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Sir Henry Mouse, Professor für Altertumsforschung und Geheimagent im Dienst Ihrer Majestät, begibt sich in Begleitung seiner Freunde, Professor Lucius Ambrose, Don Pedro Ratòn und der Mäusedame Laetitia Maria auf die Suche nach den geheimnisvollen Einhornstäben. Immer wieder versuchen Sir Henrys alter Feind, der hinterlistige Towarisch Ratzky und seine Spießgesellen, ihnen zuvorzukommen und in den Besitz der Karte zu einer sagenumwobenen Innenwelt zu gelangen. Doch der Weg dorthin ist für beide Seiten gefährlich und voller Rätsel, die erst gelöst werden müssen.
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Seitenzahl: 404
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Für
Johannes und Phillip
Die Osterinsel
Sir Henry Mouse
Towarisch Ratzky
Der Einhornstab
Der Nabel der Welt
Auf dem Weg nach Chile
Freunde oder Feinde
Der Angriff
Die fliegenden Ratten
Sir Henry’s Plan
Das Tor
Die Innenwelt
Die Ankunft
Die große Ebene
Das Dorf ohne Ratten
Die weise Stadt
Der Tränenbaum
Gefährliche Verbündete
Sebastian Biegelbund und Rufus
Der perfekte Plan
Rautgundis Beutel
Revolution
Träume
Herr Hase
Die Rückkehr der Verschwundenen
Die Flucht
Sir Henry wurde von Ihrer Majestät Mousbeth II. persönlich beauftragt, auf den Osterinseln Nachforschungen über den Verbleib eines gewissen Towarisch Ratzky anzustellen. Es waren in letzter Zeit immer mehr Hinweise auf eine verstärkte Aktivität seiner kriminellen Vereinigung eingegangen. Ratzky war eine 40 Zentimeter große schwarze Kanalratte, die es vor einigen Jahren geschafft hatte, die übelsten Ratten der ganzen Welt in einer Organisation zu vereinigen. Nicht alle hatten sich ihm freiwillig angeschlossen, aber es war ihm immer gelungen, sie letztendlich zu überzeugen. An diese Überzeugungsarbeit erinnerten zahlreiche Narben und eine fehlende Schwanzspitze. Diese war durch eine abschraubbare Metallspitze ersetzt worden, unter der sich eine fein geschliffene Klinge verbarg. Sonderbarer Weise schien Ratzky sich auf einmal für Antiquitäten und Mythen zu interessieren. Bei dieser Mission kam Sir Henry sein Beruf als Professor für Archäologie1 an der Universität Oxford zu Gute, da er als Leiter einer Forschungsexpedition unterwegs war und so keinen, oder zumindest nur sehr wenig, Verdacht erregte. Nur wenige Mäuse wussten, dass er für den Geheimdienst Ihrer Majestät tätig war und nicht nur der brave, leicht zerstreute Professor, der meist zu seinen Vorlesungen zu spät kam oder sie überhaupt vergaß.
Diesmal unterschied sich sein Auftrag in besorgniserregender Weise von früheren, bei denen er immer zuerst nach Wien geschickt worden war. Dort hatte er eine Wohnung bei guten Freunden, einer Menschenfamilie, die über seine wahre Identität Bescheid wussten. Obwohl sie Menschen waren, halfen sie ihm jedes Mal. Mäuse hatten eigentlich nichts gegen Menschen, außer dass sie, nun ja, ein wenig einfältig, groß, laut und langsam waren. Aber es gab schließlich auch langsame Mäuse. Gerüchten zu Folge waren Menschen nur mit Hilfe von ehemaligen Mitgliedern aus Ratzkys Organisation imstande gewesen, funktionsfähige Mausefallen zu konstruieren. Dafür sprach auch, dass diese alle zu klein für Ratten, aber genau richtig für Mäuse waren.
Wie auch immer, grübelte er und nippte an seinem Cheesini2, er würde trotzdem noch einmal nach Wien müssen.
Dabei wollte er sich noch einmal mit Johannes, seinem besten Freund und Vertrauten, beraten. Dieser war erst sieben Jahre alt, aber er verstand es, die Dinge aus der Sicht einer Maus zu sehen. Außerdem müsste Sir Henry eigentlich noch den letzten Teil der geheimen Käseformel nach Wien bringen. Bei dieser Gelegenheit könnte er gleich wichtige Ausrüstungsgegenstände für die bevorstehende Aufgabe mitnehmen. Diese befanden sich einem gut getarnten Versteck im Zimmer von Johannes.
Sir Henry war sicher, dass er für diesen speziellen Auftrag jede Hilfe brauchen würde, die er bekommen konnte. Johannes würde ihn diesmal leider nicht begleiten können, weil er ja diesmal an das andere Ende der Welt reisen musste. Er knabberte nachdenklich an der Olive, die auf einem kleinen Zahnstocher steckte, streckte sich noch einmal und ging in sein Zimmer, um zu packen. In seiner Wohnung in der Old Bond Street in London sah es eher aus wie in der Abstellkammer eines Museums als in der Wohnung des besten Geheimagenten Ihrer Majestät.
Was auf den ersten Blick wie fürchterliche Unordnung aussah, war eigentlich nur Sir Henrys sicheres System, Ordnung zu halten. Er wusste, wo alles zu finden war, und würde es auch im Finsteren finden. Jeder Eindringling wäre in seiner Wohnung hoffnungslos verloren und etwas zu suchen oder es gar zu finden, würde Tage, wenn nicht Wochen dauern.
Er nannte sein System „geordnetes Chaos“.
Auf seinem Schreibtisch türmte sich Post, Anfragen von Studenten und Schreiben von der Kanzlerin der Universität bunt gemischt mit Büchern und Ausgrabungsgegenständen, die er von seinen letzten Reisen mitgebracht hatte. Auf dem Fußboden seines Arbeitszimmers stapelten sich Kartons, Statuen, Bilder und andere Dinge, die er unbedingt und dringend für irgendetwas brauchte3.
Nur Sir Henry wusste von dem losen Brett im Fußboden, unter dem sich seine Ausrüstung für Geheimaufträge befand. Dazu gehörte unter anderem seine Armbanduhr mit eingebauter Digitalkamera, Laserstrahl, Ultraschallton4 und natürlich dem nur für Sir Henry wahrnehmbaren Käsealarm5. Außerdem waren da noch seine Brille6 und der Ring, den er von Mouse Q bekommen hatte. Mouse Q war beim Geheimdienst zuständig für spezielle Ausrüstungsgegenstände, die von den Agenten bei ihren Einsätzen benötigt wurden. In seinem Labor entwickelte er mit seinen zahlreichen Mitarbeitern neues Zubehör und neue Funktionen für alltägliche Dinge wie Armbanduhren, Zahnpaste oder Schuhe. Diese konnten in der benachbarten Testhalle7 gleich ausprobiert werden. Den Ring hatte er Sir Henry gegeben, damit dieser ihn bei seiner nächsten Mission ausprobieren konnte. In seinem Inneren befand sich eine winzige Harpune mit einem 20 Meter langen, beinahe unsichtbaren Seil, das man abschießen und zugleich verankern konnte.
Sehr praktisch, um auf einer glatten Fläche hinauf- oder hinunterzuklettern oder um Ratzkys Katze zu entkommen, dachte Sir Henry und schob den Ring über seine Pfote.
1Archäologie: Altertumsforschung. Menschen und Mäuse graben gerne, vorzugsweise in zu kalten oder zu heißen Gegenden nach Dingen, die niemand braucht aber die dann jeder haben möchte, hauptsächlich Museen und Universitäten.
2 Sir Henrys Lieblingsgetränk aus speziell gelagertem Käsesaft. Wird gerührt und nicht geschüttelt mit einer Olive serviert.
