Sklavenjäger - Boris Cellar - E-Book

Sklavenjäger E-Book

Boris Cellar

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Beschreibung

In die Falle gelockt … Das Gitter von Cindys Zelle senkte sich. Der ältere Wächter schlurfte herein. Gemächlich öffnete er ihr Sträflingskleid, Verschluß für Verschluß, und ließ es seitlich zu Boden gleiten. Dabei stellte er sich in einem seltsamen, unnatürlichen Winkel vor sie hin. Vor mir hatte er noch nie auf diese Art gestanden. Es kam mir vor, als ob er einer unsichtbaren Zuschauermenge die Sicht nicht verstellen wollte. "Laß sie in Ruhe!" wollte ich rufen - doch außer einem gedämpften Stöhnen und stummer Knebelsprache bekam ich keinen Laut heraus. Der Wächter streichelte Cindys Gesicht. Ich sah, wie sie erfolglos probierte, seinen Fingern in den widerlichen Gummihandschuhen zu entgehen. Schließlich packte er ihren Kopf mit der anderen Hand und strich recht unsanft ihre kurzen Haare beiseite. Sie erwiderte trotzig seinen Blick - eine endlose Sekunde lang. Dann ließ er den Kopf los und quetschte mit beiden Händen ihre Brüste brutal zusammen. Sie hatte kurz und schrill in den Knebel gequietscht und war dann schlagartig ruhig geworden. Ich sah, wie Cindy sich versteifte und am ganzen Körper erzitterte. Mit aufgerissenen, angsterfüllten Augen starrte sie ihren Peiniger an, während dieser ihren Busen fest zusammenquetschte. Es kam mir für einen kurzen Moment vor, als ob sie statt in seine Maske daran vorbei auf das heruntergelassene Gitter schaute. Der Wächter ließ von den Brüsten ab und hielt nun ihre Brustwarzen zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann drückte er zu, und das Mädchen schrie. Das Mädchen versuchte der Behandlung zu entkommen und wand sich hilflos in den Fesseln. Es war sinnlos. Mit jeder Bewegung machte sie es nur noch schlimmer. Sie war unentrinnbar an die Wand geschmiedet. Der Kapuzenmann holte zwei Klammern aus einer Tasche seines Mantels und plazierte sie direkt auf den hervorstehenden Nippeln. Cindy verspannte sich. Sie stand auf Zehenspitzen und starrte mit feuchten Augen in die Dunkelheit. Immer wieder verschwinden Mädchen spurlos in Belgien - und es ist gefährlich, ihrem Schicksal nachzuspüren … Zur Schau gestellt …

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Roman

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Boris Cellar

MARTERPFAHL VERLAG

Als Ebook veröffentlicht im April 2017

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-944145-56-3

Impressum der Paperback-Ausgabe:

© 2012 by Marterpfahl Verlag Rüdiger Happ,

Postfach 8 / Firstbergstr. 2, D-72147 Nehren

Omnia iura reservantur

[email protected]

www.marterpfahlverlag.com

Einbandgestaltung: Sibil Joho, unter

Verwendung eines Fotos von »Pictograph«

ISBN 978-3-936708-94-3 (Paperback)

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

1

Carola Reinhart, spornte ich mich an, du hast dein Ziel bald erreicht! Halte durch!

Die letzten Meter wurden noch einmal richtig tückisch und machten das Ende meiner Wanderung zu einer wahren Herausforderung. Der Abstieg zu einem geteerten Weg, der von einer vielbefahrenen Nationalstraße aus den Wald teilte, war ziemlich steil und bestand überwiegend aus festgetretener Erde und losen Steinen.

Die Wanderpfade, die ich benutzte, hatten sich um das Tal eines kleinen Flußlaufs wie ein fließender Strom durch gefährliche Stromschnellen gewunden und mir immer wieder einen sagenhaften Ausblick gewährt. Kein Maler hätte dieses bezaubernde Bild prachtvoller darstellen, kein Poet diese Schönheit kunstvoller beschreiben können, als es tatsächlich war. Hätte ich mehr Zeit gehabt, hätte ich noch länger über die Schönheit der Welt sinnieren können. Es ist unglaublich, wie stark Sinneseindrücke die Gefühle von Menschen beeinflussen können, und wie schön die Welt doch ist, in der wir leben.

Doch jetzt mußte ich mich weiter auf den vor mir liegenden Weg konzentrieren. Die Schritte wurden zu einem Schlittern und Rutschen. Behutsam setzte ich einen Fuß vor den nächsten. Von einem kontrollierten Gehen konnte schon keine Rede mehr sein. Ständig mußte ich achtgeben, daß ich nicht stolperte und mich in den Sträuchern am Wegesrand wiederfand, die dort bereits auf mich lauerten.

Ihre stacheligen Zweige verbissen sich in meine Wollsocken und versuchten immer wieder aufs neue, mich zu Fall zu bringen. Der lebende Stolperdraht war recht ausdauernd, mühte sich aber letztlich doch vergebens. Von so simplen Ranken ließ ich mich nicht aufhalten. Sie konnten sich mit ihren irdenen Farben tarnen, so gut sie wollten. Ein Stolpern aufgrund einer Unachtsamkeit am Anfang der Tour hatte genügt, um auf die kleinen Biester aufmerksam zu werden. Eine zweite Chance ließ ich ihnen nicht. Aus Schaden wird man klug – sogar ich.

Durch vorsichtige Schritte versuchte ich, die Balance zu halten und nicht mit dem Bach rieselnder Steine ins Tal zu purzeln. So kurz vor dem Ziel wollte ich kein Risiko mehr eingehen. Ein Sturz oder eine Verletzung würde den Zweck der Reise zunichte machen. Für das Unternehmen hatte ich schon zu viel Zeit investiert, um es am Ende durch eine Unachtsamkeit aufs Spiel zu setzen. Lange Stunden der Planung und Vorbereitung lagen hinter mir. Diese Mühen durften nicht um sonst gewesen sein.

Im Grunde liebte ich das Wandern auf unbefestigten Wegen. Jede Strecke hatte ihre Besonderheiten und bot spezielle Herausforderungen, die nur mit Mut und Geschick schadlos bewältigt werden konnten. Ständig war ich auf der Hut und achtete auf all die kleinen Unebenheiten, die sich auf dem Weg befanden. Vorausschauendes Gehen kann Unannehmlichkeiten vermeiden, hatten mir meine Eltern schon in frühester Kindheit beigebracht. Sie hatten recht; wie bei so vielem.

Dieser Teil Belgiens war schwach besiedelt und touristisch lediglich rudimentär erschlossen. Der schlecht markierte und zudem noch recht unwegsame Wanderpfad wurde zu dieser späten Stunde kaum mehr von anderen Spaziergängern frequentiert. Ich war alleine. Das war gut so.

Die Teerstraße unter mir führte zu einer abgeschiedenen, mittelalterlichen Burg, welche in einem malerischen Flußtal schlummerte, als ob man sie dort vor unliebsamen Besuchern verbergen wollte. Der dichte Mischwald und die umliegenden Hügel schützten sie recht gut vor allzu neugierigen Blicken.

Der prächtige Sommerwald erstrahlte in seinen lebendigen, satten Grüntönen. Die warmen Farben der Natur und die vielfältigen Laute der darin lebenden Tiere ließen mein Herz höher schlagen. Die Straße selbst durchschnitt das Tal wie eine unnatürliche Schneise, die wie eine schwärende Narbe anmutete, die jederzeit eiternd aufzubrechen drohte. Meine Begeisterung wurde durch diesen von Menschenhand erbauten Albtraum aus Teer und Beton um ein Haar ausgelöscht.

Der Eingriff des modernen Menschen in das Gefüge der Schöpfung ohne Gespür für Verantwortung und Ästhetik lag wie ein Menetekel vor mir. Jedoch machte mich das wunderbare Kleinod an dessen Ende blind für die subtile Warnung.

