Skrupel 1.0 - Christine Sylvester - E-Book

Skrupel 1.0 E-Book

Christine Sylvester

0,0

  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Marius Vermeer erhält einen Mordauftrag. Er lehnt ab. Doch kriminelle Geschäfte und finanzielle Krisen zwingen ihn, den Auftrag anzunehmen. Womit er allerdings nicht rechnet: Die Frau, die er ermorden soll, ist ein Opfer auf Augenhöhe. Sein Auftrag misslingt und zu allem Überfluss wachsen seine Skrupel. Hat er sich etwa in die intelligente Intrigantin verliebt? Diese Frau jedenfalls ist durch nichts zu erschüttern - schon gar nicht durch einen Mann! Der Killer hat keine Wahl, das Opfer nutzt jede Gelegenheit für finstere Machenschaften. Er verfolgt sie, sie stellt sich ihm in den Weg. Es geht um Geld, Kunst, Liebe, Macht und vor allem um Leben und Tod. Der Killer ist menschlich, denn er hat Skrupel. Sie kennt nicht einmal das.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 275

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Skrupel 1.0

Titel SeiteKriminalromanKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Kapitel 59Kapitel 60

Christine Sylvester

Skrupel 1.0

Kriminalroman

Kriminalroman

Skrupel 1.0

Das vorliegende Buch ist ein Kriminalroman und rein fiktional. Handlung und Figuren sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Ereignissen sowie lebenden oder toten Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Copyright by Christine Sylvester

Umschlag & Satz: WorTTakt Team

Jüngststr. 14, 01277 Dresden

www.sylvester-artikel.de

[email protected]

[email protected]

Zur Autorin

Christine Sylvester, geboren 1969 in Bielefeld, studierte Journalistik und Philosophie und arbeitet als Lehrerin und Dozentin für Ethik, Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch und Medienpädagogik. Seit 2005 veröffentlicht sie Belletristik, Kurzgeschichten sowie Kinder- und Jugendromane. Weitere Informationen unter: www.sylvester-artikel.de

Kapitel 1

Marius Vermeer warf einen kritischen Blick auf die fünf Skulpturen, die gestern aus Lateinamerika angekommen waren. Ob der Kunde Wort hielt und sie heute noch per Kurier abholen ließ? Marius war froh, die teure Fracht bald los zu werden. Sein Kennerblick stufte diese Skulpturen als mäßig wertvoll ein. Vielleicht fünftausend Euro pro Stück; gut, im Ensemble mochten sie etwas wertvoller sein. Dennoch hegte er den Verdacht, dass sie noch andere Werte beinhalteten und war erleichtert, dass es beim Zoll keine Probleme gegeben hatte.

Er griff zum Staubtuch und wedelte über die fünf Heiligen. Fünfzigtausend Euro waren auf jeden Fall viel zu viel für diese volkstümlichen Kunstwerke. Wie gut, dass er heute selbst in seinem Antiquitätenhaus an der Spiegelgracht war. Solch heikle Geschäfte überließ er ungern seinen Mitarbeitern.

Marius schlenderte zum Holztresen mit der alten Registrierkasse aus den 1920er Jahren, warf einen Blick in den noch gut erhaltenen Louis-Quinze-Spiegel, den er niemals verkaufen würde und fuhr sich durch die Haare. Er wurde langsam grau. Wenn er sich die Haare jetzt tönen ließe, würde das noch niemandem auffallen. Ach was! Marius bleckte die Jacketkronen. Er sah für Mitte 40 gut aus. Und mit seinen 1,95, der sportlichen Figur und seiner maßgeschneiderten Garderobe war er ein attraktiver Typ. Es hatte ihm noch nie an weiblicher Resonanz gemangelt. Schließlich hatte er Geld, Manieren und Bildung. Leider fehlte Letzteres den meisten Frauen, die er kannte. Oder den gebildeten Damen seines Alters fehlte der Sexappeal.

In diesem Moment riss ihn das Glockenspiel der Eingangstür aus seiner Selbstbetrachtung. Na endlich, der Kurier für die dubiose Lieferung.

„Hallo, bin ich recht hier um zu sprechen eine gewisse Marius Vermeer?“ Ein untersetzter Typ in Motorradkluft stand vor ihm.

Wollte der die fünf Heiligen auf dem Sozius transportieren? Marius blieb auf Distanz. „Guten Tag, mein Herr. Was möchten Sie denn von Herrn Vermeer?“

„Eine Auftrag.“ Der Typ sah sich im Laden um. „Ich bin geschickt für Übermittlung von eine Auftrag an die Herr Vermeer ganz persönlich.“

Der Typ wirkte südländisch, sprach aber einen undefinierbaren Akzent und - Marius rümpfte die Nase - benutzte ein aufdringliches Aftershave. „Sie sollen etwas abholen, nehme ich an …“

„Oh, nein, nein.“ Der Fremde schaute sich erneut um. „Ich bringe. Ich bringe eine Auftrag. Sie sind die Herr Vermeer?“

Hatte er ihn durchschaut, oder waren sie sich schon einmal begegnet? Marius hatte zwar ein gutes Gedächtnis für Gesichter, das erforderte sein Beruf. Aber an diesen Mann konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern. „Marius Vermeer, persönlich.“ Er reichte ihm die Hand. „Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

Der andere ergriff die dargebotene Hand mit festem Händedruck. „Flavio Montano. Erfreue mich zu treffen Sie.“

„Herr Montano, was kann ich denn für Sie tun?“ Der Typ war auf jeden Fall nicht der Kurier. Umso wichtiger war es, diesen Montano loszuwerden, bevor der Kurier für die Skulpturen kam.