3 Dieses Phänomen ist häufig auch bei Menschen, die Flohmärkte besuchen, zu beobachten. Sie finden und kaufen dort Dinge, die sie unbedingt für irgendetwas, an einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt, brauchen. Ihre Wohnungen sind voll davon, denn hergegeben wird nichts mehr.
4 Eine für Rattenohren unerträgliche Frequenz, macht die meisten von ihnen bewegungsunfähig, es sei denn sie sind stocktaub.
5 Mäuse werden vom Geruch eines besonders köstlich duftenden Käses förmlich hypnotisiert und sind nur noch auf diesen fixiert. Alles andere wird in diesem Moment zur unwichtigen Nebensächlichkeit, auch die Mausefalle, in der besagter Käse sich befindet. Bei dem Kreischen des Käsealarms interessiert sich besagte Maus nicht mehr für verführerische Gerüche sondern nur noch dafür, den Alarm schnellstens abzustellen.
6 Ratzky hielt sich für genial in Sachen Verkleidung, aber eine Ratte bleibt eine Ratte, auch wenn sie einen Frack trägt. Mit dieser Brille ist es Sir Henry möglich, solche Verkleidungen sofort zu durchschauen. Ein unbeabsichtigter, trotzdem recht praktischer Nebeneffekt bei dieser Erfindung ermöglicht es, Metallgegenstände überall bis in eine Tiefe von zehn Metern zu erkennen.
7Dieses Gebäude wurde mit schöner Regelmäßigkeit zerstört und neu aufgebaut, da viele von Mouse Q’s Erfindungen noch nicht über das Versuchsstadium hinaus gekommen waren und zum Explodieren neigten.
Etwa zur selben Zeit, am anderen Ende der Welt, auf den Osterinseln:
Towarisch Ratzky ging unruhig auf und ab. Seine grauen Knopfaugen waren auf den staubigen Boden gerichtet. Er hatte mit seinen Helfern, der weißen Zwergkatze Olga Yini8 und der Laborratte Sergej Aloisowitsch, sowie unzähligen einheimischen Ratten bereits die Hälfte der Insel abgesucht. Olga war eine zehn Zentimeter große Katze und seit langer Zeit Ratzkys Hartschier9. Sie hatte sich schon in vielen kritischen Situationen bewährt. Trotzdem hatte ihr Vertrauen zu ihm und seinem unbeherrschten Temperament gewisse Grenzen. Katzen und Ratten waren eigentlich Todfeinde, aber eine Zwergkatze brauchte mächtige Freunde. Sie war die beste Mäusejägerin der Welt, weil sie dank ihrer Größe in jedes Mauseloch hineinkam. Nur von einer Maus war sie ebenso wie Ratzky und Aloisowitsch immer besiegt worden – von Sir Henry. Bei ihrem letzten Treffen hatte ihr dieser hinterhältige kleine Nager in Ermangelung anderer Waffen mit einer Fackel das Fell an ihrer Kehrseite verbrannt. Es war für sie eigentlich nebensächlich, dass sie damals versucht hatte, Sir Henry von den höchsten Zinnen einer Burg zu schubsen. Seit damals trug sie immer einen weißen, feuerfesten Overall.
Noch immer hatten sie keine Spur vom Eingang in die Innenwelt 10 gefunden. Nervös peitschte Ratzky mit seinem Schwanz hin und her.
Was habe ich übersehen, überlegte er und versuchte sich zu erinnern. Wie hat das alles eigentlich angefangen?
Vor einem halben Jahr, als er in den Besitz dieses sonderbaren Stabes gekommen war, hatte sich für ihn alles verändert...
...er interessierte sich eigentlich nie für Antiquitäten, Magie oder Mythen. Das änderte sich schlagartig, als seine Agenten meldeten, dass Henry Mouse in einer rabenschwarzen Nacht ein geheimnisvolles Paket von der Londoner Tower Bridge in die dunklen, tiefen Wasser der Themse geworfen hatte.
Was in diesem Paket kann so gefährlich sein, überlegte er, dass Henry Mouse es bei Nacht und Nebel in den Fluss wirft, nur um es loszuwerden?
Noch in derselben Nacht setzt er ein Team von Ratten, die speziell für solche Aufträge ausgebildet waren, darauf an, das Paket zu bergen. Diese brachen in einem kleinen Zweiratten-U-Boot11unverzüglich zu einer gefährlichen Fahrt in der nächtliche Themse auf. Ratzky war während der ganzen Unternehmung in ständigem Funkkontakt mit ihnen. Dank seiner unerwartet genauen Anweisungen gelang es ihnen trotz der starken Strömung und der riesigen Schiffe, die auf der Themse fuhren, das Paket zu finden und zu bergen. Auf verschlungenen Wegen durch die Kanalisation Londons wurde es dann von seinen Handlangern zu ihm gebracht.
Zuerst war er einfach zutiefst enttäuscht über den Inhalt. Ein weißer, in sich gedrehter, spitz zulaufender Stab mit einem silbernen, kugelförmigen Griff. Keine geheime Waffe, die ihm die Weltherrschaft sichern würde, keine neue Erfindung, nicht einmal etwas Wertvolles - nur ein Stock!
Was war an diesem blöden Stock so ungewöhnlich, dass Henry Mouse ihn unbedingt loswerden wollte, überlegte Ratzky.
Während er unruhig an seinen Barthaaren kaute, fiel sein Blick auf das langsam trocknende Papier, in das der Stock eingepackt war. Etwas wie der undeutliche Abdruck einer winzig kleinen Schrift kam da zum Vorschein. Aufgeregt lief Ratzky in sein Labor und überließ den Stock seinen Laborratten zur vollständigen Untersuchung - und das Ergebnis war selbst für ihn verblüffend.
Der vermeintliche Stock war nicht mehr und nicht weniger als ein Einhornstab, ein magisches Artefakt12. Tausende Gedanken schossen durch Ratzkys Kopf – Einhörner gab es nicht, und wenn doch, was war dann mit Elfen und Kobolden und wo lebten sie und wie und warum?
Eine Frage stand jedoch über allen anderen – warum wollte diese Maus ihn unbedingt in den Tiefen der Themse vor jedem Zugriff schützen? Ratzky wurde sehr bald klar, dass es etwas mit den seltsamen, winzigen Symbolen zu tun haben musste, die in den Stab graviert waren.
Ohne es zu ahnen hatte Ratzky die Lösung zu diesem Rätsel schon in seinen Pfoten gehalten, als er in Wien die Posttaube abgefangen hatte. Seine Agenten hatten ihn informiert, dass ein Mensch namens Johannes mit Henry Mouse zusammenarbeitete und maßgeblich am Misslingen einiger seiner Unternehmungen beteiligt gewesen war. Eigentlich wollte er damals nur in dessen Zimmer eindringen, um sich umzusehen. Er musste jedoch feststellen, dass die Wohnung von dieser windigen kleinen Maus mit so viel technischem Schnickschnack abgesichert worden war, dass ein Eindringen absolut unmöglich war. Genau in diesem Moment war die Posttaube eingetroffen und er hatte ihr ohne zu zögern die Post entrissen und war in die Kanalisation geflüchtet. Bei der Durchsicht der gestohlenen Briefe waren ihm einige Dokumente mit für ihn unleserlichen Schriftzeichen in die Pfoten gefallen. In seinem Hauptquartier in London hatten seine Spezialisten ihm jedoch mitgeteilt, dass der Text keinen Sinn ergäbe und sich auf irgendeine alte Schrift oder Sprache beziehe.
Da Ratzky nie auf die Idee gekommen wäre, irgendetwas wegzuwerfen, wurde der Brief ins Rattenarchiv gebracht. Sergej Aloisowitsch war die beste Archivratte, die es jemals gegeben hat – er vergaß nie ein Papier, ein Dokument oder einen Brief.
