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Eine jahrhundertealte Prophezeiung, eine Freundschaft, die Unmögliches möglich macht und ein Abenteuer, das ihre Vorstellung übersteigt... Die Junghexe Siri Siebenstein würde so gerne eine richtige Hexe sein, doch kann sie sich einfach keine Hexensprüche merken. Sie verbringt viel lieber Zeit in ihrem Kräutergarten als das Besenreiten zu üben. Als sie von ihrer wunderlichen Tante Amelie einen kleinen Drachen aus Onyx vermacht bekommt, ahnt sie noch nicht, dass dieser Stein ihr Leben für immer grundlegend verändern wird. Denn dieser Onyxdrache ist einer von sieben uralten Drachen, die der Legende nach vergiftet und versteinert worden sind. Obwohl keiner mehr an Drachen glaubt und die Hexenwelt von einer Verschwörung erschüttert wird, begibt sie sich mit ihren Freunden Sam und Sophie auf die Spuren des vorhergesagten Retters Siramir und stolpert in ein aufregendes Abenteuer. Doch kann der kleine Drache wirklich zum Leben erweckt werden? Und schaffen die Freunde es, den bösen Hexenmeister Ceryll Stroke aufzuhalten?
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Seitenzahl: 319
Veröffentlichungsjahr: 2020
Die Ratschläge zur Behandlung in diesem Buch sind sorgfältig erwogen und überprüft. Dennoch kann keine Garantie übernommen werden. Bei ernsthaften und/oder länger anhaltenden Beschwerden sollten Sie einen Arzt oder Heilpraktiker Ihres Vertrauens zu Rate ziehen. Eine Haftung der Autorin oder des Verlages ist für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ausgeschlossen.
© Noreen Krespach-Schindler: Bilder Zaubertrick, Hologramm, Ringelblume Bild 1 und 2 sowie Mariendistel Bild 2.
© Solar Cookers International, Sacramento, California, USA: alle Bilder im Anhang zum Thema Solarkocher
Alle weiteren Bilder sind zu finden unter www.pixabay.com
Noca Kresch hieß in Wirklichkeit Noreen Catherina Krespach – Schindler und fühlte sich seit ihrer Kindheit mit der Natur verbunden. Bei einer Heilpflanzenausbildung wurde ihr bewusst, dass viele einfache Heilmittel im nahen Umfeld zu finden sind. Deshalb sah sie es als ihre Aufgabe, Kindern die Natur mit ihren Heilpflanzen zugänglich zu machen und sie dafür zu interessieren. Die Autorin lebte mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern im Raum Freiburg und arbeitete dort als Lehrerin. Am 06. August 2019 erlag sie nach langem Kampf ihrer Krankheit.
„Siramir und der Onyxdrache" ist ihr einziges Buch. Weitere Informationen findet Ihr unter www.nocakresch.de
Vorzeichen
Hexenschule
Freunde
Drago
Neues Zuhause
Nächtliche Begegnung
Die sieben Steindrachen
Unerwartete Besucher
Robert Reed
Nachforschungen
Geburtstag
Geburtstagsgäste
Daco occidentalis magnus oder minimus
Hexengeschichte
Stefania
Wendung
Die Seymours
Kriegsrat
Weggefährten
Verla
Marik Sikmor
Die Silbermine
Die Schneeburg
Ceryll Stroke
Ausblick
Namensliste der Hauptpersonen
Danksagung
Anhang
Für meine Familie
und alle,
die unsere Natur und Drachen lieben
Zum Gedenken
Liebe Leserinnen und Leser,
am 06. August 2019 verstarb Noreen Krespach-Schindler nach langer Krankheit. Mit unbeugsamem Willen hat sie der Erkrankung getrotzt, den Kampf aber letztendlich verloren.
Eines ihrer größten Anliegen war es, das Buch, das nun vor Euch liegt, fertigzustellen. Einen Tag vor ihrer Beerdigung konnte ich die Druckfassung von „Siramir und der Onyxdrache" in den Händen halten. Mich überkamen Stolz, Glück aber auch tiefe Trauer und Enttäuschung, die Ihr wahrscheinlich mit mir teilen werdet. „Siramir und der Onyxdrache" war darauf ausgelegt, dass es eine Fortsetzung geben sollte. Idee und Titel für den zweiten Band standen schon lange fest. Leider wird dieser nun nie verwirklicht werden können. Ich hoffe, dass Euch die Lektüre dieses Werkes viel Freude bereitet. Lasst Euch inspirieren, und nehmt etwas von dem Geist dieses Buches mit. Ich bin sicher, meine Frau hätte es sich so gewünscht und es würde ihr gefallen.
Hubert Schindler, Ehemann (Dezember 2019)
»Wenn die Macht der Pflanzen und Drachen verbunden
mit dem Wissen der alten Zeit gefunden
durch der Weisheit Hüter beschützt und gelenkt
wird durch Siramir dem Drachen das Leben
und die Freiheit dem Hexenvolk geschenkt.
Doch hängt die Zukunft am Faden, dem seidenen
und kann schnell in die Dunkelheit abgleiten«
Theodora
Der Orkan schickte seine Vorboten. Wilde Windböen tobten durch den Wald, rissen an Ästen und Blättern und zerzausten Siris Lockenmähne. Siri rannte, sie rannte um ihr Leben. Immer wieder schlugen ihr peitschende Äste ins Gesicht. Mit zum Schutz vorgehaltenem Arm stolperte sie über die knorrigen Wurzeln des Waldpfades, die wie lange, dunkle Finger nach ihren Füßen zu greifen schienen. Das Herz hämmerte und jeder Atemzug wurde zur Qual. Lange würde sie nicht mehr laufen können.
Die Stimmen der Verfolger wurden lauter. Siri rannte schneller und erreichte keuchend den Waldrand. Verzweifelt sah sie sich um. Vor ihr lag ein steinerner Pfad, der von niedrigen Büschen und Brombeerhecken gesäumt war. Am Ende des Weges konnte sie die Silhouette einer alten Eiche erkennen, die sich dunkel über der Bergkuppe erhob. Der Orkan zerrte an den Ästen des Baumes und jagte die Blätter tanzend durch die Lüfte. Dahinter endete der Pfad in einer undurchsichtigen, grauen Nebelbank, die sich ins Unendliche auftürmte.
Siri trat aus dem schützenden Wald. Augenblicklich erfasste sie der Wind und sie musste sich mit aller Kraft gegen die kräftigen Böen stemmen. Geduckt rannte sie auf die Eiche zu. Sie wusste, hier würde ihre Flucht enden.