Dort stand in seiner vollen Pracht der Komplex einer alten, sandsteinfarbenen Burganlage, der im rötlich-gelben Licht der untergehenden Abendsonne erstrahlte. Dieses Bauwerk war eine reine Augenweide – im Gegensatz zu dem Wurm aus pechschwarzem Teer, der sich durch den Wald darauf zuquälte.

Das Anwesen war links und rechts mit je einer bis zu drei Meter hohen Mauer geschützt, die von zwei befestigten Wachtürmen begrenzt wurden. An der Stirnseite stand linker Hand ein ziemlich großer Turm, an welchen sich ein beeindruckendes Steinhaus anschloß. Die beiden Gebäude nahmen die gesamte Stirnseite der Umfriedung ein. Zwei kleinere Anbauten zweigten davon ab und bildeten einen Innenhof, in dessen Mitte ein gemauerter Brunnen stand. Dieser war aber offensichtlich nicht in Gebrauch. Die übrige Fläche wurde von den bunten Farben eines kleinen, aber feinen Ziergartens bestimmt. Das Bauwerk vermittelte, selbst wenn man von einer Barriere aus Stacheldraht mit einem etwa zwei Meter hohen Metalltor, dessen blaugrauer Anstrich mit schmutzigen roten Rostflecken durchsetzt war, absah, den Eindruck einer unüberwindbaren Festung.

Auf den ersten Blick hatte es den Anschein, als ob die Burg seit Jahrhunderten nur auf mich gewartet hätte. Das Mauerwerk, die verschachtelte Anordnung der Gebäude, der schön angelegte Garten, ein Unterstand für geschlagenes Brennholz und die vielen anderen Blickfänge regten meine Gedanken zum Phantasieren an. Märchenhaft krochen kleine Weinranken in verschlungenen Windungen den Hauptturm empor. Ich fühlte mich wie der edle Prinz, der sich auf den Weg gemacht hatte, das arme Dornröschen aus ihrem hundertjährigen Schlaf zu küssen. Na ja, ich als junge Frau hätte natürlich lieber einen stattlichen jungen Edelmann gerettet und mit ihm dann in Saus und Braus glücklich bis ans Ende unserer Tage gelebt.

Hinter dem Zugang lag der staubige Innenhof, der relativ frische Reifenspuren aufwies. Das Gebäude war doch nicht ganz so märchenhaft verschlafen, wie es zunächst gewirkt hatte. Im Gegenteil. Tatsächlich machte es sogar einen ziemlich bewohnten Eindruck, was durch die unübersehbare Telefonleitung, die Satellitenschüssel auf einem der beiden Wachtürme und das leise Brummen eines laufenden Stromaggregats bestätigt wurde. Die Errungenschaften der Gegenwart dämpften das romantische Flair und lenkten meine Aufmerksamkeit zurück auf das Hier und Jetzt, so daß ich mich wieder auf meine eigentliche Aufgabe konzentrieren konnte.

Das Ziel meiner Reise lag nun endlich vor mir. Mit klopfendem Herzen trat ich an die Barriere. Ich atmete tief durch, nahm den schweren Wanderrucksack von den Schultern und stellte ihn auf einen großen, nach oben abgeflachten Stein, der mächtig wie ein uralter Thron aus vergessenen Tagen vor mir ruhte. Es war, als ob er mahnend daran erinnern wollte, wie vergänglich wir Menschen und unsere Errungenschaften sind, daß wir die uns geschenkten Schätze der Schöpfung mit Ehrfurcht und Respekt behandeln und uns stets unserer Vergänglichkeit bewußt sein sollten. Er schien uns folgende Botschaft übermitteln zu wollen: Was wir von der Natur zerstörten, würde nicht unwiederbringlich verloren sein, sondern irgendwann wiederkehren – im Gegensatz zu uns.

Bei diesen Gedanken lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Der Stein war wie ein Mahnmal; wie eine letzte Warnung, daß nicht alles gut war, was der Mensch vollbrachte. Ich versäumte es, eine Parallele zu meinem Vorhaben zu ziehen. Zeichen sind manchmal zu offensichtlich, um sie im entscheidenden Moment wahrnehmen zu können.

Meine gesamte Ausrüstung war in dem großen Rucksack verstaut, den ich tapfer bis hierher auf dem Rücken geschleppt hatte. Sogar ein kleines Zelt und einen Schlafsack hatte ich darin untergebracht, da ich vorhatte, einige Nächte außerhalb meiner Unterkunft im Freien zu verbringen. Alle Utensilien befanden sich akkurat an den für sie bestimmten Plätzen und verrutschten auch bei heftigeren Bewegungen nicht. Ordnung und Sauberkeit sind wichtig im Leben, hatten mich meine Eltern gelehrt.

Das schwere Gewicht hatte während der verschiedenen Kletterpartien hierher seinen Tribut gefordert. Meine Kleidung war verschwitzt, der Pulsschlag pochte deutlich in den Ohren. Ich liebte es, mich körperlich zu fordern und meine Fähigkeiten zu trainieren. Ein anstrengender Fußmarsch mit merklich Gepäck auf den Schultern war ideal, um Körper und Konstitution in Schuß zu halten.

Zunächst wollte ich Herzschlag und Atmung zur Ruhe kommen lassen. Ich mußte meinen erhitzten Körper abkühlen, meine Konzentration wiedererlangen. Der Fokus sollte alleine auf das vor mir liegende Hindernis gerichtet sein, das es ohne Verletzung zu überwinden galt. Meine Umgebung und die Gedanken über die Natur und deren Vergänglichkeit hatten mich schon genug abgelenkt.

Doch bevor ich durch Autosuggestion und andere mentale Techniken zu einer inneren Leere finden konnte, forderte mein Körper eine kleine Belohnung für die erbrachte Leistung. Daher kramte ich aus dem Rucksack eine Flasche mit stillem, französischem Gletscherwasser. In kurzen Schlucken stillte ich meinen Durst mit dem erfrischenden Naß. Es schmeckte wunderbar. Der Wasserhaushalt des Körpers war für mich genauso wichtig wie das geistige Wohlbefinden. Aus diesem Grund war ich in der Wahl meiner Getränke auch sehr konsequent. Ich verzichtete auf das uranverseuchte Kalkwasser aus der Leitung oder gepanschte Billigwasser vom Discounter. Nur das Beste war gerade gut genug.

Lächelnd blickte ich an mir herab. Alles in allem konnte ich mit mir zufrieden sein. Mit 22 Jahren war mein Körper in absoluter Topform. Die schulterlangen, roten Haare waren für die meisten Jungs der absolute Blickfang, der sie ins Schwärmen geraten ließ. An meinen 165 Zentimetern saß alles faltenfrei am richtigen Ort. Schon oft hatte ich bei Dates die Bezeichnung »Traumfrau« entgegennehmen dürfen. Ich liebte dieses Kompliment, wenn es ehrlich hervorgebracht wurde.

Mit einem tiefen Seufzer setzte ich die Plastikflasche ab. Das Wasser tat gut. Trinken half bei der notwendigen Entspannung. Jetzt war ich zu allen Schandtaten bereit. Ich wischte die schweißnassen Hände an der Hose trocken und atmete mehrmals durch. Nach einem letzten Schluck ließ ich mit geschlossenen Augen diesen besonderen Augenblick noch einmal auf mich wirken, bevor ich die Überquerung der Barriere vorbereitete.

Nachdem ich die Flasche wieder im Rucksack verstaut hatte, kramte ich zwei große Tücher heraus, die ich mir stramm um die Hände wickelte. Diese hatte ich in einem Armeeladen erworben. Der Verkäufer hatte gesagt, daß das Material vor scharfen Kanten oder Spitzen schützen würde. Sogar einen Messerangriff könnte man damit abwehren. Als ob mich jemand mit einem Messer angreifen würde …

Mit jeweils einem Knoten befestigte ich die beiden Tücher an den Händen. Dann schulterte ich schwungvoll meine Habe und zog die breiten Riemen des Rucksacks an Bauch und Schultern fest. Nichts durfte verrutschen, wenn es gleich zur Sache ging.

