Sizilianisches Blut - Ann Baiano - E-Book
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Sizilianisches Blut E-Book

Ann Baiano

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Beschreibung

Ende August, graue Wolken verdunkeln den Himmel Palermos. In der drückenden Schwüle erfährt der Reporter Luca Santangelo von der Ermordung seiner Ex-Freundin, der Ballett-Tänzerin Laura. Schockiert macht er sich daran, die Hintergründe des Verbrechens herauszufinden und schon bald erscheint ihm Lauras neuer Geliebter in den Fall verwickelt zu sein: Manfredi Guarnieri, Baron von Montevago, der als Teil der sizilianischen feinen Gesellschaft und ihrer Vetternwirtschaft für all das steht, was Luca verabscheut. Die Spur führt in ein dichtes Netz aus Betrügereien, Eifersucht und Gier – und tief in die faszinierende Vergangenheit der Insel, in der ein lange vergessener Mord in den Olivenhainen eines adeligen Gutes eine wesentliche Rolle spielt ...

Luca Santangelo - ein pfiffiger Reporter ermittelt unter der Sonne Italiens.

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Über das Buch

Ende August, graue Wolken verdunkeln den Himmel Palermos. In der drückenden Schwüle erfährt der Reporter Luca Santangelo von der Ermordung seiner Ex-Freundin, der Ballett-Tänzerin Laura. Schockiert macht er sich daran, die Hintergründe des Verbrechens herauszufinden und schon bald erscheint ihm Lauras neuer Geliebter in den Fall verwickelt zu sein: Manfredi Guarnieri, Baron von Montevago, der als Teil der sizilianischen feinen Gesellschaft und ihrer Vetternwirtschaft für all das steht, was Luca verabscheut. Die Spur führt in ein dichtes Netz aus Betrügereien, Eifersucht und Gier – und tief in die faszinierende Vergangenheit der Insel, in der ein lange vergessener Mord in den Olivenhainen eines adeligen Gutes eine wesentliche Rolle spielt …

Luca Santangelo – ein pfiffiger Reporter ermittelt unter der Sonne Italiens.

Über Ann Baiano

Ann Baiano, Jahrgang 1973, studierte Romanistik und lebte viele Jahre auf Sizilien. Sie hat Romane aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt, bevor sie anfing, Krimis zu schreiben.

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Ann Baiano

Sizilianisches Blut

Luca Santangelo ermittelt

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Nachweise

Impressum

1

Luca Santangelo stand an der Piazza Marina und starrte auf den schmalen Eingang des alten, blassblauen Palazzo. Rechts neben der Tür bröckelte der Putz ab, und die schmiedeeisernen Gitter der kleinen, bauchigen Balkone wölbten sich vor der Fassade. Luca legte den Kopf in den Nacken – ganz oben auf dem Dach sah er ihre Terrasse, dort hatten sie im Sommer immer gesessen. Man schaute über den Yachthafen und das Meer und auf der anderen Seite über die Dächer von Palermo, auch ein Meer aus unruhigen Wellen in Ocker- und Brauntönen. Nachts funkelten die Lichter, und die Fähren glitten über das Meer in Richtung Neapel und Genua. Er hatte sich nie entscheiden können, welche Richtung die schönere Aussicht hatte, und Laura hatte über ihn gelacht, aber stolz, sie liebte diese Terrasse, die schönste der Stadt, wie sie sagte. Heute schien die Sonne nicht, es war ein schwüler, grauer Augusttag, und ein warmer Wind jagte die Wolken über den Himmel. Die Luft roch hier, so nah am Meer, salzig.

Acht Polizisten liefen vor dem Haus hin und her, sie hatten die Haustür blockiert und diskutierten und telefonierten. Von fern hörte Luca Sirenen. Er hatte versucht reinzukommen, aber auch sein Presseausweis hatte nicht geholfen, im Gegenteil. Wer weiß, was wirklich passiert war. In dem schmalen Haus mit seinen fünf Etagen gab es neun Wohnungen, und das Ehepaar in der dritten stritt regelmäßig so laut, dass die Nachbarn Sturm klingelten. Er könnte sie umgebracht haben, nachdem sie zu lange zu laut gekeift hatte, kein Wunder – und dann hatte Matteo nicht recht: Wer sollte Laura ermorden? Als der Freund Luca angerufen hatte, war dieser sofort aus der Redaktion des Giornale Siciliano hergelaufen, und jetzt stand er seit einer halben Stunde vor dem Haus und kam nicht weiter. Einer von der Polizei hatte Matteo den Tipp gegeben: Laura Di Fiore war schließlich nicht irgendeine Tänzerin, seit Monaten wurde darüber gesprochen, dass sie die Geliebte von Manfredi Guarnieri sei. Luca schüttelte den Kopf, er hatte das immer als dummes Gerücht abgetan. Vielleicht hatte man die beiden mal irgendwo gesehen: Manfredi Guarnieri, Baron von Montevago, Unternehmer, Anwalt und Freund der Politiker, und die schöne Tänzerin – bestimmt hatte es Gelegenheiten gegeben, wo die beiden sich begegnet waren, und geredet wurde schnell … Er starrte die Polizisten an, die nach wie vor den Hauseingang versperrten.

Luca Santangelo war nicht besonders groß und kräftig, aber normalerweise wirkte er so überzeugend, dass man ihn durchließ. Er lebte davon, überall reinzukommen, wenn er berichten wollte, sich vorzudrängen, Fragen so pointiert zu formulieren, dass die Kollegen verstummten und die Politiker nur ihn ansahen, der nicht groß, nicht klein, nicht mehr jung war, nur noch wenig Haare hatte, die ihm grau und meistens wild um den Kopf standen, und dessen kurz geschnittener Vollbart ebenfalls silbern schimmerte. Sein Blick war ungemein intensiv, und fast immer fing er die Leute damit ein und brachte sie dazu, mit ihm zu reden. Hier hatte das nicht funktioniert, die Polizisten waren nervös, und der große Dürre, der den Einsatz leitete, hatte ihn dermaßen angebrüllt, dass Luca einen Moment lang dachte, er würde gleich die Pistole ziehen.

Unruhig ging er auf und ab, an dem kleinen Park entlang, in dessen Mitte ein riesiger Baum stand, den er immer bewundert hatte: ein gigantischer Ficus, dessen Luftwurzeln ein knorriges Dickicht bildeten, das an einem guten Tag märchenhaft aussah. Heute kam ihm der Riese bedrohlich vor, die ganze Piazza, die er sonst so liebte, war fremd und feindselig. Er hörte Sirenen, noch ein Polizeiwagen kam angeschossen. Sollte er versuchen, in dem Durcheinander ins Haus zu schlüpfen? Als er sein Handy aus der Tasche holte und zum gefühlt hundertsten Mal Lauras Nummer wählte, spürte er, wie ihm der Schweiß ausbrach. Die Nummer, die er sechs Monate lang immer nur fast eingetippt hatte, sechs Monate, in denen er Tag für Tag an sie gedacht, sie vermisst hatte. Heute hatte er zum ersten Mal wirklich angerufen, während er hergerannt war, und heute klingelte es nicht, der Anrufbeantworter sprang direkt an. Er hörte Lauras Stimme, den leicht nasalen Ton, sie schien zu lachen, während sie darum bat, eine Nachricht zu hinterlassen.