Hätte ich doch in der Hexenschule besser aufgepasst, dann könnte ich jetzt einen Versteckzauber sprechen und wäre für meine Verfolger unsichtbar, dachte Siri bitter.
Doch leider konnte sie sich keine Hexensprüche merken. Sehr ungewöhnlich für eine Junghexe aus einer erfolgreichen Hexenfamilie, aber scheinbar nicht zu ändern.
Die Stimmenfetzen der Verfolger wurden lauter. Siri konnte schon das Kreischen der Magierin Zara hören, die ihren zwei Handlangern den Auftrag erteilt hatte, Siri zu fangen.
Siri hatte die Eiche erreicht und zitterte am ganzen Körper. Die Erschöpfung, die drohende Gefahr und die Aussichtslosigkeit ließen sie erschöpft in sich zusammensinken.
Zara, die Großmagierin, hatte ebenfalls den Weg zur Eiche betreten. Erhobenen Hauptes schritt sie auf Siri zu. Weder der schwarze Magierumhang mit den goldglänzenden Borten, noch die pechschwarzen Haare, die wie lange, glänzende Samtfäden ihr bleiches, schmales Gesicht umrahmten, wurden vom tobenden Orkan ergriffen. Sie schien unglaublich mächtig zu sein.
Zara näherte sich Siri, die verzweifelt versuchte, sich gegen die Eiche gestützt wieder aufzurichten. Siegessicher packte Zara Siri am Arm und drückte die spitzen, schwarzen Fingernägel tief in die Haut. Kleine Blutstropfen rannen über Siris Arm und sie schrie gequält auf. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Bösartig zischte Zara: »Meine Geduld mit dir ist zu Ende. Sag es endlich: Wer ist Siramir?« Auch Erwin und Anton, Zaras Handlanger, hatten nun die Kuppe atemlos erreicht und wischten sich den Schweiß aus den hochroten Gesichtern.
Ein kehliges Grollen übertönte das Brausen des Orkans. Zara fuhr erschrocken zusammen und ließ Siri los.
Aus dem dunklen Nebel hörte man erneut das Grollen und das Schlagen großer Flügel. Mit dem Sturm brach aus den Nebelschwaden ein schwarzes Ungeheuer hervor, das fauchend im Gestrüpp landete. Es stellte sich schützend vor Siri. Schlagartig verstummte das Brausen des Windes und die schwarzen Gewitterwolken lösten sich sekundenschnell auf.
Siri starrte fassungslos auf das Wesen, das seine Flügel anlegte und gefährlich grollend seinen großen Kopf mit grün glühenden Augen Zara zuwandte. Die Erde bebte leicht, als es mit dröhnender Stimme forderte: »Lass sie in Ruhe!« Sein Körper war mit dunklen Schuppen bedeckt. Er duckte sich, wie zum Angriff, leicht nach vorne. Sein stacheliger Schwanz schlug aufgeregt hin und her und drückte das vom Sturm zerzauste Gestrüpp nieder. In den letzten Sonnenstrahlen des Tages glühten die Schuppen des Drachens schwarzgolden.
Hoffnungsvoll richtete Siri sich auf.
Zara und ihre Helfer wichen erschrocken zur Seite. »Was ist das denn für ein Biest?« Antons Stimme zitterte ängstlich. »Hab so was noch nie gesehen.«
Erwin hastete zurück und verfing sich in den Brombeerranken, die der Wind auf den Weg gezerrt hatte. Beim verzweifelten Versuch, seinen Fuß zu befreien, bohrten sich die Dornen immer tiefer in seine Haut und zerkratzen seine Beine und Arme. Schmerzerfüllt jaulte er auf.
Zara herrschte Erwin an: »Stell dich nicht so an! Du weißt doch, dass es keine Drachen gibt. Siri hat einen Zauber beschworen, der uns dieses Ungeheuer vorgaukelt.«
»Du hast aber doch gesagt, dass sie gar nicht zaubern kann«, erwiderte Anton unsicher.
»Sei still, ich muss mich konzentrieren!«, zeterte Zara.
Immer wieder schossen Zaubersprüche und Beschwörungsformeln aus ihrem Mund. Rote, sirrende Strahlen trafen den Drachen zielsicher. Doch keiner verletzte ihn. Im Gegenteil: Die von Zara ausgehenden roten Blitze wurden von den Schuppen auf sie zurückgelenkt und sie musste sich verteidigen. Leuchtende Funken stoben in alle Richtungen und zwangen Erwin und Anton sich zu ducken.
Der Drache wurde immer wütender. Kleine Rauchwolken entströmten seinen Nasenlöcher und sein Rachen verfärbte sich leuchtend gelb.
»Ich glaube, uns bleibt nur der Rückzug«, rief Anton und flüchtete in Richtung des Waldes. Erwin folgte ihm humpelnd.
Zara schrie wütend: »Warte nur, du Göre! Wir kriegen dich noch, das schwör ich dir und dann wirst du mir sagen, wer Siramir ist!« Sie drehte sich flink auf dem hohen Absatz um und verschwand ebenfalls in den schützenden Wald.
Siri atmete erleichtert auf. Sie konnte es nicht fassen, der Drache hatte sie gerettet.
Als sich Siris großer Beschützer umdrehte, ihr in die Augen blickte und sein Maul öffnete, klingelte der Wecker.
Mit klopfendem Herzen erwachte Siri. Der Traum war so real gewesen, dass sie den Arm nach Blutspuren untersuchte. Bis auf das Muttermal am rechten Unterarm, das wieder einmal rot glühte, konnte sie nichts feststellen. Erleichtert stand sie auf, zog sich an, wusch sich und ging zu ihrer Mutter in die Küche.
Serina Siebenstein, saß mit einer Tasse dampfendem Kaffee am Frühstückstisch und las »Der Hexer heute«. Die langen, goldgelben Haare hatte sie gekonnt zu einem Hexendutt verschlungen. Er glich drei um sich selbst windenden Schlangen. Die Frisur und die dunkle Kleidung verliehen ihr etwas ungewohnt Strenges. Trug sie doch sonst weite, blaue Gewänder und offenes Haar, das wie fließendes Gold Serinas schmales Gesicht umspielte.
Siri blickte ihre Mutter überrascht an. Dann fiel ihr ein, dass Serina heute auf der alljährlichen Hexenversammlung des Hexenrates einen Vortrag über das Unsichtbarhexen halten würde. Darin war sie die große Meisterin.
