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Wenn man in einem fremden Haus übernachtet, gibt es nach dem Aufwachen diesen kurzen Moment, etwa 10 Sekunden, in dem man nicht weiß, wo man ist oder aus welchem Grund. Man richtet sich auf und dann erst fällt es einem wieder ein; natürlich, man ist im Zimmer der besten Freundin. Auf dem Boden liegen noch die rosa Luftschlangen von der Geburtstagsparty gestern Abend und das Geburtstagskind liegt friedlich schlummernd neben einem, den Abdruck des Kopfkissens im Gesicht. Man muss über sich selbst leise lachen, kuschelt sich wieder in seine Decke, schließt die Augen und fühlt sich sicher und geborgen. Aber jetzt stell dir vor, dir fällt nach diesen 10 Sekunden nicht ein, wo du bist. Auch nicht nach 20 Sekunden, oder nach 30. Stell dir vor du richtest dich auf, siehst dich um und erkennst nichts von deiner Umgebung wieder. Du versuchst dich zu erinnern, aber da ist nichts, an das du dich erinnern könntest. Kein Ort, keine Zeit, kein Name. Nicht einmal dein eigener.
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Seitenzahl: 528
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Für Mia und Noemi
Ihr seid die Besten
Buch Eins: Vergessen
Kapitel 1
Kapitel 2
Buch Zwei: Test
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Buch Drei: Ausbildung
Kapitel 1
Kapitel 2
Buch Vier: Terror
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Buch Fünf: Davor
Kapitel 1
Kapitel 2
Danach
Alles, was bleibt, ist die Erinnerung.
Ja, schön wär’s.
Wenn man in einem fremden Haus übernachtet, gibt es nach dem Aufwachen diesen kurzen Moment, etwa 10 Sekunden, in dem man nicht weiß, wo man ist oder aus welchem Grund. Man richtet sich auf und dann erst fällt es einem wieder ein; natürlich, man ist im Zimmer der besten Freundin. Auf dem Boden liegen noch die rosa Luftschlangen von der Geburtstagsparty gestern Abend und das Geburtstagskind liegt friedlich schlummernd neben einem, den Abdruck des Kopfkissens im Gesicht. Man muss über sich selbst leise lachen, kuschelt sich wieder in seine Decke, schließt die Augen und fühlt sich sicher und geborgen.
Aber jetzt stell dir vor, dir fällt nach diesen 10 Sekunden nicht ein, wo du bist. Auch nicht nach 20 Sekunden, oder nach 30. Stell dir vor du richtest dich auf, siehst dich um und erkennst nichts von deiner Umgebung wieder. Du versuchst dich zu erinnern, aber da ist nichts, an das du dich erinnern könntest. Kein Ort, keine Zeit, kein Name.
Nicht einmal dein eigener.
Wie hieß ich?
Was tat ich hier?
Und warum zum Teufel tat mein Kopf so weh?
Grelles, weißes Licht blendete mich durch meine geschlossenen Augen hindurch und ich hatte Angst vor dem, was ich sehen würde wenn ich blinzelte. Es war so viel angenehmer, einfach liegen zu bleiben, mit geschlossenen Augen, sodass das Licht nicht noch heller werden konnte.
Aber irgendwann wurde mir langweilig. Außerdem begannen meine Augen zu schmerzen. Als ich schließlich doch ganz vorsichtig blinzelte, war alles um mich herum weiß.
Ich stemmte meine Handflächen in den Untergrund und richtete mich auf. Das war anstrengender, als ich erwartet hatte und trieb mir sogar ein paar Schweißtropfen auf die Stirn.
Ich befand mich in einem kleinen Raum, seltsam leer und statt der Wände strahlten von der Decke helle, flache Lampen. Der Boden glänzte und alles wirkte sauber und steril und sogar die Luft roch nach Desinfektionsmittel. Irgendetwas piepste in regelmäßigem Abstand.
Ich sah an mir herunter. Ich saß auf einer schmalen weißen Liege, die kaum genug Platz für mich bot und nicht so aussah, als wäre sie tatsächlich fähig, mein Gewicht zu tragen. Ich war nackt bis auf eine sehr kurze Hose und ein schmales Band aus strukturlosem Plastik um meine Brust.
Etwas tropfte in meinen Nacken. Ich hob meine rechte Hand und zuckte zusammen, als ich einen Stich im Handgelenk verspürte. Überrascht sah ich auf meine Hand, um die ein dicker Verband gewickelt war. Vorsichtig berührte ich den weißen Stoff und zuckte erneut zusammen.
Ich musste aufstehen; irgendjemanden, irgendetwas finden, das mir sagen konnte, wo ich hier war. Ich wollte meine Beine von der Liege schwingen, doch sie fühlten sich bleischwer an und bewegten sich keinen Zentimeter. Da sah ich das Band, das über meinen Oberschenkeln lag.
Mein Herz begann wie wild zu klopfen und die Schweißperlen auf meiner Stirn wurden mehr. Ich versuchte normal weiterzuatmen, aber das war nicht möglich. Ein Brechreiz stieg meine Kehle hoch und mir wurde heiß. Die Welt begann sich zu drehen und ich kippte nach hinten und landete mit dem Rücken hart auf der Liege.
Eine Weile blieb ich einfach so liegen, kämpfte gegen den Brechreiz und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Irgendwann verschwand die Übelkeit und mein Gehirn konnte sich wieder mit etwas anderem beschäftigen:
Wer war ich?
Wo war ich?
Was war passiert und am wichtigsten: wie kam ich hier wieder weg?
Ich brauchte einen C-Scanner. Oder wenigstens irgendeine Person, die mir sagen konnte, wo ich war. Oder… auf einmal zuckte ein schrecklicher Gedanke durch meinen Kopf. Mein Handgelenk.
Ich fuhr hoch und riss meine Hand vor mein Gesicht. Der Schmerz kam, aber ich spürte ihn beinahe nicht. Fassungslos starrte ich auf den Verband, der exakt an der Stelle saß, an der sich meine Identity-Card hätte befinden sollen.
Ganz ruhig, kein Grund zur Panik. Vielleicht hatte ich mir einfach nur das Handgelenk verstaucht. Vielleicht war ich Linkshänderin.
Ich hob meine linke Hand und ein großer, kalter Klumpen bildete sich in meinem Magen, als ich über die glatte Haut fuhr ohne auch nur die winzigste Erhebung zu ertasten.
Ich war keine Linkshänderin. Ich war niemand.
Geschockt ließ ich mich zurück auf die Liege sinken. Was wenn… ich blinzelte, um meine Eyepads zu aktivieren. Nichts passierte. Ich blinzelte noch einmal, dann noch einmal und dann noch zweimal schnell hintereinander. Nichts. Keine Reaktion, nicht einmal das leiseste Flackern. Das Gleiche, als ich die Aktivität meiner Mikados prüfte.
Also doch Panik. Ich begann zu hyperventilieren und war kurz davor loszuschreien als sich die mir gegenüberliegende Wand zur Seite schob und eine junge Frau den Raum betrat.
Sie trug einen weißen Kittel und hatte ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In den Händen hielt sie ein Tablett mit Essen. Ihr Anblick beruhigte mich sofort.
Sie kam zu mir, stellte das Tablett auf meinen Beinen am und die Liege hob sich in die Senkrechte bis ich aufrecht saß.
»Wo... wo bin ich?«, fragte ich vorsichtig. Meine Stimme klang eingerostet, meine Lippen waren trocken und aufgesprungen und meine Kehle schmerzte bei jedem Wort. Sprechen fühlte sich seltsam an.
Die Frau ignorierte meine Frage, nahm mein rechtes Handgelenk und presste ihre Finger darauf. Stechende Schmerzen fuhren meinen Arm hinauf. Ich zuckte zusammen und wollte meinen Arm von ihr wegreißen, doch sie hatte keinerlei Probleme damit, ihn festzuhalten. Da erst merkte ich, wie entkräftet ich war.
Also ließ ich sie machen. Sie untersuchte gründlich mein Handgelenk, dann meinen Kopf und meine Beine. Das alles schweigend, während ich schwer und schlapp auf der Liege saß und mir einzureden versuchte, dass das hier nur ein schlechter Traum war und ich jede Sekunde wieder aufwachen würde.
Schließlich war sie fertig und schob mir das Tablett hin. Ich senkte den Blick: ein Glas Wasser, eine Schüssel Joghurt, ein Stück flaches Brot. War das alles?
Verwirrt sah ich die Frau an. Beziehungsweise, ich wollte sie ansehen, aber das einzige was ich erblickte, war die Wand, die sich gerade wieder an ihren Platz schob. Die Frau war weg.
Vielleicht war ich ja in einem Krankenhaus. Vielleicht musste ich eine Diät machen. Vielleicht war ich operiert worden. Damit wären auch die fehlenden IEM-Links zu erklären.
Vorsichtig, um mich nicht zu verletzen und auch weil ich keine Kraft mehr hatte, strich ich über meine Haut und spähte an meinem Körper hinunter. Nicht die Spur irgendwelcher Narben. Ich drückte auf meinem Bauch, meinen Seiten, meinen Oberschenkeln herum auf der Suche nach einer schmerzenden Stelle oder einem blauen Fleck, fuhr mit allen Fingern durch meine Haare und betastete mein Gesicht; nichts. Bis auf eine kleine Stelle oberhalb meiner Schläfe direkt am Haaransatz, die leicht schmerzte, als ich darauf drückte. Wenn das das einzige Überbleibsel eines Verkehrsunfalls sein sollte, dann hatte ich den Unfall gehabt als ich zu Fuß ein Matratzenlager überquert hatte.