Sie war verreist, bei einer Probe, hatte eine Aufführung, war auf Tournee, irgendwer anders im Haus war ermordet worden, eine andere Frau, die aus der dritten Etage, die immer mit ihrem Mann stritt. Vorgestern hatte Laura ihm eine SMS geschickt, die erste, seitdem sie ihn verlassen hatte: »Öffne das Meer, heb die Wolken von den Bäumen: Es lacht die Elster, schwarz, auf den Olivenbäumen«.

Luca hatte nicht verstanden, was sie meinte, hatte die Zeilen wieder und wieder gelesen, aber da sie auf seine nachfragende SMS nicht geantwortet hatte, hatte er irgendwann aufgegeben. Laura hatte Gedichte geliebt und ihm oft welche vorgelesen. Wenn er die Augen schloss, hörte er ihre Stimme, immer noch. Aber was bedeuteten diese Zeilen? Nach der ersten Euphorie über eine Nachricht von ihr hatte er bald befürchtet, dass sie ihm die SMS versehentlich geschickt hatte.

Als er eine korpulente Frau schreiend und weinend aus dem Haus kommen sah, fiel ihm das Handy aus der Hand, und er rannte auf sie zu.

»Signora Calampisi …«

Die Dicke zuckte zusammen, dann erkannte sie Luca und lief ihm entgegen. Sie schluchzte, riss die Arme in die Luft. Luca wurde schwindelig, er sah die Signora wie in Zeitlupe rennen, sah alle möglichen Details, ihre Pantoffeln aus rosafarbenem Samt, die geblümte Schürze über dem viel zu engen schwarzen Kleid, die in sorgfältige Wellen gelegten, honigblond gefärbten Haare, der große Busen, der auf und ab hüpfte.

»Dottore, Dottore – eine Tragödie! Die Signorina, er hat sie umgebracht, erstochen …«

Luca roch ihr intensives Veilchenparfum, als sie ihm um den Hals fiel, er machte sich los und trat einen Schritt zurück: »Nein. Nein, nicht Laura, Signora, nein …«

»Doch, ich habe sie gesehen, mit meinen eigenen Augen, er hat sie abgestochen …«

»Wer, Signora? Wer, er?« Luca schrie fast. Er packte sie am Arm und schüttelte sie, aber da war schon mit ein paar langen Schritten der dürre Polizist bei ihnen und zog die Signora weg.

Benommen hob Luca sein Handy auf, steckte es in die Hosentasche und ging zurück in die Redaktion. Er hatte das Gefühl, kaum vom Fleck zu kommen, jeder Schritt fiel ihm unendlich schwer. Der Einsatzleiter der Squadra mobile war wütend geworden und hatte die Signora weggeführt, sie sollte ihre Aussage auf der Polizei machen, nicht die ganze Piazza zusammenschreien. Inzwischen waren immer mehr Leute auf die Straße gelaufen, aus den Nachbarhäusern und aus der Bar an der Ecke, wo er so gern seinen Espresso getrunken hatte. Er hatte Massimo, den Barista, erkannt, wie in Trance, die Gesichter, die ihm alle vertraut waren, aber wie vom Schock verzerrt. Er hatte einen letzten Blick auf den blassblauen Palazzo geworfen, auf den Eingang und die schmale, steile Treppe dahinter, die er so oft hochgestiegen war. Fünf Etagen, kein Aufzug, vom vierten in den fünften Stock wurde die Treppe nochmal enger und steiler, als ob man einen Turm hochstieg. Dann hatte er sich umgedreht und war gegangen, er wusste, dass er hier und jetzt nichts herausfinden würde, er wollte weg, weg und allein sein.

An der Piazza della Kalsa bog er links zum Meer ab, überquerte die breite Straße des Foro Umberto, wo der Verkehr wie üblich stand und alle wild hupten, vorbei an den Ständen, an denen stigghiole gegrillt wurden, Ziegendärme. Die Luft war voller Rauch, es roch verbrannt, und er musste würgen. Schon immer hatte er sich vor dieser palermitanischen Leibspeise geekelt. Schnell lief Luca weiter, immer schneller über die neu angelegte Uferpromenade, über den Rasen, der jetzt, mitten im Sommer, gelblich-fahl aussah, zum Meer hinunter. Dann blieb er stehen und holte tief Luft. Laura war tot. Bilder zogen an ihm vorbei, Laura, die tanzte, elegant, leicht, die Haare streng zum Dutt zurückgekämmt, Laura, die sich die Ballettschuhe aufband, die sich die Füße massierte, die lachend auf ihn zukam. Er sah ihr Gesicht, die Sommersprossen, die helle Haut, die schmalen, markant geschwungenen dunklen Augenbrauen, die langen, schwarzen Wimpern, die grünen Augen, die leuchteten. Laura, die ihn umarmte, ihn küsste. Laura, die wütend war, die ihm sagte, dass er zu viel von ihr wollte. Die ihm sagte, dass es vorbei war. Er wischte sich das Gesicht ab, er hatte nicht gemerkt, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Der Wind wehte hier an der Strandpromenade stärker, warm und gleichgültig blies er ihn an. Luca schaute über die Bucht von Palermo, links lag der Monte Pellegrino, davor der Hafen mit seinen Kränen, rechts konnte er in der Ferne Bagheria und das Capo Zafferano ausmachen, das ins Meer ragte. Die Landschaft kam ihm leer vor, das Meer war ein grauer Teppich, der endlos und gleichgültig vor sich hin wogte, er verschwamm mit dem Himmel. Hinter sich hörte er den Lärm der Stadt, wütend, feindlich.

Laura war tot.

2

Laura non c’è, è andata via, Laura non è più cosa mia …«

Aus dem billigen CD-Player dröhnte es metallisch-scheppernd durch den Raum, der eher ein Verschlag war. Die schwere Holztür, die einen Spaltbreit aufstand, ließ etwas Licht in das fensterlose Zimmer, das wohl einmal als Lager gedient hatte. Jetzt war es verlassen und dreckig, die Ratten raschelten in den Ecken, in der Mitte lag eine fleckige Matratze, an der Wand war ein alter, rechteckiger Tisch aus dunklem Holz stehen geblieben, daneben ein orangefarbener Plastikstuhl.

»Mi manca da spezzare il fiato …«

Benommen tastete der junge Mann in den Hosentaschen seiner dreckigen Jeans nach dem kleinen Beutel, er holte eins der braunen Bröckchen heraus, drehte es hin und her, dann stellte er den CD-Player lauter.

»Laura dov’è, mi manca sai …«

Er sang laut mit, die Worte verstand er nicht, aber Laura, diesen Namen. Es war ein schönes Lied, die CD hatte er bei einem Freund gekauft, der sich mit seinen Raubkopien zwischen dem Markt der Vuccirìa und der Via Roma herumtrieb, ein Euro, ein guter Preis. Heute war ein seltsamer Tag, für ein paar Euro hatte er diesen Beutel bekommen. Er verstand nicht, warum der Dealer plötzlich so großzügig war, ein anderer als sonst, der ihm viel zu viel in die Hand gedrückt hatte. Ein kleiner, mickriger Typ, der gegrinst hatte. Ihm war schwindelig, er hatte es wohl übertrieben, er konnte heute nicht mehr an die Piazza Marina. Dort stand er sonst den ganzen Tag und wies Parkplätze an. Die Leute hatten sich an ihn gewöhnt, er wurde nicht mehr allzu häufig beschimpft, aber wenn er zu viel geraucht hatte oder getrunken und sich in eine Ecke des kleinen Parks legte, verscheuchten ihn die Menschen, und manche, die mit den ganz großen Autos, gaben ihm nichts.