„Nun, man mir sagte …“ Er räusperte sich. „Sie nehme Aufträge, wie sagt man, pikante Art von wirklich große Tragweite.“

„Kommen Sie.“ Marius lotste ihn in die hinteren Räume und senkte die Stimme. „Pikante Aufträge, meinen Sie?“

„Ja, von Tragweite besondere Art.“ Flavio Montano wurde ebenfalls leise. „Von tödliche Tragweite.“

Marius Vermeer lächelte geschäftsmäßig. „Ich glaube, dass Sie da einem Missverständnis aufsitzen, mein lieber Herr …“

„Montano“, ergänzte der andere schnell. „Ich Sie soll aufsuchen für eine große Auftrag. Scusi. Ich bin nur die Übermittler.“

„Aha.“ Marius´ Tonfall wurde schärfer. „Wer schickt Sie?“

„Er nennte sich der Konsul“, erklärte Montano. „Meine Familia ofte arbeite für der Konsul.“

Marius legte den Finger an die Schläfe. Der Konsul … Da kamen einige seiner Kunden und Bekannten in Frage. „Und welchen Auftrag sollen Sie übermitteln?“ Er würde sich auf nichts einlassen, das stand fest. Dieser Flavio Montano war mehr als eigenartig.

„Eine Frau.“ Montano verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Sie musse weg.“

„Eine Frau muss weg?“ Marius lachte auf. „Dann soll Ihr Auftraggeber sich doch scheiden lassen.“

„Sie nicht wollen verstehen“, tadelte Montano. „Nicht seine Frau. Eine gefährliche Frau. Eine Deutsche.“

Marius lachte erneut. „Ja, natürlich, die deutschen Frauen sind besonders gefährlich.“ Doch Montano schien die Ironie nicht zu verstehen. „Hören Sie, mein Herr, wenn Ihr Herr Konsul wen auch immer verschwinden lassen will, warum beauftragt er dann nicht Sie?“

Montano schüttelte den Kopf. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn. „Nein, nein.“

In diesem Moment hielt ein Lieferwagen vor dem Antiquitätenhaus. Marius beobachtete, wie zwei Männer ausstiegen und auf die Tür zukamen. Die Kuriere. Er musste diesen komischen Kauz so schnell wie möglich loswerden. „Hören Sie, Montano, ich glaube nicht, dass ich Interesse habe.“

„Oh, keine Rolle spielt die Geld!“ Der Südländer klang flehend.

Nun traten die Männer ein und das Glockenspiel erklang.

„Moment, ich bin gleich bei Ihnen!“, rief Marius. Dann zischte er Montano zu: „Eine Million. Euro, versteht sich.“

Der Südländer zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Bekommen Sie 1,5 Millionen. Juro, ist klar.“

Marius seufzte. Mit seinem Preis konnte er ihn offenbar nicht abschrecken.

„Hier habe Foto.“ Montano kramte einen Bildabzug hervor. „Die Dame Sie finden in Berlin.“ Er drehte das Bild herum und gab es Marius. „Hier ist Numero de Telefono. Sie mich geben Bescheid, Maestro Vermeer.“ Montano verneigte sich linkisch und ging ein Stück rückwärts. Dann senkte er den Blick und verließ eilig den Laden.

Marius runzelte die Stirn und ließ das Foto schnell in seine Anzugtasche gleiten. „Meine Herren, Sie suchen Heilige?“

Einer der Männer grinste. „Jawohl. Eilige Heilige aus dem Urwald.“

Marius atmete auf. „Kommen Sie! Die Skulpturen warten schon auf Sie.“

Kapitel 2

Kaum hatte Charlotte Morgenrot das Loft betreten, meldete sich ihr Smartphone. Sie fischte es aus der Handtasche und nahm den Anruf entgegen. „Hallo Bettina!“

„Charlotte, wie gut, dass ich dich erreiche.“ Bettina sprach leise. „Bist du noch in der Kanzlei?“

„Nein, gerade zuhause angekommen.“ Charlotte begutachtete die Fingernägel ihrer linken Hand. Sie musste dringend einen Termin zur Maniküre machen. Der lachsrote Lack wurde spröde, und sie war der Farbe inzwischen überdrüssig.

„Ist Gerd noch … Ist er noch in der Kanzlei?“, fragte Bettina.

„Ja, dein Gatte hat noch ein Mandanten-Gespräch.“ Charlotte seufzte. „Und nein, es ist keine Frau. Er wollte mich allerdings nicht dabeihaben.“ Charlotte ließ sich aufs Ledersofa fallen. ‚Wenn du mich fragst, ist der Mandant wiedermal einer von der Russenmafia’, hätte sie am liebsten hinzugesetzt. Aber sie wollte ihre Freundin nicht unnötig beunruhigen. Sie würde sich selbst darum kümmern, dass ihr Chef Gerd Kogelmann nicht unter die Räder geriet.

„Pfft!“, machte Bettina. „Sei froh, dass du Feierabend hast.“

„Ja, bin ich.“ Charlotte dachte an den neuen Mandanten.

„Hast du eine Ahnung, wie lange das heute Abend bei Gerd noch dauert?“, fragte Bettina.