»Morgen, Mama«, begrüßte Siri ihre Mutter, nahm sich ein Glas warme Milch und setzte sich an den Küchentisch.
»Ist Papa schon weg?« Siri starrte auf die leere Kaffeetasse in der Spüle.
Serina Siebenstein ließ die Zeitung sinken »Ja, der musste heute früher los. Ministerin Prümmel wird heute mehrere Beschlüsse des Rates verkünden und dann fällt viel zusätzliche Arbeit im Ministerium an. Prümmel schafft das nicht allein«, antwortete Serina knapp. Ihr Unmut war nicht zu überhören.
»Warum ist die eigentlich Ministerin geworden und nicht Papa. Sie war doch nur Sortiererin im Ministerium.«
»Das weiß niemand so genau. Unser Vorsitzender Ceryll hat manchmal seltsame Einfälle. Keiner versteht, warum er gerade Prümmel zur Ministerin ernannt hat.« Serina schwieg. Sie schien nicht weiter darüber sprechen zu wollen.
Bei einem prüfenden Blick auf ihre Tochter fielen ihr Siris wilde Locken auf. Diese standen heute ungewöhnlich auffällig in alle Richtungen ab. »Wie siehst du denn aus?«, erkundigte sie sich fürsorglich. Ihre schlechte Laune schien verflogen zu sein.
Siri schüttelte unwillig den Kopf. »Ich habe schon wieder einen dieser blöden Träume gehabt, in denen ich verfolgt werde. Heute war es Zara. Sie wollte wissen, wer Siramir ist. Keine Ahnung, wer das ist und weißt du, was noch komischer war: Ein riesiger, schwarzer Drache hat mich gerettet.« Siri legte den Kopf müde auf den hölzernen Tisch und betrachtete ihre Mutter aus den Augenwinkeln.
»Siramir, Siramir?« Serina blickte Siri grübelnd an. »Wie kommst du denn darauf? Der Name sagt mir etwas. Ich glaube, eine alte Prophezeiung handelt von ihm. Soweit ich weiß, wird darin von einer dunklen Zeit berichtet, in der der Held Siramir die Hexenwelt befreit. Alles sehr düster. Eigentlich solltest du in deinem Alter nur schöne Träume von Einhörnern haben. Ich verstehe nicht, warum du von solchen furchtbaren Dingen träumst«, meinte Serina irritiert.
Auch Siri verunsicherten die Träume, denn in der Hexenwelt waren sie von großer Bedeutung. Als Vorboten enthielten sie Hinweise auf die zukünftige Aufgabe der Hexe oder des Hexers. Erfolgreiche Hexen träumten von Einhörnern oder Elfen und hatten keine Albträume. Siri hob den Kopf.
»Können wir nicht Tante Amelie fragen, ob sie irgendeine Heilpflanze kennt, die helfen kann? Dann würde ich vielleicht nicht mehr von Drachen, kleinen Menschen und komischen Gestalten träumen?« Siri sah ihre Mutter hoffnungsvoll an.
Serina faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite. Sie betrachtete Siri eingehend und lächelte sie schließlich liebevoll an. »Siri, du bist einfach anders. Vielleicht ist es wichtig, dass du davon träumst. Außerdem weißt du doch, dass viele Heilkräuter verboten sind, weil man den meisten eine schädigende Wirkung nachweisen kann. Gerade heute war wieder ein Bericht »im Hexer heute«. Drei Kinder haben auf einer Wiese gespielt, eine Pflanze gepflückt und sind daraufhin mit Ausschlägen in die Klinik gekommen. Es wird immer wieder davor gewarnt, Pflanzen zu sammeln oder sie als Heilpflanzen einzusetzen.«
Siri setzte sich empört auf. »Tante Amelie sagt, dass das oft erfunden oder übertrieben ist. Man kann sehr wohl mit den Heilpflanzen Krankheiten erfolgreich behandeln, man muss sich nur gut auskennen.«
Serina stand auf und stellte die Kaffeetasse in die Spüle. »Das stimmt sicherlich, doch kennt sich heute kaum noch jemand damit aus und da Tante Amelie nicht da ist, werden wir wohl eine andere Lösung finden müssen.« Sie griff nach dem Schlüsselbund auf der Küchentheke.
»Wo ist Tante Amelie?« Siri nahm einen Schluck warme Milch.
»Amelie wurde von Mutter Natur ins Siebengebirge gerufen. Sie brauchte dort eine Helferin, die sie unterstützt und sich um die Angelegenheiten der Pflanzenwelt kümmert. Es war eine große Ehre für Amelie.«
Siri dachte an Amelie, die ältere Schwester ihres Vaters:
Sie liebte die kleine, immer gut gelaunte, herzliche Tante, die wie sie eine braune Lockenmähne besaß. Während Siri versuchte die langen, krausen Haare mit Haarklammern zu bändigen - was nicht immer gelang - trug Amelie die Haare kurz. Siri hatte eine besondere Beziehung zu ihr. Sie war schließlich die Einzige, die bei Siris Anblick, direkt nach der Geburt, nicht in Schrecken ausgebrochen war. Leise murmelte sie freudig einige Formeln und beglückwünschte die Eltern zu einem Kind, das mit einem drachenförmigen, dunklen Muttermal auf dem rechten Unterarm auf die Welt kam. Damals hatte sich schon angedeutet, dass Siri anders war, denn alle anderen Hexen und Hexer wurden makellos geboren.
Die anderen der Hexengemeinschaft sahen keinen Grund, die Familie zu beglückwünschen, denn Siri schien mit ihrem absonderlichen Mal aus der Art geschlagen zu sein. Amelies Glückwunsch war in ihren Augen eine Provokation und passte zu Amelies aufsässiger Art. Denn die geliebte Tante beschäftigte sich entgegen den Wünschen des Vorsitzenden Ceryll Stroke mit den niederen Naturwesenvölkern, wie den Wichteln und Trollen. Außerdem hatte sie sich auch noch dem Heilwissen über die Pflanzen verschrieben. Das war eine Missachtung der Beschlüsse und erregte immer wieder die Gemüter.
Aber genau das liebte Siri an Amelie: ihre Unangepasstheit. Amelie schätzte wie Siri die Natur mit den Pflanzenschönheiten und Heilkräutern und ließ sich nicht davon abbringen. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass Mutter Natur, die Hüterin des Lebens und Bewahrerin des Pflanzenwissens, sie zu sich bat.