Zur Straße hin ließ sich das Eingangstor in einem weiten Bogen öffnen. Es war nicht sonderlich hoch, nur etwas über zwei Meter. Die verrosteten senkrechten Metallstreben waren am oberen und unteren Ende mit einer Querverstrebung stabilisiert. Angefeilte Kanten ragten an der Oberseite zur Abschreckung wagemutiger Wanderer, die meinten, über das Tor klettern und sich der Burg nähern zu wollen, zwischen abblätternder Farbe auf.

Direkt an den Außenpfosten war ein Maschendrahtzaun befestigt, auf dem ein fies gerollter Stacheldraht aufgezogen war. Offensichtlich war er über die Reste einer bereits eingestürzten Mauer gezogen worden. Der Hausherr machte es unliebsamen Besuchern nicht gerade leicht, sein Grundstück zu betreten. Es konnte ein gefährliches Unterfangen werden, für das meine kurze Wanderhose nicht gerade geeignet war. Ich mußte ziemlich aufpassen, damit ich mich nicht verletzte. Einen Schnitt an den Spitzen oder eine blutige Hautabschürfung konnte ich überhaupt nicht gebrauchen. Wer weiß, am Ende holte ich mir an dem ganzen Rost noch eine Blutvergiftung. Nein! Verletzen durfte ich mich auf keinen Fall!

Mit den umwickelten Händen griff ich an die senkrechten Streben. Sie boten einen ausgezeichneten Halt. Die festen Sohlen der Wanderschuhe stemmten sich wie von selbst gegen das Tor. Dank der rauhen Oberfläche rutschten sie nicht ab. Ich spannte alle Muskeln an, preßte die Zähne zusammen, griff mit den umwickelten Händen an den Stacheldraht, schloß die Augen und sprang mit angezogenen Beinen über das Hindernis.

Zum Glück ging alles gut. Federnd landete ich auf der anderen Seite. Ein Ausfallschritt sicherte das notwendige Gleichgewicht. Schnell unterzog ich meinen Körper – sowohl die Haut als auch die Kleidung – einer Musterung und stellte erleichtert fest, daß ich unverletzt geblieben war. Die Tücher waren ihren Preis wert gewesen. Das Tor stand hinter mir. Die erste Hürde war genommen.

Meine Füße trugen mich von ganz alleine zu einer kleinen Türe am linken Seitengebäude. Dort mußte sich mein Ziel befinden, wenn die Informationen aus dem Internet stimmten. Am liebsten hätte ich ein Wanderlied gepfiffen, so vergnügt war ich. Das konnte ich mir aber gerade noch verkneifen. Zumindest aber hatte sich ein siegessicheres, mehr als zufriedenes Lächeln in mein Gesicht geschlichen und beherrschte es fast von einem Ohr zum anderen. Bewußt ignorierte ich beim Überqueren des Innenhofes die Spuren des regen Personen- und Fahrzeugverkehrs, welcher in nicht allzu ferner Vergangenheit hier stattgefunden haben mußte.

Über mir glühte die Sonne wie ein roter Feuerball am wolkenlosen Himmel gleich einem Omen, das ich nicht zu deuten verstand. Wie verzaubert blieb ich vor dem Eingang stehen und ließ mich von den traumhaften Farben, in denen das alte Gemäuer mit dem wunderschönen Hof erstrahlte, fesseln. Die Türmchen, Erker, behauenen Steine, Wappen und Wimpel waren in ein unwirkliches, überzeichnetes Licht getaucht, das ich bisher nur in den Blockbustern aus Hollywood gesehen hatte. Doch das hier war real. Ich hatte mein Ziel erreicht; und es war genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Doch eigentlich waren die malerische Silhouette der Burg und das Farbenspiel der Natur nicht der eigentliche Zweck meiner Reise. Etwas anderes war der Grund für mein Interesse. Nur dafür hatte ich all die Mühen des Trainings und der Vorbereitung auf mich genommen.

Der körperlich anstrengende Teil der Reise lag hinter mir, doch erst jetzt kam der eigentliche, spannende Part. Unter den Räumlichkeiten des Hauptgebäudes sollte sich ein altes Verlies mit mittelalterlichen Verhörräumen befinden. Diese seien Berichten im Internet zufolge in vergangenen Zeiten sogar durch die Inquisition genutzt worden. Die in dem Folterkeller untergebrachten Gerätschaften sollten sich auch heute noch in einem außerordentlich guten Zustand befinden. Das war die wahre Quest, weswegen ich hierhergekommen war.

Wenn ich ehrlich bin, hatten mich schon immer Folterinstrumente jeder Art und jeglichen Alters interessiert. Es war unglaublich, was Menschen einander antun konnten, um eine Information oder ein vermeintliches Geständnis herauszupressen.

Nicht daß ich das Zufügen von Leid oder den Gedanken an Rache per se gutgeheißen hätte – vielmehr faszinierten mich der Charakter einer solchen Befragung und die Menschen, die sich mit derart schauerlichen Dingen beschäftigten.

Ich verschlang Bilder und Geschichten von mittelalterlichen Verhören der Inquisition, von Hexenprozessen und anderen peinlichen Befragungen. Kalte Schauer und wohliger Grusel durchfuhren mich, wenn ich in diese sinistre Welt eintauchte. Zum Glück waren Folter und Leid so weit weg von meiner kleinen, heilen Welt in Mitteleuropa, daß ich mich nie zu sorgen brauchte, selbst in die Hände solcher Schergen zu fallen.

Tatsächlich besaß ich ein gewisses Faible für Foltergeräte, solange das Beschäftigen damit einen gewissen theoretischen Charakter innehatte. Schon seit meiner Kindheit stellte ich mir vor, einmal an einem Pranger zu stehen oder in eine Streckbank gespannt zu sein und dabei einer anderen Person ausgeliefert zu sein. Doch außerhalb meiner Träume hatten diese Vorstellungen keinen Platz, vor allem weil ich niemandem so sehr vertraute, daß ich für ihn meine Selbstbestimmung aufzugeben bereit gewesen wäre. Schmerz und Unterwerfung blieben so Teil meiner Fantasie. Im wahren Leben waren sie unmißverständlich tabu. Außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, daß ich es auf so einem Gerät lange durchhalten konnte. Bestimmt würde ich recht bald alles dafür tun, den Qualen zu entkommen.

Meine Vorbereitungen auf diese Reise waren nicht nur körperlicher Art gewesen. Das Internet bot bekanntlich einen breiten Fundus an Informationen. Die Vorrecherchen hatten ergeben, daß es in der Burg Führungen mit detaillierten Erklärungen zu den vorhandenen Gerätschaften gab. Aufbau und Wirkungsweise sollten nicht nur verbal, sondern auch plastisch dargestellt werden.

Das kam mir sehr gelegen, sollte ich doch eine Arbeit über traumatisch bedingte Persönlichkeitsveränderungen von Langzeithäftlingen im 18. Jahrhundert nach vorangegangener peinlicher Befragung verfassen. Es ging darum, wie sich Einstellung und Verhalten von Gefangenen nach der Folter änderten und ob man Parallelen zur heutigen Verwahrung politisch inhaftierter Personen und bei ihnen angewandter, moderner Verhörpraxen ziehen konnte.

War ein aufgeklärter, moderner Mensch durch körperliche und seelische Impulse so stark manipulierbar, daß sich seine Einstellungen zu gewissen gesellschaftlichen und politischen Themen rudimentär ändern konnten? Ein wichtiger Fragekomplex meiner Arbeit bestand darin, wie wahrscheinlich es war, daß sich diese Gefangenen erst nach Inhaftierung und Verhör unter Schmerzen den ursprünglich vorgeworfenen, extremen Strömungen zuwendeten. Wäre es sogar möglich, diese Radikalisierung einer Persönlichkeit bewußt durch Verhörspezialisten herbeizuführen? Könnte man durch diese Art der Gehirnwäsche solche Menschen böswillig zu extremistischen Zeitbomben transformieren; etwa um gewisse unpopuläre Rechtseinschnitte gegenüber der Bevölkerung oder Maßnahmen gegen bestimmte Gruppierungen zu rechtfertigen? Die Beantwortung dieser Fragen stellte wohl den eigentlichen Grund meiner Forschungen dar, wie ich befürchtete.