„Nein, das kann ich wirklich nicht sagen“, gab Charlotte zu.

„Dann brauche ich deine Hilfe.“ Bettina lachte. „Genauer gesagt, dein Loft. Ich treffe Frederick.“

„Ah so.“ Charlotte schoss die Pumps von den Füßen. „Ist das der Barkeeper oder der Gärtner?“

„Das ist dieser schnuckelige Tänzer, du weißt schon“, sagte Bettina gedehnt.

„Ok.“ Charlotte legte die Beine hoch. „Na gut, in einer Stunde könnt ihr es euch hier gemütlich machen. Aber Bettina …“

„Du bist ein Schatz!“, freute sich die Freundin.

„Ihr vögelt nicht wieder in der Küche herum“, verlangte Charlotte. „Das ist äußerst unappetitlich.“

„Versprochen.“ Bettina kicherte albern. „Frederick hat einfach so viel Temperament.“

Charlotte stand auf. „Und um Mitternacht seid ihr verschwunden.“ Sie ging hinüber zur Küche und öffnete den Kühlschrank.

„Natürlich, wie immer“, sagte Bettina. „Und Charlotte?“

„Ja?“ Charlotte nahm eine angebrochene Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank.

„Du hast was gut bei mir!“

„Ich weiß.“ Charlotte grinste. „Dann viel Spaß mit deinem Tanzknaben.“ Sie drückte Bettinas Nummer weg und schenkte sich Wein ein.

Dass Bettina immer diese Vorliebe für irgendwelche Barkeeper, Kellner, Gärtner und Tänzer hatte. Charlotte trank kopfschüttelnd. Bettina vögelte dermaßen unter Niveau, dass kaum etwas dabei herauszuholen war.

Das Weinglas in der Hand, stieg Charlotte auf den Stuhl und überprüfte den Sitz der Kamera. Perfekt. Sie war auf Küchentresen und Arbeitsfläche gerichtet.

Dann prostete sie der Kamera zu, stieg vom Stuhl und kontrollierte die Kameras rund um das Bett. Auch hier war alles in Ordnung. Charlotte nahm einen weiteren Schluck. Bettina hatte vor lauter Eifer bisher noch nie eine der Kameras bemerkt. Sie waren allerdings durch Bilder, Lampen und Pflanzen alle gut getarnt.

Charlotte ging ins Bad, stellte das Glas neben dem Waschbecken ab und schlüpfte aus ihrem Business-Kostüm. Dann schielte sie hinauf zur Kamera, die im Lüftungsschacht angebracht war. Mit der Aufzeichnung im Bad musste sie sich noch etwas einfallen lassen. Die Kamera lieferte schlechte Bilder, weil bei Betrieb von Dusche oder Whirlpool die Linse beschlug. Nun ja, mit den Bildern von solch unbedeutenden Liebhabern war ohnehin nicht viel anzufangen. Sie musste Bettina unbedingt mal mit diesem neuen Staatsanwalt bekannt machen. Das wäre eine lohnenswerte Affäre …

Charlotte überprüfte ihr Makeup, leerte das Glas und angelte sich einen Hosenanzug aus dem begehbaren Schrank nebenan. Binnen weniger Minuten war sie ausgehfertig, räumte Schuhe, Glas und Flasche auf und aktivierte über den Laptop auf dem Schreibtisch die Kameras. Sie schnappte sich ihre Tasche, ließ den Blick noch einmal prüfend durch das Loft wandern, zog die Tür hinter sich zu und rief den Lift.

Charlotte verspürte Lust auf indisches Essen, danach vielleicht ein Kinobesuch oder ein Abstecher in eine Bar. Nein, sie würde Kogelmanns neuen Mandanten vor der Kanzlei abfangen und diesem Burschen mal auf den Zahn fühlen.

Als Charlotte ihr Tandoori-Hähnchen bezahlte, fügte sie der Rechnung gleich noch ein paar deftige Snacks hinzu, mit der Bitte, sie in etwa einer Stunde in ihr Loft zu liefern. Dann schickte sie Bettina eine SMS, sie möge nicht erschrecken, wenn es an der Tür klingele, sondern die Bestellung genießen. Charlotte lächelte. Sie war eben eine wirklich gute Freundin.

Sie verließ das Restaurant und winkte ein Taxi heran. Der Fahrer grummelte zunächst, als er hörte, dass das Fahrziel nur wenige Straßenecken entfernt lag, ließ sich jedoch schnell überzeugen, als Charlotte ihm erklärte, dass sie dort mit laufendem Taxameter auf die Weiterfahrt warten würden.

Der Wagen hielt vor der angegebenen Adresse, und Charlotte gewahrte, dass die Bürofenster ihres Chefs noch erleuchtet waren. Er hatte also noch immer Mandantenbesuch.

„Wir warten“, ordnete sie an und hoffte, dass es nicht allzu lange dauern würde, bis sich etwas tat.

„Stört es Sie, wenn ich das Radio anmache?“ Der Taxifahrer wandte sich zu ihr um.

„Kein Problem“, erwiderte Charlotte, „solange Sie nicht Blasmusik hören.“

Der Fahrer stellte einen Regionalsender ein, auf dem ein Bericht über einen Immobilienskandal gesendet wurde. Charlotte hörte nur mit halbem Ohr zu und behielt den Eingang zur Kanzlei im Auge.

