Zeuglesweber - Ines Ebert - E-Book

Zeuglesweber E-Book

Ines Ebert

4,8

Beschreibung

1854 macht sich der vierzehnjährige Bernhard Schroth auf den Weg von Heubach hinauf auf die Alb nach Lauterburg, um dort eine Weberlehre anzutreten. Bald muss er erkennen, dass sich die Aussichten für zünftige Weber ständig verschlechtern. Die Welt ist in Bewegung. Technische Neuerungen, die Abschaffung der Zünfte und weltweite Wirtschaftskrisen reißen Bernhard mit in den Strudel der Veränderungen. Dennoch ist er fest entschlossen, etwas aus seinem Leben zu machen. In einer Korsettfabrik in Stuttgart lässt er sich zum »Korsettweber« ausbilden, und als sich die Gelegenheit bietet, in der in Heubach neu gegründeten Korsettfabrik zu arbeiten, kehrt er überglücklich nach Hause zurück. Bald stellt sich auch das lang ersehnte familiäre Glück ein. Die vom württembergischen König geförderte Korsettindustrie erlebt im Lauf der Zeit ein ständiges Auf und Ab. Als in Heubach eine Fabrik für genähte Dessous gegründet wird, gerät die bestehende Konkurrenz in Zugzwang und ersetzt ihre Webstühle durch Nähmaschinen. Bernhard verliert seine Arbeit - und seine Welt bricht in Stücke … Der Roman beschreibt eindrucksvoll die Anfänge der beiden weltbekannten Miederfabriken Susa und Triumph International.

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Ines EbertZeuglesweber

Ines Ebert

Zeuglesweber

Historischer Roman

Ines Ebert, geboren 1949 in Heubach im Ostalbkreis, ist Diplom-Museologin (FH) im Ruhestand und arbeitete freiberuflich für Städte und Gemeinden in den Bereichen Museum und Archiv. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Katze Lilli in Wangen im Allgäu.

1. Auflage 2014

© 2014 by Silberburg-Verlag GmbH,

Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Anette Wenzel, Tübingen,

unter Verwendung des Gemäldes

»Maid sewing a lady into a corset« (1841)

von Constantinus Fidelio Coene.

Druck: Gulde-Druck, Tübingen.

Printed in Germany.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1616-8

E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1617-5

Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1313-6

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www.silberburg.de

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Anmerkungen

Glossar

Handwebstuhl Schemazeichnung

»Sanduhr-Korsett«

Quellen

Literaturauswahl

Danksagung

Kapitel I

Von Heubach bis Lautern konnte Bernhard auf einem Fuhrwerk mitfahren. Den steilen Weg hinauf nach Lauterburg schien er nun aber zu Fuß zurücklegen zu müssen. Er hoffte inständig, dass ein weiteres Fuhrwerk vorbeikommen und ihn mitnehmen möge, denn die Riemen seines schweren Rucksacks schnitten schon nach kurzer Zeit schmerzhaft in seine Schultermuskulatur ein. Allzu viele Muskeln befanden sich ohnehin nicht dort, denn Bernhard war mit seinen vierzehn Jahren hoch aufgeschossen und viel zu dünn.

Vor ein paar Wochen, nach seiner Konfirmation und kurz vor der Schulentlassung, war er schon einmal zusammen mit seinem Vater in das kleine Dorf auf der Alb hinaufgewandert, um den Lehrvertrag mit Webermeister Andreas Burkhardt unter Dach und Fach zu bringen. Warum er seine Lehre denn ausgerechnet in Lauterburg machen müsse, hatte er den Vater damals auf dem steilen Weg hinauf auf die Alb gefragt. In Heubach gebe es doch auch Lehrstellen und zudem würde er lieber weiterhin zu Hause wohnen.

»Du solltest froh sein, dass ich eine so gute Lehrstelle für dich gefunden habe!«

Jakob Schroths Stimme klang rau, als er seinen Sohn, der ihn bereits um einen halben Kopf überragte, von der Seite anblickte. Sein Hals war wie zugeschnürt und sein Herz war schwer bei dem Gedanken, sein einziges Kind ziehen zu lassen. Immerhin hatte er selbst damals in der Werkstatt seines Vaters gelernt und deshalb auch zuhause gewohnt.

»Du weißt doch, wie es inzwischen ist, dass nicht nur ich, sondern auch viele andere Weber die Gebühren für die Ausstellung des Meisterbriefes längst nicht mehr aufbringen konnten und der damit verbundene Verzicht auf das Meisterrecht eben auch bedeutet, dass man nicht mehr zünftig ausbilden darf«, erklärte Jakob Schroth zum wiederholten Male.

»Ja, schon, aber der Onkel Thomas hätte mich vielleicht doch genommen«, beharrte Bernhard.

»Schlag dir das aus dem Kopf, Bernhard. Die Weberzunft hat meinem Bruder im Meisterprüfungsprotokoll zwar sehr gute Kenntnisse bescheinigt, aber wie ich hat er auf die Mitgliedschaft in der Zunft verzichtet. Dafür hat er die Seidenweberfabrik gegründet, was in meinen Augen eine mehr als unsichere Geschichte ist. Ganz abgesehen davon, dass er ja schon seinen Sohn Johann, der wie du ebenfalls aus der Schule kommt, in die Lehre nehmen wird.«

»Ja, aber vielleicht hätte er uns beide genommen!«, beharrte Bernhard trotzig.

»Die Seidenweberei – ach, ich weiß nicht.« Jakob wischte sich mit dem Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn. »Schon vor zwanzig Jahren hat es in Frankreich Aufstände der Seidenweber gegeben, weil sie mit ihren Erzeugnissen immer weniger verdient haben. Und jetzt hat das ganze Weberhandwerk zunehmend mit der Konkurrenz aus England, Schlesien und sogar Sachsen zu kämpfen. In den neuen Manufakturen stellen sie auf mechanischen Webstühlen die Stoffe viel kostengünstiger her als wir Handweber. Und als ob das nicht schon genug wäre, werden neuerdings auch noch in Gefängnissen billige Tuche gewebt, die nicht nur ans Militär, sondern auch an private Abnehmer geliefert werden. Die Strafanstalt Gotteszell in Gmünd ist da ganz vorne mit dabei. Ich weiß nicht, wie wir Handweber noch mithalten können, wenn uns noch etwas zum Leben übrig bleiben soll. Und ob dein Onkel Thomas mit seiner Seidenweberei auch in Zukunft gut über die Runden kommen wird, bleibt abzuwarten. Es ist schon besser, wenn du deine Lehre bei einem Meister der Zunft machst, da weißt du wenigstens, was du hast.«

»Ich würde aber lieber in Heubach bleiben«, wiederholte Bernhard verbissen und starrte während des Gehens stur auf seine festen Lederstiefel, die vom weißen Staub der Kalksteine der Alb bedeckt waren, mit der die Straße geschottert war. Tief in seinem Innersten wusste er genau, dass er den Vater nicht mehr umstimmen konnte. »Lauterburg«, maulte er trotzdem, »das ist doch …« – Bernhard suchte nach den passenden Worten, um seinem Unmut angemessenen Ausdruck zu verleihen – »… das ist doch am Ende der Welt.«

Obwohl Jakob Schroth die Verzweiflung seines Sohnes nicht entging, musste er nun doch lachen. »Am Ende der Welt, du bist gut. Ich glaube, das Ende der Welt liegt schon noch ein Stückchen weiter entfernt als Lauterburg, das man von Heubach aus immerhin bequem in zwei bis drei Stunden zu Fuß erreichen kann.« Und um Bernhards Aufmerksamkeit in eine andere Richtung zu lenken, deutete er mit dem ausgestreckten Arm über die Baumwipfel hinweg. »Da, schau einmal: Man sieht schon die Ruine Lauterburg. Das war einmal das Stammschloss der Herren von Woellwarth, bevor es vor über hundert Jahren einem Brand zum Opfer gefallen ist.«

»Hm«, machte Bernhard und sah nun doch neugierig zu den Resten der Schlossanlage hinüber. Alles schien nicht abgebrannt zu sein, denn er konnte neben der Ruine eine Kirche und ein paar intakte Nebengebäude ausmachen.

Die Sonne schien an diesem strahlenden Samstagmorgen schon kräftig vom Himmel und Bernhard keuchte und schwitzte mittlerweile die Steige hinauf. Außer einem einzigen Fuhrwerk, das hinunter nach Lautern gefahren war, lag die Straße wie ausgestorben da. Nachdem er gut drei Viertel der Strecke zurückgelegt hatte, streifte er in einer Kehre seinen Rucksack ab und rieb sich die schmerzenden Schultern. Es war genau die Stelle, an der sein Vater ihn beim letzten Mal auf die Ruine von Lauterburg aufmerksam gemacht hatte. Bernhard ließ sich erschöpft auf einem Baumstumpf nieder und kramte in seinem Rucksack herum, bis er die Wasserflasche und das Päckchen mit dem Butterbrot fand, das ihm die Mutter am Morgen fürsorglich eingepackt hatte. Bei dem Gedanken an sein Zuhause verspürte er ein schmerzliches Ziehen in der Brust. So viele Erinnerungen stiegen in ihm auf.