Gerade in der heutigen Zeit mit den mehr oder minder geheimen Internierungslagern auf der ganzen Welt erschien das Thema hoch brisant und gefährlich aktuell. Der Beweis der aufgeworfenen Thesen sollte sehr diskret und vertraulich behandelt werden. Ich vermutete, daß meine Arbeit von irgend jemandem mit politischem Hintergrund in Auftrag gegeben worden war und sicherlich für Projekte, von denen ich gar nichts wissen wollte, verwendet werden sollte.

Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, mir die Foltergerätschaften im Rahmen einer Führung in der Burg erklären zu lassen. Zu meinem Leidwesen war diese jedoch inklusive der dazugehörigen Anlage in Privatbesitz. Vor Ort hatte sich herausgestellt, daß die im Netz angepriesenen Führungen entgegen den dort eingestellten Informationen nicht öffentlich waren. Für mich gab es ohne persönliche Beziehungen keine Möglichkeit, legal in das Gebäude zu gelangen. Emails blieben unbeantwortet. Weder persönliche noch wissenschaftliche Argumente hatten die Verantwortlichen zu einer Reaktion veranlaßt. Mir sollten also das Verlies und die lehrreichen Erklärungen auf dem offiziellen Wege verwehrt bleiben. Meine Studienreise in die belgischen Ardennen wäre somit völlig um sonst gewesen.

Aber von wegen! Jetzt, wo ich einmal da war, gab ich nicht so einfach auf. Wenn der Berg nicht zum Propheten kam, mußte der Prophet eben zum Berg kommen. Nach dem ersten Frust, den ich in der örtlichen Gaststätte mit reichlich Alkohol ertränkt hatte, beschloß ich, das Verlies auf eigene Faust zu erkunden; und so stand ich schließlich hier in dem staubigen Innenhof direkt vor der unscheinbaren Seitentüre, die etwas abseits vom großen, eisenbeschlagenen Eingangstor in das Innere des Gemäuers führte.

Die altertümliche Holztüre war verschlossen. Unter der Klinke schlummerte die einladende Öffnung eines simplen Buntbartschlosses, welches das Eindringen von unliebsamen Besuchern verhindern sollte. Wie originell! Buntbartschlösser waren so einfach zu überlisten, daß man dazu nicht allzu viele einbrecherische Qualitäten benötigte. Für mich persönlich war die vermeintliche Sicherung eher Einladung als Abschreckung.

Aus dem Rucksack kramte ich die in meiner Unterwäsche verborgene Dietrichsammlung heraus. An einem Schlüsselring waren mehrere Haken, Ösen und andere biegsame Metallgegenstände befestigt. Vorsichtig und angespannt lauschend erkundete ich mit den kleinen Stiften den Schließzylinder. Den genauen Moment abzupassen, um die Schließfalle zurückzufahren, ist die hohe Kunst des Schloßknackens. Konzentration und Geschicklichkeit waren die entscheidenden Zutaten, ohne die das Gericht nicht gelang. Dazu würzte man eine Prise Ruhe und Geduld, und irgendwann ließ sich jedes Schloß überwinden. Nach wenigen Momenten hatte ich die Verriegelung gelöst und konnte die Türe mit einem kaum wahrnehmbaren Knarzen aufdrücken.

Mein Vater hatte mich bereits in jungen Jahren gelehrt, Schlösser aller Art zu öffnen. Seine faszinierende Kunst, komplizierte Dinge kindgerecht zu erklären, machte mich zu seiner gelehrigen Schülerin. Stundenlang konnte ich damals bei ihm sitzen und seinen Worten lauschen.

Im Grunde genommen war mein Papa ein feiner Mann. Leider teilten nicht gerade viele Personen diese Einschätzung. Er ging auf die 60 zu und war stellvertretender Referatsleiter im Bereich der Eigentumskriminalität im Polizeipräsidium. Er hatte vor vielen Jahren in Notwehr drei Jugendliche erschossen, die bei uns eingebrochen waren. Vor lauter Panik hatte er damals gedacht, daß sie meiner Mutter und mir etwas antun wollten. Er wollte uns doch nur schützen, als er ihnen im Dunkeln mit seiner Dienstwaffe gegenüberstand.

Im nachhinein wurde der Einbruch von den Anwälten ihrer Eltern als schiefgelaufener Spaß dargestellt. Der Fall wurde aufgebauscht und mein Vater zunächst wegen dreifachen Mordes angezeigt. Die Medien machten ihm das Leben zur Hölle. Nachbarschaftsbefragung mit laufender Kamera, verleumderische Darstellungen seines dienstlichen Werdeganges und das Waschen schmutziger Wäsche in der Öffentlichkeit waren die gemeinen Psychowaffen, die sowohl seine Reputation als auch seine Persönlichkeit zerstörten. Aufgrund des Bildes, das die von den Anwälten manipulierte Presse von ihm zeichnete, ließen ihn Freunde und Vorgesetzte fallen. Erst in letzter Instanz hatte ein Richter den Mut, ihn von allen Vorwürfen freizusprechen. Aber bis dahin war er längst kaputt. Er hatte sich dem Alkohol zugewandt, in seine eigene kleine Welt zurückgezogen und lebte dort nun für sich – mitten in einem Kosmos aus Leid und Problemen. Er tat mir leid. Doch selbst ich fand immer wieder Rechtfertigungen, ihn nicht häufiger als unbedingt nötig besuchen zu müssen.

Die dunklen, mit leisen Selbstvorwürfen gespickten Gedanken schickte ich mit einem Handkuß in den Sommerhimmel. Sollten sie zurückkehren, wenn die Arbeit getan war. Jetzt hatte ich nicht die Zeit, mich weiter damit zu beschäftigen. Ich warf einen letzten Blick auf die malerische Kulisse des Burghofes. Dann huschte ich in den Raum hinter der Türe und schloß sie, so leise ich konnte. Unbemerkt war ich ins Innere gelangt. Das alles war doch bisher gar nicht mal so schwer gewesen.

Aus einem Seitenfach des Rucksacks zog ich eine große Taschenlampe mit LED-Leuchte und schaltete sie ein. In ihrem hellen Schein flimmerten unzählige kleine Staubflöckchen, die in sanften Brisen überall in der Luft herumtanzten. Zielsicher fand ich eine Wendeltreppe, die in die Tiefe führte. Langsam – fast schon ehrfürchtig – ging ich darauf zu. Meine Wanderschuhe knirschten in der am Boden liegenden Schicht aus Staub und Steinen. Ich verspürte einen gewissen Respekt davor, was mich im Keller erwarten sollte. Die Atmosphäre in dem alten Gemäuer hatte etwas Geheimnisvolles. Das war ganz deutlich zu spüren. Ich kam mir vor wie eine Entdeckerin, die mit klopfendem Herzen vor einem zum Greifen nahen, sagenhaften Schatz stand.

Die Treppe führte hinab in eine beeindruckende Folterkammer. Der Lichtkegel der Taschenlampe fuhr über die im ganzen Raum verteilten schaurigen Gerätschaften, die ich bisher nur aus Bildern und Geschichten kannte. Sie waren wesentlich größer und beeindruckender, als ich sie mir vorgestellt hatte. Es war unbeschreiblich, das erste Mal im gleichen Raum mit diesen Relikten der finsteren Menschheitsgeschichte zu sein.

Andächtig verharrte ich am Fuß der Treppe und wagte es nicht, mich zu bewegen. Hier stand ich an dem Ort, an dem bestimmt schlimmste Folterungen stattgefunden hatten. Das hier war nicht einfach nur ein Ausstellungsraum. Es war, als ob mir die Wände die traurigen Geschichten zuflüsterten, die sich hier einstmals abgespielt hatten. Das Grauhen der Vergangenheit war allgegenwärtig.