Aloisowitsch war eine große, magere Ratte mit kurzen weißen Haaren und einem goldenen Ring im rechten Ohr13. Immer wenn er nachdachte, und das tat er fast pausenlos, zupfte er mit seiner Pfote an dem Ohrring.
Und so war es auch Aloisowitsch, der Ratzky an den bewussten Brief mit der seltsamen Schrift erinnerte, als er von den Schwierigkeiten mit den Schriftsymbolen auf dem Einhornstab hörte. Danach war alles einfach – die im Brief enthaltenen Symbole waren der Schlüssel zur Übersetzung der geheimnisvollen Schriftzeichen auf dem Stab. Der Übersetzung zu Folge gab es auf oder richtigerweise innerhalb der Erde eine zweite Welt, die so genannte Innenwelt.
Offensichtlich war an dem Mäuseaberglauben doch etwas dran, dachte Ratzky erstaunt. Die Erde ist hohl und in ihrem Inneren existiert eine Zivilisation...
...eine ganze Welt, die es zu erobern galt, mit sagenhaften Reichtümern und Schätzen von unvorstellbarer Größe, und er, Ratzky, konnte in dieser Welt König, ja Kaiser werden – Seine Majestät Ratzky, der Erste – und dann würde er seine Heere aufstellen und auf die Oberwelt zurückkehren. Alles Meins, alles, alles.
Es war einfach zu schön um wahr zu sein, denn aus der Übersetzung ging deutlich hervor, dass die Bewohner dieser Innenwelt noch im Mittelalter14 gelebt hatten.
Wie auf der Erde vor tausend Jahren – kein elektrisches Licht, kein Strom, keine Autos, Computer, Flugzeuge, ja nicht einmal ein Feuerzeug, überlegte Ratzky voller Begeisterung. Mit den modernen Mitteln, die ihm, dem genialen15 Ratzky, zur Verfügung standen, würde es ein Kinderspiel sein, diese Welt zu erobern.
„Ähem..., Chef“, räusperte sich Aloisowitsch und riss Ratzky aus seinen Tagträumen. „Hier in der Übersetzung steht geschrieben, dass es auf der ganzen Welt versteckte Tore in die Innenwelt gibt, aber nur die „Hüter der Einhörner“ sie kennen. Es ist nur ein einziger Eingang näher beschrieben, und zwar auf Rapa Nui.“
„Rapa was?“, fauchte der geniale Ratzky. „Kannst du dich nicht klar ausdrücken? Und außerdem, sprich mich von jetzt an mit Eure Majestät an!“
„Chef, Entschuldigung, Eure Majestät, Rapa Nui wird auch die Osterinsel genannt und liegt im Südpazifik. Auf ihr stehen ungefähr eintausend riesige Tuffsteinfiguren16, von denen jede mehrere Tonnen wiegt und Ihre Ureinwohner...“
„Das reicht, ich will nur wissen wo das ist, und mir keine Vorlesungen über Völkerkunde anhören. Und außerdem, lass diesen Blödsinn mit Eure Majestät!“, zischte Ratzky.
Das Tor war mitten im Nabel der Welt, hieß es in dem Text, und nur ein „Hüter der Einhörner“ konnte hindurchgehen, ohne Quarhviyal zu benützen – was auch immer das schon wieder war. Nicht einmal Aloisowitsch wusste etwas über das geheimnisvolle Quarhviyal. In der Übersetzung stand nur, dass jedem Anderen, der von der Ober- in die Innenwelt ging und umgekehrt, ein schreckliches Ende bevorstünde, wenn er nicht während der ersten sechs Tage alle zehn Stunden einen Becher Quarhviyal zu sich nehmen würde.
Ratzky beschloss, unverzüglich mit den Vorbereitungen für eine Reise auf die Osterinseln zu beginnen, denn schließlich war er im Besitz des Stabes und somit ein „Hüter der Einhörner“. Das würde ihm ermöglichen, durch das Tor zu gehen, ohne dieses Quar..., wie auch immer, zu benötigen.
Hunderte von Ratten durchsuchten die Londoner Unterwelt von den U-Bahnschächten bis in die tiefsten Tiefen der Kanalisation und organisierten alles Nötige für die Reise. Auf diese Weise bestens ausgerüstet, brachen sie sofort auf nur Ratzky bekannten Wegen auf. Bei der Auswahl derjenigen, die ihn begleiten durften, verließ17Ratzky sich auf seinen messerscharfen Rattenverstand.
Lediglich die Überquerung des Atlantiks gestaltete sich schwierig, da dieser doch ein wenig größer war, als von Ratzky angenommen. Die Reise in einem engen Unterwasserschlitten entlang der Tiefseekabel in über drei Kilometern Tiefe war kein Vergnügen. Ratzky hatte aus gewichtsgründen an Verpflegung und vor allem an Decken gespart.
„Stellt euch nicht so an, ihr seid schließlich echte Ratten! Es war nun einmal nur Platz für meine Daunendecke und meine Verpflegung“, half bei Temperaturen um die null Grad nicht unbedingt, abgesehen von der Tatsache, dass Olga eine Katze war.
„Ich verspreche warmen Sonnenschein und die beste Verpflegung gleich nach unserer Ankunft!“
Als sie endlich hungrig und halb erfroren Panama City erreichten, brachten Menschen, die vom Inhalt der Metallzylinder keine Ahnung hatten, diese in eine Lagerhalle. Beim Verlassen ihrer Transportmittel schlug ihnen brütende Hitze entgegen. In der Stadt betrug die Temperatur um diese Jahreszeit an die 30° Celsius. Da die Halle hauptsächlich aus Wellblech gebaut war, schien die Temperatur im Inneren doppelt so hoch zu sein. Das war für die meisten von ihnen zu viel, total erschöpft fielen sie einfach um. Abgesehen von Ratzky, der während der Reise warm eingepackt die meiste Zeit geschlafen hatte, waren lediglich Olga und Aloisowitsch noch in einigermaßen guter Verfassung.
„Was ist jetzt mit der besten Verpflegung? Ich glaube für uns beide zu sprechen, wenn ich sage, wir sind hungrig, sehr hungrig und durstig und...“
„Sergej, Sergej, immer nur ans Futter zu denken, näs pah? Das ist übrigens Landessprache 18 und bedeutet - nicht wahr?“, unterbrach ihn Ratzky. „Nimm dir ein Beispiel an den anderen, sie schlafen friedlich, und was machst du?
Nichts als nörgeln, ich habe euch auch Sonnenschein versprochen und mein Versprechen gehalten!“
„Das mag schon sein, aber du hast auch Futter versprochen und ich bin eine hungrige und sehr schlecht gelaunte Katze“, mischte sich nun auch Olga angriffslustig ein. „Aloisowitsch hat ausnahmsweise recht. Wenn wir auch noch umfallen, wer soll dann die Arbeit machen, Sie vielleicht, Chef?“19
Ratzky trippelte vorsichtshalber einige Schritte zurück, um aus ihrer Reichweite zu kommen. Sie war zwar seine Leibwächterin, im Moment war sie jedoch so wütend, dass Ratzky ihr alles zutraute. Er war wesentlich größer als sie, aber die Jahre des guten Lebens als Chef einer mächtigen Organisation hatten Spuren hinterlassen. Ein kleines Pölsterchen hier, ein Speckröllchen da, und die Reaktionsfähigkeit, nun ja..., man konnte eben nicht alles haben. Olgas rote Augen funkelten ihn finster an, ihr Rücken krümmte sich sprungbereit und sie fuhr ihre spitzen Krallen aus.