Mein Magen knurrte heftig und ich wandte mich ergeben meiner kargen Mahlzeit zu. Wider Erwarten schmeckte sie nicht nur ganz gut, sondern sättigte mich auch vollständig. Nachdem ich die Joghurtschüssel mit dem letzten Stück Brot ausgewischt hatte, fühlte ich mich schon viel besser. So gut, dass ich beschloss noch einmal zu versuchen aufzustehen. Ich legte beide Hände an das Band um meine Beine und begann vorsichtig, mich herauszuwinden. Das war anstrengender, als ich erwartet hatte, mir wurde heiß und ich begann zu keuchen. An meinen Handflächen brach der Schweiß aus und ich rutschte immer wieder ab. Das Tablett fiel scheppernd zu Boden und die Joghurtschüssel zerbrach. Die Welt um mich herum begann sich zu drehen und zu verschwimmen. Die Wände schoben sich ineinander und in meinen Ohren begann es zu rauschen. Ich spürte einen schmerzhaften Stich im rechten Handgelenk und im nächsten Moment wurde mir schwarz vor Augen.
Eine ganze Weile lang ging das so. Ich wachte auf, mir wurde etwas zu Essen gebracht und ich schlief wieder ein. Ich kam bald dahinter, dass dem Wasser, das ich trank, Beruhigungsmittel beigesetzt sein mussten, aber jedes Mal wenn ich die Flüssigkeit verweigerte, blieb die junge Frau, die das Essen brachte, so lange neben mir stehen, bis ich das Glas leergetrunken hatte. Anfangs versuchte ich zu zählen, wie oft ich aufwachte und wieder einschlief, doch mein Zeitgefühl litt sehr an den Perioden, in denen ich bewusstlos war und nach dem fünften oder sechsten Mal gab ich es auf. Ich nahm nur noch die Unterschiede war, die sich zwischen meinen wachen Phasen einstellten. So waren meine Haare beispielsweise nicht wieder nass, ich trug ein langes weißes Hemd und auch um meine Taille lag nun ein Plastikband.
Eines Tages wurde ich von Geräuschen geweckt: Schritte, die Tür, die sich auf- und wieder zuschob und einmal das Rascheln von Stoff. Das war höchst ungewöhnlich – normalerweise war ich allein, wenn ich erwachte – und verunsicherte mich dermaßen, dass ich beschloss, die Augen erst dann zu öffnen, wenn die Geräusche verschwunden waren. So lag ich mit geschlossenen Augen da und hoffte, dass die Menschen um mich herum anfangen würden, miteinander zu reden. Doch nichts passierte.
Schließlich wurde es still. Das Geräusch der Wand, die zurückfuhr – ob auf oder zu konnte ich nicht sagen – war zu hören und dann nichts mehr.
Zögernd öffnete ich die Augen einen Spalt weit. Das grelle weiße Licht war verschwunden, ebenso wie die Bänder um meine Taille und Beine und die flachen Lampen strahlten jetzt in einem beruhigenden Orange. Ich war allein.
Vorsichtig setzte ich mich auf. Ich fühlte mich kräftig und zum ersten Mal auch ausgeruht. Bisher hatte ich immer den Eindruck gehabt, das ständige Schlafen mache mich eher noch schlapper. Jetzt aber war ich frisch und wach und hatte Lust, aufzustehen.
Ich drehte mich auf der Liege und setzte meine Beine auf den Boden. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihnen trauen konnte, deswegen streckte ich erst einmal den Arm aus um mein Handgelenk zu untersuchen. Ich bewegte mich langsam und bedächtig, da ich die ganze Zeit befürchtete, einer der üblichen Schwächeanfall könnte mich überkommen. Der Verband war verschwunden, aber als ich die Aktivität meiner IEM-Links überprüfte musste ich feststellen, dass ich noch immer nicht verlinkt war. Na schön.
Ich streckte meine Beine aus, beugte sie und streckte sie erneut. Ein angenehmes Prickeln durchlief sie.
Vorsichtig ließ ich mich von der Liege rutschen, wobei ich mich die ganze Zeit an dem Untergrund festklammerte, weil ich meinen Beinen nicht traute. Meine Befürchtungen erwiesen sich als unnötig, meine Beine trugen mich ganz hervorragend, auch als ich ein paar zögerliche Schritte machte.
Nachdem ich die Sicherheit meiner Körperfunktionen zur Genüge getestet hatte, sah ich mich neugierig in dem kleinen Raum um. Die Wand war zu und die einzige Neuerung war die Kleiderstange in der Ecke, an welcher drei Garnituren Kleidung hingen.
Ich lief hinüber und untersuchte die Kleider. Es war dreimal das gleiche Outfit: Unterwäsche, ein Top, ein für meinen Geschmack viel zu knapper Rock, ein Jäckchen das mir nur bis zu den Rippen ging und Schuhe mit Absätzen, die mindestens fünf Zentimeter zu hoch waren. Das Einzige, in was sich die Klamotten unterschieden, waren ihre Farben: Weiß, rosa und türkis.
Ich wählte rosa – meine Lieblingsfarbe? – zog mich um und setzte mich dann wieder auf meine Liege, die mir auf einmal irgendwie sicherer vorkam, als während er ganzen Zeit in der ich auf ihr festgeschnallt gewesen war.
Ich fühlte mich äußerst unwohl. Das Top war viel zu tief ausgeschnitten, der Rock reichte mir nur bis knapp unter den Po und außerdem fror ich. Da ich aber auch keine Lust hatte, in dem leeren Raum auf und ab zu laufen, schlang ich meine Arme um meinen Oberkörper und wartete.
Ich musste nicht lange warten. Bereits nach einer knappen Minute öffnete sich die Wand und eine Frau trat herein, die ich noch nie gesehen hatte. Sie war fast einen Kopf größer als ich, trotz der halsbrecherischen Absätze meiner Schuhe, hatte schwarze Haare und dunkel geschminkte Augen die einen starken Kontrast zu ihrem weißen Kittel bildeten. Sie musterte mich prüfend, dann nickte sie und gab mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich ihr folgen sollte.
Warum sprach hier niemand mit mir? Waren die etwa alle stumm? Warum zur Hölle konnte sie nicht wenigstens »Hallo« oder so etwas ähnliches sagen?
»Wo bin ich hier?«, fragte ich, während ich der Frau stolpernd den Gang hinunter folgte, der sich hinter meinem Zimmer befand. »Wohin gehen wir?« Sie lief viel zu schnell für meine Schuhe und ich hatte Mühe das Gleichgewicht zu halten.
Die Frau murmelte etwas.
»Wie bitte?«, fragte ich verzweifelt. Der Absatz eines meiner Schuhe war in einer Ritze im Boden stecken geblieben, und ihn wieder herauszuziehen, beanspruchte meine volle Konzentration.
»Nach unten«, wiederholte die Frau.
Nach unten. Das war doch immerhin etwas. »Und wo bin ich hier?«, fragte ich wieder. Doch diesmal bekam ich keine Antwort.
Die Frau bog in einen Gang ein; zumindest dachte ich, dass es ein Gang sei, und als die Frau urplötzlich stehen blieb, krachte ich mit voller Wucht in sie hinein.
»He!«, sagte ich und taumelte. Die Frau packte meinen Arm, um zu verhindern, dass ich umfiel, und stellte mich wieder auf die Beine.
Die Wand vor uns war nicht komplett weiß. Etwa auf Höhe meines Bauchnabels leuchtete ein blassgelbes, flimmerndes Rechteck. Die Frau strich mit den Fingerspitzen sanft über die Fläche und beinahe sofort fuhr die Wand zur Seite und ein Aufzug kam zum Vorschein.
Die Frau nickte mir zu. Zögernd betrat ich die Kabine. Sie selbst war supermodern mit Wänden aus Glas, an denen man den Schacht vorbeirasen sehen konnte und leuchtenden Kreisausschnitten im Boden und in der Decke. Aber trotzdem – an der Wand waren kleine Quadrate zu sehen, genauso gelblich schimmernd wie das Rechteck draußen, noch dazu beschriftet. Dass ich nicht verlinkt war, hatte ich ja noch akzeptieren können, auch wenn mir das schwer fiel – schließlich gab es Erklärungen, weshalb meine IEM-Links fehlten, wenn auch keine davon perfekt passte. Aber wenn auch die Menschen, die hier arbeiteten, nicht verlinkt waren – ich verstand es nicht.
Die Frau betrat hinter mir den Aufzug und wählte eine der unteren Tasten, auf der ein großes S und eine 1-leuchteten.
»Wohin fahren wir?«, fragte ich.
Ich bekam die gleiche ernüchternde Antwort wie gerade eben: »Nach unten.«
Der Aufzug fuhr mit einem kaum wahrnehmbaren Ruck los. Wenn man seinen Blick nicht zu den Glaswänden wandte, konnte man glauben, wir bewegten uns gar nicht. Der Aufzug schnurrte kaum hörbar.