»Laura non c’è, è andata via, Laura non è più cosa mia …«

Laura lächelte immer, ihretwegen ging er hin, in letzter Zeit hatte er weniger auf die Autos geachtet, sondern in ihrem Hausflur herumgelungert. Er wusste, wann sie runterkam und wo sie hinging. Manchmal schlich er sich hoch und lauschte an ihrer Tür – wie gestern? Oder vorgestern? Sein Kopf drehte sich, ja, er war die enge Treppe hochgestiegen und hatte gelauscht, aber war dann nicht diese Dicke gekommen und hatte ihn verjagt? In der Wohnung war er gewesen – aber wieso? Und wo war Laura? Er schüttelte den Kopf, er erinnerte sich nicht mehr. Jetzt fiel sein Blick auf einen Haufen Kleider in der Ecke, seine Decke und der Mantel, den ihm Karim im vergangenen Dezember dagelassen hatte. Karim, der sich immer Sorgen um ihn machte. Er hob den Wollmantel hoch, nachts war es hier auch im Sommer kühl und feucht in dem dunklen Raum, aber er war froh, dass er hier unterschlüpfen konnte. Meistens war er allein, das Haus war windschief und längst verlassen, da es einsturzgefährdet war. Ein Warnschild klebte an der Eingangstür, irgendwann vor ein paar Jahren war das Dach eingebrochen, und man hatte notdürftig eine Holzsäule eingezogen, die das Gebäude stützte. Ihm war das egal, er konnte sich verkriechen, rauchen, fixen, sein Zeug verstecken. Und die Leute hier im Borgo waren in Ordnung, der Bäcker gab ihm immer mal ein panino, und auch der Gemüsehändler steckte ihm ab und zu etwas zu. Hier fiel er weniger auf als an der vornehmeren Piazza Marina.

Da lag ein Stoffbeutel unter dem Mantel, wo kam der her? Hatte er ihn irgendwo gefunden? Gestern, bevor die Dicke ihn verjagt hatte? In dem Beutel lagen, in Lumpen gewickelt, ein langes, rostiges Messer und eine dunkelgrüne Tasche aus Samt. Er öffnete sie und erschrak. Er musste Karim anrufen, Karim musste kommen. Sobald er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, musste er seinen Bruder verständigen.

3

Villabianca, Provinz Agrigent, Mai 1929

Träge wehte die Gardine vor dem hohen Fenster, aber auch der nächtliche Luftzug brachte kaum Abkühlung in dieser heißen, sternenklaren Mainacht. Der Vollmond leuchtete fahl über die endlosen Reihen von Olivenbäumen, deren Blätter silbrig glänzten.

Barfuß ging er über den kühlen Steinboden zum Fenster und schaute vorsichtig hinaus – dort zwischen den Zitronenbäumen nahe an der Villa lehnte sein Fahrrad. Er musste gleich los, der Mond wurde schon blass, und bald würde ein feiner, heller Streifen am Horizont auftauchen, die Nacht war vorüber. Beatrice seufzte im Schlaf. Sie schwitzte, Strähnen ihres blonden Haares klebten ihr an der Stirn, sie hatte das Bettlaken beiseitegeschoben, und er sah ihre weißen Brüste, konnte sich nicht sattsehen an der hellen Haut. Schon im März waren die Mädchen hier dunkelbraun, selbst im Winter war ihre Haut leicht getönt, gegerbt von der Sonne, von der Arbeit bei der Mandel- oder Olivenernte und der Weinlese.

Aurelio grinste: Es war leicht gewesen, die Mädchen zu verführen – für ihn, den Sohn von Don Ciccio, dem Verwalter auf dem Gut des Fürsten Gonzales di Aragona.

Er hatte seinen Spaß gehabt, manchmal war er sogar ein wenig verliebt gewesen. Das hatte er sich jedenfalls eingebildet. Bis Beatrice aufgetaucht war, Beatrice aus Palermo. Es war ein kühler, windiger Januartag gewesen, grau in grau, der Himmel, die Felder, selbst das Meer waren grau gewesen, als man die Fürstin von Valguarnera mit der Isotta Fraschini des Fürsten aus Palermo abgeholt hatte. Grau war auch das sonst immer schwarz glänzende Automobil, das er so bewunderte und zu gern einmal gefahren hätte, grau und mit schmutzverklebten Rädern. Die Fahrt von Palermo hatte drei Stunden gedauert, die Straßen waren zum Teil nicht befestigt, und nach den Regenfällen versank man in Matsch und Schlamm. Sein Vater und er hatten im Hof der Villa gestanden, um die neue Herrin zu begrüßen.

Gerechnet hatte keiner mehr mit einer Ehefrau – der Fürst war längst über vierzig und schien sich nicht für Frauen zu interessieren. Es kursierten wilde Gerüchte über seine heimlichen Leidenschaften. Aber welche hätten das sein können? Aurelio sah ihn selten, der Fürst ritt kaum über seine Ländereien, und der Vater erzählte immer, dass er sich in seiner Bibliothek vergrub, dass er Insekten sammelte und monatelang auf Reisen war, in Afrika, dem fremden Land, das im Süden jenseits des Meeres lag. Wahrscheinlich reichte die Phantasie der Menschen in Villabianca nicht aus, sich vorzustellen, dass einer gar kein Interesse hatte, weder an den hübschen Mädchen noch an den mageren Jungen.

Mit seinem Vater hatte er gelacht über die Frau, die so einen nahm, die Palermo verließ, um hierherzukommen, in dieses Nest an der Südküste, um den Fürsten zu heiraten, der sich mit ihr ebenso wenig beschäftigen würde wie mit allen anderen. Frauen, die ihm erst seine Mutter und später seine Schwester vorgestellt hatten.

Dann war Beatrice aus dem Auto gestiegen, jung, schlank und hell, und plötzlich war nichts mehr grau gewesen an jenem Tag. Sie trug ein weißes Kleid, darüber einen braunen Mantel, auf dem Kopf einen Hut, wie er ihn noch nie gesehen hatte, weich und rund schmiegte er sich an ihren Kopf, darunter fielen ihr ein paar Strähnen blonder Haare in das schmale Gesicht. Die Augen leuchteten grün, und sie lächelte müde, als der Fürst ihr aus dem Auto half.

Nicht einmal anderthalb Jahre war das her, aber Aurelio würde diesen Tag nie vergessen. Plötzlich waren alle Abenteuer und Liebschaften Spielereien, kindisch, albern und unbedeutend.