Gerade noch rechtzeitig für Ratzky tauchten mehrere braune Ratten auf, die vom Londoner Hauptquartier seiner Organisation als Unterstützung angefordert worden waren. Zu seinem großen Glück brachten sie auch die versprochene Verpflegung mit. Ihr Anführer teilte ihm mit, dass auch für den Weitertransport gesorgt war. Sie hatten einige Schiffsratten auf einem Frachter bestochen und so konnte die Ausrüstung gerade noch rechtzeitig an Bord gebracht werden. Nachdem alle auf dem Schiff untergebracht waren, lief dieses mit dem Zielhafen Hanga Roa auf der Osterinsel aus.
Während der nächsten drei Wochen dümpelten sie auf dem uralten Frachter mit einer Geschwindigkeit von sechs Knoten dahin. Die Ratten aus Panama City hatten in der Eile den falschen Frachter beladen und zum Umladen war keine Zeit mehr geblieben. Ratzky musste die Schiffsratten dieses rostzerfressenen Dampfers nachdrücklich davon überzeugen, dass es für sie von Vorteil wäre, sich nicht mit seiner Organisation anzulegen, sondern die angebotene Entlohnung anzunehmen und zu schweigen. Nach einem kurzen Meinungsaustausch mit einer gerade wieder sehr zornigen Olga (sie hatte kurz zuvor ihr Quartier gesehen) stimmten sie mehr als bereitwillig zu.
Ratzky fand in diesen Wochen auf dem Schiff genug Gelegenheit zum Nachdenken. Warum nur wollte Henry Mouse diesen wertvollen Einhornstab für immer verschwinden lassen? Was wusste er, wovon er, Ratzky, nicht wusste, was hatte er übersehen, und wo sollte er auf der Osterinsel einen „Nabel der Welt“ finden? Und wie hing das alles mit Wien zusammen? War die Innenwelt wirklich so leicht zu erobern? Und woher kamen seine Träume von seltsamen Wesen und noch seltsameren Sprachen, die er unerklärlicherweise verstand?
Hätte der geniale Ratzky seinen Helfer Aloisowitsch nur einmal ausreden lassen, hätte er schon längst erfahren, dass „Nabel der Welt“ nur ein anderer Name für Osterinsel war. Da seine Stimmung immer grimmiger wurde, je weniger er dieses Rätsel lösen konnte, traute sich bald niemand mehr, ihn anzusprechen. Und so kam es, das Towarisch Ratzky nun mit seinen Helfern die ganze Osterinsel absuchte, ohne genau zu wissen, wo er eigentlich suchen sollte – mitten im „Nabel der Welt“.
Aloisowitsch wurde mit der Zeit nervös, wirklich nervös. Unzählige Male hatte er während der Reise und auch nach der Ankunft auf der Insel versucht, seinen Chef auf den „Nabel der Welt“ anzusprechen. Er wollte ihm erklären, dass er wusste, wo sie suchen müssten. Ratzky hatte ihn auf der letzten Etappe ihrer Reise zweimal über Bord in den Südpazifik geworfen. Mit viel Glück und der Hilfe von Olga war es ihm gelungen, wieder auf das Schiff zu kommen. Danach hatte er es für klüger gehalten, zu schweigen. Mit Schaudern erinnerte er sich noch jetzt an die messerscharfen Zähne eines allzu hungrigen Hais, der ihm beinahe den Schwanz abgebissen hätte.
Wenn Ratzky so schlechte Laune hatte, ließ man ihn besser in Ruhe oder man könnte dafür sorgen, dass er – ja, genau das war es, überlegte Aloisowitsch und lief zu Olga, um ihr seinen Plan zu erklären.
8 Angeblich kam Olga aus China, wo der Name Yini so viel wie „Die charmante“ bedeutet. Es gibt nur wenige, die mutig oder verrückt genug gewesen waren, sie mit diesem Namen anzusprechen. Die Krallen einer Zwergkatze sind ziemlich scharf.
9 Wenn Ratzky sich von etwas oder jemandem bedroht fühlte, war es Olgas Aufgabe, sich vor ihn zu stellen, was vielmehr bedeutet, Ratzky versteckt sich hinter ihr. Das Ergebnis wird durch zwei Umstände verfälscht:
1. Olga ist 10cm groß, Ratzky ist 40cm groß.
2. Olga ist bestens ausgebildet, körperlich in Höchstform und schlau, was man von Ratzky nicht unbedingt behaupten kann.
10 Mäuse glauben, dass es außer der Oberwelt, in der Mäuse und Menschen leben, und einer Unterwelt, in der Ratten und Katzen leben, auch noch eine sagenumwobene Innenwelt gibt.
11 Mit Pedalantrieb, zwar nur für kurze Strecken geeignet, dennoch eine Erfindung, auf die Ratzky besonders stolz war - wie auf alles, was er erfunden hatte bzw. erfinden hatte lassen.
12 Ein Wort aus der Drachensprache, es bedeutet „von Menschen angefertigt“, oft von mehr oder weniger begabten Zauberern oder Hohepriestern. Weniger begabte Zauberer sind leicht zu erkennen, sie haben sich in sprechende Tiere verwandelt, die keinen Zauberstab halten können und vorher vergessen, einen Kollegen zu informieren, der sie zurück verwandeln kann. Völlig unbegabte Zauberer versuchen sich als Fische.
13 Sein linkes Ohr gibt es nicht mehr, das hat eine Katze vor vielen Jahren nach einer Meinungsverschiedenheit über artgerechte Ernährung für sich behalten. Seit dieser beinahe letzten Erfahrung seines Lebens hat Aloisowitsch weiße Haare.
14 750 – 1359 nach der Gütigen Ratte. Zwischen Altalter und Neualter.
15Zwischen Genie und Wahnsinn liegt ein schmaler Grat, Ratzky sieht sich selbst auf der Genieseite wandeln. Er hat eine sehr persönliche Meinung darüber, wo genau sich dieser Grat befindet.
16 Tuffstein: weiches Vulkangestein, wobei die Bezeichnung weich bei einem Gewicht von zwölf Tonnen pro Figur relativ ist, vor allem, wenn man darunter liegt.
17 Abgesehen von Olga und Aloisowitsch wählt Ratzky Begleiter nur nach Nützlichkeit aus - groß, stark, gehorsam und nicht besonders schlau. Es reicht, wenn ihr genialer Anführer denkt. Ein Prinzip, dass noch nie funktioniert hat, aber immer wieder versucht wird – mit demselben Ergebnis.
18 Ratzky handelt aus der unumstößlichen Überzeugung, recht zu haben. Die Tatsache, dass Menschen in Panama Spanisch sprechen, ist für ihn nicht wichtig, weil alle Ratten ohnehin dieselbe Sprache sprechen.
19 Olga zu reizen ist zu keinem Zeitpunkt eine gute Idee, eine hungrige Olga zu reizen ein deutliches Zeichen von erbarmungslosem Wahnsinn.
In London hatte Sir Henry sich gerade umgezogen und seinen braunen Anzug gegen passende Reisekleidung getauscht. Ein sandfarbenes Baumwollhemd und bequeme Leinenhosen mit einem braunen Ledergürtel, in dem viele gut verborgene Taschen20 untergebracht waren. Seine festen Schuhe hatten ausfahrbare Gleitsohlen und einen Mikroraketenantrieb im Absatz. Die alte, braune Lederjacke, mit der er schon so viele Abenteuer bestanden hatte, durfte natürlich auch nicht fehlen. Zuletzt setzte er noch den weitkrempigen Filzhut, den er seit seiner Zeit in Australien zu tragen pflegte, auf und schulterte seinen Rucksack. In diesem befanden sich all seinen archäologischen Werkzeuge und sein Notizbuch, in dem er alles Wichtige notierte. Natürlich in der nur Johannes und ihm bekannten Geheimschrift.
Er drehte sich noch einmal um, nur um sicherzugehen, dass er nichts vergessen hatte, ging zur Wohnungstür, öffnete diese, um hinauszugehen und schaute in das verblüffte Gesicht von Professor Lucius Ambrose, der gerade im Begriff war, mit seinem Spazierstock an seine Türe zu klopfen.