Mit einem gewissen Unbehagen stellte ich mir vor, wie die Gefangenen während der peinlichen Befragungen flehten, wimmerten und vor Schmerzen geschrien hatten. Sie mußten halb wahnsinnig vor Angst gewesen sein und warteten, von den Folterknechten gebrochen, verzweifelt auf irgendeine Art von Erlösung. Was waren das für Emotionen, die hier unten entstanden waren und von den kalten, toten Steinen der Wände aufgesogen wurden? Was mußten diese außerordentlichen Emotionen in den Menschen bewirkt haben? Kann man so etwas als neutraler Beobachter überhaupt nachvollziehen? Kann man so etwas tatsächlich wissenschaftlich aufarbeiten?

Mit bebender Brust überwand ich meine Gefühle und betrat die große Kammer. Mein Respekt vor den Ausstellungsstücken wuchs mit jeder Sekunde direkt proportional zu dem Gefühl, nicht hierherzugehören. Ich faßte den Entschluß, mir die Gerätschaften schnell anzuschauen, ein paar Stichpunkte in mein Notizheft zu schreiben, ein paar Dutzend Fotos mit dem Handy zu schießen und dann dem Schrecken eilig wieder zu entkommen.

Mit jeder Sekunde, die ich in dem Raum verbrachte, wurde es mir immer mulmiger zumute, und ein gewisser Abscheu fraß sich in meine Eingeweide. Die ursprüngliche Begeisterung war verflogen und Ernüchterung gewichen. Bloß an keinem dieser scheußlichen Gerätschaften hängenbleiben oder irgendwo stolpern und dagegen stoßen. Denn trotz ihres Alters sahen sie noch immer sehr gefährlich aus. Keine Kante, kein Holzspreißel sollte meine zarte Haut verletzen.

Der Lichtkegel streifte über die Details der Folterinstrumente. Der Anblick war entsetzlich und doch faszinierend zugleich. Ich verspürte eine dunkle Anziehungskraft von dem unheimlichen Material ausstrahlen. Die Atmosphäre in dem Raum hatte etwas Gespenstisches. Außerhalb der Grenzen des Lichtscheins schienen mahnende Geister zu lauern, die aus der Dunkelheit heraus meine Erkundung beobachteten und mich drängten, den staubigen Keller so schnell als möglich zu verlassen. Sie bewegten sich gerade so außerhalb meiner Wahrnehmung. Immer wenn ich meinte, sie gleich erspähen zu können, waren sie verschwunden. Dennoch konnte ich ihre Gegenwart deutlich spüren.

Vor mir stand in seiner grausamen Prächtigkeit eine stabile Streckbank aus dunklen, fleckigen Holzsparren. An Kopf- und Fußende waren dicke Taue befestigt, um die Gliedmaßen der Gefangenen damit festzubinden. Ein Holzrad mit bauchigen Griffen konnte zum Spannen der Seile benutzt werden. Meine Hand glitt gedankenverloren über das rauhe Holz und hinterließ eine tiefe Furche in dem darauf liegenden toten Staub.

Uralte Erinnerungen übertrugen sich durch die Berührung. Im Geiste sah ich schreiende Menschen, die sich vor Schmerz auf dem Gerät wanden. Verdrehte Glieder, geborstene Knochen, zerrissene Muskeln, gemartertes Fleisch, rostbraune Blutlachen. Panik, Angst, Schweiß, Exkremente und Wut. Schicksalhafte Emotionen. Die Eingebung durchzuckte mich wie ein elektrischer Schlag. Schnell löste ich die Verbindung und kehrte unvermittelt in die Gegenwart zurück. Was für ein Horrortrip!

Vorsichtig streckte ich meinen Arm aus, um die Bank erneut anzufassen. Das Holz hatte sich nicht verändert. Doch der Hauch der Erinnerung umwehte das Gerät nicht länger, und nichts geschah. Die Bilder waren reine Phantasie, genährt durch meine Angst und dem Respekt vor den Geräten, redete ich mir ein. Das mußte doch so sein. Eine andere Erklärung gab es aus wissenschaftlicher Sicht gesehen einfach nicht.

Erleichtert ließ ich meine Fingerspitzen die Strukturen der Bretter nachzeichnen. Ich befand mich hier in absoluter Sicherheit. Nichts konnte mir passieren. Ich war ja alleine hier unten.

Schließlich erreichte ich den glatten, leicht speckigen Griff des Drehrades. Meine Hand umschloß ihn zunächst lose und krampfte sich dann spontan zu einer Faust zusammen. Die Knöchel wurden ganz weiß vor Anstrengung. Was war nur mit mir los? Warum fesselte mich die Streckbank derart? War es meine Bestimmung, hier zu sein? Gehörte ich hierher? War ich etwa schon einmal hier gewesen? In einem früheren Leben?

Ich mußte mich losreißen, um die Verbindung zu dem Foltergerät zu trennen. Seine physische Präsenz in meinem Geist war geradezu überwältigend. Das hatte ich so nicht erwartet. Die ganzen Bilder im Internet waren doch so klinisch rein und klar gewesen. Man konnte darauf nicht erfassen, welche Dramen sich tatsächlich abgespielt hatten und wie sie in der Realität auf die Betrachter wirkten. Man konnte das ganze Ausmaß ja nicht einmal erahnen.

Jetzt, da ich mitten unter ihnen stand, war alles ganz anders. Ich konnte fühlen, was hier unten geschehen war. Das war keine Ausgeburt einer erotischen Phantasie, wenn man hier gefoltert wurde. Es war bittere, grausame Realität. Da gab es kein zensiertes, für das Strafgesetzbuch weichgespültes Kuschelkopfkino. Hier unten lag die blutige, bittere, harte Wahrheit. Es gab Gründe, warum im Grundgesetz die Würde des Menschen unantastbar und in Deutschland Folter verboten war. Orte wie dieser waren einer!

Um mich herum harrten noch weitere Geräte, erstarrt wie in einem albtraumhaften Winterschlaf, auf ihren neuerlichen Gebrauch. Ich sah eine Halsgeige, Schlaginstrumente der verschiedensten Art, einen Pranger, Zangen, Spieße mit gemeinen Spitzen und als Krönung eine Eiserne Jungfrau. Sogar ein Bestrafungsstuhl mit angerauhten Pyramiden auf Sitzfläche und Armlehnen wartete in einer Ecke auf ihren Gebrauch. Es wirkte, als ob sich die Kammer nur ausruhte und darauf vorbereitete, im Namen eines grausamen Tyrannen wieder ihrer alten Bestimmung zugeführt zu werden.

Während ich mich umsah, über die Materialien der Instrumente strich und alle Eindrücke in mich aufnahm, sinnierte ich über das Thema meiner Arbeit. War das wirklich so geschickt gewählt? Was passierte, wenn es in die falschen Hände geriet? Machte ich mich zum Mitwisser? Zum Spielball undemokratischer Mächte? Half ich zu verstehen, warum es das Böse in der Welt gab und wie es entstand? Oder war ich bereits ein Teil davon und spielte ihm als willige Handlangerin in die Hände? Der Raum gab ein Zeugnis dafür ab, was passierte, wenn solche Menschen nach Gutdünken handeln konnten.

Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich mein Handeln moralisch noch länger vertreten wollte. Andererseits hatte ich einen Auftrag, den ich erledigen mußte. Mein Studium hing an dieser Ausarbeitung. Das wollte ich bestmöglich beenden. Wer weiß, welcher Arbeit ich danach nachgehen würde. Dann könnte ich immer noch für Rechtschaffenheit und Menschlichkeit einstehen. Vielleicht machte ich mir aber auch nur unnütz Gedanken, und alles war in bester Ordnung. Wer weiß das schon …

Wenn ich über meine Recherchen im Internet nachdachte, kam mir ein sonderbarer Gedanke. Irgendwie konnte ich mir keine Vorstellung davon machen, wie hier die Führungen abliefen. Wäre es ein sachlich, kühler Vortrag, der den Aufbau, die Anwendungsweise und die schrecklichen Folgen der Instrumente darstellen würde? Gäbe es einen Freiwilligen, an dem die Folterungen möglichst real demonstriert wurden? Oder vielleicht sogar einen Unfreiwilligen? überlegte ich schaudernd. Was mußten das für Ängste sein, irgendwo eingesperrt zu sein und darauf zu warten, Tag für Tag vor Zuschauern gequält zu werden? Ich konnte und wollte es mir einfach nicht vorstellen. Oder ging alles am Ende in eine erotische, fetischartige Richtung? Wird vor einem begeisterten Publikum eine hübsche, aber naive Blondine an den Pranger gestellt und ihr dann mit dem Rohrstock unter wohligem Stöhnen der Hintern versohlt wie in den Internetgeschichten, die ich gelesen hatte?