Serina holte Siri aus den Gedanken: »Sie wird uns bestimmt bald wieder besuchen, dann kannst du sie danach fragen«. Gekonnt warf Serina den langen, goldenen Magierumhang um, der sie als Meisterin ihres Faches auswies.
Siri betrachtete ihre Mutter stolz, der goldene Umhang umspielte die schmale, große Figur elegant. Mit den dunklen Kleidern und dem passenden goldenen Dutt schien sie überirdisch schön und mächtig zu sein. Die kleinen Lachfalten um die leuchtend blauen Augen unterstrichen das freundliche Strahlen. Nicht viele Junghexen hatten eine Mutter, die einen goldenen Umhang tragen durfte und darin so großartig aussah.
»Mama, wann bekomme ich eigentlich meinen ersten Umhang?«
»Das kann ganz schnell passieren. Manche von Euch bekommen ihren ersten Umhang schon nach der ersten durchtanzten Walpurgisnacht, wenn sie sich durch hexerisches Können bei den Wettkämpfen ausgezeichnet haben.«
»Das ist aber doch erst in einem Jahr.« Siri schüttelte unwillig ihre Lockenmähne.
»Stimmt, aber andere müssen bis zum Ende der Ausbildung warten. Stell dir vor, du würdest nächstes Jahr deinen Umhang bekommen, welche Umhangfarbe würdest du dir aussuchen?«
»Schwarz mit goldenen Borten«, entgegnete Siri bestimmt.
Serina zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe. »Siri, das haben doch nur Magier und die Goldborten stehen sogar für die Großmagier.«
»Ja, aber das gefällt mir am besten«, erwiderte Siri trotzig. Sie musste an Zara in ihrem Traum denken. Genauso einen Umhang hätte sie gerne. Er würde zeigen, dass sie mächtig und unbesiegbar wäre. Niemand würde sich mehr über sie lustig machen.
Serina schmunzelte. Sie konnte den Wunsch ihrer Tochter gut verstehen. »Dafür wirst du wohl noch eine Weile warten müssen. Du musst nach deiner Ausbildung noch ein weiteres magisches Fach studieren, so wie ich zum Beispiel das Unsichtbarkeitshexen. Und erst danach bekommst du von der Magiergilde mit deinem Diplom den schwarzen Umhang feierlich verliehen. Und die Goldborten gibt's nur, wenn du als Magier etwas Besonderes geleistet hast.«
»Was hast du damals gemacht, um die goldenen Borten zu bekommen?«
»Ich habe einen Unsichtbarkeitszauber entwickelt, der den Menschen völlig verschwinden lässt. Bei den alten Zaubern kann man, wenn man geübt ist, noch verschwimmende Konturen der Gestalt sehen. Mein Zauber ist so anders, dass es dagegen noch keinen Gegenzauber gibt.«
»Deshalb gewinnst du auch jedes Jahr die Meisterschaft in der Walpurgisnacht und bekommst den goldenen Mantel der Meistermagier«, stellte Siri stolz fest.
Serina nickte. »Bis mich jemand schlägt und einen besseren Zauber findet.«
»Das wird nie passieren! Du hast ihn doch schon viele Jahre. Und falls jemand einen Gegenzauber findet, entwickelst du einfach einen besseren Unsichtbarkeitszauber.«
Serina strich Siri zärtlich über das Haar. Sie war ihrer Schwägerin so ähnlich. Sie hoffte für ihre Tochter, dass sie eines Tages ihre wahre Begabung finden würde.
»Fast hätte ich es vergessen. Da Amelie von Mutter Natur ein neues Häuschen zur Verfügung gestellt bekommen hat, hat sie uns ihres überlassen!«
Siri stutzte: »Echt, das tolles Haus im Wichtelweg?«
Serina nickte.
»Genial!«, Siri tanzte durch die Küche, sodass die Lockenmähne wild durch die Gegend hüpfte. »Dann wohne ich endlich näher bei Sophie und habe einen eigenen Garten!«
Während Serina im Flur die Tasche von der Garderobe nahm, packte Siri die Schulsachen und warf ihrer Mutter einen Handkuss zu. »Tschüss, Mama und viel Erfolg beim Vortrag«. Laut singend verließ sie die Wohnung. Sobald sie die Straße erreicht hatte, rannte sie los. Sie wollte ihrer besten Freundin Sophie so schnell wie möglich die gute Nachricht überbringen und sie nach Siramir befragen.
Siramir? Was sich wohl hinter diesem Namen verbarg?
Die ersten Strahlen der Morgensonne brachen sich an den goldenen Resten eines Drachengemäldes. Es hatte ursprünglich die ganze Fassade des Gasthofes »Zum Goldenen Drachen« geziert. Vor einigen Jahrzehnten war dieses Gebäude das Zentrum der Hexenwelt gewesen. Alle wichtigen Entscheidungen waren vom Hexen- und Elfenrat im Dachgeschoss des alten Hauses getroffen worden.
Ceryll Stroke der Vorsitzende des Hexen- und Elfenrates, hatte jedoch nach seiner Ernennung vor 15 Jahren, den Dachstuhl kurzerhand zum Klassenzimmer umfunktioniert. Das Zentrum der Hexenmacht verlegte er auf seine Burg ins Hexental. Dort fanden jetzt die Treffen und Entscheidungen statt. Er begründete den Umzug mit dem baufälligen Zustand des Gebäudes. Einige glaubten jedoch, dass Ceryll auf seiner Burg mehr Möglichkeiten besaß, den Rat zu beeinflussen.
Siri rannte die roten Sandsteinstufen nach oben. Schwungvoll drückte sie die hölzerne, mit Ornamenten versehene Flügeltür auf. Niemand war zu sehen, alles war still. Die Gänge waren wie leer gefegt. Der vertraute Geruch nach altem Holz und gebohnerten Böden ließ sie wohlig erschaudern, sodass sie für einen Moment genussvoll die Augen schloss. Um diese seltene friedliche Stimmung ganz in sich aufzunehmen, schritt sie bedächtig den Flur entlang. Die Dielen knarrten unter ihren Schritten. Sie liebte dieses alte Gebäude mit seinen eigenen Gerüchen und Geräuschen.