Professor Ambrose gehörte zu seinen ältesten Freunden und arbeitete wie er an der Universität. Jedoch hielt er keine Vorlesungen mehr, sondern war in der Verwaltung beschäftigt sowie Kurator des Museums der Universität. Er war es auch, der ihn im Auftrag der Universität immer wieder auf nicht ganz ungefährliche archäologische Expeditionen geschickt hatte, die allzu oft Tarnung für seine Geheimaufträge gewesen waren.
Professor Ambrose war eine stattliche Maus mit kleinen Hamsterbäckchen. Er war stets in einen schwarzen Pelzmantel (er trug immer einen solchen, da er Angst hatte, zu erfrieren) gehüllt und trug altmodische Schuhe mit Gamaschen. Abgesehen davon war dieser Pelzmantel ein Geschenk von Sir Henry. Er hatte ihn bei einem Auftrag in Nepal bekommen und ihn eigentlich behalten wollen21. Als er gesehen hatte, mit welch sehnsüchtigem Blick sein Freund den Mantel anstarrte, hatte er ihm diesen geschenkt. Darunter trug er wie immer sein ein wenig in die Jahre gekommenes Tweed Sakko und eine ärmellose Weste, in der seine silberne Taschenuhr steckte. In seinem rechten Auge klemmte ein Monokel, ohne das man ihn noch nie gesehen hatte. Unter den Studenten gab es Gerüchte, er würde es nicht einmal zum Schlafen abnehmen, aber das waren natürlich nur Gerüchte, sonst nichts. Seinen Kopf zierte der unvermeidliche Deerstalker oder besser bekannt als Sherlock Holmes Hut.
„Hallo Henry, alter Knabe“, begrüßte Professor Ambrose.
„Wie ich sehe, bist du schon reisefertig. Das trifft sich gut, denn ich habe auch schon gepackt.“
Dabei deutete er auf die 15 Koffer unterschiedlicher Größe, die sich hinter ihm auf den Stufen zu Sir Henrys Wohnung türmten. Als Maus von Welt bemühte sich dieser, sich sein Erstaunen nicht anmerken zu lassen, aber acht von seinen zehn Tasthaaren sendeten Alarmsignale aus.
„Du, äh, du willst mich begleiten, Lucius?“, stammelte Sir Henry verlegen. „Das ist ja eine tolle Überraschung. Wer hatte denn diese phantastische Idee?“
Er wusste genau, dass Professor Lucius Ambrose so ziemlich die einzige Maus war, die es schaffte, sich sogar in ihrer eigenen Wohnung zu verlaufen.
„Tja, alter Knabe, die Kanzlerin persönlich meinte, du könntest bei diesem Auftrag meine Unterstützung gut gebrauchen. Mit anderen Worten, sie hat Angst, dass deine Expedition diesmal für die Universität wieder etwas, nun ja, wie soll ich sagen, teuer wird.“
Sir Henry erinnerte sich noch zu gut daran, dass er bei seiner letzten Expedition auf der Suche nach dem Schatz der Wikinger gewesen war und versehentlich eine ganze Insel versenkt hatte. Zum Glück hatten keine Mäuse auf der Insel gelebt, aber das Schiff mit dem Schatz war versunken. Diesmal sollte die Anwesenheit von Professor Ambrose sicherstellen, dass die Universität nicht wieder für die Schäden, oder vielmehr für kleine Missgeschicke, aufkommen musste. Offenbar hatte es die Kanzlerin, die Leiterin der Universität, mit der Angst zu tun bekommen, als ihr bewusst geworden war, dass die Expedition wieder einmal auf eine Insel – die Osterinsel - gehen sollte. Offiziell sollte Sir Henry ja die Steinstatuen oder Moais, von denen es an die Tausend auf der Insel gab, untersuchen.
Eine ideale Tarnung, um sich in Ruhe nach Towarisch Ratzky umzusehen, weil die Statuen über die ganze Insel verteilt waren. Das Problem war nur, Professor Lucius Ambrose hatte keine Ahnung von Henrys Tätigkeit im Geheimdienst Ihrer Majestät.
„Lucius, mein Lieber?“, fragte Sir Henry mit einem fast lausbubenhaften Grinsen. „Hat dir unsere weise Kanzlerin eigentlich verraten, wo meine, oder vielmehr unsere, Expedition eigentlich hingeht?“
„Hm, na ja, sie erwähnte so etwas wie ins Ausland“, murmelte Professor Ambrose. „Und das Ausland soll ja sehr nahe sein, ist es nicht?“
Sir Henry sah seinen Freund verblüfft an und trat zu ihm auf die Stufen.
„Lass uns zuerst einmal deine Koffer in meine Wohnung bringen. Was hast du eigentlich da drinnen, Ambrose?“
„Nun, Bücher natürlich, meine Aufzeichnungen, Skizzen, dann meine Sammlung verschiedener Teesorten und die beste Expeditionsausrüstung der Firma Mousewell&Söhne. Außerdem noch ein paar steinerne Ausgrabungsstücke, die du dir unterwegs unbedingt ansehen musst!“
Sir Henry seufzte bei dem Gedanken an die vielen Gepäckstücke. Mousewell&Söhne waren die besten Expeditionsausstatter der Welt für Expeditionen, die aus hundert und mehr Mäusen bestanden, aber mit Sicherheit nicht für jemanden in geheimer Mission. Nachdem er alle Koffer in seine Wohnung getragen hatte, deutete er mit seiner Pfote auf den kleinsten.
„Was ist eigentlich in dem da drinnen, Ambrose?“
„Ach, in dem, mein lieber Junge, sind nur meine persönlichen Sachen. Ein paar Kleidungsstücke, meine Zahnbürste und so weiter, du weißt schon.“
Bevor Professor Ambrose protestieren konnte, hatte Sir Henry den kleinen Koffer geschnappt, sich seinen Rucksack umgehängt und den verblüfften Professor aus der Wohnung geschubst. Mit einer schnellen Bewegung hatte er die Eingangstür verschlossen. Danach drückte er mit der Pfote auf eine bestimmte Stelle des Türrahmens und schaltete durch seinen Pfotenabdruck die umfangreiche Alarmanlage ein. Nun konnte niemand außer ihm die Wohnung betreten. Trotz unzähliger Versuche war es Ratzkys Spießgesellen noch nie gelungen, diese von Mouse Q erfundene Anlage zu überwinden.
Sir Henry hatte auch die Wohnungen seiner Freunde mit derselben Anlage versehen, nachdem Ratzky vor einem Jahr versucht hatte, in die Wohnung von Johannes in Wien einzubrechen. Damals hatten sie Glück gehabt, denn die Wohnung befand sich im zweiten Stock in einem Innenhof. Vom Boden bis hinauf zum Dach rankte sich Schlingknöterich und die Fenster zu seinem Zimmer waren komplett zugewachsen. Von innen sah es aus, als würde Johannes in einem Baum wohnen. Ratzky war durch den Schlingknöterich unentdeckt nach oben geklettert und hatte versucht, durch das Fenster in die Wohnung zu gelangen. Dabei musste er einige der lianenartigen Äste durchnagen, durchtrennte dabei jedoch die wichtigste Ranke und stürzte mit einem Großteil der Pflanze unter lautem Krachen in den Hof. Noch am selben Abend hatte Sir Henry ein fehlerfrei arbeitendes und nicht sichtbares Alarmsystem eingebaut. Ratzky sollte keine zweite Gelegenheit bekommen, um auf diesem Weg in die Wohnung einzudringen.