»Ich lass dich nie mehr los – egal, was der Fürst sagt oder mein Vater. Es gibt nur noch dich und mich«, flüsterte er, dann zog er sich an, ging zurück zum Bett, küsste sie auf die Stirn und schlich sich leise aus dem Haus. Giovanna wusste zwar Bescheid, aber er wollte sie nicht wecken – und erst recht nicht die anderen Hausdrachen, die hier ihr Unwesen trieben und über die Hausherrin und ihn tratschten. Er sah sich vorsichtig um, ließ dann sachte das schwere hölzerne Portal ins Schloss fallen und ging über den Hof zu den Zitronenbäumen. In der Ferne bellte ein Hund, in den Bäumen raschelte es, ein Vogel flog auf. Dann der Schrei eines Käuzchens: Klagend hallte er durch die silberne Nacht. Er schaute sich noch einmal nach dem Palazzo um, stieg auf sein Fahrrad und schlug den alten Pfad am Olivenhain entlang nach Hause ein. Die silbrigen Blätter wogten im Wind wie das Meer, darunter wuchsen die knorrigen, gewundenen Stämme aus der Erde, deren dicke, schwere Rinde ganz eigene Muster bildete. Aurelio war in Gedanken versunken. Wann würde er Beatrice wiedersehen? Morgen? Und wann kam der Fürst zurück? Sie würden reden müssen, zuerst musste er es seinem Vater sagen, der wusste immer Rat …

Als er hinter sich ein Geräusch hörte, war es schon zu spät. Bevor er nach dem Messer greifen konnte, das in seinem Hosenbund steckte, bevor er ausweichen konnte, zerriss ein Schuss die nächtliche Stille, und er stürzte vom Rad.

4

Wer? Wer, er?« Luca rührte seit zehn Minuten in seinem Espresso und nahm das Treiben um ihn herum in der Via Principe di Belmonte gar nicht wahr. Wer hatte Laura umgebracht? Und weshalb?

Viel hatte er bislang nicht rausgefunden: Offensichtlich hatte der Mörder sie überrascht, ein Dieb, der es auf ihren Schmuck abgesehen und nicht damit gerechnet hatte, dass sie zuhause war. Merkwürdig, besonders viel Schmuck hatte Laura nie besessen, sie hatte auf so etwas keinen Wert gelegt. Jedenfalls nicht, solange sie mit ihm zusammen war. Bis auf die Kette, die ihr ihre Großmutter geschenkt hatte, ein Familienerbstück, das sie niemals abnahm, auch nicht beim Tanzen. Aber das konnte ja wohl kein Grund für einen Raubüberfall gewesen sein?

Matteo hatte ihn heute früh noch mal angerufen, er solle mittags in die Via Principe di Belmonte kommen: Manfredi Guarnieri habe ihm ein Interview für seinen Bericht über den Mord zugesagt. Matteo Aiello, Lucas bester Freund und eine Quelle unerschöpflicher Informationen, bekam jeden vor die Kamera. Er arbeitete in der Nachrichtenredaktion des örtlichen Fernsehsenders und hatte überall seine Verbindungen. Der Mord schien die Presse längst nicht so sehr zu beschäftigen wie das anfängliche Gerücht, das sich nun bestätigt hatte: Laura Di Fiore war Manfredi Guarnieris Geliebte gewesen. Luca schaute von seinem Tisch auf und sehnte sich nach einer Zigarette. Seit zwei Jahren hatte er keine mehr geraucht, aber seit ihm Matteo erzählt hatte, dass der Baron offenbar am Mordtag mit Laura verabredet gewesen war und bereits von der Polizei verhört wurde, dachte er an Zigaretten. Zwanghaft. Plötzlich erinnerte er sich wieder daran, wie gut der erste Zug schmeckte, wie das Nikotin in die Lunge drang. Er trank seinen Espresso aus und schaute sich um. Matteo musste gleich da sein. Natürlich kannte der Freund diesen Guarnieri. Matteos Frau Isabella stammte aus einer adligen Familie, die befreundet und wahrscheinlich um viele Ecken verwandt war mit den Guarnieri, den Baronen von Montevago. Isabella hatte schon als Kind jeden Sommer an der Südküste Siziliens verbracht, in Villabianca, wo die Guarnieri ein großes Weingut besaßen, das Manfredis Bruder Ruggero führte. Manfredi Guarnieri war Anwalt und kümmerte sich um den internationalen Vertrieb der Weine und des Olivenöls, die in Villabianca produziert wurden. Guarnieri verstand sein Geschäft, außerdem hatte er einflussreiche Freunde in Palermo, bis hin zu Giuseppe Cuddaro, dem korrupten Präsidenten Siziliens, der dem Freund alle Wege ebnete.

Wie hatte sich Laura nur in so einen verlieben können? In den zwanzig Jahren, in denen Luca als Journalist beim Giornale Siciliano arbeitete, hatte er seine Berufsehre immer verteidigt, sie war ihm heilig – er hatte sich nie gemein gemacht mit den Mächtigen der Stadt, hatte immer über Korruption und Missstände geschrieben, wo er sie sah. Er tat niemandem einen Gefallen, und seine wenigen Freunde zählten nicht zur sogenannten besseren Gesellschaft der Stadt.

Wütend kratzte Luca die Zuckerreste aus der Tasse. Er saß allein an einem kleinen Marmortisch, um ihn herum waren alle Plätze besetzt. Heute schien die Sonne, es war heiß und windstill, und obwohl er das elegante Café Spinnato in der Via Principe nicht besonders mochte, musste er zugeben, wie demokratisch es hier zuging: Die von zahlreichen Grünpflanzen umstellten Tischchen teilte sich die feine Gesellschaft Palermos mit Touristen aus aller Welt – Luca erkannte drei der bekanntesten Anwälte der Stadt, die hier äußerst elegant in dunkelgraue Anzüge gekleidet ihre mittägliche Pizza aßen. Daneben Touristen mit bequemen Schuhen, Rucksäcken und beigefarbenen Anoraks, die zu jeder Tageszeit latte macchiato bestellten und dazu ein panino – was für eine Herausforderung für jeden Magen. Vielleicht waren sie weniger empfindlich als er, dachte Luca, diese Menge warme Milch mit einem panino: Davon würde er sofort Magenkrämpfe bekommen. Laura hatte sich immer über ihn lustig gemacht, über seine Sorge um seinen empfindlichen Magen, überhaupt hatte sie ihn als Hypochonder bezeichnet, was er als unfair empfunden, ihr aber nicht übel genommen hatte. Sie war ja auch durchaus nicht die Erste gewesen, die diesen Zug an ihm entdeckt hatte …

Laura: Er hatte die Hoffnung nie aufgegeben, dass sie zu ihm zurückkam. Trotz der Gerüchte um ihre Affäre mit diesem Guarnieri. Matteo, der immer alles wusste, hatte ihm natürlich davon erzählt, aber er hatte das nicht hören wollen. Er hatte sich sogar mit Isabella gestritten, was er sonst nie tat. Er mochte Matteos immer freundliche und ruhige Frau sehr und hatte sich hinterher geschämt, ihr vorgeworfen zu haben, sie sei ebenso dumm wie die gesamte sogenannte bessere Gesellschaft Palermos, die nicht viel tat außer tratschen und das Geld ausgeben, das man sich auf undurchsichtige Weise beschafft hatte … Dabei hatte Isabella recht gehabt, Laura hatte sich in Manfredi Guarnieri verliebt, den Casanova der Stadt.

Und nun war es zu spät, Laura war tot. Er hatte sie nicht beschützen können, obwohl sie um Hilfe gerufen hatte – spät, aber sie hatte ihm geschrieben und irgendetwas mitteilen wollen. Etwas, das er nicht verstand: »Öffne das Meer, heb die Wolken von den Bäumen.«

Was sollte das heißen? »Es lacht die Elster, schwarz, auf den Olivenbäumen.« Lauras Liebe für Gedichte hatte Luca nie geteilt, meistens verstand er den tieferen Sinn nicht. So wie bei diesen Zeilen. Aber er würde herausfinden, was passiert war, das hatte er sich irgendwann in der letzten Nacht geschworen, in der er sich stundenlang schlaflos im Bett hin- und hergewälzt hatte.