Der Ruck, mit dem wir »Unten« (wo auch immer das sein mochte) ankamen, war deutlich heftiger als der, mit dem wir losgefahren waren, und ich verlor in meinen idiotischen Schuhen fast schon wieder das Gleichgewicht. Erneut musste die Frau mich am Arm festhalten, damit ich nicht auf den Hintern fiel. »Komm«, sagte sie knapp, nachdem ich mich wieder gefangen hatte und die Türen des Lifts sich öffneten. Sie gab mir einen Stoß in den Rücken und ich taumelte nach draußen. Überrascht drehte ich mich um und sah, wie sich die Wand wieder vor den Aufzug schob. Ich war allein.
Nervös sah ich mich um, ob nicht irgendwo eine andere Person stand, die übernahm, aber hier war niemand. Stattdessen stand an der Wand eine riesige Duschkabine und auf einmal verspürte ich das dringende Verlangen, mir die Haare zu waschen.
Außer der Duschkabine gab es in dem Raum nicht besonders viel, nur einen kleinen Schrank – ich beschloss, mich nicht über ihn zu wundern – und wieder eine dieser Liegen.
Ich ging langsam zu der Liege hinüber und setzte mich darauf. Sie war genauso hart wie die, auf der ich aufgewacht war. Ich beschloss zu warten.
Das war allerdings gar nicht nötig, denn kaum hatte ich auf der Liege Platz genommen, öffnete sich der Lift erneut und drei Frauen traten heraus. Sie trugen, wie sollte es auch anders sein, weiße Kittel und bei allen dreien waren die Haare in einem strengen Pferdeschwanz zurückgebunden. Ohne ein Wort oder eine Regung im Gesicht kamen sie auf mich zu und an meinen Handflächen brach der Schweiß aus. Ich verspürte das Bedürfnis, irgendetwas in der Hand zu halten, das ich hin und her wenden konnte.
Ihr Schweigen machte mir Angst.
Zwei der Frauen nahmen mich bei den Armen und führten mich hinüber zu der Dusche. Sie schienen sich durch Blicke zu verständigen. Ich beobachtete ihre Augenbewegungen genau in der Hoffnung, Anzeichen für Eyepads zu entdecken, aber da war nichts.
Ich wurde erst abgeduscht, dann mit einem kernigen Schaum geschrubbt und dann erneut abgeduscht wurde, bis ich das Gefühl hatte, keinen einzigen Fetzen Haut mehr am Leib zu tragen. Sie cremten mich mit einer weißen Lotion ein, meine Haare wurden gebürstet und getrocknet und dann fuhr eine der Frauen mit einem grobzinkigen Kamm durch meine Strähnen, während eine andere meine Kleider holte.
»Wo bin ich?«, fragte ich die Frauen während ich mich anzog, bestimmt zum dritten Mal. Ich traute mich nicht zu fragen, wer ich war, weil ich Angst hatte, diese Worte laut auszusprechen. Das Gefühl der absoluten Hilflosigkeit, das diese Worte ausströmten, machte mir Angst.
Die Frauen taten so, als hätten sie nichts gehört. So langsam wurde ich wütend. »He«, sagte ich. »Ich rede mit euch!« Warum sprach hier bloß niemand mit mir?
Die Frauen brachten mich in einen anderen Raum, hinter dem ersten, wo sie mich auf einen harten Stuhl aus weißem Plastik setzten und mir ein Glas Wasser brachten, um dann zu verschwinden.
Ich trank das Wasser. Es war eiskalt und meine Zähne schmerzten davon, doch das war mir egal. Ich wollte einfach nur, dass endlich jemand mit mir sprach und mir alles erklärte. Erst als ich das Glas bereits geleert hatte, fielen mir die Schlafmittel wieder ein, die sich bisher in meinen Getränken befunden hatten. Ich sah erschrocken auf das Gefäß in meiner Hand und wartete auf das bekannte Schwindelgefühl, aber nichts passierte.
Relativ erleichtert stellte ich das Glas auf den Boden und sah mich in dem Zimmer um. Irgendwie hatte ich das eigenartige Gefühl, dass der Raum sich bewegte. Die Wände waren genauso weiß und kahl wie die Wände aller Räume, die ich bis jetzt zu Gesicht bekommen hatte, nur an einer Wand hing großer Spiegel. Ich sah hinein und erhaschte einen flüchtigen Blick auf ein Mädchen mit kurzen, leicht gewellten Haaren. Ob ich mir bekannt vorkommen würde, wenn ich mich im Spiegel ansah?
Ich zögerte. Ich wusste, dass ich blond und blass war – ich hatte meine Haare und meinen Körper sehr genau in Augenschein genommen um sicherzustellen, dass ich tatsächlich keine Verletzungen hatte. Aber vom Rest hatte ich keine Ahnung. In dem weißen Raum hatte es keine Spiegel gegeben und die Frauen hatten mir auch kein Bild von mir gezeigt. Ich hatte Angst vor dem, was ich im Spiegel sehen würde.
Was, wenn ich mich nicht erkannte?
Ein kalter Schauer lief mein Rückgrat hinab und ein mulmiges Gefühl stieg in mir auf. Ich wurde verrückt. Das musste es sein. Ich war verrückt und man hatte mich in die Klapsmühle gesteckt. Die fehlenden IEM-Links? Damit ich nicht unnötig getriggert wurde.
Ich nahm einen tiefen, beruhigenden Atemzug, dann stand ich auf und drehte mich um.
Das Mädchen im Spiegel sah nicht gerade durchgeknallt aus. Es war schlank, hatte ein schmales Gesicht, große blaue Augen und ein Sommersprossen. Ein paar blonde Ponyfransen hingen ihm in die Stirn und vielleicht war es ein bisschen zu dünn und seine Augenringe ein bisschen zu tief. Seine Kleidung sah zwar absolut grauenhaft aus, aber das Pastellrosa stand ihm gut. Sein Blick war ängstlich und verwirrt. Das einzige Problem mit ihm war, dass es ein Mädchen im Spiegel war und nicht ich.
Ich senkte den Blick. Ich wollte dieses Mädchen – mich – nicht sehen müssen. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei.
Plötzlich fuhr wieder eine der weißen Wände beiseite. Niemand stand dahinter, um mich in Empfang zu nehmen, weder Mann noch Frau. Langsam stöckelte ich auf den Ausgang zu. Hinter mir schloss sich die Wand.
Ich stand in einem langen schmalen Gang. Es war kühl, ein leichter Lufthauch wehte und ich überlegte, ob ich mich noch in dem gleichen Gebäude befand, in dem ich aufgewacht war.
Da mir in Anbetracht der Wand hinter mir keine andere Wahl blieb, ging ich den Gang entlang, an den weißen Wänden vorbei. Ganz am Ende des Ganges stand wieder eine Tür offen. Vorsichtig trat ich heran und sah hindurch.
Ich blickte in ein einfach hergerichtetes, altmodisch anmutendes Zimmer: weiße Wände, vier Holzschränke, zwei Stockbetten mit zwei Nachttischen, ein Waschbecken, zwei kleine Schreibtische. Durch die Mitte des Raumes führte ein nicht zugezogener Vorhang, den man so vor die Betten ziehen konnte, dass man sich gegenseitig nicht sah.
Drei der vier Betten waren schon belegt, aber das untere auf der linken Seite war noch ordentlich zusammengelegt und ein Rucksack aus glänzendem Plastik lag darauf. War das vielleicht meiner? Ich stolperte in das Zimmer und schnappte mir den Rucksack, als hätte ich Angst er würde im nächsten Moment verschwinden.
Er war silbern und hatte einen Reißverschluss. Ich riss daran. Er klemmte. Als ich mich über den Rucksack beugte, blieb der Stoff meines Tops in einem der kleinen Häkchen hängen und riss. Ich fluchte.
Endlich schaffte ich es, den Reißverschluss zu öffnen.
Ich drehte den Rucksack auf den Kopf und sein Inhalt purzelte aufs Bett. Viel war es nicht: ein Work-Blat, drei Bücher, ein Mäppchen mit Stiften, ein paar Schreibhefte.
Absolut nichts, was mir weiterhalf. Nur noch mehr Fragen. Schreibhefte? Bücher? Das waren Dinge, deren Herstellung seit dem UN-Klimagipfel verboten waren. Und schon davor waren sie nicht mehr sonderlich weit verbreitet gewesen. Dinge, die ich vielleicht in Museen erwartet hätte. Frustriert ließ ich den Rucksack auf den Boden fallen und wandte mich dem Nachttisch zu. Es war ein einfacher Kasten aus weiß lackiertem Holz mit zwei Schubladen. Ich zog die Schubladen auf. Fehlanzeige. Sie waren leer, bis auf ein paar Streifen Papier.
Jetzt blieb mir nur noch eine Hoffnung. Ich erhob mich vom Bett und ging zu den Schränken. Bei dreien war die Tür verriegelt und ich fand nur leuchtende Zahlenfelder, aber einen konnte ich öffnen. Ich zog die Tür auf.