Erst im Januar war der Großvater mit dreiundsiebzig Jahren gestorben. Immer weniger war er geworden und eines Morgens einfach nicht mehr aufgewacht. Er hatte seine letzte Ruhestätte neben der Großmutter gefunden, die bereits fünf Jahre vor ihm gestorben war. Als eine der Ersten war sie auf dem neu angelegten Friedhof an der Lauterner Straße beigesetzt worden. Bernhard vermisste seinen Großvater sehr. Auch seinen Vetter und Freund Johann und vor allem seine Mutter. Sie vermisste er schon jetzt am allermeisten, auch wenn er sich damit tröstete, dass er sie ja wiedersehen würde. In ein paar Monaten vielleicht, irgendwann, möglicherweise an Weihnachten.

Die Mutter war, seit er denken konnte, der ruhende Pol in der Familie gewesen. Im Gegensatz zum Vater, einem ernsten und nicht besonders lebenslustigen Mann, der Bernhard allerdings nie im Unklaren darüber gelassen hatte, wie lieb er ihn hatte. Tiefe Melancholie wechselte sich beim Vater ab mit Rebellion und Aufbegehren gegen Lebensumstände, die er seiner Ansicht nach nicht verdient hatte und für die er in erster Linie die Politik verantwortlich machte. Eine Politik, der es einfach nicht gelang, die alten, feudalen Strukturen zugunsten einer Liberalisierung aufzubrechen, von der auch Bürger wie er profitieren konnten. Oder – so schimpfte er oft – war es etwa seine Schuld, dass er in eine Familie von Webern hineingeboren worden war, die seit Generationen eher schlecht als recht von ihrem Handwerk lebten und neuerdings sogar in die Abhängigkeit von Verlegern gerutscht waren, die vor allem ihren eigenen Vorteil suchten. War es etwa seine Schuld, dass die Schroths es nicht zu mehr gebracht hatten als zu einem kleinen Anteil eines Hauses auf dem Bühl, der nur durch die kleine gemeinsame Tenne und einem gemeinsamen Abort vom Nachbarn, dem Schneider Hofele, getrennt war?

Jakob Schroths regelmäßiges persönliches Aufbegehren erschöpfte sich meist in Schimpftiraden im häuslichen Kreis, die Bernhard als Kind ängstlich und mit aufgerissenen Augen verfolgte hatte, ohne wirklich zu verstehen, was den Vater so erzürnte. Mit seinem kindlichen Gemüt suchte er die Schuld am stetigen Zorn seines Vaters bei den bescheidenen Mahlzeiten und dem Hunger, den sie in dieser Zeit litten und der sie abends nicht selten mit knurrenden Mägen ins Bett gehen ließ.

Bernhard hatte erst später verstanden, dass sein Vater in den Umtrieben der 1848er Revolution, als er selbst noch ein Kind von erst neun Jahren war, endlich ein wohltuendes Ventil für seine Hilflosigkeit, die innere Not und den aufgestauten Ärger über all die äußeren Umstände gefunden hatte. Für Umstände, die ihn daran hinderten, seine Familie angemessen zu versorgen. Der Revolution vorangegangen waren nasskalte Sommer mit Missernten. Vor allem die Kraut- und Knollenfäule der Kartoffeln hatte große Ernteeinbußen verursacht. Nicht nur auf dem kleinen Schroth’schen Feld am Fuße des Hochbergs breitete sie sich aus, sondern in ganz Württemberg und darüber hinaus in Europa. In Irland wüte die Kartoffelkrankheit besonders stark, war damals in der Remszeitung zu lesen.

Jakob Schroth hatte seine Familie stets mit Neuigkeiten versorgt, die er der Zeitung entnahm. Wenn der Vater die Zeitung ausgelesen hatte, nahm sie Bernhard zur Hand und verzog sich damit in einen Winkel, wo er ungestört seine Lesekünste erproben und Artikel lesen konnte, von denen der Vater nicht gesprochen hatte. Auf diesem Wege erfuhr er von den Hungerkrisen, die den Missernten folgten und in Berlin zu den berüchtigten Hungerkrawallen führten. Die Zeitungen waren voll mit Anzeigen von Agenten, die Auswanderern »solide und billige Beförderung mit Dampfbooten und Segelschiffen nach New York, New Orleans, Baltimore und Philadelphia« anpriesen. Bernhard war fasziniert von den auffällig umrahmten Anzeigen. Eine riesige Auswanderungswelle schwemmte in diesen Jahren Scharen gleichermaßen braver Bürger wie Abenteurer über den Atlantik hinweg nach Amerika, wo die einen sich ein besseres Auskommen erhofften und die anderen sich von den Goldfunden in Kalifornien und dem Goldgräberfieber mitreißen ließen.

Auch das Aufbegehren der Bauern gegen die Abgabepflichten an die Grundherren und die immer schlechter werdenden Bedingungen im Handwerk waren schwerwiegende Gründe, die den revolutionären Bewegungen Vorschub leisteten und sie bis nach Heubach überschwappen ließen. Das Gerücht, Zigtausende von Franzosen seien über Baden brandschatzend auf dem Weg nach Osten, um sich die 1815 im Zuge der Neuordnung Europas verlorenen Gebiete wieder zurückzuholen, veranlasste die Landesregierung zur Aufstellung von Bürgerwehren. Auch die Ablösung der Lehensherrschaft wurde eilends innerhalb weniger Tage beschlossen, um weiteren Unruhen entgegenzuwirken.

Zum Dienst in den Bürgerwehren wurden alle wehrfähigen Männer unter fünfzig Jahren verpflichtet. Jakob Schroth, zu diesem Zeitpunkt vierundvierzig Jahre alt, war von dem neuen Dienst begeistert und zudem erwärmt von dem Gefühl, endlich auch als Bürger von der Obrigkeit ernst genommen zu werden. Anführer der Heubacher Bürgerwehr war der freiheitlich gesinnte Apotheker Becher. Der ideelle Samen des Freiheitskampfes war in dessen Familie ganz besonders gut aufgegangen. Bechers Bruder August nämlich, ein engagierter Linksliberaler, war sogar ins Stuttgarter Rumpfparlament gewählt worden. Nach dessen Auflösung hielt er sich dann eine Zeitlang in Freiburg auf, von wo er nach dem Scheitern des badischen Aufstandes in die Schweiz floh. Im Juli 1851 wurde gegen August Becher und zahlreiche seiner Genossen in Ludwigsburg ein Hochverratsprozess angestrengt, der für ihn allerdings ganz überrraschend mit einem Freispruch endete, was seinen Bruder in Heubach erleichtert aufatmen ließ.

In Heubach brachten die Umtriebe immerhin eine national gesinnte Turnerbewegung und die Abschaffung des Zehnten der Pfarrei hervor. Die Bürgerwehr löste sich aber schon bald wieder auf, zumal die befürchtete französische Invasion nicht eingetreten war und der Aufwand für Bekleidung, Bewaffnung und Zeit von den Mitgliedern der Bürgerwehr selbst getragen werden musste. Nach nur wenigen Wehrübungen erschienen einige der Männer gar nicht mehr, und wie an anderen Orten löste sich die Bürgerwehr auch in Heubach 1849 sang- und klanglos wieder auf.

Nach der Revolution hatten sich weder die Machtverhältnisse noch das politische System im Land wirklich gewandelt und Reformen kamen nur langsam voran. Trotzdem hatte sich Jakob Schroth in den folgenden Jahren auf unbestimmte Weise als Staatsbürger mit gewissen Rechten begriffen, was ihm letztendlich zu einem besseren Lebensgefühl verhalf. Dass er sich besser fühlte, mag allerdings auch daran gelegen haben, dass die Familie auf ihrem Feld wieder genügend ernten konnte und dass im März 1849 mit dem Tod seiner Mutter, die im Alter von 80 Jahren gestorben war, in dem kleinen Haus am Bühl weniger Platznot und damit auch weniger tägliche Sorgen vorherrschten.