Er schrak aus seinen Gedanken hoch, als Matteo plötzlich vor ihm stand: »Luca, da bist du ja – Guarnieri muss gleich kommen, wir drehen da drüben in dem Restaurant, dort wollten sie gestern essen gehen.«

Der Freund wandte sich um und winkte seinen Kameraleuten zu, gestikulierte wild, sie sollten sich in Stellung bringen. Wie so oft sah er aus, als wollte er auf Safari gehen – über dem langärmligen dunkelblauen Poloshirt trug er eine seiner geliebten Westen mit unzähligen Taschen innen und außen, in denen er alle möglichen und unmöglichen Utensilien verstaute: Portemonnaie, Handys, seine Zigarillos, Feuerzeuge, Notizblöcke, ein Sammelsurium von Stiften. Und wie immer steckte ein Zigarrenstummel zwischen seinen Lippen.

Luca war aufgestanden, hatte zwei Euro für den Espresso auf den kleinen Marmortisch gelegt und starrte auf das Restaurant gegenüber: Gigi Mangia, eins der feinsten der Stadt, bekannt für exzellenten Fisch. Hier waren Guarnieri und Laura also zum Essen verabredet gewesen – er dachte darüber nach, ob er mit Laura je dort gewesen war. Nein, nie. Luca aß mittags in einer einfachen Trattoria nahe dem Hafen.

Matteo hatte inzwischen sein Kamerateam zusammengerufen. Er hatte einen etwas watschelnden Gang, machte trotz seines beachtlichen Leibesumfangs kleine, schnelle Schritte, dabei fuhr er sich immer wieder durch die kurz geschnittenen, dichten Haare, die schon recht grau waren. Wie immer war er von einer ansteckenden Fröhlichkeit, aber dann legte er Luca kurz den Arm um die Schulter und schaute ihn ernst an: »Cazzo, Luca, ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Mach dich auf was gefasst, Guarnieri will eine Beichte ablegen.«

Hinter dem Kamerateam hatte sich bereits eine Menschentraube gebildet, Palermitaner waren neugierig, egal, wer hier vor die Kamera trat, er war wichtig.

Luca sah Manfredi Guarnieri schon von weitem, mit entschlossenem, nicht zu schnellem Schritt bahnte er sich seinen Weg durch die Menschen in der Via Principe. Er kam von unten, aus der Via Wagner, dort war seine Kanzlei. Groß, schlank, die schwarzen, welligen Haare mit etwas Gel zurückgekämmt, leicht gebräunt, ein hageres Gesicht mit schmaler gebogener Nase, hellbraune Augen, die immer etwas spöttisch schauten, und schmale Hände mit langen Fingern. Die Hände, von denen Isabella behauptete, dass sie den Mann erotisch machten. Erotisch? Luca starrte Guarnieri an. Hatte Laura Guarnieris Hände auch erotisch gefunden? Er betrachtete seine eigenen Hände, die relativ klein waren, mit kurzen Fingern. Durchschnittshände. Was hatte Laura an diesem Mann gefunden, über dessen Affären die ganze Stadt sprach? Isabella hatte Manfredi Guarnieri immer verteidigt – ja, er hatte Affären, kein Wunder bei seinem Aussehen. Aber sie fand, er hatte auch Stil, Eleganz und war klug. Man langweilte sich nicht mit ihm, das hatte sie gesagt. Luca runzelte die Stirn.

Inzwischen war Guarnieri vor dem Restaurant eingetroffen, und Gigi, der Besitzer, kam raus und schüttelte ihm die Hand – klar, dachte Luca, der schenkt sicher deine Weine aus, die Zeit nimmst du dir, egal, ob deine Geliebte gestern ermordet wurde oder nicht. Dann drehte sich Guarnieri zu Matteo um, der bereits die Kamera auf ihn hatte richten lassen.

Guarnieri verzog das Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse, fuhr sich durch die Haare, eine Strähne fiel ihm danach kunstvoll ins Gesicht, er holte tief Luft, als fiele es ihm schwer zu sprechen:

»Ich habe einen großen Fehler gemacht und meiner Familie, meiner Frau, die ich über alles liebe, Leid angetan.« Pause. »Gestern Mittag waren Laura Di Fiore und ich hier verabredet.« Pause, ein bedeutungsvolles Lächeln in Richtung Gigi, der sich freundlich verneigte.

»Aber sie kam nicht, ich habe eine halbe Stunde gewartet, eine Dreiviertelstunde, dann bin ich gegangen, ich hatte einen dringenden Termin. Später habe ich ihre Nachbarin angerufen, dass sie nach ihr schaut. Sie hat die Wohnungstür angelehnt gefunden, und den Rest der Geschichte kennen Sie …«

Hier wurde seine Stimme leiser, sie schien zu versagen, und Guarnieri senkte den Kopf. Lucas Gedanken überschlugen sich. Mittags war Laura mit Guarnieri zum Essen verabredet gewesen – aber wann genau? Der hatte gewartet und war dann gegangen – und wann hatte er die Signora Calampisi angerufen? Matteo hatte sich um fünf bei ihm gemeldet, da war der Mord noch nicht lange entdeckt worden.

Luca drängelte sich durch die Menge der Gaffer, stellte sich neben Matteo und rief: »Signor Guarnieri, wann haben Sie die Nachbarin angerufen? Und wie haben Sie sich erklärt, dass Laura Di Fiore nicht zu Ihrer Verabredung erschienen ist? Haben Sie versucht, sie anzurufen?«

Guarnieri schien wie aus einer Trance hochzuschrecken und starrte ihn reglos an, fast reglos. Luca glaubte, Ärger in seinen ebenmäßigen Zügen zu erkennen, Guarnieri biss die Zähne zusammen, der Kiefer bewegte sich.

»Ist das hier ein öffentliches Verhör?«

»Signor Guarnieri, ich bin vom Giornale Siciliano und brauche ein paar Informationen für meinen Artikel. Wenn Ihre Geliebte nicht aufgetaucht ist, muss Ihnen das doch schon nach einer halben Stunde komisch vorgekommen sein. Haben Sie versucht, sie zu erreichen? Ist sie nicht ans Telefon gegangen?« Seine Stimme überschlug sich. Neben ihm gab Matteo den Kameraleuten ein Zeichen und stieß ihm den Ellbogen in die Seite.

»Was wollen Sie damit sagen?« Guarnieri brüllte fast. »Was wollen Sie mir unterstellen? Und was für eine Art der Berichterstattung soll das werden?«

Er konnte sich offensichtlich nur mühsam beherrschen, lockerte jetzt seine hellblaue Krawatte und sah sich herausfordernd um. »Aiello, wir brechen ab, wer immer dieser Typ vom Giornale ist, ich lasse mich nicht öffentlich verhören.« Entschlossen schaute er in die Runde.