„Das ist doch mal wieder eine Sauerei“, echauffierte sich der Chauffeur. „Typisch für deutsche Gerichte. So ein Gangster kommt mit einer Geldstrafe davon, und die armen Leute, denen er all ihr Geld abgenommen hat?“

Charlotte sah auf. „Wie? Was?“

„Dieser Immobilienhai, der diese Eigenheime verkauft hat, mit diesem Bauträger, der längst auf und davon ist“, schimpfte der Taxifahrer. „Und jetzt kam während des Prozesses auch noch heraus, dass es gar keine Baugenehmigung gab. Wie schafft es so ein Typ, den Kopf einfach aus der Schlinge zu ziehen?“

Charlotte erinnerte sich. Man hatte die Grundstücke für viel Geld verkauft. Wenige Wochen nach Baubeginn hatte sich der Bauträger ins Ausland abgesetzt. Und nun mussten aufgrund der nachweislich gefälschten Baugenehmigungen die Ruinen wieder abgerissen werden, und das auf Kosten der Grundstückseigentümer.

„Das ist doch unglaublich!“ Der Fahrer drehte das Radio ab. „Ich will das gar nicht so genau wissen. Ich rege mich nur auf!“

Charlotte verzog das Gesicht. Den Immobilienmann hatten Kogelmann, Breuer & Kollegen vor dem Knast bewahrt, indem sie sich darauf berufen hatten, man könne dem Mann keine konkrete Verbindung mit dem verschwundenen Bauträger und den gefälschten Genehmigungen nachweisen.

Das stimmte natürlich nicht. Es war ein komplett durchkalkuliertes Unterfangen, das hatte Charlotte längst herausgefunden. Der Immobilienhai würde dem Bauträger in wenigen Wochen in die Karibik folgen, um von dort aus vermutlich Inseln zu verkaufen, die ihnen nicht gehörten. Dass Kogelmann ihn vor Gericht rausgehauen hatte, war typisch. Schließlich war er Jurist. Aber die Tour in der Karibik würde Charlotte diesen Idioten gehörig vermasseln.

Oh, da tat sich etwas! Charlotte ließ sich tiefer in den Sitz sinken und beobachtete, wie Kogelmann mit einem großen kräftigen Kerl im schwarzen Anzug aus dem Gebäude kam. Die beiden Herren wirkten vertraut und schienen bester Laune zu sein.

Mit der für Kogelmann typischen Geste verabschiedete er seinen neuen Mandanten: Er legte seine Linke auf die im Schütteln begriffenen Hände. Charlotte verabscheute diese vereinnahmende und überhebliche Art des Händeschüttelns. Kogelmann wandte sich zum Gehen, denn der Fremde stieg in einen schwarzen Geländewagen.

„Folgen Sie dem Fahrzeug“, verlangte Charlotte.

„Wie cool. Das ist einer von den Sätzen, auf die ich schon lange warte.“ Der Taxifahrer lachte und fuhr los.

Sie verfolgten den Geländewagen bis zu einem großen Hotel in der Nähe des Kurfürstendamms. Dort verschwand der große schwarze Wagen in einer Tiefgarage.

„Soll ich hinterherfahren?“ Der Taxifahrer schien zu zögern.

„Nein, nein.“ Charlotte zückte das Fahrgeld und legte ein üppiges Trinkgeld obendrauf. „Schönen Abend noch.“ Dann stieg sie aus, lief langsam auf den Eingang zu und betrat die Hotelhalle. Der Blick auf die Uhr sagte ihr, dass Bettina und ihr Tanzknabe gerade die indischen Snacks geliefert bekamen.

Charlotte betrat die Hotelbar, in der nur wenige Gäste saßen. Aus den Augenwinkeln erkannte sie, dass sie den richtigen Instinkt gehabt hatte. Der Fremde im dunklen Anzug hatte ebenfalls die Bar aufgesucht und nahm gerade an der Theke Platz. Sie straffte den Rücken. Nun, der Mann suchte sicherlich ein wenig Gesellschaft.

Kapitel 3

Marius Vermeer stieg aus seinen Schuhen und warf sein Sakko über den Ledersessel. Das Sakko rutschte von der glatten Rücklehne zu Boden, und als er es aufhob, glitt etwas aus der Jackentasche. Er bückte sich. Es war das Foto einer Frau. Erst als er die Telefonnummer auf der Rückseite sah, fiel ihm der seltsame Südländer mit dem Auftrag wieder ein.

Marius betrachtete das Bild. Diese Frau hatte ein interessantes Gesicht. Sie war nicht schön, aber ihre Züge machten neugierig. Das Gesicht hatte etwas Geheimnisvolles, versprach etwas, ohne zu verraten, was.

Er legte das Bild auf den Tisch, ging ins Schlafzimmer und schlüpfte in seine Trainingskleidung. Doch kaum hatte er seine Schnürsenkel gebunden, stand er erneut am Tisch und betrachtete das Foto. Marius tänzelte. Der Blick dieser Frau machte ihn nervös.

Er nahm das Bild mit in den Fitnessraum im Keller, schwang sich auf seinen Heimtrainer und radelte sich warm. Dann schaute er erneut auf das Bild. Dieser Blick war unheimlich.

Das Foto in der Hand trat er auf das Laufband und lief los. Schneller. Er stellte das Laufband auf höhere Geschwindigkeit und lief schneller. Immer wieder schielte er auf das Bild, rannte, schnaufte, schwitzte, schielte und rannte weiter, als ob er so dem unheimlichen Blick entkommen konnte.