An ein paar Bügeln hingen ordentlich aufgereiht zwei Winterjacken und eine aus Jeans. In den anderen Fächern befanden sich Kleider: zwei Paar Schuhe, mehrere Oberteile und fünf Hosen, ein dicker Rollkragenpullover, zwei Mützen, ein Paar Handschuhe und zwei Schals, ein dicker aus Wolle und einer aus Seide. Außerdem ein schwarzer Anzug, von welchem ich keine Ahnung hatte, wozu er gut sein sollte. Alles teure Designermarken. Ich war schon so verzweifelt, dass ich fast all die Kleider aus dem Schrank auf den Boden gefegt hätte, wäre mir nicht in der hintersten Ecke des Schrankes noch etwas aufgefallen. Dort lag noch ein Häuflein zusammengefalteter Kleidung. Ich zog es vorsichtig heraus. Es war nichts besonderes, keine Designerklamotten wie die anderen Sachen im Schrank. Nein, einfach nur eine Bluejeans, ein weißes T-Shirt und ein hellblaues Halstuch. Ich steckte meine Hände in die Taschen der Hose. Sie waren zugenäht, aber in der linken Tasche stießen meine Fingerspitzen gegen etwas Hartes.
Mein Puls beschleunigte sich. Ich sah mich im Zimmer um und einem inneren Impuls folgend, setzte ich mich auf das Bett und zog mir die Bettdecke über den Kopf. Ich wusste nicht genau, warum ich das tat, aber einer Einrichtung, die Schlafmittel in Getränke mischte, traute ich es auch zu, Schlafzimmer per Video zu überwachen. Unter der Bettdecke schloss ich die Finger um den Gegenstand und zog daran. Das Einzige, was passierte, war, dass ich die Tasche auf links zog. »Verdammt!«
Das Mäppchen. Ich ließ die Hose fallen, grapschte das Mäppchen und riss es mit solchem Schwung auf, dass die Hälfte der Stifte klappernd zu Boden fiel.
Da war eine Schere, mit scharfen Klingen und einem rosa Griff. Ich zog sie heraus, nahm die Hose und setzte die Schere an. Sie fraß sich etwas mühsam durch den weißen Stoff und ich schnitt mir zweimal in den Finger, aber schließlich hatte ich es geschafft: Ich hielt das rechteckige Ding in den Händen. Ich zitterte vor Aufregung, als ich den Stoff von dem Ding entfernte. Ein Smallphone!
Ich hob das hauchdünne Gerät vorsichtig auf. Es vibrierte kurz und schaltete sich an. Das war meins! Oder zumindest war es auf mich programmiert. Wenn ich ein Smallphone besaß, war es ein Kinderspiel, die fehlenden IEM-Links zu entschuldigen.
Ich aktivierte das Gerät. Es gab einen kurzen Piepton von sich, dann leuchtete auf dem Bildschirm eine Schrift auf. Hiding aktiv. Um das Gerät zu aktivieren deaktivieren Sie bitte die Hiding-Funktion.
Ich starrte das Smallphone an. Hiding-Funktion? Warum? Meine Finger kribbelten, so sehr wollte ich das Smallphone aktivieren, aber es musste doch irgendeinen Grund für die aktivierte Hiding-Funktion geben. Und wenn jemand käme und es mir wegnähme sobald ich Hiding deaktivierte?
Ich lehnte mich unter der nicht bezogenen Bettdecke gegen die Wand und tippte mehrfach auf das Display. Vielleicht war es auch nur ein Versehen, dass Hiding aktiv war. Vielleicht hatte ich es auch gar nicht selbst aktiviert, oder vielleicht hatte ich vergessen, es wieder zu deaktivieren.
Vielleicht war es aber auch volle Absicht gewesen und ich hatte verhindern wollen, dass das Smallphone gefunden wurde. Ich starrte auf das Display als könnte ich es hypnotisieren, sodass ein neuer Schriftzug auftauchte und mich aufklärte. Leider passierte nichts.
Ich saß immer noch da, unter der Decke und mit dem Smallphone in der Hand, als ich Mädchenstimmen näherkommen hörte. Schritte auf dem Flur.
Mein Handy! Blitzschnell ließ ich es in die nicht zerschnittene Hosentasche gleiten. Stofffetzen zusammengesucht und in den Schrank gestopft. Fertig.
Keine Sekunde zu früh. Durch die offene Zimmertür kamen drei Mädchen herein.
Das Größte von ihnen hatte dunkle Haut und üppiges braunes Haar, das andere karamellfarbene Mandelaugen und das dritte eine Stupsnase. Sie redeten miteinander, das eine lachte. Als sie mich bemerkten, verstummten sie.
»Oh«, sagte das eine.
Ich richtete mich auf. »Hi«, sagte ich zögernd. »Ich bin…«, ich stockte. Wer war ich denn eigentlich?
»Wir wissen, wer du bist«, sagte die Braunhaarige. Sie kam einen Schritt auf mich zu und streckte die Hand aus.
»Hi. Ich bin Girl25.« Ihre raue Stimme stand in starkem Gegensatz zu ihrem zierlichen Aussehen.
»Girl3«, sagte die mit den Mandelaugen und strahlte mich an.
»Ich bin Thirtythree«, sagte die Stupsnasige mit einem leichten, nicht zu identifizierenden Akzent. »Schön, dich kennenzulernen.«
Ich starrte die drei Mädchen an. Nummern? Ich hatte nicht einmal das, um mich vorzustellen.
Girl3 grinste. »Wie du guckst.«
»Denkst du vielleicht, du sahst besser aus?«, fragte Girl3 und stupste Girl3 in die Seite.
»Wir sahen alle drei nicht besser aus«, sagte Girl33 mahnend. »Du Ärmste, du bist wahrscheinlich gerad erst angekommen.« Sie nahm mich vertraulich am Arm. »Kommst du aus dem Keller? Die Mitarbeiterinnen hier können manchmal ein bisschen creepy sein. Keine Panik, nach einer Weile gewöhnst du dich an die Nummern. Am Besten ziehst du dich um, es gibt gleich Abendessen.«
Was? Abendessen?
Ich konnte nicht mehr folgen, starrte das Mädchen vor mir nur hilflos an. Ich wollte nichts essen, ich wollte verdammt noch mal Antworten!
»Vertrau mir«, sagte das Mädchen erneut. »Du gewöhnst dich daran.«
Es führte mich zu dem freien Bett, brachte mich sanft dazu, mich zu setzen, und suchte dann aus meinem Kleiderschrank eine schlichte weiße Bluse und eine schwarze Jeans heraus, die sie mir in die Hand drückte.
»Lass dir Zeit.«
Schnell schlüpfte ich aus dem Top, dem Rock und den Schuhen – ich konnte mir ein erleichtertes Aufseufzen nicht verkneifen – und zog mir Bluse und Hose über.
Die Mädchen nahmen mich in ihre Mitte und führten mich aus dem Raum. Hinter uns schob sich die Tür wieder zu. Als ich noch einmal zurücksah, bemerkte ich die Nummer, die an der Wand blinkte. 23-1.
Die drei Mädchen führten mich zielsicher durch die langen kühlen Gänge, die für mich alle gleich aussahen. Auf den Fluren gingen reihenweise andere Mädchen in die gleiche Richtung wie wir. Sätze wie »Hi Seventy« oder »Wie geht’s, Thirteen?« fielen. Ich bemühte mich heftig um einen Gesichtsausdruck, dem die Verwirrung nicht auf die Stirn geschrieben stand.
»Das ist der Speisesaal.« Girl25 deutete auf einen großen Raum, am Ende des Flures, aus dem Stimmengewirr drang. »Essen gibt es morgens immer um Sieben und abends um Acht.«
»Und wehe, du bist nicht pünktlich, dann bekommst du nämlich gar nichts mehr«, warf Girl3 ein.
Da fiel mir etwas ein. »Wie viel Uhr haben wir denn?«, fragte ich.
»Jetzt ist genau zehn Minuten vor Acht«, antwortete Girl33. Sie deutete auf einen Wandaushang, an dem ein paar Zettel hingen. »Da steht, was es zu essen gibt. Morgens gibt es immer das Gleiche…«
»Dasselbe, würde ich sagen«, unterbrach Girl3 sie.
»…aber abends bauen sie ein Selbstbedienungsbuffet auf.« Girl33 warf Girl3 einen genervten Blick zu. »Wenn du irgendwelche Unverträglichkeiten hast, musst du dich bei der Küche anmelden.«
Wir betraten den großen Raum. Hier standen überall kleine Vierertische, an denen Mädchen mit Tabletts, voll beladen mit Tellern und Besteck, saßen, sich unterhielten und lachten. An der hinteren Wand standen mehrere Tische, die aneinandergereiht worden waren. Andere Mädchen standen davor und luden sich aus Schüsseln Salat, Kartoffelbrei und Spinat auf ihre Teller.
Girl3 stellte sich auf die Zehenspitzen und sah sich um. »Ich such uns einen Tisch. Geht ihr euch schon mal was zu essen holen.«
Girl25 nahm mich sanft am Arm. »Komm«, sagte sie und zog mich zu einem Stapel mit Tabletts. Wir nahmen uns jede eins und gingen dann an dem Buffet entlang. »Du kannst dir nehmen, was du willst«, sagte sie, während sie auf einen Teller Kartoffelbrei und auf einen anderen synthetische Fleischklößchen tat.
Ich nahm mir zögernd einen Teller und tat mir Kartoffelbrei, Spiegeleier und Spinat auf. Dabei überlegte ich, ob der Gedanke mit dem Krankenhaus vielleicht doch nicht so absurd war. Vielleicht hatte ich eine psychische Störung? Litt ich an Amnesie und man hatte mich in die Reha gesteckt? Die fehlenden IEM-Links damit ich nicht getriggert werden konnte, der sporadische Austausch mit den Betreuerinnen damit ich keine Panikattacke bekam. Die absurd veraltete Ausstattung weil… keine Ahnung.