Es herrschte ein für Februar typisches britisches Wetter. Der kalt-feuchte Nebel machte es unmöglich, weiter als einen Meter zu sehen. Sir Henry schob den guten Professor vorsichtig die drei Stufen hinab in Richtung zu einem Strauch, der in Wirklichkeit aber einen Aufzug verbarg. Kaum waren sie in den Strauch getreten, sausten sie auch schon in die Tiefe. Professor Ambrose hielt entsetzt den Atem an und kniff die Augen zu. In wenigen Sekunden waren sie auch schon in der gut versteckten Garage. Diese war an das unterirdische Straßensystem der Mäuse angeschlossen.
Ungefähr zwei Meter unter der Oberfläche war die Stadt von unzähligen Röhren durchzogen, in denen sich die Mäusestraßen befanden. Da Menschen jedoch dazu neigten, aus allen möglichen Gründen Löcher in die Erde zu graben, gab es ein eigenes Mäuseverkehrsministerium, kurz MVM genannt. Das MVM überwachte alle Bau- und Grabungsarbeiten der Menschen und ließ bei Bedarf sofort die Röhren entfernen. Aus diesem Grund hatten die Menschen noch nie in der Geschichte der Mäuse das Straßensystem gefunden. Mit einer raschen Bewegung hatte Sir Henry die Wagentür des Mouse Rovers mit seinem Pfotenabdruck geöffnet und seinen Freund auf den Beifahrersitz gedrückt, was bei dessen Bäuchlein und dem dicken Pelzmantel nicht so einfach war.
Mit derselben Geschwindigkeit schloss er die Tür, lief um den Wagen herum, öffnete die Fahrertür, warf Koffer und Rucksack auf die Rücksitze, setzte sich auf den Fahrersitz, warf die Tür zu und fuhr los.
„Du bist nicht angeschnallt!“, waren die ersten Worte von Professor Ambrose.
Ein Druck auf einen der vielen Schalter auf dem Armaturenbrett und der Sicherheitsgurt legte sich automatisch über Sir Henrys Schulter.
„Das war eben nicht sehr nett, das mit meinen Koffern. Und, abgesehen davon, wozu die Eile und wann bekomme ich meine Koffer wieder und außerdem... sag mal, wem gehört eigentlich dieser Wagen? Seit wann hast du einen Geländewagen? Und, Henry! Gute Güte, du fährst ja viel zu schnell, und wozu gehört eigentlich dieser Knopf...“
„Fass nichts an, fass bitte ja nichts an, Ambrose!“, sagte Sir Henry noch einigermaßen ruhig, als er sah, dass sich dessen Pfote bedrohlich nahe an einem der vielen Knöpfe, Hebel und Schalter auf der Mittelkonsole befand. „Lehne dich zurück, entspanne dich und genieße die Fahrt. Ich werde dir inzwischen alles erklären.“
Während er den dunkelblauen Wagen durch den dichter werdenden Verkehr lenkte, denn schließlich hatten immer mehr Mäuse ein Auto, drückte er auf zwei verschiedene Knöpfe, von denen einer wie ein winziges Cheesiniglas aussah. Mouse Q hatte viel Zeit damit verbracht, den Mouse Rover speziell nach Sir Henrys Wünschen umzubauen. Vor Professor Ambrose öffnete sich ein kleines Fach, aus dem ein perfekt gerührter Cheesini in einem gekühlten Glas herauskam. Daneben lagen mehrere Landkarten.
„Nimm ihn, du wirst ihn brauchen“, wandte sich Sir Henry an seinen verblüfften Freund. „Und sieh dir bei dieser Gelegenheit gleich die Landkarten an – wir fliegen zuerst nach Wien und dann nach Santiago de Chile. Von dort geht es weiter auf die Osterinsel, du findest sie auf der Karte des Südpazifiks gleich neben Chile!“.
Professor Ambroses Augen wurden sehr groß und alle Tasthaare unter seiner Nasenspitze schienen zugleich zu zittern, während er selbst ganz tief in den Sitz sank. Er trank seinen Käsesaft mit einem einzigen Schluck aus und versuchte etwas zu sagen. Nach dem dritten Versuch gelang ihm das dann auch.
„Das ist wohl ein bisschen viel Ausland, meinst du nicht, alter Knabe? Ich war selbstverständlich schon im Ausland – Schottland und so – du weißt schon, aber Chile und dann noch die Osterinseln, gute Güte! Bei den ältesten Steinfiguren, die die Kanzlerin erwähnt hat, war ich der Meinung, sie spräche von der Venus von Hohle Fels. Die wäre ja in Deutschland, das ist doch schon mehr als genug Ausland! Was hat sich die Kanzlerin dabei bloß gedacht?“
„Das frage ich mich auch“, murmelte Sir Henry und antwortete etwas lauter. „Ach was, mein Lieber, soweit ist das auch wieder nicht. Wir fliegen von Heathrow über Wien nach Santiago, der Hauptstadt von Chile, und von dort weiter auf die Osterinsel. Wenn nichts dazwischen kommt, müssten wir in zwei Tagen dort sein.“
„Fliegen – was meinst du mit fliegen?“, quiekte Professor Ambrose entsetzt. „Und was soll das heißen – wenn nichts dazwischen kommt? Grundgütiger, worauf habe ich mich da bloß eingelassen. Also ehrlich, Henry, du hättest mich nie überreden dürfen, mit dir zu kommen!“
„Mein lieber Lucius, das mit dem Fliegen ist eigentlich ganz einfach. Wir reisen in einem Postpaket der Menschen. Natürlich sieht es nur aus wie ein Postpaket und ist innen sehr komfortabel eingerichtet. Bequeme Clubsessel, Licht, eine eigene Luftversorgung, Küche und Bar. Das Paket ist von außen nicht von einem normalen Postpaket zu unterscheiden, es hat sogar den Vermerk „Zerbrechlich, mit höchster Vorsicht zu behandeln!“ darauf und wird im geheizten Gepäckabteil transportiert. Also hör auf, dir Sorgen zu machen.“
„Aber, aber, reisen eigentlich viele Mäuse auf diese Art?“, stammelte Professor Ambrose, dem es im Moment so gar nicht gelingen wollte, sich zu beruhigen.
„Selbstverständlich, mein Lieber, meist bis zu 100 Mäusen und mehr pro Paket oder was hast du gedacht, wie im Sommer all die Mäusefamilien mit ihren Kindern ans Meer kommen? Ein guter Freund von mir hat es ermöglicht, das wir gewissermaßen in einem offiziellen Paket der Regierung unterwegs sind.“
Sir Henry und lenkte den schweren Geländewagen über die Ausfahrt zum Flughafen. Dort stellte er ihn auf einem für seinen Wagen reservierten Parkplatz ab und machte sich daran auszusteigen.
„Henry Mouse!“, brauste sein Freund entrüstet auf, nachdem er mit einigen Schwierigkeiten aus dem Sitz geklettert war.
„Das möchte ich jetzt wirklich erklärt bekommen – wieso hast du hier einen eigenen Parkplatz?“
„Ein guter...“
„Ja, ja ein guter Freund hat das ermöglicht, ihm gehört auch das Auto und so weiter. Henry, ich muss mich schon sehr wundern...“
„Später, ich erkläre dir alles später, während des Fluges haben wir jede Menge Zeit. Aber jetzt komm bitte, sonst verpassen wir unseren Flug“, sagte Sir Henry, warf sich seinen Rucksack über die Schulter, verschloss mit der rechten Pfote den Wagen und nahm mit der linken Professor Ambrose am Arm.
Der liebe Lucius ist einer meiner ältesten Freunde und in seinem Museum ein Genie, aber außerhalb der Mauern der Universität kann er eine richtige Nervensäge sein, dachte er gutmütig.
Sie waren bereits mitten in der von Menschen überfüllten Abflughalle22, als Professor Lucius Ambrose plötzlich stocksteif stehen blieb. Vorwurfsvoll wandte er sich an Sir Henry.
