäuerle, die ihre Mitmenschen gerne genau unter die Lupe nahmen und auch vor scharfen Bewertungen nicht zurückschreckten. Nagel hingegen gab, mit einem seltsamen Seitenblick auf Ursula Mendler, zu bedenken, es könne auch jemand die Jungfer in böser Absicht hinausgelockt haben.

»Was für eine böse Absicht denn?«, ereiferten sich da sogleich die Schwestern Bäuerle wie mit einer Stimme.

Und Martha fügte, während ihr Blick sich in Nagels blaue Augen bohrte, mit vor Aufregung pfeifendem Atem, hinzu: »Wer hätte sie denn hinauslocken sollen?«

»Vielleicht war es weder ein Selbstmord noch ein Unfall«, beharrte Nagel.

»Etwa ein Verbrechen?«, fragte König entsetzt.

Die Schwestern Mendler warfen sich bestürzte Blicke zu.

»Ach was!«, polterte Joseph Leistner laut und entschieden, »das Mädchen ist ins Wasser gegangen, das hat ihre Tante gleich gesagt und die wird ihre Nichte schließlich kennen.«

»Wie sollte ihre Nichte denn ertrunken sein«, fragte Nagel spitz, »wenn sie den Kopf nicht einmal unter Wasser hatte?«

Leistner, der vor Schmerzen kaum noch sitzen konnte, stützte sich schwer auf seinen Stock, um sein Gesäß zu entlasten. Der Schweiß stand ihm schon wieder auf der Stirn und er wollte die unleidige Unterhaltung so schnell wie möglich beenden.

»Ich bin dafür«, sagte er deshalb, »wir bitten jetzt die Wirtin, die Morgenmahlzeit aufzutragen.«

Die Stimmung in der Badwirtschaft war gedrückt. Zwar waren Graf und seine Frau sehr bemüht, schnellstmöglich wieder den Alltag einkehren zu lassen, sie konnten aber dennoch nicht verhindern, dass während der Morgenmahlzeit ein quälendes Schweigen über dem Gastraum lag.

Um ihren Bruder auf den tragischen Tod seiner Tochter vorzubereiten, hatte Viktoria Baumann noch am Vormittag einen berittenen Boten mit der Unglücksnachricht nach Ulm geschickt, in der sie ihm ankündigte, dass sie unverzüglich ein Fuhrwerk mieten und mit der Toten am späten Abend in Ulm eintreffen werde.