Er warf das Foto zur Seite und erhöhte das Tempo des Laufbandes um eine weitere Stufe. Seine Beine flogen über das Band, er hatte das Gefühl, kaum die Füße aufzusetzen.

Nach wenigen Minuten regulierte er die Geschwindigkeit wieder nach unten und lief sich locker aus. Er sprang er vom Band und stoppte das Gerät.

Marius setzte sich an den Armmuskeltrainer und stemmte die Bügel immer schneller vor der Brust zusammen. Er sollte die Gewichte verstärken. Nein, er wollte nicht aufhören. Immer wieder führte er die Arme nach vorn, schwitzte, keuchte und ließ irgendwann die Bügel zurückschnappen. Dann stand er auf.

Es hatte keinen Sinn. Er war zu verkrampft, um seinen Körper zu trainieren. Was er hier aufwendete, war nicht Kraft, sondern Unruhe.

Marius hob das Foto der Fremden vom Boden auf, ging nach oben und legte es wieder auf den Tisch. Dann verschwand er im Bad und duschte abwechselnd heiß und kalt.

Im Bademantel, ein Handtuch um die Schultern, fand er sich kurz darauf, erneut auf das Frauengesicht starrend, vor dem Tisch wieder. Wollte jemand diese Frau verschwinden lassen, weil ihr realer Blick noch unheimlicher war? Einskommafünf Millionen …

Marius schenkte sich ein Glas Wodka ein und trank. Er griff zur Fernbedienung und schaltete die Anlage ein. Langsam brandeten die Klänge von Pink Floyds „Atom Heart Mother“ auf.

Er nahm noch einen Schluck Wodka. Sein Puls schien sich zu beruhigen. Bis sein Blick wieder auf das Foto fiel.

Wem war der Tod dieser Frau so viel Geld wert? Und, was ihn viel mehr interessierte: Warum?

Als er zur Flasche griff, um das Glas noch einmal zu füllen, klingelte es an der Haustür. Marius hielt in der Bewegung inne. Sein Puls wurde noch schneller. Seine Nackenhaare signalisierten ihm, dass etwas nicht stimmte. Hier lauerte Gefahr, das konnte er körperlich spüren.

Er ging zu seinem alten Sekretär, dem einzigen antiken Stück in seinem Haus. Er war beruflich zu viel mit Kunst und Antiquitäten beschäftigt, um sich sein privates Reich damit vollzustopfen. Auch seine Geschäftspartner empfing er niemals zuhause, deshalb kannte auch niemand seine Privatadresse. Niemand außer Roxana, seiner Reinigungskraft, die das Haus einmal am Tag betrat, um für Ordnung zu sorgen. Kein schwerer Job, denn es war modern und karg möbliert und Marius selbst war ausgesprochen ordentlich.

Er zog eine der verspielt wirkenden kleinen Schubladen heraus, ein Samttuch zur Seite und …

Es klingelte erneut. Marius spürte eine Gänsehaut und griff schnell nach seiner Walther P99. Dann löschte er das Licht, stellte die Musik ab und schlich barfuß über den Steinboden zur Haustür. Der Eingang war von außen erleuchtet. Das Außenlicht brannte immer, ob er zuhause war oder nicht. Zeitschaltuhr und Alarmsystem sorgten dafür, dass das Haus jederzeit bewohnt wirkte, auch, wenn Marius tagelang auf Reisen war.

Ob Roxana vielleicht etwas vergessen hatte, deshalb noch einmal vorbeischaute und nicht wagte, den Schlüssel zu benutzen? Nicht auszudenken, wenn er die gute Seele mit vorgehaltener Waffe empfing. Er steckte die P99 in die Tasche seines Bademantels und öffnete vorsichtig die Tür. Durch den Lichtkegel der Außenbeleuchtung konnte er gerade noch zwischen den Kugelbüschen hindurch eine dunkle Gestalt in Richtung Straße verschwinden sehen. Der Duft von aufdringlichem Aftershave kitzelte seine Nase.

Dann bemerkte Marius, dass ein Stück Papier aus dem Briefkasten hervorlugte. Er wollte schon zugreifen, als er sich eines Besseren besann, zunächst einen Zipfel seines Handtuchs um die Finger legte und so spurenarm nach dem Papier griff.

Was er aus dem Briefkasten zog, war ein Kuvert mittleren Formats, das ziemlich dick und vermutlich wattiert war. Statt eines Absenders standen dort nur Initialen: F.M. Vermutlich dieser Kerl, der ihn heute im Geschäft aufgesucht hatte ... Flavio Montano.

Marius warf noch einen prüfenden Blick in den Vorgarten und verzog sich mit seiner Fracht nach drinnen.

Das Kuvert warf er auf den Tisch zu dem Foto und verstaute zunächst die Waffe wieder in der Schublade. Er sollte diese Pistole verschwinden lassen. Wieder einmal beschlich ihn die Furcht, sie eines Tages tatsächlich mal zu benutzen. Und diese Furcht war größer als die um sein eigenes Leben.

Er startete die Musik erneut, schenkte sich endlich sein zweites Glas Wodka ein, zog ein paar Lederhandschuhe aus dem Sekretär und öffnete mit wenigen Griffen das Kuvert. Es war nicht wattiert, sondern durch zahlreiche Geldscheine gepolstert, allesamt Fünfhundert-Euro-Scheine.