„Mein Koffer, Henry, du hast meinen einzigen Koffer im Auto vergessen! Ich weigere mich, auch nur einen Schritt ohne meinen Koffer zu tun!“
„In Ordnung, Lucius, ich hole dir deinen Koffer, aber tu mir bitte einen Gefallen, rühr dich nicht von der Stelle, keinen Zentimeter, hast du mich verstanden!?“
„Ja, ja, ich bin ja kein kleines Mäuschen mehr!“
Sir Henry sah seinen Freund noch einmal eindringlich an und lief dann zurück zum Auto. Als er auf dem Parkplatz ankam, bemerkte er, wie sich eine außergewöhnlich große Ratte an der Heckklappe seines Fahrzeugs zu schaffen machte. Er näherte sich ihr leise von hinten und holte tief Luft. Dann stieß Sir Henry einen lauten Katzenschrei23 aus und sprang der Ratte mit den Krallen seiner beiden Hinterpfoten auf den Schwanz. Die Ratte quiekte kurz auf, verdrehte die Augen und fiel in Ohnmacht.
Fremdsprachen zu lernen zahlt sich doch immer wieder aus, dacht er grinsend. Wie kann man nur so schreckhaft sein, wenn man an fremden Autos herumfummelt?
Nachdem er den Koffer aus dem Wagen geholt und diesen wieder sorgfältig verschlossen hatte, blickte er noch einmal kurz auf die ohnmächtige Ratte. Mit einem lausbubenhaften Grinsen öffnete er seinen Rucksack und nahm aus einer Innentasche eine kleine Spraydose mit der Aufschrift „KXXXL“24 heraus. Er schüttelte sie kurz, sprühte einen Teil des Inhalts über die Ratte und steckte es in den Rucksack zurück. Die Ratte würde die nächsten zwei Wochen so stark nach Katze riechen, dass jede andere Ratte vor ihr Reißaus nehmen würde. Andererseits würden die Katzen sie lieben – oder so ähnlich.
Als er in die Abflughalle zurückkam, war dort unter Menschen und Mäusen ein Chaos ausgebrochen. Eine böse Vorahnung überkam Sir Henry – wo war Lucius? Wie er befürchtet hatte, steckte der Professor im Zentrum des Tumults. Er saß gemütlich auf einer Bank und starrte fasziniert auf die Anzeigetafel für Abflüge, ohne das Durcheinander um ihn herum wahrzunehmen. Eine mitten in einer Abflughalle auf einer Bank sitzende Maus mit Monokel, Pelzmantel, Schuhen mit Gamaschen und Spazierstock fällt offenbar sogar Menschen auf.
„Sieh mal, Henry, ein faszinierendes Ding, die Schrift ändert sich andauernd. Es würde mich interessieren...“
„Lucius, große Gütige Maus, bist du von Sinnen, hier kann dich jeder sehen!“, schrie Sir Henry seinen Freund an. „Komm sofort da runter!“
Professor Ambrose blickt in leicht irritiert an, kletterte jedoch von der Bank. Kaum war er unten angekommen, schnappte Sir Henry den Arm seines Freundes und rannte mit ihm zum Abflugschalter. Wie sie es schafften, in dem Durcheinander von Menschenbeinen heil im Abflugbereich anzukommen, konnte Sir Henry im Stillen nur als kleines Wunder bezeichnen. Am Schalter wurden sie von einer gepflegten, zierlichen Mäusedame in roter Uniform begrüßt.
„Einen wunderschönen guten Tag im Namen von Mausian Airlines, Sir Henry. Wir haben Sie und ihren Begleiter schon erwartet. Sie können sich schon in Ihr Paket begeben und werden in Kürze verladen.“ Etwas leiser fügte sie hinzu:
„Sie wurden leider auf einen Direktflug nach Santiago de Chile umgebucht. Ihr Mitarbeiter in Wien wurde bereits von uns verständigt, er erwartet weitere Instruktionen über die geplante Vorgehensweise bei der archäologischen Expedition.“
Mit einem Ausdruck des Bedauerns nahm Sir Henry diese Nachricht zur Kenntnis, er hätte zu gerne noch mit Johannes gesprochen. Abgesehen davon musste er nun für die Beschaffung seiner restlichen Ausrüstung eine andere Lösung finden.
Sie begaben sich durch einen schmalen Gang in das Innere des Pakets. Erstaunt riss Professor Ambrose die Augen auf. Wie von Sir Henry versprochen, hätte das Innere des Paketes jedem englischen Gentleman-Club zur Ehre gereicht. Bequeme, große Ledersessel, hübsche Lampen, Bücher an den Wänden.
Fehlt nur der offene Kamin, dachte Professor Ambrose.
Aus einer kleinen Tür in der Wand, die aussah wie ein Buch von Menschen, trat eine Mäusedame in derselben roten Uniform der Fluggesellschaft und bat sie, Platz zu nehmen.
„Schönen guten Tag, mein Name ist Laetitia Maria und ich werde mich während dieses Fluges um Sie kümmern. Würden Sie sich bitte anschnallen und die Sicherheitsbestimmungen, die sich in der Tasche neben ihrem Sitz befinden, lesen. Ganz besonders dann, wenn es ihr erster Flug ist!“, erklärte sie und blickte Professor Ambrose tief in die Augen, sodass dieser bis zu den Bartspitzen knallrot wurde25. „Es könnte sein, dass es auf dem Weg zum Flugzeug ein wenig unruhig wird, das ist jedoch ganz normal, sie sind hier absolut sicher.“
Professor Ambrose blickte etwas verwirrt zu Sir Henry.
„Mein lieber Lucius, ich habe ihr mitgeteilt, dass es dein erster Flug ist und du furchtbar nervös bist.“
„Das war aber nicht nötig, ich bin schließlich kein kleines Mäuschen mehr“, murmelte der Professor wieder einmal.
„Sag mal, Henry, diese Cheesinis, meinst du, ich könnte hier noch einen von denen bekommen?“
Irgendwo über dem Atlantik und einige Cheesinis später. Professor Ambrose lag in seinen Ledersessel eingekuschelt und schlief mit leichten Schnarchgeräuschen tief und fest. Sir Henry dachte über ihr Gespräch von vorhin nach...
„...Henry, was, zur gehörnten Katze, ist hier los? Der Wagen, diese mysteriöse Reise, die Eile, mit der wir aufgebrochen sind - und wieso behandeln all diese Mäuse dich wie eine, wie soll ich sagen, alter Junge, wie eine VIM26?“
„Mein lieber Lucius“, hatte Sir Henry geseufzt. „Die Wahrheit ist, ich arbeite für den Geheimdienst Ihrer Majestät, MI627, und das schon seit vielen Jahren. Bisher war ich immer allein oder mit anderen Agenten unterwegs und musste niemanden, außer einigen Menschen, ins Vertrauen ziehen, aber diesmal bist du dabei und deshalb ist es besser, wenn du Bescheid weißt. Die meisten Mäuse, von denen du meinst, sie würden mich wie eine VIM behandeln, sind Kollegen und Mitarbeiter von mir und sorgen lediglich für einen weitgehend problemlosen Ablauf unseres Auftrags. Wir beide müssen Towarisch Ratzky, einen total verrückten Oberschurken, aufhalten. Ich weiß zwar noch nicht, wie und wobei genau, aber ich weiß, wo!“
„Auf der Osterinsel!“, hatte Professor Ambrose geantwortet und dabei über das ganze Gesicht gestrahlt. „Henry, meine Güte, davon habe ich immer geträumt, einmal bei einem deiner Abenteuer dabei zu sein. Aber irgendwie hatte ich immer Angst, mein Museum allein zu lassen – bis heute.