Jakob Schroths Mutter Elisabetha war in den letzten Jahren ihres Lebens trotz ihrer Brustwassersucht zwar kaum bettlägrig gewesen, sie hatte aber ihren elf Jahre jüngeren Mann Jakob, ihren Sohn Jakob, ihren Enkel Bernhard und vor allem ihre Schwiegertochter Sophie durch ihren mit den Jahren zunehmend verwirrten Geisteszustand ständig in Atem gehalten. Man konnte sie praktisch nicht mehr aus den Augen lassen. Entweder schlüpfte sie in unbeobachteten Augenblicken aus dem Haus und irrte orientierungslos im Städtchen herum, wo die Schwiegertochter oder der Enkel sie dann suchen mussten, oder sie zündelte an dem eisernen Ofen in ihrer Wohnschlafstube herum. Einmal hätte sie dabei fast das ganze Haus in Brand gesetzt. Sophie hatte den Brandgeruch Gott sei Dank noch rechtzeitig wahrgenommen und war, ihren Mann lauthals aus der Werkstatt zu Hilfe rufend, in das Zimmer der Schwiegereltern geeilt. Der Raum war bereits vom Rauch erfüllt, der in dicken Schwaden aus dem Ofen quoll. An den Holzscheiten des danebenstehenden Holzkorbes züngelten bereits knisternd die Flammen empor. Sophie hielt sich einen Zipfel ihrer Schürze vor Mund und Nase und riss das Fenster auf, bevor sie ihre hustende Schwiegemutter aus dem Raum zog. Ihr herbeigestürzter Sohn Jakob warf den brennenden Korb kurzerhand zum Fenster hinaus.

Schneider Hofele von nebenan hastete ebenfalls herbei und zeterte lauthals, nachdem er die Situation erfasst hatte. »Eure Großmutter zündet uns noch das ganze Haus an! Nicht auszudenken! Nicht auszudenken!«, rief der schmächtige Schneider ein ums andere Mal mit seiner durchdringenden Fistelstimme, die Sophie einen Schauer über den Rücken jagte. »Das muss ich anzeigen, da hilft alles nichts!«

Er schrie und geiferte und konnte sich schier nicht mehr beruhigen, so dass bei seinem aufgeregten Hin- und Herhüpfen die Fäden in den Nadeln, die an seiner Weste hefteten, graziös an seiner Brust flatterten. Alle Versuche Jakobs und seines Vaters, der inzwischen von seinem kleinen Ackerfeld am Hochberg zurückgekehrt war, Hofele von seinem Vorhaben abzubringen, fruchteten nichts. Der Nachbar zeigte Großmutter Elisabetha Schroth an, was zur Folge hatte, dass sie, Altersverwirrtheit hin oder her, vom Königlichen Oberamt Gmünd wegen feuergefährlichen Benehmens zu einer Geldstrafe von zehn Gulden verurteilt wurde. Da weder sie und ihr Mann noch Jakob und seine Familie diese Summe aufbringen konnten, wandelte das Oberamt die Geldstrafe in eine viertägige Arreststrafe um, die Elisabetha mit ihren 77 Jahren im Heubacher Blockturm absitzen musste.

Die Enge in dem kleinen Haus am Bühl war für die Bewohner auch vorher schon nicht neu gewesen und reichte Generationen zurück, das hatte der Vater Bernhard schon mindestens dreimal erzählt. Bernhard kam bei den Erzählungen seines Vaters anfangs immer durcheinander, weil vom Vater angefangen über den Großvater und den Urgroßvater alle den Namen Jakob Schroth trugen. Auch der Zusatz senior und junior war Bernhard nicht wirklich hilfreich, da sich der Junior im Erwachsenenalter ja verwirrenderweise zum Senior wandelte. Erst der Ururgroßvater mit dem Namen Israel Schroth, am Anfang der langen Ahnenreihe, war für Bernhard leicht zu merken, nicht zuletzt deshalb, weil der Vorname so besonders war.

Bereits als sein Großvater Jakob Schroth seine Frau Elisabetha im Jahre 1803 geheiratet hatte, lebten dessen Eltern zusammen mit den drei jüngsten Geschwistern noch in der Stube neben der Werkstatt. Als der Bruder des Großvaters, der Bernhard hieß, 1810 endlich heiratete und mit seiner Frau ein Haus am Marktplatz bezog, bekam bald darauf eine seiner Schwestern ein uneheliches Kind, was die Enge im Häuschen wieder vergrößerte, denn nun vermischte sich das Geschrei des neuen Erdenbürgers mit dem Geschrei der fünf Kinder des Großvaters.

Aber auch dem alten Ehepaar Schroth war es zuvor nicht besser ergangen. Von dessen Heirat 1779 an lebten selbstverständlich die Schroth’schen Ururgroßeltern Israel und Katharina noch bis zu ihrem Tod mit im Haus.

Israel Schroth war Taglöhner gewesen, aber sein Sohn, der erste Schroth mit dem Namen Jakob, begründete eine neue Tradition, indem er das Weberhandwerk erlernte, die Meisterprüfung ablegte und somit ein ehrenwertes Mitglied der Heubacher Weberzunft wurde. Die ältesten Söhne der nachfolgenden Generationen wurden ebenfalls Webermeister und allesamt auf den Namen Jakob getauft. Zwar brachte keine ihrer Frauen Reichtümer mit in die Ehe, jedoch verhältnismäßig respektable Aussteuern. So hatten die Schroths über ein paar Generationen hinweg ein gutes Auskommen.

Die annehmbaren Verhältnisse änderten sich jedoch allmählich zum Schlechteren. Mechanisierung war zur neuen Parole geworden, deren vielfältige Entwicklungen sich auch nachhaltig im Weberhandwerk auswirkten. Von denen hörte man natürlich auch in Heubach, wo sie ebenfalls Einzug hielten. Doch Jakob Schroth hielt eisern daran fest, dass sein Sohn Bernhard genau wie er und seine Vorväter die Handweberei erlernen sollte – entgegen dem eindringlichen Rat der Obrigkeit an die Familienväter, ihre Söhne in andere Gewerbe als das Weberhandwerk eintreten zu lassen. Es gab viele gute Gründe dagegen, Weber zu werden: Der mechanische Webstuhl war längst erfunden und wurde in englischen Webereien bereits mit Erfolg eingesetzt, die Erfindung des Schnellschützens hatte aufgrund seiner Schnelligkeit die Webtechnik revolutioniert, und der schlesische Weberaufstand von 1844, bei dem sich die Weber gegen die Konkurrenz von maschinell hergestellten Garnen und Stoffen zu wehren versucht hatten, war, wie andere auch, niedergeschlagen worden.

Jakob Schroths Entscheidung beruhte allerdings weniger auf Ignoranz als auf einer gewissen Ratlosigkeit. Er konnte sich seinen Sohn einfach nicht als Bäcker, Schuhmacher oder Wagner vorstellen.

Auch für Bernhard war es selbstverständlich, dass er die Tradition des Weberhandwerks in der Familie fortsetzen würde. Schon von klein auf hatte er dem Vater in der Werkstatt geholfen. Beim Garnspulen war er bereits so perfekt, dass ihm der Lehrherr in Lauterburg diesbezüglich bestimmt nichts mehr beibringen konnte.

Bernhard faltete das Butterbrotpapier sorgfältig zusammen und verstaute es mit der leeren Wasserflasche wieder in seinem Rucksack. Gestärkt setzte er seinen Weg fort. Als er auf der Höhe angekommen war, teilte sich der Weg in zwei Richtungen. Ein Wegweiser zeigte nach links in Richtung Essingen, ein zweiter nach rechts in Richtung Bartholomä. Die Häuser von Lauterburg zogen sich zur rechten Seite an zwei Straßen entlang. Das Haus von Meister Burkhardt lag ungefähr in der Mitte des Dorfes. Bernhard hatte die Wahl. Er konnte die untere Straße nehmen, die bald nach den Wegweisern noch einmal nach rechts abzweigte und an der massiven Kirche innerhalb der alten Schlossanlage vorbeiführte, und dann die Steige am Ende der Ruine bis zur Hälfte hochgehen oder er konnte die obere Straße nehmen, die in einer scharfen Linkskurve rechts abbog und die Steige nach unten führte.

Bei seinem letzten Besuch hatten sein Vater und er auf dem Hinweg die obere Straße gewählt und auf dem Rückweg die untere. Bernhard beschloss, sich seiner neuen Bleibe dieses Mal von unten zu nähern. Bald passierte er das zweistöckige Pfarrhaus, auf dessen Rückseite sich eine Waschküche mit angebautem Schweinestall befand, und den gegenüberliegenden Pfarrgarten, der sich im ehemaligen Schlossgraben neben der Schlossruine und der massiven Kirche erstreckte. Er reckte den Hals, um einen Blick in den teilweise mit einer Mauer und teilweise mit einem Lattenzaun eingefassten Garten zu erhaschen. Außer den rosa blühenden Baumkronen zweier Apfelbäume konnte er aber nichts erkennen. Im Gegensatz zu den meisten, fast wie neu aussehenden ein- und zweigeschossigen Häusern der Straße sah man dem Pfarrhaus an, dass es sehr alt war. Es hatte den verheerenden Brand von 1842 zwar unbeschadet überstanden, war aber in den nachfolgenden Jahren ziemlich heruntergekommen. Meister Burkhardt hatte Bernhard und seinem Vater bei ihrem letzten Besuch von der schrecklichen Brandkatastrophe erzählt, und dass man nach dem Brand die Häuser auf dem schnellsten Wege wieder neu aufgebaut hatte. Viele davon waren aus Stein und mit Ziegeldächern versehen. Man sah im Dorf nur noch wenige der alten, meist mit Stroh gedeckten Fachwerkhäuser.