»Signor Guarnieri, wann haben Sie die Ermordete zum letzten Mal gesehen?«

Guarnieri ging einen Schritt auf ihn zu, Matteo sprang dazwischen, packte den wütenden Baron am Arm und zog ihn weg. Guarnieri drehte sich noch einmal zu Luca um, machte sich von Matteo los und trat ganz nahe an Luca heran: »Lass mich in Ruhe, du Drecksjournalist!«

Eine Stunde, nachdem sich die Menge in der Via Principe sehr schnell zerstreut hatte, brüllte Matteo ins Telefon: »Minchia, Luca, bist du verrückt geworden? Gut, du kannst Guarnieri nicht leiden – aber ihn öffentlich zu verdächtigen … Das Interview ist im Arsch, vielen Dank!«

»Interview? Lächerliches Pathos, seine über alles geliebte Frau, so ein Schwachsinn. Die Frage ist doch, wieso er nicht nach Laura gesucht hat, als sie nicht aufgetaucht ist. Und wo war er am Vormittag? In der Kanzlei? Kapierst du das nicht – er hat sich damit ein perfektes Alibi verschafft. Jetzt muss er nur noch den reuigen Fremdgänger spielen und ist raus aus der Sache.«

Wütend sprang Luca von seinem Motorrad, das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Er war gerade in die Via Emerico Amari eingebogen, als das Telefon geklingelt hatte, jetzt stellte er seine alte BMW, seinen ganzen Stolz, vor Lo Bianco ab, der Trattoria, die er regelmäßig mittags aufsuchte.

»Cazzo, so ein Unsinn, wieso sollte er seine Geliebte ermorden? Dass er dir nicht sympathischer geworden ist, verstehe ich, aber fang bloß nicht an, wild zu spekulieren. Vor allem nicht in der Zeitung …«

»Keine Sorge, Matteo, Conciauro hat schon gesagt, dass er von mir keinen Artikel haben will, er hat Nuccio rangesetzt, den Volltrottel, der wird den feinen Baron mit Samthandschuhen anfassen – zufrieden?«

Er hörte Matteo seufzen. »Besser so, Luca. Ich halte dich auf dem Laufenden, sehe nachher Edoardo, den Schulfreund von mir. Erinnerst du dich? Den haben wir mal abends in dem kleinen Restaurant in Mondello getroffen, vor ein paar Monaten. Nicht sehr groß, nicht besonders schlank, sehr freundlich. Der ist in der Squadra mobile, die zuständig ist für den Mord.«

Luca legte auf und steckte das Telefon in die Hosentasche. Das Motorrad ließ er mitten auf dem Bürgersteig stehen. Die Autos parkten zweireihig auf der Straße, kein Parkplatz weit und breit, und aus dem Blick lassen wollte er das gute Stück nicht. Diego machte sich immer lustig über seine Sorgen, wer würde das Ding schon klauen, aber Luca sah das anders, seine BMW R 65 von 1982 war Kult, auf die passte er auf. Sein Sohn hatte mit seinen neunzehn Jahren eh wenig Verständnis für ihn – weder für sein altes Motorrad noch für seine politischen Ansichten. Diego wollte ein neues Motorrad haben, er fand die kommunistischen Ideen seines Vaters überholt, studierte Jura im ersten Semester, wusste alles ganz genau und vor allem besser als sein Vater.

Eine alte Frau drängte sich schimpfend an ihm und dem Motorrad vorbei, der Verkehr war laut und dicht, es war zwei Uhr, die ganze Stadt schien unterwegs zu sein. Als er in die Trattoria kam, sah er, dass fast jeder Tisch besetzt war in dem kleinen Raum, aber Amilcare Lo Bianco, der Wirt, kam mit dem ihm eigenen gemessenen Schritt auf ihn zu und wies ihm einen Tisch in der Ecke an, neben dem Vorspeisenbüffet: eingelegtes Gemüse, Kürbis süßsauer, caponata, parmigiana, Saubohnen, Spinat, Blumenkohl waren liebevoll auf kleinen Platten arrangiert. Luca legte den Helm neben sich auf den Stuhl, zog die Jacke aus und schaute Amilcare erwartungsvoll an.

Amilcare Lo Bianco war mindestens siebzig, und solange Luca denken konnte, hatte es seine Trattoria gegeben, wahrscheinlich schon vorher, geführt vom Vater. Jeden Tag stand er, das schlohweiße Haar sauber gescheitelt, im grauen Anzug und mit einer Brille, deren Gläser dick wie Flaschenböden waren, an der Tür, begrüßte seine Gäste, wies Tische an und nahm die Bestellung auf. Diesmal kam er nicht weit mit seiner Aufzählung, schon bei pasta con le patate glassé, Pasta mit Kartoffeln, fiel ihm Luca ins Wort und bestellte eine Portion. Amilcare ärgerte das, das wusste Luca, er wollte, dass seine Gäste sich die ganze Auswahl anhörten, denn sie konnten ja nicht wissen, ob noch etwas Besseres käme. Außerdem war es eine gute Gelegenheit, ins Gespräch zu kommen. Aber Luca hatte heute keine Geduld für dieses Spiel, hatte zwar keinen Appetit, aber Hunger, weil er seit der Nachricht von Lauras Tod nichts gegessen hatte. Je einfacher das Gericht war, umso besser – ein Teller Nudeln mit cremig gekochten Kartoffeln, Olivenöl und einem Hauch Safran waren da genau richtig. Amilcare merkte schnell, dass Luca heute nicht gesprächig war, selbst die Fragen nach Diego beantwortete er einsilbig. Enttäuscht schritt Amilcare in Richtung Küche und überließ Luca seinen Gedanken.

Als die dampfende Pasta vor ihm stand und ihm der Duft von altem pecorino in die Nase stieg, merkte er, wie hungrig er war. Zufrieden räumte Amilcare eine Viertelstunde später den vollkommen leeren Teller ab. Luca schaute auf die Uhr, halb drei, eigentlich musste er in die Redaktion, aber er wollte noch schnell bei der Signora Calampisi vorbeischauen. Sie würde ihm hoffentlich sagen, wer »er« war – der Mörder. Oder zumindest, wen sie für »ihn« hielt.

5

Der komische Ausländer, der hier immer rumlungert, der war das. Der war besessen von Laura, ich habe sie gewarnt, aber Laura war zu allen freundlich, auch zu ihm.«

Luca saß in Signora Calampisis salotto und hörte sich ihre Hasstiraden an. Er versuchte sich zu erinnern, ob er ein Bild vor Augen hatte von einem illegalen Parkplatzwächter an der Piazza Marina, einem Nordafrikaner.

»Sicher, Signora, aber haben Sie ihn gesehen? Gestern?«

»Natürlich habe ich ihn gesehen, der war ja immer hier! Vorgestern habe ich ihn aus dem Haus verjagt, er lungerte im Treppenhaus rum, lauerte Laura wohl schon auf. Jeden Tag war der hier, jeden!«

»Aber warum sollte er Laura umbringen? Es klingt doch eher so, als wäre er in sie verliebt gewesen.«

»Dottore, der war krank und drogensüchtig, schmutzig und stank, oft hat er da draußen auf der Bank geschlafen, besoffen war er dauernd. Der ist von drüben aus dem Borgo gekommen, dort hat er gehaust, aber manchmal hat er es abends nicht bis dorthin geschafft. Hat mir Massimo aus der Bar erzählt.«

Luca seufzte. Die Signora erzählte viel und ließ sich viel erzählen, außerdem hatte sie eine klare Meinung, was Ausländer betraf, clandestini, Flüchtlinge, die keine Aufenthaltsgenehmigung hatten, die irgendwie die Überfahrt von Afrika überlebt und sich von Lampedusa bis nach Palermo durchgeschlagen hatten – sie waren der Ursprung allen Übels.