Bei dieser Vorstellung mußte ich zum ersten Mal hier unten richtig lächeln. Raus aus dem Kopf! Ich war hier, um für meine Arbeit zu recherchieren, und nicht, um erotischen Phantasien nachzugehen. Heute nacht konnte ich im Bettchen noch lang genug von solch frivolen Bestrafungen träumen. Vielleicht stellte ich mir einen netten Adonis vor, der sich vor mir hilflos auf der Streckbank wand, während ich meine langen, roten Haare über seine muskulöse Brust gleiten ließ.

Schließlich kam ich bei der Königin der Folterinstrumente an, der eisernen Jungfrau. Der metallene Sarkophag fesselte meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Die aufgeklappten Schalen zogen mich magisch an. Ich konnte nichts dazu, doch meine Phantasien schlugen erneut Kapriolen. In bunten Farben malte ich mir aus, wie darin eine blutjunge Hexe mit schweren Lederriemen bewegungslos fixiert wurde. Wie mußte sie schreien und sich winden, als ihr bewußt wurde, daß sie in dem Käfig zu Tode kommen würde! Denn auf dem Deckel ihrer letzte Ruhestatt warteten lange spitze Dornen, ihre Opfer an den empfindlichsten Stellen zu durchbohren. Starb sie gleich oder penetrierten die Dornen langsam und schmerzhaft das gefesselte Fleisch, bis es sich das letzte Mal qualvoll verkrampfte? Wie hart mußten diese Momente sein, wenn sich das Gefängnis im finalen Akt des Leidensweges schloß! Man steht im Sarkophag, schmerzhaft gepikt, ohne Chance auf Entkommen, und wartet darauf zu verbluten …

Ein Schauer durchlief meinen Körper, während ich über das kalte Metall strich. Die warmen Fingerkuppen pulsierten auf dem toten Material. Wie viele Menschen waren schon darin gestorben? Oder sollte man den Geschichten Glaube schenken, daß die eisernen Jungfrauen lediglich zur Abschreckung dienten? Ich kannte die Antwort nicht und wollte sie eigentlich auch gar nicht wissen.

Direkt vor diesem Alptraum zu stehen ließ ein eigenwilliges Gefühl in mir aufsteigen. Es war dieses besondere Gruseln, wenn man in einer unheimlichen Situation weiß, daß einem eigentlich nichts passieren kann. Etwas mulmig ist einem dabei trotzdem immer noch. Es war wie in einer der modernen Geisterbahnen mit echten Schauspielern oder wie in einem spannenden Horrorfilm. Man fürchtet sich gerade so viel, daß das Erlebnis eine emotionale Bindung aufbaut. Im Hinterkopf hat man jedoch immer die Gewißheit, daß man mit heiler Haut aus der Situation herauskommt.

Während ich über die Metallschalen streifte und mit dem Unterarm vorsichtig die spitzen Dornen anstupste, spürte ich hinter mir eine vage Bewegung. Es war ein flüchtiges Etwas; zu schnell, um es zu erfassen. Noch bevor ich mich umdrehen konnte, vernahm ich ein eigenartiges elektrisches Knistern.

Ein Schmerz zuckte durch meinen Hals und paralysierte mich unvermittelt. Die Taschenlampe löste sich aus meinem Griff und fiel neben mir scheppernd zu Boden. Am Rande bekam ich mit, wie ich zusammenbrach. Noch bevor ich realisierte, was eigentlich gerade passiert war, umfing mich kalte, gnädige Dunkelheit.

2

Oh Gott! Mein Kopf dröhnte. Wütende Schmerzen loderten direkt hinter der Stirn. Kopfschmerzen! Ich hasse sie! Spitze Nadeln bohrten sich durch die Schädeldecke. Die Haut am Hals spannte, als ob sie von einem Wahnsinnigen in die Länge gezogen wurde. Pochende Wellen pulsierten durch den gesamten Körper.

Ich fühlte mich wie gegessen und wieder ausgespuckt. Was war los mit mir? Was war bloß geschehen? Gedanken rasten wild umher. Hier stimmte etwas nicht! Panik, Ungewißheit, Dunkelheit. Carola, komm zur Ruhe! forderte ich mich auf. Du mußt dich jetzt beruhigen!

Ich lag auf etwas Hartem. Das war das erste, was ich bewußt feststellte. Mein Körper war in einer unbequemen Position darauf zusammengekauert. Alle Muskeln schmerzten, als ob sie durch extreme Kraftanstrengung überanstrengt wären. Unter mir ertastete ich glatten Stein, auf dem ich wohl schon seit einiger Zeit gelegen hatte.

Nun, nicht direkt glatter Stein. Die Oberfläche war nicht gänzlich blankpoliert, wie zuerst vermutet, sondern mit unzähligen feinen Poren übersät. Ähnlich einem Reibeisen. Ich mußte sogar aufpassen, daß ich mir beim Darüberstreifen nicht die Haut aufriß. Wo war ich? Wie in aller Welt kam ich hierher?

Dunkelheit! Um mich herum war alles tiefschwarz. Finster wie die Nacht. Meine Lider waren offen. Dennoch konnte ich nichts sehen. Überhaupt nichts! Nicht einmal die geringsten Konturen waren erkennbar. Blind! Keine Lichtquelle vorhanden. Meine Augen versuchten, sich an das Fehlen von Licht zu gewöhnen; versuchten, irgend etwas – auch wenn es nur die geringste Kleinigkeit war – zu erkennen. Nichts! Keine Chance! Dunkelheit!

Völlig desorientiert versuchte ich mir klarzuwerden, wo ich mich befand. Ich hatte überhaupt keinen Hinweis. Es gab nichts, was mir helfen konnte. Die poröse Bank und ich. Im Gedanken versuchte ich, mich auf die letzten Momente vor der Bewußtlosigkeit zu konzentrieren. Wie durch Watte kämpfte sich das Gedächtnis zu den Erinnerungen durch, die in den hintersten Windungen meines Gehirns zu schlummern schienen.

Schließlich wurden sie fündig, und ich erinnerte mich an das, was geschehen war, bevor ich in der Dunkelheit wieder zu mir kam. Ich stand wie gebannt vor einer Eisernen Jungfrau in einem Folterkeller mitten im Nirgendwo Belgiens. Dann kamen der schmerzhafte Blitz und der Verlust jeglicher Kontrolle über Geist und Körper. Was danach passierte, lag ebenso im Dunkeln wie die Umgebung, in der ich mich wiederfand. Und wieder drängte sich die Frage auf, wo ich war und warum man mich hierhergebracht hatte.

Vorsichtig hob ich den rechten Arm von der harten Unterlage. Dabei ignorierte ich die protestierenden Muskeln in Arm und Schulter. Ich mußte etwas tun, mußte mich bewegen. Es war nicht richtig, auf der harten Unterlage zu verharren und zu warten, daß etwas passierte. Ich war nicht zur Lethargie verdammt – brauchte mich nicht einfach dem Schicksal in der Dunkelheit zu ergeben.

Vielleicht konnte ich ja ertasten, wo ich mich befand, wenn ich schon der Funktion meiner Augen beraubt war. Verlaß dich auf deine Gefühle, Carola! redete ich mir ein, während ich mich in die Höhe stemmte.

Ich meinte zu spüren, daß etwas um die Handgelenke gelegt war, ebenso um die Knöchel und den Hals. Ein leichter, aber konstanter Impuls drückte dort auf die Haut. Bei den Bewegungen hörte ich Metall rasseln und stutzte. Auf meinem Bauch lag etwas, das sich wie Glieder einer Kette anfühlte. War ich etwa angekettet?