»Träumst du?«, fragte Girl33.
Ich sah auf. »Was? Oh, nein, sorry.«
»Ist schon gut«, sagte Girl33. »Komm.«
Wir gingen zu unserem Tisch und stellten unsere Tabletts darauf ab.
»Wir haben dir was mitgebracht«, sagte Girl25, als Girl3 schon aufspringen wollte, um sich auch etwas zu holen.
Ich setzte mich, senkte den Löffel in meinen Kartoffelbrei und begann zu essen. Es schmeckte nicht schlecht, auch wenn ich die Konsistenz etwas seltsam fand. Mochte ich Kartoffelbrei? Ich war mir nicht sicher.
Während ich mich auf mein Essen konzentrierte, lauschte ich mit einem Ohr der Unterhaltung von Girl33, Girl25 und Girl3. Sie plapperten gut gelaunt durcheinander, sprachen über Deutschunterricht, über eine Frau, die sie Miss B nannten, und über zwei Mädchen namens Two und Ten.
Ich ließ meinen Löffel sinken und betrachtete die drei Mädchen genauer.
Girl25 hatte dickes braunes Haar, das ihr bis an die Schultern reichte, lila Augen, die zwar schön, aber reichlich ungewöhnlich aussahen, und ein ovales Gesicht. Girl3 hatte asiatische Züge, hübsche schwarze Haare und ein Muttermal auf der Nasenspitze und Girl33 sah ein wenig aus wie ich selbst, blonde Locken, blaue Augen und ein schmales Gesicht. Allerdings standen ihr die Haare in alle Richtungen vom Kopf ab, und ich vermutete, dass sie einen Afro gehabt hätte, wenn ihre Haare länger gewesen wären. Alle drei waren sehr schmal und zierlich.
Ich sah mich neugierig in dem großen Raum um. Jedes der anderen Mädchen war auffallend dünn und klein und obwohl sie alle unterschiedliche Haarfarben hatten, trug keines die Haare länger als bis knapp unter die Achseln. Das Ganze hatte eine Gleichförmigkeit, die mich beunruhigte.
Da fiel mir ein langer Achtertisch ganz hinten in der Ecke des Raumes auf. Ein paar weiß gekleidete Frauen saßen dort. Sie aßen still, ohne sich zu unterhalten, und es schien niemand wirklich von ihnen Notiz zu nehmen.
»Ach, die«, sagte Girl25 grinsend, die meinem Blick gefolgt war. »Das sind unsere Betreuerinnen. Sie machen eigentlich nie was und passen nur auf, dass… keine Ahnung, wir nicht anfangen mit dem Essen durch die Gegend zu werfen oder so.« Ihr Tonfall war unüberhörbar ironisch.
Aber da hatte sie sich geirrt. Eine der weiß gekleideten Frauen stand jetzt nämlich auf, schob ihren Teller zur Seite und rief mit lauter, durchdringender Stimme: »Bitte seid alle ruhig!«
Das fröhliche Geplapper und der Essenslärm verstummten sofort und alle wandten sich dem Tisch zu.
»Wir haben heute einen Neuzugang bekommen: Girl6. Steh bitte auf.«
»Das bist du!«, zischte Girl25, als ich mich nicht rührte.
Überrascht erhob ich mich. Jetzt drehten sich alle Köpfe zu mir und ich spürte, wie ich knallrot anlief.
»Hallo«, sagte die Frau mit einem knappen Nicken. »Deine Zimmerkameradinnen werden dich in den ersten Tagen etwas herumführen. Wenn du Fragen hast, dann wende dich an sie. Deinen Stundenplan bekommst du morgen im Unterricht.«
Dann setze sie sich wieder. Alle Mädchen wandten sich sofort wieder ihren Tellern zu und begannen weiter zu essen, als wäre nichts geschehen.
»Tut mir leid«, flüsterte Girl33, als ich mich wieder auf meinen Stuhl sinken ließ. »Wir hätten dich vorwarnen sollen. Das ziehen sie bei jeder ab.« Sie lächelte. »Hallo, Six.«
Ich lächelte zurück. »Wir haben Unterricht?«, fragte ich leise und schob mir eine Gabel des klebrigen Spinats in den Mund. Ich musste fast würgen. Spinat mochte ich wohl nicht.
»Jeden Tag von Neun bis halb Elf und von Elf bis Drei«, erklärte Girl33. »Wunder dich nicht, es ist ein bisschen altmodisch.« Sie kicherte. »Wir benutzen Hefte. Nachmittags können wir entweder auf den Hof oder in den Freizeitraum. Um fünf ist Hausaufgabenzeit, bis um halb Acht, dann gibt es Abendessen und um Neun müssen wir in unseren Zimmern sein. Bis Zehn dürfen wir aufbleiben, dann geht das Licht aus.«
»Um Sechs werden wir geweckt«, erläuterte Girl3. »Dann haben wir eine halbe Stunde, um uns fertigzumachen und um Sieben gibt es Frühstück. Dann können wir noch Hausaufgaben machen und um Neun müssen wir in unsere Klassenzimmer.«
»Was wird denn unterrichtet?«, fragte ich, bemüht, die Informationen zu verarbeiten, die da auf mich eingestürzt kamen.
»Wir sind in verschiedene Arbeitsgruppen eingeteilt. Du bist in Gruppe Eins, wie unsere Zimmernummer«, erklärte Thirtythree. »Unsere Unterrichtsfächer sind Mathe, Englisch, Deutsch, Norwegisch, Bio, Chemie und Physik. Mathe findet in Raum 2 statt, Deutsch und Norwegisch in Raum 1, Englisch in 5, Bio in 4, Chemie in 3 und Physik in 6.« Sie sah meinen Gesichtsausdruck und musste lachen. »Keine Angst, das steht alles auf deinem Stundenplan. Nach einer Weile gewöhnst du dich daran.«
Girl3 sah sich um. »Ich glaube, es gibt Nachtisch.« Sie sah mich an. »Magst du Panja?«
»Ja.« Jedenfalls hoffte ich das.
»Ich hol euch was!« Sie sprang auf und warf dabei fast ihren Teller zu Boden.
»Warte!«, sagte Thirtythree. »Ich komm mit. Bevor du noch mehr runter wirfst.«
»Das war eine Schüssel letztes Mal«, beschwerte sich Girl3 im Weggehen. »Du hast so einen Kontrollwahn.«
Jetzt saß ich allein mit Girl25 am Tisch. Keine von uns beiden sagte etwas, Twentyfive spielte mit dem Ärmel ihres Pullovers und ich starrte auf den Tisch.
»Gibt es einen Grund, warum hier alles so… veraltet ist?«, fragte ich schließlich, um das Schweigen zu durchbrechen. Twentyfive sah auf.
»Was speziell meinst du jetzt?«
»Also… na ja, ihr benutzt Hefte im Unterricht?«, sagte ich vorsichtig. »Und in dem Rucksack auf meinem Bett war ein Work-Blat. Und alles andere… ich meine… ist hier niemand verlinkt?«
Twentyfive zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, das ist hier so. Ist doch ganz witzig.«
»Aber… also… ich hab keine IEM-Links mehr«, sagte ich und machte mich auf ein skeptisches Stirnrunzeln gefasst. Aber Twentyfive nickte nur.
»Ja. Hat hier niemand. Nicht mal die Betreuerinnen. Keine Ahnung wieso.«
»Aber… findest du das nicht irgendwie seltsam?«
Twentyfive legte den Kopf schief. »Bisschen. Aber es wird schon einen Grund haben.« Eine Weile lang schwiegen wir wieder und ich beobachtete sie.
»Was ist das hier eigentlich?«, wagte ich schließlich zu fragen. Twentyfive zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte sie. »Immer wenn wir fragen, geben sie nur eine kryptische Antwort.«
»Und die wäre?«, fragte ich neugierig.
»Sie nennen es Tatja«, sagte sie.
»Tatja?«, fragte ich.
»T.A.T.J.A.« Sie hob die Hände und verdrehte die Augen. »Frag nicht, ich hab keine Ahnung. Ihr solltet euch glücklich schätzen, in der Tatja leben zu dürfen«, ahmte sie eine mir unbekannte Stimme nach. »Bullshit.« Sie sah meinen Gesichtsausdruck und lächelte sanft. »Keine Sorge, du gewöhnst dich irgendwann daran. Und auch hieran.« Sie beugte mich vor, tippte mir federleicht gegen die Stirn und beantwortete damit eine weitere Frage, die zu stellen ich mich nicht getraut hatte; ob sie ebenfalls das Gedächtnis verloren hatte.
»Ich will mich aber nicht daran gewöhnen«, murmelte ich.
Twentyfive schwieg kurz, dann fuhr ihr Blick hinüber zu der Essensauslage. »Da kommen Thirtythree und Three.«
Ich sah auf. Die beiden Mädchen trugen zwei Tabletts mit vier Schüsseln in den schmalen Händen. Den schweren süßen Geruch erkannte ich schon, bevor ich den weißen Brei mit der Marmelade und den Kuchenstücken sah. Ich hielt das für ein gutes Zeichen.
Was mir jetzt erst auffiel: Unser Schlafzimmer hatte kein Fenster.