»Wissen Sie denn noch, wie er heißt?«

»Für mich klingen die Namen alle gleich, und wieso hätte ich mit ihm reden sollen? Aber Laura hat das gemacht, sie hat mit ihm gesprochen, und sehen Sie, was daraus geworden ist?«

Die Signora sprang auf und zupfte die makellos in Falten herabhängende Gardine zurecht. Ihr salotto war ein großer, düsterer Raum, den sie eigentlich nie benutzte und in dem auf dunklen Möbeln in riesigen Silberrahmen Fotos ihrer Familie standen, der verstorbene Mann, die Kinder, die in Mailand und Turin waren, Enkelkinder, die sie zweimal im Jahr sah, im Sommer und zu Weihnachten, wenn die Familien nach Palermo kamen. Die Fliesen aus nachgemachtem Marmor glänzten elfenbeinweiß, auf allen Möbeln lagen Stickdeckchen, in der Vitrine blitzten Kristallgläser, die wohl noch nie benutzt worden waren. Laura und er hatten immer über den salotto der Signora gelacht. Viele Wohnungen in Palermo hatten so einen Raum, der mit schweren, dunklen Möbeln zugestellt war, einem Museum des schlechten Geschmacks glich und nie benutzt wurde. Das Leben fand in der Küche statt und im Sommer auf der Terrasse, wenn man das Glück hatte, eine zu haben.

»Wie er hieß? Irgendwas mit A – Achmed, Abed, Abdel, keine Ahnung, ich hab nie mit dem geredet, ich hab gleich gesehen, dass der gefährlich ist.«

»Danke, Signora, das hilft mir schon.«

»Der Baron ist fest davon überzeugt, dass er es war, das hat er mir heute früh gesagt.«

Entschlossen setzte sich die Signora wieder auf die crèmefarbene Ledercouch, die von einem transparenten Plastiküberzug geschützt war, und schaute Luca herausfordernd an.

»Ach ja? Sie scheinen den Baron ja gut zu kennen. So geheim war die Affäre dann wohl doch nicht.«

Der Blick der Signora blieb herausfordernd. »Der Baron hat mir vertraut. Er kam ja häufig hierher. Ich bin verschwiegen, Dottore, ich misch mich nicht ein. Was ich denke, behalte ich für mich. Und wenn ich helfen kann …«

»War Guarnieri heute bei Ihnen?«, unterbrach Luca ihren Redeschwall, der eindeutig auszuufern drohte.

»Nein, er hat mich angerufen, er hat sich Sorgen um mich gemacht, immerhin habe ich ja die arme Laura …«

An dieser Stelle brach die Signora in Tränen aus, und Luca verkniff sich weitere Fragen.

Giornale Siciliano, Palermo, 24. August 2010

Mutmaßlicher Mörder von Laura Di Fiore festgenommen

Gestern gegen 15 Uhr wurde ein 21-jähriger Tunesier im Borgo Vecchio festgenommen, bei dem der Schmuck der am 22. August mit sieben Messerstichen ermordeten Laura Di Fiore gefunden wurde. Die Polizei wurde auf den Verdächtigen durch Hinweise der Nachbarn aufmerksam.

6

Unerbittlich brannte die Sonne auf die Stadt, die Hitze drang in jede Gasse und jeden Winkel. Noch hatte sie nichts von ihrer sommerlichen Wucht verloren, und sehnsüchtig wartete man auf die ersten Regenfälle, die im September Abkühlung nach der sommerlichen Hitze bringen würden. Der Sommer war eine Zeit im Fieberwahn – bis auf die Nachmittagsstunden schien die Stadt nie zu schlafen, der Lärm toste ebenso durch die engen Gassen der Altstadt wie durch die breiten Alleen der neuen Stadtviertel und über die Märkte Ballarò, Vuccirìa und Capo, und es gab kaum einen Ort, wo man sich vor der Hitze schützen konnte.

Luca schwitzte. Obwohl es erst zehn Uhr morgens war, klebte ihm das Hemd am Körper. Schnell ging er in Richtung Borgo Vecchio, das alte, malerische Stadtviertel in Hafennähe, das nicht weit von seiner Wohnung entfernt lag. Er dachte an Laura, die die Sonne und den Sommer geliebt hatte, die jedes feste Engagement in Norditalien, in Frankreich und in England abgesagt hatte, weil sie sich nicht vorstellen konnte, in grauen Städten, wie sie es nannte, zu leben. Ihm kam der Sommergeruch falsch vor, alles war falsch, seit Laura tot war. Drei Tage waren seitdem vergangen. Luca hatte kaum ein Auge zugetan, und unaufhörlich rasten die Gedanken durch seinen Kopf.

Matteo hatte ihn nach der Festnahme des Tunesiers angerufen. Nachdem Luca hoch und heilig versprochen hatte, sich zu benehmen und keine unangenehmen Fragen zu stellen, hatte er ihn zu einem Treffen mit Edoardo mitgenommen. Der hatte sich ein wenig geziert – für die Polizei war der Fall heikel, einer, der schnell aufgeklärt werden musste. Aus dem man vor allem den Baron raushalten musste. Sie hatten sich in einer kleinen Bar weit weg vom Polizeipräsidium getroffen. Trotzdem hatte sich Edoardo dauernd nervös umgeschaut. Mit zwei Journalisten wollte er gerade jetzt nicht gesehen werden.

Edoardo schien heilfroh, mit dem Tunesier so schnell den mutmaßlichen Täter gefunden zu haben. Die Beweise waren erdrückend: Der vermisste Schmuck war bei ihm gefunden worden, außerdem die Tatwaffe. Luca wusste, was nun geschah. Der arme Teufel hatte keine Chance. Und Italienisch konnte er kaum, er würde einen Pflichtverteidiger und einen schlechten Dolmetscher bekommen und verurteilt werden. Ende.

Matteo warf Luca Befangenheit vor, aber es gab einfach einige Dinge, die nicht logisch waren: Erst einmal hatte Laura gar keinen Schmuck besessen. Sie hätte sich in den vergangenen zwei Jahren vollkommen verändern müssen, um plötzlich ein Brillantarmband, eine Cartier Tank americaine und einen Ring mit Solitär ihr Eigen zu nennen. Aber natürlich – Guarnieri, hatte Matteo argumentiert, vielleicht interessierte Laura der Schmuck immer noch nicht, das musste Guarnieri nicht davon abhalten, ihn ihr zu schenken. Zweitens war es nach wie vor unlogisch, dass der Baron einfach zurück in seine Kanzlei gegangen war, als Laura nicht wie verabredet um ein Uhr im Restaurant aufgetaucht war. Warum hatte er die Signora Calampisi erst gegen 16 Uhr angerufen? Das hatten sie von Edoardo erfahren – der Anruf der Signora war um 16:23 Uhr eingegangen, sie hatte die Wohnungstür angelehnt gefunden und dann die Leiche entdeckt. Außerdem schien Guarnieri selbst den Hinweis auf den Täter gegeben zu haben, gemeinsam mit der Signora Calampisi, aber er hatte darüber hinaus genaue Angaben zum Aufenthaltsort des Tunesiers gemacht. Was in der Zeitungsnotiz nicht erwähnt worden war. Woher kannte er den? Edoardo irritierten diese Fragen, das merkte man deutlich, und Matteo begann unter dem Tisch, Luca kräftig vor das Schienbein zu treten. Aber dann hatte Edoardo – wohl, um seine Unparteilichkeit zu demonstrieren, gesagt, dass Guarnieri wegen der Mittagsverabredung separat verhört worden war, es gäbe ein Protokoll. Man hatte anfangs in alle Richtungen ermittelt.