Mit beiden Händen griff ich an die gegenüberliegenden Handgelenke und fühlte darum jeweils einen kalten Eisenring. Die beiden Ringe waren durch eine stabile Kette verknüpft. Ungläubig befühlte ich das geflochtene Metall, das meine Hände miteinander verband. Zwischen Haut und Eisen ertastete ich eine Art schützendes, gummiertes Lederband. Ich war gefesselt. Verdammte Scheiße!

Die Erkenntnis traf mich wie ein Schwall kaltes Wasser. Klammerte ich mich vorher noch an die abstruse Hoffnung, daß ich mich einfach nur in Dunkelheit befand, hatte ich jetzt die Gewißheit, daß etwas Böses mit mir geschehen war. Hektisch versuchte ich, die Bänder abzustreifen. So sehr ich es auch versuchte, ich konnte mich nicht befreien. Gefangen! Ich war, verdammt noch mal, gefangen!

Immer wilder riß ich an den unnachgiebigen Fesseln, immer unkontrollierter wurden meine Bewegungen. Nur ein Wunder und die Beschaffenheit der Fesseln verhinderten, daß ich mich bei den Befreiungsversuchen ernsthaft verletzte. Irgendwann war ich zu erschöpft, um weiter gegen die Ketten anzukämpfen, und gab geschlagen auf. Frustriert ließ ich mich zurücksinken und starrte in die Dunkelheit.

Tief durchatmen! Ich war einfach zu aufgewühlt, um einen klaren Gedanken zu fassen. Konzentriert versuchte ich, zurück zu meinem inneren Mittelpunkt zu kommen, mein Gleichgewicht zu erlangen. Ich war hin- und hergerissen zwischen kühler Analyse und wilder Panik. Es war so surreal! Gerade befand ich mich noch auf spannender Entdeckungstour in einem privaten Foltermuseum, dann wurde ich niedergestreckt und erwachte, mit schweren Ketten gefesselt, an einem unbekannten, dunklen Ort. Wenn mich irgendwer hierhergebracht hatte, mußte dieser Irgendwer doch sicher noch in der Nähe sein. Man würde mir bestimmt erklären, warum ich hier war und was man mit mir vorhatte.

»Hallo!« machte ich mich vorsichtig bemerkbar und schickte noch ein »Kann mich jemand hören?« in das schwarze Nichts hinein.

Meine Stimme erzeugte ein schwaches Echo. Die Beschaffenheit des Widerhalls ließ darauf schließen, daß ich mich in einem größeren Raum befand. In einer Halle vielleicht? Seltsam.

Aber ich agierte. War nicht länger passiv. Das war gut. Die lähmende Panik der ersten Momente nach dem Aufwachen hatte sich gelegt. Mein Gehirn arbeitete wieder normal – so wie das einer Studentin, einer Wissenschaftlerin, die ich ja werden wollte. Ich versuchte, die Situation zu analysieren, Lösungsstrategien zu entwickeln. Ich kam langsam in die Gänge. Als erstes mußte ich herausfinden, was passiert war und wie ich aus dem Ganzen wieder herauskam.

Auf meine Frage kam keine Antwort. Obwohl ich angestrengt lauschte, war weit und breit kein Ton zu hören. Nicht der geringste! Die Stille in der Dunkelheit war ohrenbetäubend. Ich wartete – vergeblich. Nichts geschah! Kann Stille tatsächlich laut und Dunkelheit gleißend hell sein? Die vermeintlichen Widersprüche kamen mir plötzlich sehr bezeichnend vor. Ich fühlte mich ziemlich unsicher und hilflos. Das war kein schönes Gefühl.

Das Warten war zudem ernüchternd. Die Leere zehrte an der Substanz, fraß mich auf. Aus der Finsternis kam keine Stimme, die mir meine Lage erklären wollte. Es erschien kein Held, der mich befreien wollte. Stumm verharrte die Welt und ließ mich alleine auf dem Steinblock zurück.

Meine Augäpfel wanderten in den Höhlen hin und her – auf der vergeblichen Suche nach vagen Konturen, um wenigstens irgend etwas erkennen zu können. Langsam, bloß keinen Muskel überanstrengend, richtete ich den Oberkörper auf. Alles tat weh! Die Muskeln spannten und waren kurz davor, sich schmerzhaft zu verkrampfen. Mein Magen rebellierte und forderte mit einem tiefen Knurren Nahrungsmittel ein. Angespannt wartete ich. Doch nichts geschah.

»Hallo!« sagte ich nun etwas lauter. Ich drückte mich hoch, streckte den Kopf, um ja nichts zu verpassen. Sobald mir jemand antwortete, sobald sich der kleinste Lichtstrahl auftat, bekäme ich es mit und könnte darauf reagieren. Ich wartete. Bald würde etwas geschehen. Das war sicher! Man konnte mich doch nicht einfach so alleine im Dunkeln liegenlassen. Das ging doch nicht.

Beim Aufrichten und Drehen des Kopfes spürte ich wieder dieses feste Etwas um meinen Hals. Tastende Fingerkuppen bestätigten, daß etwas – ähnlich den Metallbändern um die Handgelenke – darumgelegt war. Jedoch war dieses Etwas wesentlich dicker, breiter und schwerer, hatte jedoch ebenfalls je eine Ausbuchtung an der Vorder- und Rückseite. Auch hier schützte ein Lederband meine Haut davor, aufgescheuert zu werden. Um die Knöchel trug ich ebenfalls zwei gleichartige Bänder mit einer Verbindungskette dazwischen.

Was war noch alles mit mir geschehen, während ich bewußtlos war, fragte ich mich ängstlich und spürte, wie die Gedanken Kapriolen schlugen, sich in blühender Phantasie wilde Dinge ausmalten. Hektisch griff ich an meine Kleidung. Statt des weichen Wanderhemds und der kurzen Hose fühlte ich rauhen Stoff – ähnlich grobgewebtem Leinen. Die Beine waren unbekleidet. Meine Unterwäsche war ausgezogen worden. Ich fühlte mich verletzlich.

Der BH war weg! Uhr und Schmuck fehlten. Sogar die Ringe an Fingern, Zehen und Ohren waren abgezogen. Sicher war der Rucksack ebenfalls verschwunden. Ich war hier ohne Taschenlampe und Handy, nackt und gefesselt, nur mit einem kratzenden, oberschenkellangen Kleid am Leib. Das war zu viel.

Der Puls beschleunigte sich rapide in ein dumpf pochendes Inferno, bis mir schließlich schwindelig wurde. Alles drehte sich. Der Druck im Kopf wuchs. Ein stechender Schmerz breitete sich in der Brust aus. Panik und Hilflosigkeit gewannen in meiner Gefühlswelt die Oberhand. Ich war, verdammt noch mal, gefangen. Kämpfen oder Weglaufen, die natürlichen menschlichen Reaktionen auf eine Gefahr, waren mir verwehrt. Drüsen schütteten Unmengen von Streßhormonen aus. Das vernünftige Denken hörte auf. Instinktives Handeln übernahm die Kontrolle. Doch der Instinkt ist nicht abhängig vom Intellekt und neigt zu spontanem und vor allem unüberlegtem Handeln.

»Hilfe!« schrie ich voller Verzweiflung. Tränen füllten meine Augen. »Hilfe! Hilfe! Hilfe!«

Immer wieder brüllte ich das eine Wort heraus, bis ich heiser wurde. Es war kein Rettungsanker, den ich auswarf, um mich aus der mißlichen Lage zu befreien. Trotzdem versuchte ich es verzweifelt immer und immer wieder. Irgend jemand mußte mich doch hören und mir endlich einmal antworten. Schreien war das einzige, was ich tun konnte. So schrie ich, als ob es um mein Leben ginge. Die letzten Töne verließen als trauriges, leises Krächzen die aufgerauhte Kehle.

Schluchzend vergrub ich den Kopf in den Händen. Verzweiflung vergiftete meine Gedanken und ließ nicht zu, daß ich mich beruhigen konnte. Zitternd saß ich auf dem Steinblock. Bitterlich weinend.