Eines von ihnen war das Haus von Meister Burkhardt, das auf halber Höhe an der Steige zur oberen Straße hin stand. Bernhard hatte noch das zufrieden lächelnde Gesicht seines zukünftigen Meisters vor Augen, als er ihm und seinem Vater bei dem Schwätzchen, das sie nach dem Unterschreiben des Lehrvertrages gehalten hatten, auch erzählte, wie froh er und seine Familie damals gewesen waren, dass Gott der Herr ihr Haus vor den Flammen verschont hatte.

»Wir haben jetzt zwar kein neues Haus, aber wir mussten uns auch nicht in Schulden stürzen. Nur das Strohdach haben wir, um die Brandgefahr einzudämmen, durch ein Ziegeldach ersetzen lassen. Einige Familien im Dorf mussten Haus und Hof, oder besser gesagt das, was noch davon übrig geblieben war, billig verkaufen. Die Feuerversicherung hatte sich bei den Auszahlungen an die Brandopfer natürlich an den Wert der alten Häuser gehalten. Das Geld für einen viel teureren Neubau konnten einige einfach nicht aufbringen. Es soll ja Brandstiftung gewesen sein«, hatte Burkhardt leise hinzugefügt, »man hat aber nie herausgefunden, wer es gewesen ist.«

Andreas Burkhardt lebte mit seiner Frau Rosina allein in dem sauber hergerichteten Haus, in dem sich die Weberwerkstatt unten in den beiden Räumen des Hanggeschosses befand. Ihre beiden Töchter waren längst verheiratet, die ältere in Essingen, die jüngere in Lauterburg. Jetzt, im fortgeschrittenen Alter, hatte es sich Andreas Burkhardt zweimal überlegt, ob er sich noch einmal die Mühe machen wollte, einen Lehrling auszubilden. Er hatte geschwankt zwischen einem geruhsamen Lebensabend, an dem er sich nur noch so oft an den Webstuhl setzen würde, wie es nötig war, um den bescheidenen Lebensunterhalt zu verdienen, und der Leidenschaft für seinen Beruf. Noch einmal sein vielfältiges Wissen an einen jungen Menschen weiterzugeben und ihn zudem für das Leben zu ertüchtigen, lockte ihn dann aber doch mehr. Mit dem jungen Bernhard Schroth würde wieder Leben in den beschaulichen Alltag kommen – nun ja, und mit dem Lehrgeld auch ein kleines finanzielles Polster.

Die Lehrzeit betrug laut Vertrag vier Jahre, eingeschlossen das sogenannte Zusatzjahr, das dem Lehrherrn einen selbst herangezogenen Arbeiter bescherte und dem Lehrling die Möglichkeit gab, das Erlernte zu vertiefen und sich seine Wanderschaftsaussteuer im Haus des Lehrherrn selbst zu verdienen.

Kost und Wohnung waren vom Lehrherrn zu übernehmen, ebenso die Wäschepflege und der Ersatz für verbrauchte Kleidung. Zudem verpflichtete sich der Lehrherr, den Lehrling gewissenhaft zu unterrichten und ihn zur Fortübung in den Schulkenntnissen anzuhalten, ihn aber auch gegen Unrecht, Gefahr und Schaden zu beschützen.

Jakob Schroth war froh, dass das Lehrgeld in Höhe von insgesamt 30 Gulden zu zwei Dritteln nach der ersten Hälfte der Lehrzeit und das letzte Drittel erst nach erfolgreich beendeter Lehre zu bezahlen war. Gerade jetzt, zu Beginn von Bernhards Lehre, hätte er sowieso nicht gewusst, wie er das Geld aufbringen sollte. Obwohl er von morgens bis abends am Webstuhl saß, blieb nach Abzug der Kosten nichts übrig, was er zur Seite legen konnte. Der Tod seines Vaters im Januar hatte ihm auf beschämende Weise seine Armut wieder einmal vor Augen geführt. Jakob Schroth senior hatte zwar keine Schulden, aber auch sonst nichts hinterlassen. Sein Bruder Thomas, der Seidenweber, musste die Beerdigungskosten alleine übernehmen, was er ohne großes Aufhebens tat. Auch ihre älteste Schwester Elisabeth, die in Welzheim mit einem Seckler verheiratet war, war so gut wie mittellos und konnte kein Geld beisteuern. Für Jakob war es eine bittere Pille gewesen, nicht den kleinsten finanziellen Beitrag leisten zu können, um den Vater unter die Erde zu bringen. Die Tatsache, dass viele andere Heubacher Weber genauso wie er fast am Hungertuch nagten, vermochte ihn nicht zu trösten.

Jakob webte schon lange überwiegend Barchenttücher, seltener Leinentücher, je nachdem, was der Verleger in Heidenheim eben in Auftrag gab. Er verfluchte seine Abhängigkeit und die Tage, an denen er sich mit seinen Waren auf den weiten Weg über die Alb machen musste, um sie für wenig Geld in Heidenheim abzuliefern und um danach das Garn für neue Aufträge in Empfang nehmen zu können. Nur Hungerlöhne zahlte der sogenannte Fabrikant für die Tücher, die Jakob und viele andere Weber für ihn herstellten. Oft rätselte er herum, wie viel so ein Verleger wohl letztendlich an seinen Webwaren verdienen mochte.

Um die verzweifelte Lage der Weber zu verbessern, hatte der Heubacher Gemeinderat erst im August 1853 in einem Schreiben an das Königliche Ministerium des Inneren gebeten, das Verbot des Hausierhandels für Webwaren, die ja dem Zunftgesetz unterworfen waren, aufzuheben und es den vielen Heubacher Baumwollwebern zu gestatten, ihre Baumwollzeuglen mit einem Hausierpatent und gegen bares Geld selbst zu verkaufen. Leider war der beschwörend formulierten Eingabe des Gemeinderats und des Stadtschultheißen Merz kein Erfolg beschieden gewesen.

Die Not nahm also kein Ende. Gottlob besaßen die Schroths das kleine Ackerfeld am Abhang des Hochbergs, auf dem auch zwei Apfelbäume und ein Zwetschgenbaum wuchsen. Dort bauten sie Kraut und Kartoffeln an. Eigentlich waren es einmal zwei nebeneinanderliegende Äcker gewesen. Aber 1842 hatte Jakob den einen aus akuter Geldnot verkaufen müssen. Der Acker gehörte jetzt Christian Knauß und dessen Geschwistern. Der Garten beim Haus versorgte Jakob und seine Familie mit Zwiebeln, Rüben, Salat und verschiedenen Gewürzpflanzen. In einer eingezäunten Ecke hielten sie drei Hühner. Bei sparsamstem Verbrauch kamen sie so über das Jahr. Und dabei waren sie noch gut dran, denn manche Weber besaßen nicht einmal einen eigenen Acker, sondern mussten ihn für teures Geld pachten. Kein Wunder, dass einige das Geld dafür bald nicht mehr aufbringen konnten und noch mehr ins Elend gerieten.

Die Feldarbeit war seit jeher die Aufgabe der Schroth’schen Ehefrauen und die der Großeltern, soweit sie noch dazu in der Lage waren, gewesen. Auch Bernhard musste nach der Schule und wenn die Arbeit bei seinem Vater in der Werkstatt erledigt war, mit anpacken.

Als Bernhard das Haus der Burkhardts endlich erreichte, war die Meistersfrau gerade dabei, in dem schmalen Gärtchen, das sich an der Hausseite zur Straße hinzog, Kräuter zu schneiden.

»Ja Bernhard, das ist schön, dass du schon da bist. Da kannst du gleich mit uns zu Mittag essen«, begrüßte sie ihn, wie wenn er längst zur Familie gehören würde.

Bernhard freute sich über das herzliche Willkommen, nahm seinen schweren Rucksack von den Schultern und stellte ihn an dem hölzernen Gartenzaun ab. Sogleich besann er sich aber darauf, Rosina Burkhardt mit einem gebührenden »Grüß Gott, Frau Meisterin« zu begrüßen, ihr die Hand zu reichen und »vielen Dank für die Einladung« anzufügen.

»Der Weg war bestimmt recht anstrengend von Heubach bis herauf nach Lauterburg. Musstest du den ganzen Weg zu Fuß gehen?«, fragte Rosina.