Nach dem Abendessen hatten die Mädchen mich ein wenig herumgeführt und ich hatte versucht, mir so viel wie möglich von dem zu merken, was sie erzählten, während ich mir gleichzeitig Mühe gab, mir die Wege und Zimmer einzuprägen. Leider war das unmöglich, denn in dem riesigen Gebäude gab es so gut wie keine Unterschiede. Alle Räume und alle Flure sahen exakt gleich aus, die gleichen weißen Wände, die gleichen Tische, die gleichen Stühle. Die gleichen Menschen.
Ich war noch ein paar anderen Mädchen vorgestellt worden und alle, die ich gefragt hatte, hatten mir dasselbe erzählt: keine Erinnerungen, keine IEM-Links, keine Idee, warum. Aber keines der Mädchen schien das wirklich zu kümmern. Alle schienen so zu denken wie Twentyfive: dass es bestimmt einen guten Grund dafür gab.
Seltsam, wie schnell ich mich an die Nummern gewöhnt hatte.
Jetzt lagen wir in unseren Betten. Wie ich festgestellt hatte, war mein Bett das unter Threes, was nicht schlecht war, denn sie schlief schnell ein und durch den zugezogenen Vorhang konnte ich ruhige Atemzüge hören. Ich war die Einzige, die noch wach war. Vor einer geschätzten halben Stunde ging nämlich plötzlich und völlig unerwartet die Deckenlampe aus. Na ja, für mich war es unerwartet gewesen. Twentyfive, Three und Thirtythree waren ohne ein Wort aufgestanden, aus ihren flauschigen Pantoffeln geschlüpft und hatten sich in ihre Betten gelegt, ein dreistimmiges: »Gute Nacht« war erschollen und kurze Zeit später waren sie eingeschlafen.
Ich erhob mich. Mir war kalt und ich fröstelte. Gleichzeitig war es stickig und ich wünschte mir ein Fenster, das man öffnen konnte um die frische Nachtluft hereinzulassen. Oder durch das zumindest ein wenig Licht drang.
Im Dunkeln tappte ich barfuß zum angrenzenden Bad und drehte den Wasserhahn auf. Ich ließ das Wasser laufen, bis es angenehm warm war, und hielt meine zu einer Schale geformten Hände unter den Wasserstrahl. Ich trank ein paar Schlucke, dann spritzte ich mir Wasser in Gesicht und Nacken und schließlich hielt meinen Kopf unter den dicken, prasselnden Strahl. Anschließend rubbelte ich meine klatschnassen Haare mit dem pastellrosa Handtuch ab, das schon im Bad bereitgelegen hatte, als ich kam. Hatte Three nicht von einem Hof geredet? Vielleicht fand ich den Ausgang ja. Ich musste dringend an die frische Luft.
Ich trat aus dem Bad zur Wandtür. Meine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt und ich sah schemenhaft die Betten und die Kleiderschränke. Ich wollte es nicht riskieren, meine Mitbewohnerinnen zu wecken, also tastete ich mich vorsichtig an der Wand entlang zum Touchscreen, der die Tür öffnete. Nichts regte sich. Ich berührte ihn noch einmal, etwas fester diesmal. Nichts.
Eine ungute Ahnung stieg in mir hoch. Was wäre, wenn…
Nicht daran denken! Lieber nochmal versuchen.
Doch als es auch dann nicht klappte, nachdem ich mit der flachen Hand auf das schwach leuchtende Viereck schlug, musste ich mir eingestehen: Unsere Tür war verschlossen. Von außen.
Mir wurde schlecht. Das Zimmer verschwamm vor meinen Augen und in meinen Ohren rauschte es. Meine Beine knickten ein, ich fiel vor der Tür auf den Boden und krallte mich panisch in den winzigen Spalt, als könnte ich die Tür durch physische Gewalt öffnen. Ich riss an der glatten Wand und schluchzte laut auf, als sie sich nicht regte. Mein Atem wurde flacher und ich begann zu hyperventilieren, während ich panisch mit beiden Fäusten gegen die Tür hämmerte und hysterisch schluchzte.
»Six?« Das war die Stimme von Twentyfive. Ich spürte, wie sie sich neben mich kniete und mir vorsichtig die Arme um den Oberkörper legte. »Ist alles okay?«
Ich wollte etwas sagen, aber mein ganzer Körper zitterte und ich brachte nur ein Schluchzen hervor.
»Hey.« Twentyfive strich mir sanft über den Rücken. »Du bist wach. Es war nur ein Traum. Es ist alles gut, okay? Alles gut, alles ist gut.«
Aber es war kein Traum. Es war die Realität und in der Realität hatte ich kein Gedächtnis mehr und die Tür von meinem Zimmer war verschlossen, und deswegen halfen Twentyfives Worte mir auch nicht. Ich sah meine Mitbewohnerin schluchzend an und auf einmal wurde mir heiß. Twentyfive runzelte die Stirn und setzte zum Sprechen an, aber da hatte ich mich schon umgedreht und mich geräuschvoll auf den Zimmerboden übergeben.
»Beruhige dich wieder«, sagte Twentyfive zum vierten Mal.
»Aber«, stammelte ich. »Aber…«
Three zuckte mit den Schultern. »So ist es halt. Es heißt, es gab hier schon Mädchen, die versucht haben, sich umzubringen. Deshalb gibt es auch keine Fenster.«
Ich sah sie entgeistert an. Sie kicherte. »War nur ein
Scherz.«
Thirtythree schenkte ihr einen missbilligenden Blick. »Keine Angst, am Anfang hat mich das auch nervös gemacht. Es ist nur eine der verrückten Regeln hier.« Sie hatte leise gesprochen und sich dabei immer wieder umgesehen, als fürchte sie, jemand könnte uns belauschen.
Wir waren auf dem Weg zu unseren Unterrichtsräumen und ich war schon ziemlich nervös. Das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen konnte, waren Gruselgeschichten über Selbstmörderinnen.
Wir bogen in einem weißen Flur links ab, der für mich zwar genau so aussah wie der weiße Flur, durch den wir davor gegangen waren, der für Twentyfive, Three und Thirtythree aber irgendeinen Unterschied aufzuweisen schien, denn Twentyfive sagte: »Siehst du? Da sind unsere Räume auch schon.«
Ich war unglaublich erleichtert, als ich sah, dass die Unterrichtsräume offene Türen hatten! Neben jeder Tür prangten Zahlen. 1, 2, 3… immer so weiter.
»Hier sind die Räume für Mathe und Fremdsprachen«, erklärte Three. »Ein Stockwerk tiefer sind die für Bio und Chemie. Physik und Englisch finden im Nordflügel statt.«
»Aha«, nickte ich und versuchte so auszusehen, als würde ich mir die Info einprägen.
Die Mädchen zogen mich hinein. In dem Raum fehlten ebenfalls die Fenster, dafür klebten bunte Zettel mit Formeln an den Wänden. In einem Halbkreis waren Vierertische aufgestellt worden und an einigen saßen bereits Mädchen, die alle etwa in meinem Alter zu sein schienen. Sie lachten und redeten und waren alle furchtbar gut gelaunt. Niemand schien sich darum zu kümmern, dass unsere Türen über Nacht abgeschlossen wurden.
»Wie viele Mädchen sind in einer Gruppe?«, fragte ich leise.
»Ungefähr zwanzig«, flüsterte Thirtythree zurück. »Komm. Unser Tisch ist der da vorn.« Sie zog mich zu einem Tisch, der relativ in der Mitte stand und von dem aus man einen guten Blick auf die Tür und die Mädchen hatte, die nach und nach hereinkamen. Ich setzte meinen Rucksack ab und stellte ihn unter einen Stuhl. »Was haben wir jetzt?«
»Mathe«, sagte Twentyfive. »Du brauchst das blaue Heft mit den Karos.«
Ich holte Heft und Stifte aus meinem Rucksack und legte sie neben mein Work-Blat auf den Tisch. Auf dem Heft stand mein Name, genauso wie auf dem Mäppchen. Bei genauerem Betrachten meiner Kleider gestern Abend hatte ich festgestellt, dass das auch auf den Etiketten stand.
In einer umständlichen Bewegung öffnete ich das Mäppchen, zupfte einen der Stifte heraus und öffnete das Heft. Ich starrte auf die reinweißen Seiten, auf die mit feinen Linien kleine Karos gezeichnet waren und bemühte mich nicht so auszusehen, als hätte ich keine Ahnung, wie ich meine Schreibutensilien zu benutzen hatte. »Was habt ihr im Moment?«
»Analysis«, flüsterte Thirtythree zurück. Sie beugte sich über den Tisch zu mir. »Keine Angst, Miss B erklärt es dir, wenn du etwas nicht verstehst. Das ist der Vorteil an so einer kleinen Gruppe. Wenn jemand nicht mitkommt, kann man es ihm noch einmal genau er…« Sie verstummte und setzte sich aufrecht hin.
Eine große, weiß gekleidete Frau betrat den Raum. Unter den Arm hatte sie sich mehrere Hefte geklemmt und in der Hand hielt sie ein großes bemaltes Dreieck aus Hartplastik. Sie begrüßte uns mit einem Lächeln und einem leichten Kopfnicken und legte das Dreieck auf ihrem Schreibtisch ab. Dann begann sie mit dem Unterricht.