Sie war keine drei Schritte gegangen, als jemand sie auf die Schulter tippte. Erschrocken riss sie die Augen auf und erblickte Aragon, einen hübschen, hellblonden Halbelfen, der in der Schule als Hausmeister angestellt war. »Junge Dame, ich würde mich beeilen, alle sitzen schon im Versammlungsraum. Die Ministerin hat Neuigkeiten vom Elfen- und Hexenrat zu verkünden.« Er lächelte Siri verschmitzt an.
Siris Wangen verfärbten sich purpurfarben. »Dann muss ich mich wohl beeilen!«, erwiderte sie irritiert, wandte sich um und rannte den Flur hinab. Sie öffnete die Tür zum großen Speisesaal. Die Bänke und Tische des ehemaligen Gastraums waren bis auf die Holzbänke an den Wänden vor Jahren entfernt worden, um den Raum als Versammlungs- und Übungsraum für Hexentanz nutzen zu können.
Heute hatten sich die Schüler und Schülerinnen aller sieben Hexenklassen hier versammelt. Aufgeregtes Gemurmel der 105 zukünftigen Hexen und Hexer erfüllte den Raum. Die frühe Morgensonne drang durch die fast blinden Fenster und ließ die Schüler in diffusem Licht erstrahlen. Siri kniff geblendet die Augen zusammen. Sie sah sich suchend um. Marlin, Tabert und Robert, drei Jungs aus ihrer Klasse, lümmelten sich auf den alten Holzbänken herum und lehnten sich schließlich mit verschränkten Armen erwartungsvoll an die mit dunklem Holz vertäfelten Wände. Mareisa und Illi, die hinter Siri im Klassenzimmer saßen, knieten diskutierend vor dem großen, hellen Kachelofen, der den riesigen Saal beherrschte. Sophie war nicht zu sehen. Enttäuscht setze sie sich zu den zwei Mädchen auf den Holzboden. »Warum ist Prümmel da?«, fragte Siri neugierig. Doch Illi zuckte nur mit den Schultern und deutete auf das neu errichtete Podium.
Die Schulleiterin Kira Astard und ihre Stellvertreterin, die Hexe Esmeralda Krittel, standen neben der Ministerin Penelope Prümmel im Zentrum des Raumes auf einer kleinen Bühne.
Die Direktorin Kira Astard, eine Großmagierin, war eine ältere, weißhaarige Frau, die alle überragte. Das schwarze Hexengewand und der schwarzgoldene Umhang verliehen ihr ein würdevolles Aussehen und besondere Präsenz. Sie klatschte in die Hände und ein lautes Klingeln ließ alle Schüler verstummen. »Herzlich willkommen«, begann sie freundlich. Mit besorgter Stimme fuhr sie fort: »Heute haben wir hohen Besuch aus dem Ministerium. Ministerin Penelope Prümmel wird uns die neuesten Beschlüsse des Hexen- und Elfenrates mitteilen. Ich bitte euch, euch an die Beschlüsse zu halten, da ich sonst gezwungen sein werde, Strafen auszusprechen.« Sie blickte mitfühlend in die irritierten Gesichter der Schüler.
Prümmel trat vor. Sie trug einen langen, schwarzen Mantel mit Goldstreifen. Jeder wusste, dass sie keine Magierin war, und schon gar keine Großmagierin. Doch niemand forderte sie auf, den Umhang abzulegen. Im Gegenteil: Man machte sich heimlich lustig über sie, weil sie es nötig hatte, sich den schwarzen Mantel und die Goldstreifen, selbst anzuhexen.
Beifall heischend ließ Prümmel aus dem Nichts eine Papierrolle erscheinen. Sie entrollte das Dokument feierlich, sodass alle das Siegel des Rates und die Unterschrift des Vorsitzenden darauf sehen konnten. Langsam und laut las sie:
»Im Hexen- und Elfenrat wurde Folgendes beschlossen: Nachdem die meisten elektronischen Geräte schon entfernt wurden, werden ab sofort auch alle Handys verboten sein. Hexer, Hexen und Elfen sollten sich mehr auf die eigenen Fähigkeiten verlassen als auf die Errungenschaften der Normalos.«
Ein Raunen ging durch den Saal. Proteste waren vereinzelt zu hören. »Warum das denn?«, fragte Raul, der Schülersprecher, »das schadet doch keinem«.
»Der Hexenrat ist der Meinung, dass ihr euch vor allem auf eure eigenen hexerischen Fähigkeiten verlassen solltet. Mit dem Gebrauch von Handys wird die Übung im Hexen vernachlässigt«, erwiderte Prümmel bestimmt.
»So ein Blödsinn«, hörte Siri von hinten flüstern. »Ceryll will nur, dass wir unsere Zauberenergien verbrauchen. So können wir ihm nicht gefährlich werden.«
»Sei still«, raunte ihm sein Nachbar zu, »du weißt doch, dass es gefährlich sein kann, sich gegen Ceryll zu stellen. Es verschwinden immer wieder Hexen und Magier spurlos.«
Unmut machte sich breit. Die zukünftigen Hexen und Hexer hatten ihre ersten vier Jahre an normalen Grundschulen verbracht. Jeder der Normalos, so nannte man Nichthexer, hatte ein Handy. Deshalb sahen keinen Grund, nicht auch eines zu besitzen.
»Keine Widerrede«, schrie Prümmel in das laute Gemurmel: »Beschluss ist Beschluss, ich bitte darum, mir jetzt die Handys auszuhändigen.« Unter Protest kam einer nach dem anderen vor und überreichte das Handy. Siri war das Einerlei, sie besaß keines und brauchte auch keines. Sie hatte andere Probleme.
»Zusätzlich dazu,...«, begann Prümmel und zauberte eine weitere Rolle herbei. »Gilt ab heute folgender Beschluss,..« Sie wollte gerade das Papier aufrollen, als sich einer der goldenen Streifen an ihrem Mantel kräuselte. Er begann sich wie eine Schlange zu winden und löste sich mit einem leisen »Plopp« in kleine goldene Sterne auf. Gebannt starrten die Schüler auf Prümmel. Leises Gekicher drang aus den ersten Reihen.
»Ruhe jetzt!«, rief Prümmel ungehalten und starrte fassungslos auf den verschwundenen Goldstreifen. Auch der zweite verpuffte tanzend zu leuchtenden Sternen. Entsetzt ließ sie alles fallen. Krampfhaft versuchte sie, den schwarzen Umhang festzuhalten. Der Mantel verflüssigte sich jedoch unter ihren Händen. Wie Pech floss er an ihren Schultern herab und verschwand in einer dichten, schwarzen Rauchwolke. Als der Rauch sich lichtete, stand Prümmel in einem einfachen, blauen Gewand ohne Mantel und Goldstreifen vor den Schülern. Bestürzt jaulte sie auf. Jeder konnte erkennen, dass sie keine Magierin war. Verzweifelt schrie sie Zaubersprüche in den Raum. Doch statt neuer Kleidung brachte sie nur Sterne hervor, die sich sofort wieder in Luft auflösten.