»Alle an der Piazza Marina wussten, dass Abdel Marouki im Borgo wohnt. Guarnieri hat sich wohl Sorgen gemacht, weil der Tunesier ja offensichtlich Laura Di Fiore gestalkt hat – deshalb ist er ihm irgendwann mal nachgegangen. So konnte er uns den Aufenthaltsort nennen, und dort haben wir dann die Tatwaffe und den Schmuck gefunden.« Zufrieden hatte sich Edoardo auf seinem Stuhl zurückgelehnt.

»Und das Motiv?«, wollte Luca wissen.

»Drogen, der klaut doch nicht zum ersten Mal.«

»Klauen und Raubmord sind zwei verschiedene Sachen, oder?«

Da hatte Edoardo erzählt, dass es schwierig war, Abdel Marouki zu verhören, er sprach kaum Italienisch. Sie würden aber einen Dolmetscher finden, da machte schon der Bruder Druck, der inzwischen die Questura belagerte.

»Der Bruder?«

»Er hat einen älteren Bruder, der schon länger hier und offensichtlich nicht auf die schiefe Bahn geraten ist. Karim Marouki.«

Jetzt lief Luca durch den Borgo Vecchio. Er trat gegen eine auf dem Boden liegende Cola-Dose, die scheppernd einem alten Mann vor die Füße fiel, den er gar nicht bemerkt hatte. Der Alte fing wütend zu zetern an, hob seinen Stock, schnell bog Luca um die Ecke. Er kannte fast jeden hier, den Fleischer an der Piazza Licuzza, den Bäcker, alle Barista in den kleinen, dunklen Bars und den Gemüsehändler, mit dem er gern und ausgiebig über die Qualität seiner Ware diskutierte. Vor allem aber Nino, den Automechaniker, der mit Engelsgeduld seine BMW reparierte und ihn in stundenlange Debatten darüber verwickelte, was die Ursache für diesen oder jenen Aussetzer sein könnte. Hier hatte jeder Zeit, das Viertel hatte seinen eigenen Rhythmus, der trotz des Lärms, der Tag und Nacht herrschte, ein ruhiger war. Irgendwer würde etwas über Abdel Marouki wissen, den Tunesier, der verhaftet worden war. Im Zweifelsfall Nino selbst, der ein großes Herz hatte und sich um viele der clandestini, der illegalen Flüchtlinge aus Afrika, kümmerte, die hier Unterschlupf suchten.

Die Straßen waren eng und schmutzig, neben den Obsthändlern drängten sich fliegende Händler mit Billigschmuck, Raubkopien und anderem Plunder, den hier niemand brauchte. Dazwischen saßen alte Männer in Gruppen auf weißen Plastikstühlen, spielten Karten und debattierten über Politik oder die Fußballergebnisse. Er winkte Michele, dem Gemüsehändler, zu, wich einem Mofa aus, auf dem drei Jungen saßen, die lachten und schrien, und schaute sich suchend um, als er eine tiefe Frauenstimme hörte, die irgendwo in einem der dicht an dicht gedrängten, alten niedrigen Häuser immer wieder einen Namen schrie: »Enzùuuuu … Enzuccio … Enzùuu mio …« Ihr Ruf, der wie eine Beschwörung klang, mischte sich mit lauter Musik, neapolitanische Lieder, sechziger Jahre, schätzte Luca. Arbeit hatte hier kaum einer, aber die paar Cent für einen Kaffee in der Bar von Tonino, auf die er gerade zusteuerte, fanden sich immer, die Jungen halfen aus, viele machten schon früh krumme Geschäfte und träumten davon, hier irgendwann mal das Sagen zu haben, so wie Pippo, der Metzger. Das hatte Luca bei seinen Gängen durch das Viertel schnell gemerkt, weil die anderen Pippo auf eine bestimmte Art ansahen, auf eine bestimmte Art mit ihm redeten und ihn grüßten. Luca seufzte, als er in die Bar von Tonino trat – in diesem Land funktionierte nichts, nur die Verbrecher waren perfekt organisiert, jede noch so kleine Gasse aufgeteilt, einem kleineren oder größeren Boss zugeordnet, die regierten wie die Sonnenkönige. Und darüber schreiben durfte man nicht. Pressefreiheit war eine demokratische Errungenschaft und ein großes Wort – Luca arbeitete sich seit zwanzig Jahren daran ab.

»Ciao, Prufessuri, ich mach dir ’nen Kaffee!«

Toninos schmetternder Bass riss ihn aus seinen Gedanken – hier reichten seine Brille, die er zum Lesen brauchte und meistens gedankenverloren auf die Stirn schob, um sie dann zu vergessen, und die Zeitung unter dem Arm, um als Professor durchzugehen. Er stellte sich an die Bar neben drei finster aussehende Männer, die ein Bier tranken.

»Ciao, Tonino, was gibt’s Neues? Irgendwas passiert?«

»Passiert, was passiert hier schon, alles und nichts …« Der Kaffee war zähflüssig und dunkel, mit etwas hellbraunem Schaum, genau so wie Luca ihn liebte. Die drei Typen tauschten sich über die Fußballergebnisse aus, Palermo stand kurz vor dem Abstieg, die Serie A würde bald Vergangenheit sein.

In dem Moment trat ein kleiner, merkwürdig verwachsener Mann in die Bar, und alle Gespräche verstummten. Luca starrte den Zwerg an, der höchstens 1,60 war. Sein Kopf sah zu groß aus für den kleinen Körper, die Arme waren überproportional lang. Die Gesichtszüge waren merkwürdig grob, als hätte jemand versucht, sie aus einem Steinblock zu hauen, aber schnell die Lust daran verloren. Eine Ray Ban hatte er sich in die kurzen, schwarzen Haare geschoben, an den Füßen trug er weiße Prada-Sneakers, dazu ein weißes Hemd und eine Cargo-Hose, die aussah wie in der Kinderabteilung gekauft. Wie alt der Typ war, der jetzt laut nach einem Kaffee schrie, konnte Luca nicht schätzen. Er sah, dass sein BMW, ein riesiger SUV, draußen vor der Tür in der engen Straße stand, der Motor lief. Bei dem Lärm hatte er das gar nicht gehört, aber inzwischen wurde wild gehupt, was den Zwerg aber nicht zu stören schien. Er trank seinen Kaffee in Ruhe, zahlte mit einem Hundert-Euro-Schein, den Tonino zu Lucas Erstaunen klaglos wechselte, warf mit übertrieben großer Geste einen Euro Trinkgeld auf die Theke und verschwand. Luca sah ihn in sein riesiges Auto springen, das in der Sonne wie ein großer Käfer glänzte, und davonrasen.

»Was war denn das für einer? Den hab ich hier noch nie gesehen.«