Vorsichtig, um mich mit der schweren Kette nicht zu verletzen, ließ ich die Beine auf den Boden sinken. Unter den nackten Fußsohlen spürte ich Staub und kleine spitze Steinchen, die mir unentwegt in die empfindliche Haut pieksten. Ich war keine Barfußläuferin, hatte dort unten keine Hornhaut, die mich vor den unangenehmen Reizungen schützen konnte.

Ich fühlte mich wie nach einem Schock, bei dem die Empfindungen vom Körper gelöst waren. Alles lief vor mir ab wie in einem Traum. Das Geschehen nahm ich wahr und versuchte vergeblich, das Aufgenommene zu verarbeiten. Es war, als ob ich neben mir stünde. Mein Gehirn weigerte sich einfach, die Gegebenheiten als Realität zu akzeptieren.

Mit dieser Situation konnte ich nicht umgehen. Alles, was ich hier erlebte, alles, was an Emotionen auf mich einprasselte, war unwirklich und fremd. Der analytische Verstand, den ich schon immer als meine große Stärke betrachtet hatte, war einfach ausgeschaltet. Ich konnte nicht erfassen, was das Ganze bedeuten sollte. Es machte mich unsicher und verletzlich. Ich haßte Unsicherheit. Kontrolle war wichtig. Losgelöst im luftleeren Raum zu schweben, das war keine Handlungsoption. Doch was sollte ich tun? Mir war die Kontrolle entzogen worden. Gefangen und alleine saß ich irgendwo im Dunkeln. Niemand beantwortete meine Rufe. Verzweiflung bestimmte meine kleine Welt.

Moment! Ich war ein junges, selbstbewußtes Mädchen im Alter von 22 Jahren. Ich hielt mich bislang für intelligent, scharfsinnig und mutig. In meinem Leben konnte mich bisher nichts erschüttern. Meinen Weg ging ich immer geradlinig ohne fremde Hilfe. Das Abitur hatte ich mit einer ordentlichen Note geschafft, ohne mich groß anzustrengen zu müssen. Das Studium lief hervorragend. Meine Organisationsfähigkeit war herausragend. Ich hatte wunderbare Freunde und eine Zimmergenossin, die stets für mich da war. Obwohl sich meine Eltern scheiden ließen, konnte ich zu beiden ein tolles Verhältnis halten. Die Studienreise nach Belgien hatte ich ganz alleine geplant, mich darauf vorbereitet, sie organisiert und schließlich durchgeführt. Nicht einmal dieses abstruse Thema meiner Arbeit für die Uni hatte mich erschüttern können.

Ich war kein ängstliches und leicht zu verunsicherndes kleines Mädchen. Im Gegenteil! Ich war eine Macherin! Also, Carola, dann beruhige dich wieder! Reiß dich zusammen! Hör auf zu flennen und finde eine Lösung für deine Situation! Das schaffst du, so wie du schon so vieles in deinem Leben gemeistert hast!

Selbstmotivation war etwas Tolles, wenn sie funktionierte. Tatsächlich wirkte es. Ich wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und ignorierte dabei das rasselnde Kettenband. Mit klopfendem Herzen beruhigte ich mich langsam.

Für eine gute Analyse waren zuverlässige Daten notwendig. Diese mußte ich mir jetzt zusammensuchen. Dann konnte es mir sicher auch gelingen, eine Lösung für das Dilemma zu finden, in dem ich mich befand. Ich war eine Wissenschaftlerin! Ich hatte gelernt, analytisch zu denken und Probleme zu lösen. Das mußte ich doch für mich nutzen können!

Ich begann die Beurteilung der Lage mit meiner Kleidung. Man hatte mir also einen unbequemen Leinensack angelegt, als ich ohne Bewußtsein war. Die Stoffe an der Körpervorderseite und am Rücken waren mit Klettbändern verbunden. Die Oberbekleidung konnte also trotz Fesselung ohne größere Schwierigkeiten angezogen oder abgelegt werden. Es war ein Hinweis, daß mein Aufenthalt und die Fesselung wohl für einen längeren Zeitraum geplant waren. Nicht gut! Wo waren meine Kleidung, der Schmuck und der Rucksack? Ich konnte sie nicht sehen. In meiner unmittelbaren Umgebung standen sie nicht, sonst hätte ich sie bestimmt schon bemerkt.

Der Raum, in dem ich mich befand, war nicht besonders kühl. Trotz der spärlichen Bekleidung fror ich nicht. Zwar zitterte ich am ganzen Körper; das war aber aus Frust und Wut, nicht vor Kälte. Der Boden selbst war etwas kälter als die Umgebungsluft. Es war aber nicht unangenehm. An den Sohlen pieksten ein paar kleine Steinchen. Immerhin war der Boden trocken und nicht feucht. Es roch weder schimmelig noch modrig. So schlimm war dieser erzwungene Aufenthaltsort doch gar nicht, sprach ich mir Mut zu, den ablenkenden Mut der Verzweifelten. Alles in allem hätte es wesentlich schlimmer kommen können.

Noch schlimmer? fragte die sarkastische Stimme in meinem Kopf. Carola, vielleicht wartet irgendwo da draußen der Tod auf dich. Was soll da noch schlimmer sein?

An Händen und Füßen war ich gefesselt. Um den Hals lag ein Eisenring. Meine Haut wurde von gummiertem Leder vor Verletzungen durch das starre Material geschützt. Ein weiteres Indiz für eine längere Zeit, die ich hier verbringen sollte. Was oder wo auch immer dieses »Hier« auch sein mochte. Man wollte mich also nicht unnötig quälen oder verletzen, was grundsätzlich schon einmal recht beruhigend war. Was für ein schwachsinniger Gedanke, so etwas als beruhigend zu empfinden!

Es fiel mir unglaublich schwer, die Situation objektiv einzuschätzen. Ich hatte eine Riesendummheit begannen, den Folterkeller auf eigene Faust aufzusuchen. Jetzt war ich ein Kettensträfling oder so etwas in der Art. Im Internet gab es ja die schlimmsten Geschichten über Menschen, die auf eine solche Art gefangengehalten wurden. Was würde mich noch alles erwarten? Was würde noch alles geschehen? Todesangst, Carola? fragte wieder diese hinterhältige Stimme in meinem Inneren.

Trotz der Ketten, die meine Gelenke banden, konnte ich mich einigermaßen frei bewegen. Ich probierte ein wenig und testete meine Grenzen aus. Die Hände konnten sich hinter dem Rücken berühren, wenn ich den Bauch nicht nach vorne streckte, sondern etwas einzog. Zum Glück war er ziemlich flach, worauf ich schon immer recht stolz war. Die Beine ließen sich fast einen Meter spreizen, bevor die Verbindungskette vollständig gespannt war. Den Hals konnte ich nur ein wenig nach vorne oder zur Seite neigen, doch zumindest hatte er ein klein wenig Spiel in der Bewegung.

An den Eisenfesseln ertastete ich jeweils zwei Öffnungen, eine an der Vorderseite und eine hinten. An den Vorderseiten waren die Verbindungsketten befestigt, die Rückseiten waren frei. Selbst am Halsband war an einer Öse eine Kette angebracht. Diese befand sich an der Vorderseite und führte irgendwohin in die Finsternis. Ich zog an der Kette und hatte schnell den Punkt erreicht, an dem sie gespannt wurde. Ein kleines Stückchen Freiheit – zumindest ein kleines. Vorsichtig folgte ich dem Verlauf der Kette, wobei ich das kalte Material durch die Finger der linken Hand gleiten ließ. Mit der Rechten tastete ich mich vorwärts und versuchte mich davor zu schützen, daß ich nicht irgendwo dagegen stieß.

Die Kette verschwand in einem schmalen Loch in der Wand. Ich legte die Handflächen daneben und spürte rauhen Stein, der es umschloß. Dieser fühlte sich wesentlich grober an als der Block, auf dem ich gelegen hatte. Wenn man darüber strich, rieselte an manchen Stellen feiner Staub zu Boden, der mich sogleich in der Nase kitzelte. Mühsam unterdrückte ich einen sich anbahnenden Niesanfall.