Während die Ministerin fluchend immer neue Sprüche von sich gab, hob Krittel, die auf den Boden gefallenen Rollen auf. Krittel, die stellvertretende Schulleiterin, war eine ältere, unverheiratete Hexe mit typischer Hexennase und grimmigem Gesicht. Sie war etwas kleingeraten und versuchte das durch einen sehr langen, hellvioletten Umhang, wieder wettzumachen. Niemand wusste, wie sie an den Posten gekommen war, denn sie zeichnete sich weder durch hexerisches Können noch durch engagierte Tätigkeiten aus.
Krittel stellte sich vor die kichernde Schülerschaft. »Still jetzt«, befahl sie so harsch, dass selbst Prümmel verstummte. Krittel öffnete die Papierrolle. »Im Hexen- und Elfenrat wurde beschlossen, dass die Bibliothek im Keller neues Büchermaterial, vor allem über das Besenreiten und die verschiedenen Arten des Hexentanzes, erhalten wird.« Sie grinste freudig. Die Schüler stöhnten, niemand mochte Hexentanz, vor allem dann nicht, wenn Krittel das Fach unterrichtete.
»Dafür wird Platz benötigt und der unnötige Heilkräuterbereich wird entfernt.«
Kira Astard, die Direktorin, konnte sich ein wütendes: »Nein, nicht auch noch die letzten alten Heilpflanzenbücher«, nicht verkneifen. Fassungslos trat sie zu Krittel und blickte auf den Beschluss. Ungehalten wandte sie sich an die verstummte Prümmel: »Ist das wirklich nötig? Wir schaffen schon genügend Platz für die neuen Bücher, dann können die alten, wertvollen Bücher bleiben. Das sind Unikate und teilweise schon 600 Jahre alt«
Prümmel hatte die Fassung wieder gewonnen und antwortete unwirsch: »Das glaube ich nicht, Kira. Der Beschluss steht fest und du wirst dich doch wohl nicht darüber hinwegsetzen?« Kampfeslustig starrte sie die Direktorin an.
Kaum jemand verstand, warum die Direktorin sich über diesen Beschluss so erregte. Die alten Bücher standen verstaubt in den Regalen, da es das Fach Heilkräuterkunde schon seit Jahren nicht mehr gab. Ceryll hatte es abgeschafft. Nur Siri würde den Pflanzenbüchern nachtrauern, denn sie liebte Pflanzen und alles, was damit zu tun hatte. Nun würde sie überhaupt keinen Grund mehr haben, in Bibliothek zu gehen, die sich in den tiefen, steinernen Kellergewölben des Gasthauses befand.
»Das war's für heute, der Unterricht beginnt in fünf Minuten«, ergriff Krittel das Wort, wies auf die Tür und blickte Kira Astard warnend an. Die sich drohend vor Prümmel aufgebaut hatte. Die Versammlung löste sich auf. Die Schülerinnen und Schüler drängten sich, empört diskutierend oder leise kichernd, in die Gänge.
Als Siri den Raum verließ, hörte sie einen Erstklässler hinter sich fragen: »Was ist denn da passiert? Warum hatte die Ministerin plötzlich ein blaues Gewand an?« Ein Schüler aus der Siebten flüsterte ihm leise zu: »Die Ministerin benötigte zu viel magische Energie, um den falschen Kleiderzauber aufrechtzuerhalten. Als sie die zwei Beschlüsse hergehext hat, waren ihre Energiereserven verbraucht.« Die Antwort des Erstklässlers konnte Siri nicht mehr verstehen. Sie war schon aus der Tür geschoben worden.
Die Zimmer der ersten und zweiten Klasse befanden sich im Erdgeschoss, direkt neben dem Gastraum. Sie waren mit Tischen, Stühlen und einem Lehrerpult bestückt, nicht sonderlich groß, aber hell. Betrat man das Klassenzimmer der zweiten Klasse, fiel der Blick sofort auf die holzvertäfelten, mit dunklen Drachenornamenten verzierten Wände. Diese galten als Besonderheit, denn wenn im Frühjahr die Sonne ihre Strahlen auf die ins Holz geschnitzten Drachen warf, entstand der Eindruck als bewegten sich die Figuren. Natürlich erklärten die Lehrer dieses Phänomen als optische Täuschung. Siri aber glaubte, auch an anderen Tagen zu sehen wie die Drachen die Mäuler aufrissen und mit den Flügeln schlugen. Es schien, als wollten sie sich in die Luft erheben, aber im Holz gefangen wären.
Ab und zu wanderte Siris Blick auch zu Froschi, dem Klassenfrosch, dessen Quaken den Beginn und das Ende der Unterrichtsstunden bestimmte. Er saß am Fenster in einem großen Einmachglas und sagte zusätzlich zu seiner Aufgabe als Stundenklingel zielsicher das Wetter voraus, indem er seine Leiter auf und ab kletterte. Spuckte er etwas Schleim an das Glas, wusste jeder, dass es bald regnete.
Vom Gang aus erreichte man über eine breite, gewundene Holztreppe das Obergeschoss. Hier befanden sich ursprünglich vier große Gästezimmer, die nun die Klassen der Stufen drei bis sechs als Klassenzimmer nutzten.
Der gesamte Dachboden, das ehemalige Zentrum der Hexenwelt, war der siebten Klasse vorbehalten. Niemand durfte sich dort sonst aufhalten. Immer wieder gab es Gemunkel über schreckliche Monster und schaurige Geister, die ihr Unwesen treiben sollten. Ob es sich dabei nur um Gerüchte handelte, oder ob tatsächlich Unheimliches oben vorging, wussten nur die Siebtklässler. Diese verpflichteten sich, sobald sie die siebte Stufe erreicht hatten, den Eid der Verschwiegenheit zu schwören. Erst dann erhielten sie den Geheimcode, der ihnen Zutritt zum Stockwerk gewährte. Sollten sie diesen preisgeben oder die Geheimnisse verraten, drohte ihnen der sofortige Ausschluss aus der Hexenwelt.