Marius nahm einen kräftigen Schluck und zählte. Es waren zweihundert Geldscheine, hunderttausend Euro. Schnell stopfte er die Scheine zurück und verstaute den Geldumschlag in einer weiteren Schublade neben der mit der Pistole.

Dann betrachtete er noch einmal die Frau auf dem Foto, schüttelte den Kopf und legte das Foto dazu. Nein, er würde diesen Auftrag auf keinen Fall annehmen.

Kapitel 4

Charlotte steuerte einen Barhocker in der Nähe des markanten Anzugträgers an. Der Typ wirkte smart und verdächtig. Sie schnappte sich die Cocktailkarte und blätterte darin, während sie seiner Bestellung lauschte. Er hatte spezielle Wünsche, die er selbstbewusst artikulierte.

Charlotte seufzte vernehmlich in die Karte und sah sich hilfesuchend um. Dann ging sie zum Angriff über. „Sie kennen sich offenbar aus. Können Sie mir einen Cocktail empfehlen? Ich bin von diesem riesigen Angebot total überfordert.“

Der Anzugträger sah sie an und lächelte. Dann musterte er sie ganz unverhohlen von oben bis unten und sein Lächeln wurde breiter. „Wenn ich Sie so betrachte. Ich denke, ein ‚Red Stiletto’ würde gut zu Ihnen passen.“

Charlotte lächelte ebenfalls. „Wenn Sie das sagen.“

Sie bestellte das empfohlene Getränk, legte die Karte zur Seite und sah ihn herausfordernd an. „Wie charmant, dass Sie mir keinen ‚Zombie’ empfohlen haben.“

Er lachte herzhaft. „Sie sind auf Geschäftsreise hier im Hotel?“

„Ich bin beruflich in Berlin.“ Charlotte überlegte kurz, als was sie sich ausgeben könnte. Interessant musste es sein, aber unverfänglich. „Ich entwickle spezielle Angebote für, nun, für Reiseveranstalter.“

Der Fremde kam näher. „Das klingt aber interessant. Dann sind Sie wohl viel auf Reisen?“

„In der Tat“, sagte Charlotte. „Ich versuche, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Wenn Sie versten, was ich meine.“

„Sehr weise. Ich komme leider kaum dazu, mal private Reisen zu unternehmen.“ Er klang nicht so, als ob er das wirklich bedauerte. „Aber wenn es soweit ist, werde ich Sie um Rat fragen …“

„Paris.“ Charlotte lächelte zuckersüß. „Im Zweifelsfalle empfehle ich immer Paris. Oder, wenn Sie es etwas turbulenter mögen: Barcelona.“

Der Barkeeper servierte die Getränke.

„Mein Leben ist turbulent genug“, versicherte der Fremde. „Gestern Oslo, heute Berlin, morgen Mailand. Sie wissen schon …“

Charlotte glaubte ihm kein Wort und die Unterhaltung begann, ihr Vergnügen zu bereiten. „Darf ich fragen, welche Geschäfte Sie betreiben? Das hört sich sehr aufregend an!“

„Auktionen.“ Er hob sein Glas. „Zum Wohl, schöne Reiseexpertin!“

„Sie sind Auktionator?“ Sie nippte an ihrem ‚Red Stiletto’. Das Getränk war widerlich süß.

„Nein.“ Der Fremde lachte. „Ich besuche alle wichtigen Auktionen und ersteigere Exponate für meine Auftraggeber. Ich bin Kunstagent.“

„Ach?“ Charlotte klimperte mit den Wimpern. „Was es alles gibt.“

Er schmunzelte. „Schmeckt Ihnen der Cocktail?“

„Ganz hervorragend. Danke für den Tipp.“ Sie leckte sich über die Lippen.

„Sehr schön.“ Er zwinkerte ihr zu. „Wissen Sie, in meinem Beruf erlangt man über die Jahre Menschenkenntnis. Ich dachte mir sofort, dass Sie es süß mögen.“

„Und unsere Hauptstadt ist also immer einer Auktionsreise wert?“, bohrte Charlotte weiter. Sie wollte endlich wissen, was der Kerl hier tatsächlich trieb.

Er leerte sein Glas. „Nehmen Sie auch noch einen?“

„Gern.“ Charlotte hatte Mühe, das Gesicht nicht zu verziehen.

„Nochmal die gleiche Runde“, verlangte er und wandte sich wieder Charlotte zu. „Nun ja, man findet hier schon interessante Objekte. Allerdings mehr im kleineren Stil. Bei Gelegenheit erwerbe ich auch etwas, das ich erst später weiterverkaufe.“

Charlotte strahlte ihn an. „Sie sind ein richtiger Kenner, wow!“

Er lächelte sichtlich geschmeichelt. „Diese Branche ist ein Haifischbecken.“

Charlotte riss die Augen weit auf. „Oje. Wirklich? Ich dachte immer, Kunst und Kultiviertheit gehörten zusammen.“

„Wie überall auf der Welt, geht es auch in der Kunstbranche in erster Linie ums Geld“, dozierte er. „Um viel Geld. Ums große Geld. Und nicht alle Kunstsammler sind an Kultur interessiert oder gar kultiviert. Sie wissen schon, Niveau und Geist gibt es für kein Geld der Welt zu kaufen.“

Charlotte lachte. „Da sagen Sie etwas. Darf ich Sie zitieren?“

„Aber sicher.“ Er lachte. „Ich bitte darum.“

„Verraten Sie mir dann, wen ich als Urheber dieser Erkenntnis nennen darf?“ Sie beobachtete den Barkeeper beim Mixen ihres zweiten ‚Red Stiletto’.