Der warme mütterliche Ton, der in ihrer Frage mitschwang, erwärmte Bernhards Herz, denn das Heimweh hatte ihn schon wieder gepackt. Er vermisste seine Mutter, die immer so geduldig mit ihm war und ihn stets spüren ließ, wie lieb sie ihn hatte.

Kapitel II

Sophie hatte Jakob Schroth im März 1835 geheiratet, zweieinhalb Monate vor ihrem vierzigsten Geburtstag. Sie war gebürtig aus Essingen, das wie Lauterburg zum Oberamt Aalen gehörte.

Warum sich Jakob seine neun Jahre ältere Frau gerade dort suchte, hatte jedoch weniger etwas mit der geografischen Lage zu tun als mit dem Umstand, dass sich Jakob in Heubach einfach für keine der jungen Frauen entscheiden konnte. Die Jahre nach seiner Weberlehre, die er bei seinem Vater durchlaufen hatte, verbrachte er länger als üblich auf der Walz. Das Leben als wandernder Geselle kam Jakob mit seinem rebellischen und widerspenstigen Wesen sehr entgegen. Es fiel ihm schwer sich unterzuordnen. Da hatten auch die ermahnenden Worte seines frommen Vaters nichts ausgerichtet. Aber er war in diesen Zeiten nicht der Einzige, der auf diese Art sein Leben fristete und manchmal aus einer Arbeitsstelle sogar einfach weglief. Viele Meister beklagten damals dieses Missverhalten und den Verfall der Handwerksehre.

Das unstete Leben der Wanderschaft führte Jakob im Laufe der Jahre bis nach Thüringen und Sachsen. Dann wieder nach Westen ins Rheinland und nach Süden in den Schwarzwald, von wo er wieder den Weg nach Norden einschlug. Jakob hatte keinen Reiseplan, seine jeweilige Laune trieb ihn hierhin und dahin und von einer Arbeitsstelle zur anderen. Die finanzielle Unterstützung für wandernde Handwerksgesellen durch die Zunft war mangels Mitteln nur noch sehr bescheiden und deren strenge Vorschriften bezüglich der Wanderjahre waren durch den Konflikt zwischen dem traditionellen Handwerk und den neumodischen staatlich geförderten Manufakturen stark aufgeweicht. Die sogenannte »Kundschaft«, die dem Gesellen Wohlverhalten und die ordnungsgemäße Beendigung eines Arbeitsverhältnisses bescheinigte, wurde vielerorts von Wanderbüchern abgelöst, in denen von den Polizeibehörden lediglich noch die Stationen der Wanderreise vermerkt wurden.

Passte Jakob von einem Tag zum anderen eine Stelle oder die Nase seines Meisters nicht mehr, zog er weiter. Geld war bei ihm immer knapp. Einmal, als er sich eine Zeitlang im Oberamt Welzheim aufhielt, wurden er und ein anderer Webergeselle, mit dem er sich kurz zuvor angefreundet hatte, des Felddiebstahls verdächtigt. Tatsächlich hatten die beiden auf einem Acker Kartoffeln gestohlen und nicht weit entfernt an einem Waldrand am offenen Feuer gebraten. Wirklich nachweisen konnte man ihnen die Tat allerdings nicht, da die Kartoffeln bereits in ihren Bäuchen verschwunden waren und sie steif und fest behaupteten, das Feuer an diesem kalten Oktobernachmittag nur entzündet zu haben, um sich daran aufzuwärmen. Aber schon im folgenden Januar wurde Jakob erwischt, als er in einem Metzgerladen eine geräucherte Wurst stahl. Dieses Mal kam er nicht so glimpflich davon, denn der Metzger hatte trotz der zahlreichen Kundschaft, die seinen Laden bevölkerte, den Diebstahl bemerkt und Jakob mit kräftiger Hand am Kragen gepackt.

»Das würde dir so gefallen, Bürschchen! Du stiehlst mir hier keine Wurst!«, rief er mit hochrotem Kopf und schüttelte Jakob wie einen reifen Apfelbaum im Herbst. »Und spar dir deine Worte!«, schrie er, als Jakob begann sich zu rechtfertigen. »Deine Ausreden kannst du dem Büttel erzählen!«

Wegen Mundraubs wurde Jakob zu einer vierundzwanzigstündigen Arreststrafe verurteilt und zudem zur Bezahlung der Hälfte der Verfahrenskosten. Sein letztes Geld verschwand somit in der Oberamtsgerichtskasse.

Von der Welzheimer Gegend hatte er nun die Nase voll. Ein Übriges tat der kühle und nasse Sommer dazu, der nun in einen ebenso feuchten und kalten Herbst überging und den Aufenthalt im Freien alles andere als zu einem Vergnügen machte. Eigentlich wäre Jakob ganz gerne wieder nach Hause zurückgekehrt. Aber gänzlich ohne Barschaft wollte er seinem Vater in Heubach nicht unter die Augen treten. Bei dem Gedanken an seinen Vater überfiel ihn, wie so oft, wenn er an ihn dachte, ein ungutes Gefühl.

Jakob Schroth senior war, als er in seinem Alter war, bereits ein angesehener Bürger und Meister seiner Zunft gewesen. Er war ein eher wortkarger, nach innen gekehrter Mann, der nie mit seinem Leben haderte, sondern es täglich neu hinnahm, gerade so, wie es der Herrgott für ihn vorsah. Er erfüllte seine täglichen Pflichten, war genügsam und bescheiden und las in der wenigen freien Zeit in der Bibel, aus der er seinen unerschütterlichen evangelischen Glauben schöpfte. Eine seiner Lieblingsstellen war Vers 37 im Matthäus-Evangelium, Kapitel 12, der lautete: »Aus deinen Worten wirst du gerechtfertiget werden, und aus deinen Worten wirst du verdammet werden.«

Von der demütigen Lebenseinstellung seines Vaters und dessen bedachtsamer Rede war Jakob junior weit entfernt. Mit seiner Meinung hinter dem Berg zu halten und die Worte vorher sorgfältig abzuwägen war nicht seine Art. Einen wirklichen Zugang zu einem Glauben, der über das Bibelstudium in der Schule und die sonntäglichen Gottesdienstbesuche hinausging, hatte er bisher nicht gefunden – auch nicht vermisst und schon gar nicht gesucht.

Jakob beschloss trotzdem nun endgültig, in Richtung Heimat zu wandern und sich unterwegs eine Arbeitsstelle zu suchen, um seinen Geldbeutel wieder aufzufüllen. Auf ein paar Monate mehr oder weniger in der Fremde kam es nun auch nicht mehr an. Sein Weg führte ihn nach Essingen im Oberamt Aalen und dort zu Webermeister Christian Bäuerle.

Das Dorf Essingen zog sich an einem Hügel des Albuchs hinauf, einem nordöstlich gelegenen Teil der Schwäbischen Alb. Trotz des Schlosses und der alten Oberburg, die ebenfalls zum Besitz der Herren von Woellwarth gehörte, war der Ort bäuerlich geprägt. Neben den üblichen ortsansässigen Handwerkern gab es vorwiegend Weber. Ohne große Eile durchstreifte Jakob den Ort und spitzte dabei die Ohren. Die typischen Geräusche der hölzernen Tritte und das rhythmische Anschlagen der Schlagbäume verrieten ihm sogleich, in welchem der Häuser an einem oder mehreren Webstühlen gearbeitet wurde.

Das Haus von Christian Bäuerle gefiel ihm auf Anhieb. Es lag ziemlich genau zwischen dem neuen Schloss der Herren von Woellwarth und der Kirche. Ein kleiner Vorgarten trennte das zweistöckige Wohnhaus mit der angebauten einstöckigen Werkstatt von der Straße. Das muntere Geklapper, das an seine Ohren drang, ließ auf mehrere Webstühle schließen. Jakob sehnte sich in diesem Herbst 1832 plötzlich förmlich danach, wieder der geregelten Arbeit am Webstuhl nachzugehen, ein Dach über dem Kopf zu haben und regelmäßige Mahlzeiten einzunehmen. Ja, hier wollte er nach Arbeit fragen.

Jakob hatte Glück. Bäuerle stellte ihn sofort ein. In der hellen Werkstatt befanden sich vier Webstühle, von denen einer seit zwei Tagen stillstand. Der Geselle, der daran gearbeitet hatte, war wieder auf Wanderschaft gegangen. Bäuerle, obwohl kaum älter als Jakob, war bereits seit einigen Jahren Meister. Nachdem der Tod seinen Vater unerbittlich dahingerafft hatte, als er gerade zusammen mit dem Lehrling neue Fäden durch die Litzen des Webstuhls zog, hatte Bäuerle junior die Werkstatt übernommen, bald darauf geheiratet und mit seiner Frau drei Kinder bekommen.