Nicht alle Kinder durften diese Schule besuchen. Nur jene waren willkommen, von denen man annehmen konnte, dass aus ihnen Hexen oder Hexer werden würden. Spätestens mit zwölf Jahren musste sich die hexerische Veranlagung gezeigt haben, ansonsten hatten die Kinder die Hexenschule zu verlassen. Dieser Peinlichkeit folgte ein Ausschluss der Familie aus dem Hexenzirkel, der den Hexen und Hexer viele Vergünstigungen und Aufstiegschancen in der Hexenwelt ermöglichte.
Viele Kinder freuten sich darauf, endlich an der Hexenschule ausgebildet zu werden.
Siri nicht. Sie mochte zwar die Atmosphäre des alten Gebäudes, das Klassenzimmer mit den Drachen und den Blick aus dem Fenster auf die alte, riesige Trauerweide, doch dem Unterricht konnte sie nichts abgewinnen.
Sie hasste vor allem ihren Mitschüler Robert. Robert Reed, Sohn einer alten Hexenfamilie, die seit Jahrzehnten dem Hexenrat angehörten. Er ließ keine Möglichkeit aus, Siri lächerlich zu machen. Doch nicht nur Robert bereitete Siri Sorgen. Immer häufiger hatte Siri das Gefühl, dass auch Krittel ihr vor Augen führen wollte, wie unbegabt sie war und dass sie hier an der Schule nichts verloren hatte.
Ganz deutlich war das im Winter zu erkennen. Das alte Gasthaus besaß nur den Kachelofen als Wärmequelle und dieser blieb bewusst kalt. Ältere Hexen benötigten keine Heizung, denn sie kannten den Wärmezauber, aber kleine Hexen konnten diesen noch nicht. Ab November schlotterten deshalb die Erstklässler auf ihren kalten Holzbänken.
Krittel sah darin eine Erziehungsmaßnahme und öffnete nachts die Fenster. Denn je kälter es wurde, desto eifriger lernten die kleinen Hexen und Hexer die Wärmezaubersprüche.
Siri war schon im zweiten Jahr und fror immer noch. Sie konnte sich diese blöden Hexensprüche einfach nicht merken. Sie waren zu lang und unaussprechlich. Manche bestanden nur aus lateinischen Worten, andere setzten sich aus unverständlichen Silben zusammen, die mit Elfenworten kombiniert wurden. Es gab keine logischen Zusammenhänge und das bereitete Siri unglaubliche Schwierigkeiten, sie auswendig zu lernen. Immer wieder brachte sie die Begriffe und Silben durcheinander.
Sie war nicht die Einzige. Ihre Banknachbarin und beste Freundin Sophie de Silva fror auch immer noch. Sophie hasste diese vermaledeiten Zaubersprüche ebenso wie Siri und wünschte sich von Herzen einen Ofen oder eine Heizung.
Die anderen Schüler der zweiten Hexenklasse freuten sich diebisch, wenn sie sahen, wie die zwei dick eingepackt in warme Winterkleidung auf den Stühlen schlotterten.
Nur Sam schaute ab und zu mitleidig herüber. Aber wer interessierte sich schon für Sam Seymour? Er war ein Junge aus gutem Hause, hieß es, aber so sah er beileibe nicht aus, fand Siri. Immer etwas schlampig hingen die viel zu großen Kleider an seinen langen, dürren Gliedern. Man munkelte, sein Vater sei ein angesehener Meistermagier gewesen, der seine Familie wegen einer anderen Magierin verlassen habe.
Sam war ein Einzelgänger, er war still und sprach selten mit jemandem. Niemand wollte neben ihm sitzen, ausgenommen bei den Arbeiten. Dann war der Platz vor, neben und hinter Sam heiß begehrt. Denn so unbeliebt er war, er wusste fast immer die richtigen Antworten, Zaubersprüche oder Kartenlegetaktiken. Für ein paar Stunden wurde er zum begehrtesten Klassenmitglied, das nach den Arbeiten wieder schnell in Vergessenheit geriet.
Als Siri die Klassenzimmertür öffnete, hatte sie immer noch die Hoffnung, Sophie vielleicht übersehen zu haben, doch der Platz neben ihrem war leer. Nun musste sie den Unterricht allein ertragen.
Siri blickte zu den Drachen in den Wänden. Doch heute starrten sie die Drachen nur starr an und rissen die Mäuler auf. Siri war verunsichert, sie glaubte, ihre Stimmen zu hören. Sie riefen: »Finde Siramir, finde Siramir!«, Sie schüttelte unwillig ihren Kopf. Bestimmt bilde ich mir das alles nur ein, dachte sie. Irritiert und enttäuscht ließ sie sich auf den Stuhl fallen.
Als sie die Schulhefte unter der Bank hervorholte, flatterte ihr eine Karte in den Schoß. Darauf befand sich eine Nachricht und es klebte ein seltsames, kleines Steinstück darauf.
Hallo Siri,
sollte Robert versuchen Dich anzugreifen, halte ihm das Ziegelstück entgegen.
Sie nahm das fünf Zentimeter große Steinstück in die Hand und betrachtete es genauer. Der obere Teil war oval abgerundet und lief zum unteren Ende spitz zu. Komischer Ziegelstein, er ist überhaupt nicht kalt, sondern angenehm warm, dachte Siri, als Robert hinterlistig grinsend an ihren Tisch trat. Seine dunklen Augen funkelten vor Vorfreude.
»Oh, nein!«, entfuhr es Siri. Anscheinend hatte er wieder etwas Neues gelernt, dass sie ausbaden musste.
»Hallo Siri, auch schon da? Ich wollte, dass du das hier siehst!« Er holte seine rechte Hand hervor, die er hinter seinem Rücken versteckt hatte. Eine rötliche Flüssigkeit hatte die Form einer Kugel angenommen.
»Wusstest du schon, dass ich Flüssigkeiten kontrollieren kann?« Er lachte boshaft, holte aus und schleuderte den Flüssigkeitsball in Siris Richtung.
Reaktionsschnell hielt sie das braune Steinstück hoch. Der rote Tintenstrahl prallte an der Oberfläche ab, wurde auf Robert zurückgelenkt und traf ihn mitten ins Gesicht. Einem lauten »Platsch« folgte ein überraschter Aufschrei. Alle zuckten erschrocken zusammen. Die zähe, rote Flüssigkeit tropfte aus Roberts dunklen Haaren in seinen Kragen und lief ihm in kleinen Rinnsalen über das Gesicht. Entsetzt starrte er das Steinstück und dann Siri an, die wie die ganze Klasse vor Lachen losbrüllte. Es kam nicht oft vor, dass Robert der Leidtragende war.