„Oh, Verzeihung.“ Er deutete eine Verbeugung an. „Johannes Bernburg. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

Charlotte überlegte blitzschnell. Wenn er einer von Kogelmanns speziellen Mandanten war, würde ihr Name unter Umständen unter irgendwelchen Schriftstücken auftauchen. Sie musste vorsichtig sein. „Lehmann. Charlotte Lehmann.“

„Freut mich sehr, liebe Charlotte Lehmann.“ Er nahm dem Barkeeper das Cocktailglas ab und reichte es ihr. Dann schnappte er sich seinen eigenen Drink. „Nennen Sie mich doch bitte Johannes.“

„Gern. Charlotte.“ Sie prostete ihm zu, nippte am Glas und räusperte sich. „Und Sie sind nur wegen einer Auktion in Berlin?“

Er runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das?“

„Nun ja …“ Charlotte warf ihm einen langen Blick zu. „Sie kennen doch sicherlich überall auf der Welt viele Leute, nicht wahr?“

„Ach so.“ Er lachte. „Ja, natürlich. Alte Freunde berate ich gern, wenn sie Hilfe brauchen. In allen Lebenslagen, versteht sich.“

Charlotte beobachtete, wie er das zweite Glas in einem Zug leerte. Der Typ war Alkohol gewohnt und würde sich vermutlich nicht zu unkontrollierten Plaudereien hinreißen lassen.

„Nehmen Sie noch einen?“ Er zeigte auf ihr kaum berührtes Cocktailglas.

„Nein danke.“ Charlotte kramte ihr Smartphone aus der Tasche. „Entschuldigung.“ Sie wischte auf dem Display herum. „Oh, das ist wichtig. Einen Moment bitte!“ Sie zog sich, das Telefon am Ohr, in eine Ecke der Bar zurück und tat so, als würde sie telefonieren. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, dass der Typ noch einen weiteren Drink orderte.

Als Charlotte an ihren Platz an der Bar zurückkehrte, hatte Johannes Bernburg auch dieses Glas fast geleert. Sie seufzte. „Es tut mir leid. Ich muss gehen. Ein Notfall.“

Er sah sie an. „Wie schade …“

Charlotte zückte ihr Portemonnaie. „In der Tat. Vielleicht setzen wir unser nettes Gespräch ein andermal fort.“ Sie reichte dem Barkeeper einen Schein. „Stimmt so.“

Vor dem Hotel warteten mehrere Taxis. Charlotte warf einen Blick auf die Uhr. Es war fast Mitternacht. Sie konnte also wieder über ihr Loft verfügen.

Kapitel 5

Am Morgen nahm Marius Vermeer nur einen Espresso im Stehen zu sich. Er hatte sich in der Nacht lange im Bett herumgewälzt und war erst gegen vier Uhr eingeschlafen. Er hatte beinahe den Wecker überhört und fühlte sich matt. Immer noch schwirrte ihm dieser seltsame Montano mit seinem noch seltsameren Auftrag im Kopf herum. Meinte dieser Typ wirklich, ihn mit hunderttausend Euro und einem Foto zu einem Mord zu bringen? Was für ein Idiot! Und diese Telefonnummer. Er würde doch niemals irgendeine Nummer anrufen, um solch delikate Angelegenheiten zu verhandeln. Auf so eine dämliche Idee kamen nicht einmal Undercover-Ermittler.

Marius verschloss sorgfältig die Haustür hinter sich und lief hinüber zur Garage. Mit der Fernbedienung am Schlüsselbund öffnete er das Tor und klemmte sich hinter das Steuer seines Sportwagens.

Als er den Wagen anließ, schloss sich das Tor wieder. Nanu, war er auf den Knopf der Fernbedienung gekommen? Er drückte erneut, das Tor fuhr ein Stück hoch und gleich wieder herunter. Marius fluchte „Scheißtechnik!“ und ließ den Motor aufheulen. Das Spiel wiederholte sich erneut. Dann schloss sich das Tor und blieb unten, sosehr er auch auf den Knopf der Fernbedienung einhämmerte.

„Ich würde den Motor lieber ausschalten, sonst ersticken wir hier noch.“ Eine Männerstimme war dicht an Marius´ Ohr. Sogleich spürte er einen metallischen Gegenstand im Nacken.

Er schaltete den Motor aus und nahm langsam die Hände nach oben.

„Siehst du, so kann man sich auch viel besser unterhalten“, höhnte die Stimme hinter ihm.

Marius atmete tief durch und beschloss zu schweigen. Er hatte keinen Zweifel, dass das Metall in seinem Nacken die Mündung einer Waffe war.

„Du hast einen Fehler gemacht, Vermeer. Das mag ich nicht.“ Marius wartete ab. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren.

„Du hast meine Ware in die falschen Hände gegeben. Das lasse ich mir nicht gefallen.“

Marius dachte nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen, wovon dieser Mensch sprach.