Christian Bäuerle war ein lustiger, manchmal etwas derber und den Freuden des Lebens zugetaner Mann. Seine Frau Christine war elf Jahre jünger als er und jederzeit dazu bereit, über die Späße ihres Mannes zu lachen. Die beiden schienen wie füreinander geschaffen zu sein. Nicht nur dass sie beide fast die gleichen Vornamen trugen und vor Lebenslust geradezu strotzten, auch in der äußerlichen Erscheinung waren sie sich überaus ähnlich – klein, rundlich und dunkelhaarig. Eine Laune der Natur hatte den beiden drei pummelige, rothaarige und sommersprossige Kinder beschert.

»Die kommen ganz nach der Großmutter, die hatte auch kupferfarbenes Haar und ein paar Sommersprossen im Gesicht«, pflegte Christian gerne zu erklären.

Als Unterkunft für die beiden Gesellen und den Lehrling war am Ende der Werkstatt ein Raum abgeteilt, dessen Türöffnung statt mit einer richtigen Tür mit einem Vorhang aus dickem Wollstoff versehen war. An ganz kalten Tagen wurde der Werkstattofen angeheizt, der nicht nur in der Werkstatt, sondern auch im angrenzenden Schlafraum für angenehme Temperaturen sorgte.

Jakob konnte sich nicht erinnern, sich jemals in seinem Leben so wohlgefühlt zu haben. Die Stimmung in der Werkstatt hatte etwas Leichtes und manchmal stimmte der Meister sogar ein Liedchen an, obwohl jeden Tag dreizehn Stunden gearbeitet wurde. Christian Bäuerle achtete streng darauf, dass seine Gesellen nur Tuch von bester Qualität herstellten, das er dann auch gut verkaufen konnte. Gewoben wurden halbwollene Stoffe, die Bäuerle dann über eine der größeren Wollwebereien in Aalen verkaufte. Pünktlich um zwölf Uhr rief die Meisterin zum Mittagessen, das die beiden Gesellen und der Lehrling zusammen mit der Familie in der geräumigen Wohnküche einnahmen. Das Essen, das Christine Bäuerle auf den Tisch brachte, war einfach, aber schmackhaft und immer reichlich. Auch bei Tisch war die Stimmung heiter und selbst die Kinder durften sich manchmal zu Wort melden und wurden angehört. Überhaupt wurden die Kinder, von denen Michael, der Älteste, im ersten Jahr die Schule besuchte, alles andere als streng erzogen. Zwar erwarteten ihre Eltern durchaus Folgsamkeit von ihnen, aber die schien sich ohne große Mühen und ohne Geschrei und Drohungen bei den Kindern wie von selbst einzustellen. Nach dem Mittagessen saß man noch ein Viertelstündchen zusammen und plauderte. Bei diesen Gelegenheiten erzählte der kleine Michael gerne mit Feuereifer, was er im Schulunterricht dazugelernt hatte. Im Hause Bäuerle gab es nie ehrenrührigen Tratsch über Nachbarn oder andere Dorfbewohner, über Meinungsverschiedenheiten wurde so lange offen gesprochen, bis sich eine gemeinsame Linie einstellte, und Neid und Missgunst schienen Fremdwörter zu sein.

Eigentlich ist es hier wie im Paradies, dachte Jakob mehr als einmal fast ungläubig und wunderte sich darüber, wie das sein konnte. Die Bäuerles gingen zwar wie alle guten Christenmenschen jeden Sonntag zur Kirche – wo zu Jakobs Erstaunen das Haupt des Gekreuzigten von echten Haaren, die ihm bis zur Brust herunterfielen, geziert wurde –, fromme Sprüche im Alltagsleben lagen ihnen jedoch völlig fern. Vielleicht sind gute Laune, Lachen, Singen und ein freundlicher Umgang miteinander ja genauso gut wie Bibelsprüche, sinnierte Jakob, dem eine so harmonische und lustige Art des Zusammenlebens völlig fremd und anfangs sogar ein wenig unheimlich war.

In Essingen gab es eine Handvoll Schäfer, die ihre Schafherden an den umliegenden Hängen der Alb weideten. Christine Bäuerle setzte sich abends, wenn die Kinder im Bett waren, an ihr Spinnrad und spann die gute Essinger Schafwolle zu feinen gleichmäßigen Garnfäden. Ihr Ehrgeiz war es, immer eine stattliche Anzahl von Garnspulen auf Vorrat zu haben, die dann später auf den Webstühlen zu Stoffen gewoben werden konnten. Doch ganz reichte Christines Garn zurzeit nicht aus und Christian musste noch einiges dazukaufen, damit er bei der derzeitigen guten Auftragslage stets genug Material zur Verfügung hatte. Auch wenn Leinentuch mittlerweile weniger nachgefragt wurde – die halbwollenen Stoffe liefen sehr gut. Aber Christian war durchaus auch bereit, die billigeren Baumwolltücher herzustellen, die zunehmend auf den Markt kamen. Abgesehen davon, dass er ein Meister seines Faches war, verfügte er auch über ein ausgeprägtes kaufmännisches Gespür, das ihn seine Werkstatt mit Erfolg betreiben ließ. Nicht alle Weber in Essingen waren so erfolgreich wie er. Auch mit seinen Gesellen und Lehrlingen hatte er Glück. Und davongelaufen war ihm auch noch keiner.

Jakob legte sich bei der Arbeit mächtig ins Zeug, denn er wollte zeigen, dass er sein Handwerk verstand. Der andere Geselle hieß Hannes. Er war dreiundzwanzig, blond und schmal und schon fast ein Jahr hier. Ursprünglich kam er aus der Nähe von Biberach, wohin er im Sommer auch wieder zurückkehren wollte. Nach seinen Wanderjahren wollte er sich endlich in seinem Heimatort niederlassen, um dort in einer Werkstatt noch einige Jahre als Geselle zu arbeiten und sich so die von der Zunft vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Meisterprüfung zu schaffen.

Jakob beneidete Hannes insgeheim um seinen geradlinigen Lebensweg: Schule, Lehre, Wanderschaft, Gesellenarbeit und die Meisterprüfung im Visier. Hier in dieser angenehmen Umgebung war es für Jakob umso bitterer, sich eingestehen zu müssen, dass er eine derartige Geradlinigkeit nicht mehr schaffen würde. Er war bereits achtundzwanzig Jahre alt und hatte sich ein paar Jahre zu lange in der Weltgeschichte herumgetrieben. Selbst wenn er in der väterlichen oder einer anderen Werkstatt in Heubach noch einige Jahre arbeiten würde, die Meisterprüfung abzulegen schien ihm eine schwierige Angelegenheit zu sein. Seine Kenntnisse und Fertigkeiten waren zwar nicht schlecht und vor der Prüfungskommission ein Meisterstück zu liefern traute er sich durchaus zu. Aber die Prüfung und der Meisterbrief kosteten gut und gerne zehn bis zwölf Gulden. Und einen eigenen Hausstand wollte er ja auch einmal gründen.

Auch hatte er keine Ahnung, was ihn zu Hause erwartete, ob seine Eltern noch bei guter Gesundheit waren. Der letzte Brief, den er von seinem Vater erhalten hatte, war sechs Monate alt und Jakob fürchtete schlechte Nachrichten – so wie damals, als sein jüngerer Bruder Johann Michael gestorben war und er nicht zur Beerdigung hatte kommen können, weil er sich zu der Zeit in Thüringen aufgehalten hatte. Immer wieder hatte er damals auf den eng beschriebenen Brief seines Vaters gestarrt, weil er nicht glauben konnte, was er da las. Johann Michael sei immer kränklicher geworden und richtiggehend abgemagert. Als Auszehrung habe es der Wundarzt Knauß bezeichnet, der eigentlich nur äußerliche Krankheiten mit Salben, Verbänden und Wickeln kurieren durfte, aber von der Heubacher Bevölkerung auch bei innerlichen Krankheiten oft herbeigerufen wurde. Ungeachtet einer eventuellen Bestrafung, weil er kein ausgebildeter Arzt war, wies Knauß nie einen Hilfesuchenden zurück. Auch die Hochzeit von Jakobs ältester Schwester Elisabeth, die einen Monat vor Johann Michaels Tod nach Welzheim geheiratet hatte, hatte er versäumt.

Kommt Zeit, kommt Rat, sagte sich Jakob und beschloss, zuerst einmal einen Brief nach Hause zu schicken, in dem er sich nach dem Befinden der Eltern, Geschwister und Großeltern erkundigen und seine Rückkehr zumindestens einmal andeuten wollte. Auf jeden Fall wollte er aber noch mindestens bis zum Frühjahr hier in Essingen bleiben.