Eigentlich sollte ich der Kanzlerin ja dankbar sein, dass sie mir nahezu befohlen hat, dich zu begleiten.“
„Sie hat was getan?“, hatte Sir Henry wütend gefaucht. „Sie hat es gewagt, dir zu befehlen? Ich werde meinen Lehrstuhl zur Verfügung stellen, wenn wir zurückkommen, dann soll diese feine Dame sehen, wie sie alleine zu Recht kommt!“
Doch bis zu ihrer Rückkehr sollte noch sehr viel Zeit vergehen, mehr als sie in diesem Augenblick auch nur im Entferntesten ahnten.
Das Gefühl, etwas vergessen zu haben, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen, so sehr er sich auch bemühte. Leise öffnete sich die Tür und die Flugbegleiterin, die Maus in der roten Uniform, kam auf Sir Henry zu.
„Haben Sie noch einen Wunsch, Sir Henry, vielleicht etwas Käse? Johannes hat für sie Tete de Souris28 einfliegen lassen.“
Natürlich war auch sie Mitglied des MI6, sonst hätte sie Johannes nicht gekannt.
„Und außerdem kam eine verschlüsselte Anfrage von ihm, ob es Ihnen gelungen ist, den Stab zu vernichten? Er freut sich schon sehr auf ihren nächsten Besuch in Wien.“
Wie von einer Tarantel gestochen wollte Sir Henry in die Höhe springen, wurde aber vom Sicherheitsgurt davon abgehalten.
Das war es! Die Verbindung zu der Osterinsel! Der Einhornstab! Seine Gedanken überschlugen sich.
Towarisch Ratzky hatte ihn mit Sicherheit beobachten lassen und erfahren, dass er etwas in die Themse geworfen hatte. Es musste ihm gelungen sein, diesen Stab zu bergen, und dann war da noch die Geschichte in Wien mit der beraubten Posttaube gewesen. Ratzky kannte offenbar die Übersetzung der Inschrift, die in dieses ungewöhnliche Stück vor langer Zeit geschnitzt worden war. Große Gütige Maus, dachte er nur und spürte, wie sich seine Nackenhaare zu sträuben begannen. Wenn das stimmt, ist er jetzt auf dem besten Weg, das Tor in die Innenwelt zu finden!
Sir Henry hatte den Einhornstab im Nebelreich Avalon von der Herrin vom See bekommen. Trotzdem er die Inschrift darauf mit Hilfe von Lucius übersetzt hatte, konnte er einfach nicht glauben, wozu dieser Stab in Wirklichkeit diente. Dennoch wollte er kein Risiko eingehen. So hatte er beschlossen, ihn in die Themse zu werfen, wo dieser auf den Grund sinken und für immer unerreichbar sein sollte. Er war davon ausgegangen, dass die Ebbe den Stab ins offene Meer hinaus tragen würde, wo er für alle Zeiten verschwunden sein würde. Das war ein großer Fehler gewesen und jetzt musste er alles daran setzen, ihn wieder gutzumachen.
Eigentlich war Sir Henry ganz froh darüber, dass Professor Ambrose nun die ganze Wahrheit über seinen Geheimauftrag kannte. Er hatte nämlich überhaupt keine Lust, seinen alten Freund und Mentor andauernd täuschen zu müssen.
So etwas gehört sich schließlich nicht für eine Maus wie mich, sinnierte Sir Henry.
Langsam wurde er müde und beschloss, es dem Professor gleichzutun, der noch immer friedlich schlummernd in seinem Sessel lag.
Nebenan saß ihre Flugbegleiterin an Computern und wild blinkenden Geräten, von denen Sir Henry nicht einmal eine ungefähre Ahnung hatte, wozu sie gehörten. Auf jeden Fall sahen sie sehr wichtig aus. Da kam ihm eine Idee.
„Können Sie von hier aus Emails oder Faxe oder so was Ähnliches in alle Welt schicken und auch empfangen, Miss...?“, fragte Sir Henry.
„Mein Name ist Miss Laetitia Maria und ja, kann ich.“, antwortete sie und lächelte ihn freundlich an.
„Äh, ja, hm, was können Sie?“, stotterte Sir Henry und fragte sich, was ihn an dieser Mäusedame so verwirrte.
„Nun, diese Anlage hat Mouse Q eingebaut und sie kann so ziemlich alles, nur keine Cheesinis, gerührt und nicht geschüttelt, machen. Wir können über einen Satelliten so ziemlich jeden Ort der Welt erreichen. Worum geht es denn?“
„Ich muss ein paar sehr wichtige Informationen bekommen und dazu muss ich Menschen und Mäuse auf der ganzen Welt erreichen. Wenn ich Ihnen alles ansage, können sie es dann aufschreiben und abschicken, Miss Laetitia Maria?“
„Ich kann tatsächlich schreiben“, bemerkte sie spöttisch und blickte Sir Henry direkt in die Augen. Dieser senkte verlegen den Blick und betrachtete mit neu erwachtem Interesse seine Schuhe. „Und das Abschicken werde ich auch noch schaffen. Nennen Sie mich bitte Miss Tia, Laetitia haben nur meine Eltern zu mir gesagt, wenn ich etwas angestellt hatte. Also, fangen wir an!“
Während der nächsten Stunde schickten sie Anfragen und Nachrichten an zahlreiche Mitarbeiter und Freunde in der ganzen Welt. Am Ende war Sir Henry so müde, dass er fast auf der Stelle eingeschlafen wäre.
„Warum gehen Sie nicht schlafen? Sie sehen zum Umfallen müde aus“, bestätigte ihm dies auch Miss Tia und begleitete ihn zu seinem Sessel. „Ich bringe noch Decken für Ihren Freund und Sie. Wenn die Antworten kommen, drucke ich sie ihnen aus und lege sie hier auf das Tischchen neben Ihrem Sessel. Gute Nacht, Sir Henry!“
„Gute Nacht und vielen Dank für Ihre Hilfe“, murmelte er noch und schlief beinahe sofort ein.
Kaum war er eingeschlafen, setzte sich Miss Tia noch einmal an den Computer und schickte ein letztes Mail ab.
20 Darin sind unter anderem spezielle Werkzeuge zum Öffnen von Schlössern, eine pfotevoll Goldmünzen, falls man die Hilfe von Personen braucht, die empfänglich für eine kleine Zuwendung sind, ein Schweizer Taschenmesser und vieles mehr. Sir Henry ist der felsenfesten Überzeugung, dass er alles in diesem Gürtel unbedingt brauchen wird.
21 Es widerstrebt Sir Henry, gute Kleidungsstücke wegzuwerfen, weil sie mit Sicherheit irgendwann wieder modern werden und man sie mit ebensolcher Sicherheit irgendwann unbedingt benötigen wird. Sein Kleiderschrank ist aus diesem Grund zum Bersten voll, dennoch findet sich immer wieder ein unverzichtbares Stück, das dieser Kollektion hinzugefügt werden muss.
22Die unterirdische Abflughalle für Mäuse war gerade im Umbau.
23 Wer viele Sprachen spricht, kann in vielen Sprachen Unsinn reden, aber auch Spaß mit Ratten haben.
24Großkatzengeruch, extra stark, gegen Ratten, Zwergkatzen und Raubvögel.
25 Entgegen der weit verbreiteten Meinung können auch Mäuse rot werden, vor allem wenn sie verlegen sind oder beim Erfinden einer neuen Version von Wahrheit erwischt werden.
26 VIM: Very Important Mouse, ganz wichtige Mäuse oder solche, die glauben oder vorgeben, es zu sein.
27 MI6: Mouse Intelligence Six, der aktuelle Mäusegeheimdienst, die Vorgänger 1-5 waren bei Experimenten der Abteilung Q leider zerstört worden.
28 Sir Henrys Lieblingskäse aus dem Kloster „Schöne Sau“, wird nicht geschnitten, sondern hauchdünn geschabt. Die Abtei ist heute eine psychiatrische Klinik, was aber, wie immer wieder betont wird, nicht am Käse liegt.