Es war längst nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte, obwohl ich im Laufe des Unterrichts feststellte, dass ich wohl kaum ein Mathe-Ass war. Miss B, die eigentlich Miss Barly hieß, erklärte langsam und deutlich, mit einer ruhigen, tiefen Stimme, und wenn man etwas nicht verstanden hatte, konnte man sich melden und die anderen versuchten, unterstützt durch Verbesserungen von Miss Barly, zu helfen. Meistens war es ein Mädchen namens Ten, das half. Ihr Gehirn schien die Antworten tausendmal schneller auszuspeien, als ich brauchte um überhaupt die Aufgabe zu verstehen. Trotzdem machte es Spaß, mit den anderen Mädchen die mathematischen Probleme zu lösen. Miss Barly teilte uns in Vierergruppen ein und ich hatte das Glück, mit Three zusammenzukommen. Three war noch schlechter in Mathe als sich, sodass mein Selbstwertgefühl nicht zu sehr litt. Und als sie, ich und die anderen zwei Mädchen aus unserer Gruppe die letzte Aufgabe (erfolgreich) gelöst hatten und uns daraufhin unter Jubeln abklatschten, machte es mir nicht mehr das Geringste aus, dass unsere Tür in der Nacht verschlossen gewesen war.
»Six? Six, träumst du etwa?«
»Hm?« Ich blickte auf. »Was ist los?«
»Kommst du noch mit raus?«, fragte Twentyfive. Sie stand in der Tür, eine rote Wollmütze auf ihren braunen Haaren und einen Schal um die Schultern geschlungen.
»Wie kalt ist es draußen?«
»Frostig«, antwortete Twentyfive. »Zieh dir lieber Handschuhe an.« Sie wedelte mit ihrem eigenen Paar aus roter Wolle.
Ich stand auf, schlüpfte in meine Winterjacke und wickelte mir einen dicken Schal um den Hals. Ich streifte mir die rosa Handschuhe über und zwängte meine Füße in die schmalen Winterstiefel. Dann stülpte ich mir eine Mütze auf den Kopf und schob ein paar blonde Strähnen darunter. »Wir können.«
Twentyfive führte mich durch das große Gebäude zu einem Aufzug. Wir stiegen ein. »Der unterste Knopf«, sagte sie. »Mit dem großen E.«
»Wofür stehen die Buchstaben?«, fragte ich neugierig, als der Aufzug sich in Bewegung setzte.
»Die Zahlen stehen dafür, wie tief du unter der Erde bist. Also, die 2 zum Beispiel wäre das zweite Stockwerk über der Erde. E steht für Erde, also genau die Höhe des Ausgangs. Und die Buchstaben stehen für die jeweiligen Räume, die sich dort befinden. Schau, hier, da steht 4s1, das steht für Schulraum Mathe im vierten Geschoss. Oder hier. 1-S steht für das Service-room ein Stockwerk unter der Erde.«
Ich runzelte die Stirn. »Das war der Raum, in den ich aus diesem Krankenzimmer gekommen bin«, sagte ich. Twentyfive nickte. »Da sind auch die Räume der Angestellten.«
Der Aufzug hielt, die Türen öffneten sich und gaben den Blick frei auf eine große Halle, mit einer Art Empfangstresen an einer Wand, an dem eine weiß gekleidete Frau saß und telefonierte. In der Halle wuselten wieder unzählige Mädchen herum, die durcheinander plapperten, Hausaufgaben besprachen oder über diverse Lehrerinnen lästerten.
An der einen Seite des Raumes befand sich eine große Tür aus Glas, durch die ich glitzernden Schnee sehen konnte. Ich wurde nervös. »Wann machen sie denn endlich die Tür auf?«, flüsterte ich.
Twentyfive lächelte. »Du kannst es wohl gar nicht erwarten, was? Hab mal ein bisschen mehr Geduld.«
In dem Moment kamen zwei Frauen in den Saal gelaufen – marschiert, sollte ich wohl besser sagen. Sie trugen lange weiße Mäntel und helle Mützen, aber ihre Handschuhe waren bunt. Die eine nickte der Frau an der Theke zu, die drückte auf einen Knopf und die Türen fuhren beiseite.
Ich wusste nicht, womit ich gerechnet hatte: vielleicht damit, dass die Betreuerinnen uns nach draußen führen würden oder dass die Mädchen sich ordentlich in Zweierreihen aufstellten. Tatsächlich aber passierte das, was in allen normalen Schulen oder Ferienclubs passiert: Großes Geschrei und Gekreisch erhob sich, die Mädchen rannten alle gleichzeitig nach draußen und die ersten fingen an, sich mit Schnee zu bewerfen.
»Na komm!« Twentyfive nahm mich am Arm und zog mich nach draußen.
Die kalte Luft peitschte uns entgegen und wehte uns Schneeflocken ins Gesicht. Ich zog mir meine Mütze tiefer ins Gesicht und war froh über Schal und Mantel. Alle Mädchen schienen glücklich, draußen sein zu können, auf keinem einzigen Gesicht sah ich Besorgnis oder Angst. Die Mädchen veranstalteten Schneeballschlachten, bauten Schneemänner und einige hatten sich in den Schnee gelegt und machten Schneeengel. Vielleicht machte ich mir auf einfach nur zu viele Sorgen.
Doch da fielen mir die beiden Betreuerinnen auf, die dicht neben der Tür standen, die Hände in den Taschen und deren Augen hin und her huschten und den Überblick über alle Mädchen zu behalten schienen. Sie sahen sehr streng und wachsam aus und ich biss mir auf die Lippen. Vielleicht waren meine Sorgen auch berechtigt.
Eine Schneeflocke wirbelte auf mich zu und landete direkt auf meiner Nasenspitze. Ich wischte sie fort, als etwas Kaltes und Hartes mich am Nacken traf. Ein Schneeball.
»Was stehst du hier denn so rum?«, rief Twentyfive lachend. »Es schneit! Genieß es!«
»Na warte!«, rief ich und schüttelte mir die Überreste ihres Schneeballs aus dem Schal. Ich bückte mich, hob eine Hand voll Schnee auf, drückte das eiskalte Puder kurz zusammen und warf es dann mit voller Wucht in ihre Richtung. Volltreffer! Der Schneeball klatschte Twentyfive genau gegens Ohr und sie prustete und wischte sich lachend den Schnee von den Wangen, bevor sie den nächsten Schneeball in meine Richtung warf. Ich duckte mich und der Schneeklumpen traf ein Mädchen hinter mir am Kopf. Kurze Zeit später war die schönste Schneeballschlacht im Gange, alle spielten gegen alle, und als einer der Betreuerinnen ein Schneeball an die Hose klatschte, huschte ein kurzes Lächeln über ihr Gesicht.
Als endlich eine der Frauen uns zur Ordnung rief und verkündete, es sei Zeit, wieder ins Haus zu gehen, damit wir vor dem Abendessen alle nochmal heiß duschen könnten, waren meine Handschuhe schon vollkommen durchweicht und meinen Haaren und Kleidern klebte Schnee, so viele Schneebälle hatte ich geworfen und abbekommen. Meine Wangen waren gerötet von der Kälte und der Anstrengung. Ich sah die lachenden Gesichter all der Mädchen an mir vorbeiströmen, irgendjemand nahm mich am Arm. Three.
»Komm«, sagte sie grinsend. Auch ihr Gesicht war knallrot und unter ihrer Mütze lugte eine schwarze Haarsträhne hervor, die ganz nass war von lauter Schnee. »Du willst dich vor dem Abendessen bestimmt noch frisch machen.«
»Was ist mit den Hausaufgaben?«, fragte ich verwirrt, während sie mich die Flure entlangzog. Das war eins der wenigen Dinge, die ich mir gemerkt hatte, als sie gestern mit all ihren Informationen auf mich eingestürmt waren, und auf einmal war es mir unglaublich wichtig, dass es auch stimmte.
»Dafür hast du doch wohl auch noch nach dem Duschen Zeit.« Three sah mich verwundert an. »Oder stehst du etwa so auf Hausaufgaben?«
Keine Ahnung. Bei dem Gedanken an die Berge von Arbeit, die vor uns lagen, stieg allerdings eher ein lustloses Gefühl in mir auf. »Natürlich nicht!«
»Na also«, sagte Three. »Komm, hier sind wir.«
Überrascht sah ich auf. Tatsächlich, wir waren bereits vor unserer Zimmertür angekommen. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass wir mit dem Aufzug gefahren waren. Das Ding war so furchtbar leise. Three öffnete die Tür und trat beiseite.
Wir betraten das Zimmer. Twentyfive und Thirtythree saßen bereits in wunderbar flauschig aussehenden Bademänteln und nassen Handtüchern um die Haare vor ihren Schreibtischen. Im Hintergrund lief leise Musik.
»Was hörst du gerne?«, fragte Thirtythree neugierig. Sie hielt die Fernbedienung hoch, mit der sie die Musik kontrollieren konnte. Erneut fragte ich mich, warum alles hier bloß so furchtbar altmodisch war.
Ich hörte genauer hin, und auf einmal wurde ich ganz aufgeregt, weil ich das Lied kannte. »Cathy Wiler ist okay«, sagte ich in der Hoffnung, den Mädchen würde nicht auffallen, wie nervös ich plötzlich wurde.