Wutschnaubend ging er auf sie los: »Was soll das? Gib das her!« Als er es ihr aus der Hand reißen wollte, trat Sam dazu.
»Hallo Robert, schönes Stück, das Siri da hat, nicht?«
Robert betrachtete Sam argwöhnisch. »Das geht dich nichts an!«, brüllte er ihn an.
»Ich glaube doch, denn das Stück gehört mir. Wenn du es haben willst, dann lass uns ein kleines Wetthexen veranstalten.«
Robert sah ihn finster an: »Ich bin doch nicht blöd, jeder weiß, dass du nicht zu schlagen bist.«
»Dann machen wir es anders. Ich lasse das Stück ohne Zauberkraft verschwinden und du versuchst es, wieder herzuzaubern. Gewinne ich, darf Siri das Stück behalten, gewinnst du, kannst du es mitnehmen!«
Robert grinste und die rote Farbe verteilte sich weiter im ganzen Gesicht. Gebannt betrachtete die Klasse die Szene.
Sam bat Robert an seinen Tisch. Er kramte in seinem Rucksack und zog ein Glas, ein weißes Papier und ein Tuch heraus. Er drückte das leere Glas im Herausziehen flink umgekehrt auf das weiße Papier und stellte beides auf den Tisch. Das braune Tuch legte er daneben. „Du siehst, ich habe hier ein leeres Trinkglas«, wandte er sich an Robert.
»Also blöd bin ich nicht!«, entgegnete dieser bissig.
»Ich lege jetzt das Steinstück ebenfalls auf das Papier«, kommentierte Sam seine Handlungen, »Nun decke ich ein Tuch über das Glas und stelle es über den Dachziegel. Wenn ich das Tuch jetzt entferne, wird der Ziegel verschwunden sein.« Sam zog das Tuch beiseite und das Glas war leer.
»Du kannst mir viel erzählen. Ob du gezaubert hast, wird sich gleich herausstellen«, grollte Robert und hob seine Hände: »Magicae retro«, rief er, doch nichts geschah. Das Steinstück blieb verschwunden.
»Also gut, dann werde ich es anders wieder her hexen!« Selbstsicher begann er, verschiedenste Sprüche auszuprobieren. Aber keiner ließ den Ziegel wieder erscheinen. Schweißperlen traten auf seine Stirn, während er immer wilder seine Arme in die Luft hielt und die ihm einfallenden Zauberformeln auf das leere Glas schrie. Als Krittel, eintrat, gab er entnervt auf.
»Jetzt du, bring ihn zurück!«, forderte er seinen Gegner wütend auf.
Sam legte das braune Tuch erneut über das Glas und hob es beiseite. Der Ziegelstein erschien zur Verwunderung aller.
»Du hast bestimmt einen verbotenen Spruch geflüstert, du Betrüger«, rief er.
Krittel trat zu den beiden. »Was hat Sam benutzt?« Sie sah beide streng an.
»Er hat einen geheimen Spruch benutzt, um den Ziegelstein verschwinden zu lassen«, behauptete Robert.
Sam schüttelte den Kopf: »Nein, ich habe überhaupt nicht gezaubert!«
»Das können wir schnell klären.« Krittel murmelte missmutig einen Zauberspruch in das Klassenzimmer. Im Raum erschienen rote nebelartige Schlieren, die sich um Robert und Krittel zeigten. Um Sam herum war nichts zu sehen.
»Hier zeigt sich klar, dass Sam die letzte Stunde keine Magie verwendet hat«, wandte sie sich Robert zu und musterte ihn mit hochgezogener Augenbraue. »Ich glaube, du solltest dich mal waschen«, war ihr einziger Kommentar zu den roten Schlieren in Roberts Gesicht.
Robert sah Siri an und schnaubte: »Das wird dir noch leidtun.«
Sobald Robert den Raum verlassen hatte, begann der Unterricht. Heute stand Hexentanz auf dem Programm.
Krittel begann im Befehlston: »Erhebt euch und kommt mit mir in den Gastraum.« Siri trottete gleichgültig hinter den anderen her.
Zum Leidwesen der Schüler liebte es Krittel, Hexentanz in allen Variationen zu unterrichten. Jedoch besaß sie keine großen hexerischen Fähigkeiten. Deshalb kam es immer wieder vor, dass das Herbeihexen des dafür notwendigen Feuers, missglückte. Manchmal brachte sie überhaupt keinen Funken zustande. Gelegentlich stand sie oder einer der Schüler in Flammen und musste mit einem Leintuch, das immer bereit lag, gelöscht werden.
Man hörte ein lautes, erwartungsvolles Glucksen, das von draußen kam. Das ließ vermuten, dass außen an den Fenstern des Gastraumes die Erstklässler das Ganze beobachteten und auf einen Misserfolg hofften.
Heute gelang Krittel, zur Überraschung aller, ein Feuer, das schnell lichterloh brannte, keine Wärme ausstrahlte und nicht gefährlich war. Allerdings schien es etwas glasig zu leuchten. Enttäuschtes Gemurmel hinter den Fenstern quittierte ihren Erfolg.
Immerhin besser als letztes Mal, dachte Siri. Als Krittel wieder einmal versagte und ich und Sophie einspringen mussten.
Da beide sich, nach Krittels Meinung, beim Tanzen zu ungeschickt angestellt hatten, sollten sie zur Strafe in der Mitte des Raumes Feuer spielen. Sie bekamen rote und gelbe Tücher übergestülpt und sollten flacker, flacker, flacker oder knister, knister, knister rufen, mit den Armen wedeln und im Kreis herum hüpfen. Krittel konnte nicht verhindern, dass sich am Ende alle Klassenkameraden lachend auf dem Boden wälzten und kein Unterricht mehr möglich war. Diesmal hatte sie eine andere Variante gewählt.
Krittel war selbst über das gelungene Feuer überrascht, sodass sie gut gelaunt befahl: »Stellt euch in Position, schließlich müsst ihr als Drittklässler nächstes Jahr zur Walpurgisnacht und dort euren Erstlingstanz aufführen. Also los: Rücken krumm, Arme heben, Beine quer, Nase vor, das ist doch alles nicht so schwer!«, begann sie krächzend zu singen und trabte allen voran.
Siri hatte keine Begabung für Hexentanz und wurde dauernd ermahnt. Warum kann ich nicht wie