Der Lehrling Wolfgang war mitten in seinem Zusatzjahr und somit für seinen Meister schon ein vollwertiger Arbeiter. Gebürtig war Wolf, wie ihn alle nannten, aus Bartholomä. Um ein paar Ecken herum war er mit Christian Bäuerle verwandt, was der Grund dafür war, dass Wolfs Vater seinen Sohn zu Bäuerle nach Essingen in die Lehre gegeben hatte. Wolf war groß und kräftig, mit welligem strohblondem Haar und hellblauen Augen. Im näheren Umgang mit ihm merkte man bald, dass er schüchtern war. Lieber schwieg er, als dass er sich in ein Gespräch einmischte, ein Verhalten, das ganz im Gegensatz zu seiner äußeren Erscheinung stand. Wolf schloss sich Hannes und Jakob immer gerne an, wenn sie sich sonntags nach dem Kirchgang im »Löwen« ein Glas Bier genehmigten oder wenn sie einmal im Monat das Badhaus ganz in der Nähe des »Löwen« aufsuchten, um sich ein ausgiebiges Reinigungsbad angedeihen zu lassen. Auch wenn sie an den arbeitsfreien Sonntagen nach einem ausgedehnten Mittagsschläfchen selbst im Winter einfach nur die Gegend um Essingen durchstreiften, um die frische Luft und die Aussicht zu genießen, war er selbstverständlich mit dabei. Die beiden Gesellen gewöhnten sich bald daran, dass Wolf sich kaum an den Gesprächen beteiligte, und manchmal, wenn sie sich über Mädchen und vergangene Liebschaften austauschten, vergaßen sie seine Gegenwart sogar für kurze Zeit. Wolf spitzte dann seine Ohren, die sich bei den Mädchengeschichten immer glühend rot verfärbten.

War das Wetter an manchen Sonntagen allzu schlecht, spielten sie an dem kleinen Tisch in ihrer Schlafkammer Zego. Jakobs Kollegen plagte dabei ein wenig das schlechte Gewissen, da bei guten evangelischen Christen Tugenden wie Arbeit, Ordnung und Pflichterfüllung an oberster Stelle der Lebensführung standen. Kartenspiele hatten keinen Platz in einem gottesfürchtigen Leben und wurden daher abfällig als das »Gebetbuch des Teufels« bezeichnet, das einen vom Einhalten der göttlichen Gebote abhielt. Als Jakob zum ersten Mal das Kartenspiel hervorkramte und auf den Tisch legte, beschwichtigte er die beiden anderen, die ihn überrascht und ein wenig erschreckt ansahen, mit den Worten: »Ach kommt, ich weiß nicht, warum das eine Sünde sein soll. Das ist doch ein schöner Zeitvertreib und wir müssen ja nicht um Geld spielen.« Viel mehr war an Überredungskunst bei Hannes nicht nötig, denn wie sich herausstellte, kannte er das Spiel bereits und hatte es während seiner Wanderschaft schon öfter mit anderen Wandergesellen gespielt. Wolf war hin- und hergerissen. Noch nie hatte er ein Kartenspiel auch nur angerührt.

»Ich habe das Spiel aus dem Schwarzwald mitgebracht. Dort wird es gerne gespielt. Angeblich kommt es ursprünglich aus Frankreich, wo die Soldaten es während der napoleonischen Kriege zwischen den Schlachten leidenschaftlich gerne gespielt haben«, erklärte Jakob, während er die Karten in einem halbrunden Bogen auf dem Tisch auseinanderzog und noch im gleichen Atemzug und mit einem Seitenblick auf den Lehrling fragte: »Na, Wolf, wie sieht es aus? Spielst du mit?«

Wolfs Blick wurde wie magisch angezogen von den bunten Kartenbildern in den Farben Herz, Kreuz, Karo und Pik und selbst die sogenannten leeren Karten mit den einfachen Symbolen der verschiedenen Farben verfehlten nicht die Wirkung auf ihn.

»Hm, ja, ich könnte es ja einmal probieren«, sagte er vorsichtig und seine Stimme zitterte leicht.

»Prima!«, rief Hannes. »Wir erklären dir, wie es geht.«

Jakob zog die Karo Vier, die Pik Sieben und die Kreuz Sieben aus dem Spiel und schob die restlichen Karten mit einer eleganten Bewegung wieder zu einem Häufchen zusammen. »Wenn wir nur zu dritt spielen, brauchen wir statt 54 nur 51 Karten«, sagte Jakob und erklärte Wolf in groben Zügen, um was es ging. »Also, einer spielt gegen die beiden anderen. Derjenige, der alleine spielt, muss versuchen, so viele Stiche wie möglich und am Ende so viele Punkte wie möglich zu machen. Die Karten, auf denen ein Spielmann zu sehen ist, sind die Trümpfe. Sie sind von eins bis 22 durchnummeriert. Der höchste Trumpf heißt Stieß.« Wolf schaute Jakob verständnislos an. »Was ist denn ein Stich und was ein Trumpf?«

»Nur Geduld«, warf Hannes ein. »Wir erklären dir schon alles. Am besten, wir spielen ein paar Mal zur Probe, dann lernst du es am schnellsten.«

Jakob mischte die Karten. »Die ersten zwölf Karten lege ich in den ›Blinden‹ verdeckt auf den Tisch, dann teile ich jedem dreizehn Karten aus. Lasst uns also beginnen!«

Als Wolf das Spiel nach ein paar Runden begriffen hatte, gab es für ihn kein Halten mehr und schon bald wurde er ein ernstzunehmender Mitspieler beim Zego.

Christian Bäuerle zahlte den Lohn der Gesellen alle zwei Wochen aus. Das hatte sich im Laufe der Zeit gut bewährt. Er hatte auch schon andere Zahlungsweisen ausprobiert. Zahlte er jede Woche, bestand die Gefahr, dass das Geld schnell und unbedacht wieder ausgegeben wurde. Zahlte er nur einmal im Monat, ließ der Ansporn bei der Arbeit bei manchen Gesellen nach, wenn sie sich gegen Ende des Monats kein Bier oder andere Annehmlichkeiten mehr leisten konnten.

Als Jakob den ersten Lohn in den Händen hielt, war sein erster Gang hinüber in den Kramladen der Ulrichs. Er brauchte Briefpapier und einen Umschlag.

Der Laden lag schräg über der Straße. Wie bei Christian Bäuerles Haus war auch dort an das Wohnhaus eine Werkstatt angebaut, in der Sigmund Ulrich ursprünglich einmal seine Schreinerei betrieben hatte. Seit seinem Tod im Jahre 1815 stand sie jedoch leer. Der Laden befand sich im Wohnhaus und man betrat ihn vom Hausgang aus. Schon zu Ulrichs Lebzeiten war die Stube in einen Kramladen verwandelt worden, da die Schreinerei für die elfköpfige Familie nicht genug abgeworfen hatte. An den Laden schloss sich eine geräumige Küche an, die sowohl direkt vom Laden als auch vom Hausgang aus betreten werden konnte. Solange noch alle Kinder zu Hause waren, hatte die Küche der Familie die Wohnstube ersetzt.

Sophie war das fünfte von neun Kindern. Drei ihrer Geschwister hatten nur kurz gelebt, fünf waren inzwischen in Ulm, Gaildorf und Schnaitheim verheiratet. Nur sie war zuhause geblieben. Bis vor einem halben Jahr hatte sie das Lädchen zusammen mit ihrer Mutter umgetrieben, als diese von einer Brustwassersucht endgültig ans Bett gefesselt wurde. Die Krankheit ging mit Atemnot einher und führte bei jeder Bewegung zu einer qualvollen Kurzatmigkeit. Ihr Schlafzimmer im Obergeschoss verließ die Kranke so gut wie gar nicht mehr. Sophie hatte dort einen Nachtstuhl aufgestellt und morgens und abends schleppte sie von der Küche in einer Schüssel warmes Wasser für die Körperpflege hinauf. Die Morgen- und Abendmahlzeiten nahm sie zusammen mit der Mutter im Schlafzimmer ein. Mittags aß Sophie in der Küche, nachdem sie den Teller für die Mutter nach oben gebracht hatte. Für den Notfall oder falls die Kranke etwas brauchte, lehnte ein daumendicker Haselnussstecken am Bett, mit dem sie sich durch ein Klopfen auf den Boden bemerkbar machen konnte, denn das Schlafzimmer lag direkt über dem Laden und das Klopfen war gut zu hören.