»Gut.« Thirtythree wandte sich wieder ihrem Aufsatz über Kernspaltung für Mrs Barly zu.
Ich sah zu Three. Die hatte sich die Mütze vom Kopf gezogen und schüttelte ihre nassen Haare. Glitzernde Wassertröpfchen landeten auf dem Boden. Als sie merkte, dass ich sie ansah, ließ sie ihre Hand sinken und nickte mit dem Kopf in Richtung Bad. »Du kannst zuerst.«
»Danke«, sagte ich leise. Ich schlüpfte schnell aus meinen nassen Stiefeln und dem Mantel und entledigte mich meiner Mütze, der Handschuhe und des klitschnassen Schals, ließ die Sachen aus Platzmangel vorläufig auf mein Bett fallen und ging dann ins Badezimmer. Warmer Nebel hing in der Luft, es roch nach Shampoo. An dem Bügel neben dem Waschbecken hingen zwei Handtücher, ein rotes und ein pastellrosafarbenes, und neben der Tür hingen zwei Bademäntel, die genauso herrlich kuschelig aussahen wie die von Twentyfive und Thirtythree. Ich ging zu den Bademänteln hinüber und besah sie genauer. In beiden war ein Etikett eingenäht. In dem Kleineren stand Three, der Größere war meiner. Schnell schälte ich mich aus meinen nassen Sachen und schlüpfte in meinen Bademantel. Sofort wurde mir wärmer und der weiche Stoff schmiegte sich an meine Haut. Ich nahm mir die Bürste und fuhr damit grob durch mein nasses und verzotteltes Haar; dann schmierte ich mir Fettcreme auf mein von der Kälte raues Kinn. Als ich mir einmal kurz die weiche Kapuze des Bademantels überstülpte, sah ich die Öhrchen, die auf ihr festgenäht waren.
Ich legte den Bademantel auf dem Boden ab und stieg unter die Dusche. Das Wasser prasselte heftig und heiß auf mich herunter und entspannte meine verkrampften Muskeln. Ich schäumte mir die Haare ordentlich mit Shampoo ein (mit Himbeerduft für langes Haar ohne Spliss aber ohne Nanotechnologie; as if), wusch mich gründlich und schrubbte mir den Rücken mit einer großen Wurzelbürste. Dann stieg ich wieder aus der Dusche, wickelte meine Haare in das Handtuch ein, schlüpfte in den Bademantel und verließ das Bad.
Meine Kleidung lag nicht mehr auf meinem Bett, sondern in einer weißen Kiste, in der auch die schmutzigen Kleider meiner Mitbewohnerinnen lagen. Die Kiste wurde abends immer in den Boden hineingefahren und stand am nächsten Morgen mit den frischen, sauberen Kleidern wieder in unserem Zimmer. Auf meinem Nachttisch wartete eine große Tasse dampfend heißen Kaomiyas auf mich. Sie mussten meine Kleidung verräumt haben, während ich geduscht hatte.
»Entschuldigung.«
»Alles gut.« Twentyfive nickte mir zu. »Ich bin fertig mit meinen Hausaufgaben, du kannst an meinen Schreibtisch.« Sie stand auf und räumte ihre Hefte von der Tischplatte.
»Danke.«
Die Hausaufgaben schaffte ich schneller, als ich gedacht hatte. Mathe war knifflig und die Aufgaben für Physik, die wir in Vorbereitung auf den Physikunterricht nächste Woche erledigen sollte, bescherten mir Kopfschmerzen aber Thirtythree half mir und Deutsch bekam ich allein hin. Tatsächlich fiel es mir sogar fast leichter als die wenigen Englischaufgaben, die Miss Barly uns (ebenfalls als Vorbereitung) aufgegeben hatte. Als wir uns fürs Abendessen umzogen, war ich mit allen Aufgaben fertig.
Wir machten uns einen Spaß daraus, jeder von uns ein anderes Outfit auszusuchen, die Haare zu flechten, sie mit bunten Tüchern festzubinden und uns sorgfältig zu schminken. Twentyfive, Three und Thirtythree suchten mir eine Jeans, einen karierten Pulli und hochhackige Cowboystiefel aus und ich schminkte mir die Lippen sorgfältig rot. Zuletzt kramte Thirtythree noch einen braunen Hut hervor, den sie mir über die akkurat aufgedrehten Locken stülpte.
Wir verließen das Zimmer und die Mädchen führten mich wieder durch die langen Flure zum Speisesaal. Ich wurde ganz aufgeregt, als ich nach der dritten Biegung auf einmal wusste, durch welchen Flur wir gehen mussten.
Aus dem Speisesaal drangen die verlockenden Gerüche von Pfannkuchen und synthetischem Apfelmus und das Geplapper der Mädchen, an das ich mich schon gewöhnt hatte. Wir suchten uns einen Tisch und Twentyfive setzte sich, während ich, Three und Thirtythree Essen holen gingen. Ich verspeiste drei Pfannkuchen mit Apfelmus und zwei mit geriebenem Käse und danach noch eine Schüssel Panja.
»Du kannst vielleicht essen«, stellte Twentyfive fest und schob ihren halb aufgegessenen Pfannkuchen beiseite. »Also, mir ist schlecht.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Schneeballschlachten
machen mich immer so hungrig«, nuschelte ich mit vollem Mund. Stimmte das? Keine Ahnung. Angesichts der Tatsache, dass inzwischen fünf Pfannkuchen und zwei Schüsseln Panja in meinem Magen gelandet waren, konnte da schon etwas dran sein.
»Morgen hast du bestimmt Bauchschmerzen«, warnte mich Twentyfive. »Pfannkuchen liegen schwer im Magen.«
»Ach was«, winkte ich ab. Ich schob mir den letzten Löffel Joghurt in den Mund, stellte unsere Teller auf einen Stapel und lud noch meine und Threes Panjaschüsseln darauf. Twentyfive war nach zweieinhalb Pfannkuchen schlecht geworden und Thirtythree hatte sogar nur einen Pfannkuchen geschafft und beide hatte kein Panja mehr gewollt, aber Three und ich hatten uns noch eine Schüssel von dem süßen Joghurt geholt. »Ich bringe die Sachen weg, geht ihr ruhig schon mal nach oben«, bot ich an. Ich schob meinen Stuhl zurück und stand vorsichtig auf, um das Geschirr nicht fallen zu lassen, dann trug ich den Stapel langsam in die Küche. Die Köchin, eine mollige Frau mittleren Alters mit auffallend hübschen braunen Augen nickte mir freundlich zu. »Stell es einfach dahin, wir räumen es nachher weg«, sagte sie. Ihre Stimme klang warm und mütterlich.
»Vielen Dank«, sagte ich höflich und stellte den wackeligen Stapel auf der Ablage ab.
»Nimm dir noch einen Schokoriegel mit«, sagte sie, als ich die Küche verlassen wollte. Ich drehte mich um. An der Wand des Raumes stand ein kleiner Servierwagen mit einer großen Box darauf, in der offensichtlich selbstgemachte Schokoriegel lagen.
Ich griff in die Box und holte vier Riegel heraus, dann verließ die Küche und den Speisesaal. Kaum war ich durch die Tür in den Gang davor getreten, wurde das Stimmengewirr der Mädchen leiser. Ich suchte mir einen Schokoriegel heraus (den kleinsten und schmalsten, denn langsam wurde mit wirklich etwas schlecht) und biss hinein. Er schmeckte süß und buttrig und fette Schokostücke steckten darin.
Ich bog in einen Flur ein, den ich wiedererkannte und von dem ich wusste, dass er mich zum Aufzug bringen würde, und ließ meine Gedanken schweifen. Ich hatte schon gestern überlegt, ob ich meine Mitbewohnerinnen auf das Smallphone ansprechen sollte, das ich gefunden hatte, aber ich hatte Angst, mein Geheimnis könnte auffliegen. Falls es denn überhaupt ein Geheimnis war, irgendjemand musste mir die Sachen ja in den Schrank gelegt haben. Vielleicht hatte jedes Mädchen ein Handy in ihrem Schrank gefunden – sozusagen als Ersatz für die fehlenden IEM-Links. Die Hiding-Funktion zu deaktivieren könnte mir ein paar Details darüber liefern, wo ich war – am Ende war auf dem Smallphone eine Erklärung für meine Situation gespeichert und ich machte mich halb verrückt, nur weil ich mich nicht traute mein Handy zu entsperren. Was mich am meisten weiterbringen würde wäre eine Erläuterung, was es mit meinem Gedächtnisverlust auf sich hatte; ich wusste nicht, wo ich war, denn in dem ganzen Gebäude, oder zumindest in den Teilen, in denen ich gewesen war, gab es keine Fenster und der Hof war von Mauern umzäunt. Ich wusste auch nicht, in welchem Land ich war (obwohl ich auf Großbritannien tippte; immerhin sprachen wir Englisch), aber das war nicht mein größtes Problem. Besonders beängstigend fand ich, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich hieß oder wer ich eigentlich war. Alle anderen Mädchen schienen felsenfest davon überzeugt zu sein, dass mein Name Girl6 war, und ich hatte mich nicht getraut zu fragen, ob sie sich nicht an andere Namen erinnerten.
Die Idee, die ganze Tatja könnte eine Art Klinik für psychisch instabile Menschen sein, hatte ich inzwischen verworfen. Charakterisierend für eine Klinik war in meinen