Vater Ulrich hatte bei der Ausstattung des Ladens sein ganzes handwerkliches Geschick walten lassen. Eine Wand hatte er komplett mit Regalen und Schubladen versehen, die passgenau bis zur Decke reichten. Davor stand eine lange Ladentheke, in die er kunstvoll auf der Vorder- und der Rückseite ebenfalls Regalböden und Schübe eingebaut hatte. Alle Einbauten waren aus Buchenholz, das im Laufe der Zeit zu einem warmen Honigton nachgedunkelt war. Der Fußboden des Raumes bestand aus Eichendielen, über die von der Tür bis zum Ladentisch ein gewebter Flickenteppich in dunklen Farbschattierungen lag. Das hatte sich gut bewährt, denn bei Regenwetter saugte er die Nässe auf, die die Kundschaft mit ihren Schuhen hereintrug.

Jakob fühlte sich sofort wohl, als er den Laden betrat. Ein kleines Glöckchen über der Tür kündigte ihn mit sanftem Klingeln an. Eine ältere Frau mit einem wollenen schwarzen Schultertuch war gerade dabei, ihre Einkäufe in einem Henkelkorb zu verstauen. Sophie stand hinter dem Ladentisch und war über einen Zettel gebeugt, auf dem sie die Preise der Einkäufe notierte und zusammenzählte.

Als die Türglocke erklang, hob sie den Kopf und begrüßte den neuen Kunden mit einem zuvorkommenden »Grüß Gott«. Dann warf sie wieder einen Blick auf ihren Zettel und sagte zu der Frau: »Das macht dann einen Gulden und zehn Kreuzer, Marie.«

Während die Kundin in ihrem Geldbeutel kramte und nebenbei mit Sophie ein paar freundliche Sätze austauschte, blickte sich Jakob neugierig um. Der Laden schien gut ausgestattet und sortiert zu sein. In einer Ecke verströmte ein eiserner Ofen angenehme Wärme. Auf dem Ladentisch stand eine Waage mit einer tiefen Messingschale und mehreren Gewichten. Neben Kurz- und Schreibwaren gab es Waschmittel, Seife, Petroleum, Tabak und natürlich Lebensmittel wie Mehl, Zucker, Kaffee, Kakao, Tee, Reis, verschiedene Gewürze, Karamellbonbons in einem Glas mit Schraubverschluss und noch vieles mehr. Alles vermischte sich zu einem etwas herben, aber nicht unangenehmen Geruch.

Nachdem Sophie die Kundin mit »Danke und bis zum nächsten Mal« verabschiedet hatte, wandte sie sich Jakob zu. »Bitte schön?«, fragte sie und schaute ihm dabei gerade ins Gesicht.

»Ich bräuchte einen Briefbogen und einen Briefumschlag«, sagte Jakob.

»Ja, gerne, ich habe hier eine gröbere und eine feinere Qualität. Die feinere ist etwas teurer.« Sophie breitete die Papiere mitsamt den Umschlägen vor ihm auf dem Ladentisch aus.

»Ich nehme das grobe und den passenden Umschlag dazu – ich will meinen Eltern in Heubach schreiben«, fügte Jakob etwas zögernd hinzu.

»Sie sind doch der neue Geselle vom Christian Bäuerle?«

Sophie musterte ihr Gegenüber. Der junge Mann sah nicht schlecht aus, stellte sie fest. Mittelgroß, schlank, mit dunkelbraunen Haaren und einem ebenmäßigen Gesicht, das bereits von einigen Falten durchzogen war. Vielleicht war er gar nicht mehr so jung, wie er auf den ersten Blick auf sie gewirkt hatte, überlegte sie. Das Schönste an ihm waren seine hellbraunen Augen …

»Ja, ich bin seit zwei Wochen bei Meister Bäuerle«, antwortete Jakob und riss sie mit seiner Antwort aus ihren Betrachtungen.

»Und gefällt es Ihnen dort?«

»Oh ja, es ist ein angenehmes Schaffen in der Werkstatt. Auch die Unterkunft und das Essen sind gut und die Meistersleute außerordentlich freundlich. Ich bin schon einige Jahre auf Wanderschaft und habe viel gesehen, aber so gut wie hier hat es mir noch nirgends gefallen.«

»Ja, der Christian ist ein guter Meister, das ist allgemein bekannt«, bestätigte Sophie und lächelte Jakob dabei an.

»Betreiben Sie den Laden denn ganz alleine?«, wollte Jakob wissen, dem die Unterhaltung mit Sophie in dem anheimelnden Laden zu gefallen begann.

»Leider ja, meine Mutter ist seit einem halben Jahr krank und seither bin ich mit der ganzen Arbeit auf mich alleine gestellt.«

»Oh, das tut mir leid«, antwortete Jakob und staunte über sich selbst und seine guten Manieren. »Ich heiße übrigens Jakob Schroth«, fügte er an.

»Sophie Ulrich«, entgegnete Sophie und streckte ihm über den Ladentisch hinweg ihre schmale Hand entgegen.

Nun war es an Jakob, Sophie zu mustern. Sie war eine kleine, zierliche Person mit einem angenehm warmen und trockenen Händedruck. Das dunkelblonde Haar trug sie in der Mitte gescheitelt und am Hinterkopf zu einem kleinen geflochtenen Knoten zusammengesteckt. Die Augen waren von einem seltenen dunklen Blau und sehr schön. Das Gesicht war nicht ganz ebenmäßig, der Mund eine Spur zu schmal, aber sie gefiel Jakob, wie sie da in ihrem dunkel- und hellbraun karierten Rock, der hellbraunen Bluse und einer braunen Taftschürze hinter dem Ladentisch stand. Braun stand ihr gut und betonte ihre Haarfarbe, stellte er fest und auch, dass sie einige Jahre älter war als er selbst.

Die Begegnung mit Sophie beschäftigte Jakob noch eine ganze Weile und so brachte er nach dem Mittagessen das Gespräch auf sie und ihren Laden.

»Ja, die Sophie«, erzählte Bäuerle bereitwillig, »das ist eine ganz Fleißige. Mit dem Geld ist es halt trotzdem knapp bei den Ulrichs, das war schon immer so. Der Vater hat früher mit den Waren noch zusätzlich verschiedene Märkte besucht. Als er dann gestorben war, hat seine Witwe diesen Verdienst aufgegeben, sie sei nicht dafür gemacht, in der Gegend herumzuziehen, hat sie gesagt. Dafür hat sie eine kleine Hypothek auf das Haus aufgenommen und das Sortiment im Laden erweitert, um so ihre Kinder halbwegs über die Runden zu bringen. Inzwischen sind alle bis auf Sophie verheiratet. Die Witwe Ulrich kann froh sein, dass sie eine so tüchtige Tochter hat, die sie jetzt in ihrer Krankheit neben der Arbeit im Laden auch noch gut versorgt.«

Obwohl er gerne noch mehr über Sophie erfahren hätte, wollte Jakob nicht weiter nachfragen, um nicht den Anschein zu erwecken, dass er womöglich an der Krämerstochter interessiert sein könnte. So wirklich interessiert war er auch gar nicht. Aber das Leben in Essingen war eben oft eintönig und die Begegnung mit Sophie war ihm eine willkommene Abwechslung gewesen. Zudem wollte er sein Leben gerade jetzt, wo über kurz oder lang seine Rückkehr nach Heubach anstand, nicht noch mehr komplizieren. Irgendwie imponierte ihm sein Mitgeselle Hannes mit seiner Gradlinigkeit, die er gerne nachahmen wollte. Für Jakob bedeutete das, endlich nach Hause zurückzukehren, sich niederzulassen, das Bürgerrecht zu beantragen, vielleicht doch noch den Meister zu machen und sich dann eine Frau zu suchen. Also setzte er sich am Abend an den Tisch im Schlafraum und schrieb einen Brief an seine Eltern.

Die Antwort kam schnell – schon am fünften Tag, nachdem er seinen Brief auf den Weg gebracht hatte. Obwohl Jakob neugierig war, wartete er mit dem Lesen bis zum Feierabend. Es konnten ja auch schlechte Nachrichten sein. Doch dann war die Spannung so groß, dass er den Brief schnell mit dem Zeigefinger aufriss, anstatt ein Messer zu Hilfe zu nehmen, so dass der Briefumschlag jetzt in wilden Zacken offenstand. Ungeduldig fingerte er den Briefbogen heraus und begann zu lesen:

Mein lieber Sohn!

Auch im Namen Deiner Mutter kann ich Dir sagen, dass wir uns über ein Lebenszeichen von Dir sehr gefreut haben. So langsam haben wir uns doch Sorgen gemacht, da wir so lange nichts mehr von Dir gehört haben.

Zu Deiner Frage nach unserem Befinden kann ich Dir sagen, dass es uns allen gut geht. Einzig die Gesundheit Deiner Schwester Christina lässt seit einigen Wochen sehr zu wünschen übrig. Seit Anfang Oktober hat sie eine hartnäckige fiebrige Erkältung, die trotz der von Wundarzt Knauß verordneten und fleißig aufgelegten heißen Schmalzwickel einfach nicht besser werden will.