„Du weißt genau, was ich meine!“ Der Druck im Nacken verstärkte sich. „Du hast meine albernen Heiligen einfach der Konkurrenz überlassen.“

Daher wehte also der Wind. Er meinte die Skulpturen aus Südamerika. Marius hatte sich schon gedacht, dass mit denen etwas faul war. Fünzigtausend Euro für den Schund.

„Gibst sie einfach irgendeinem daher gelaufenen Kurier. Vermeer, du wirst alt und unvorsichtig.“

Marius spürte seine Arme schwer werden. Er hatte nicht aufgepasst, das stimmte. Erst dieser Südländer, der ihn abgelenkt hatte, dann war er nur froh gewesen, die Skulpturen loszuwerden. Dabei hätte er hellhörig werden müssen, als gleich zwei Kuriere aufgetaucht waren. In solchen Fällen involvierte man schließlich möglichst wenige Personen, und diese fünf Heiligen wären leicht von einem Einzelnen zu transportieren gewesen. Stattdessen waren zwei erschienen. Wahrscheinlich, weil sie mit Widerstand gerechnet hatten und ihn im Zweifelsfalle so leicht hätten überwältigen können.

Hinter ihm klickte es, dann roch es nach Rauch. Marius schloss die Augen. Wie er Zigarettenrauch verabscheute, noch dazu im Auto. „Was willst du? Soll ich die Skulpturen zurückholen?“

Der Mann hinter ihm lachte. „Das schaffst du nicht. Die sind längst außer Landes. Woanders hat der Stoff ganz andere Preise!“

Also tatsächlich Drogen. Marius hatte es ja geahnt. So viel Geld für schnödes Kunsthandwerk. Damit konnte man allenfalls Zollbehörden täuschen. „Was willst du dann von mir?“

„Mein Geld.“ Eine Rauchwolke zog an Marius vorbei. „Und ich meine nicht die Fünfzigtausend, das waren meine Auslagen. Ich will …“ Er zog geräuschvoll an seiner Zigarette. „Ich will das Doppelte, und zwar auf der Stelle!“

Marius lachte auf. „Natürlich. Ich fahre doch immer Hundertausend im Handschuhfach spazieren.“

„Schnauze!“ Das Metall bohrte sich tiefer in seinen Nacken. „Ich will Hunderttausend, oder du wirst den heutigen Sonnenuntergang nicht mehr bewundern können.“

Marius seufzte. So ein Schwätzer. Aber nichtsdestotrotz musste er ihn und sein Anliegen loswerden. Er dachte an Montano, den Auftrag und das Kuvert mit dem Geld. Er konnte diesem Südländer auch morgen noch seine Anzahlung zurückgeben, wenn er bei der Bank gewesen war. „Du bekommst dein Geld.“

„Ich will es jetzt!“

„Natürlich jetzt.“ Marius ließ langsam die kribbelnden Arme sinken. „Wir steigen aus und gehen ins Haus. Ich habe dort Bargeld.“

„Du verstehst schnell. Also los!“

Marius tat wie angeordnet. Ohne sich umzudrehen betätigte er erneut die Fernbedienung. Diesmal öffnete sich das Tor problemlos. Marius spürte zwar kein Metall mehr im Nacken, doch er war sicher, dass der Andere, der jetzt schräg hinter ihm ging, noch immer die Waffe griffbereit hielt.

Vor der Haustür trat der Typ seine Zigarette aus und folgte Marius ins Haus. „Nette Behausung hast du hier, Vermeer. Und ganz ohne diesen Kunstkitsch, sehr geschmackvoll.“

„Danke.“ Marius vermied es noch immer, den Mann anzusehen. Er trat an den Sekretär. Vor den Schubladen zögerte er kurz. Sollte er einfach die Pistole nehmen und diesen Idioten unschädlich machen? Nein. Hier ging es um ein bisschen Kunsthandwerk voller Drogen und um läppisches Geld. Er zog den Umschlag hervor und zählte die zweihundert Scheine auf den Sekretär. „Da hast du es. Verzieh dich!“

Der Andere ließ sich nicht lange bitten. Er raffte das Geld, stopfte es eilig in seine Jackentaschen und war binnen weniger Sekunden verschwunden.

Marius legte den leeren Umschlag zurück in die Schublade. Hoffentlich hatte der Typ das Foto nicht gesehen. Das würde er so schnell wie möglich Montano zurückgeben, genau wie die Anzahlung von hunderttausend Euro.

Er sah auf die Uhr. Es wurde wirklich höchste Zeit, dass er endlich in sein Geschäft kam. Diese Kleinverbrecher waren wirklich lästig. Er würde sich nicht wieder auf Schmuggeleien einlassen, das stand fest.

In einer Stunde mussten die beiden chinesischen Vasen ankommen, die er vergangene Woche in London ersteigert hatte. Ein wirklich lukratives Geschäft – und seriös. Die Japaner würden einige Millionen Dollar dafür auf den Tisch legen.

Kapitel 6

Charlotte Morgenrot ließ sich in den Sessel sinken und den Blick über Kogelmanns Schreibtisch wandern. Ob sie etwas übersehen hatte?

In ihrem Vorzimmerbüro hatte sie bereits sämtliche Mandantendatenbanken durchforstet. Selbst die alten Karteien, die lange vor Charlottes Zeit erfasst worden waren. Den Altersangaben nach dürfte ein Großteil dieser ehemaligen Klientel längst das Zeitliche gesegnet haben. Nirgendwo gab es einen Hinweis auf Johannes Bernburg.

Deshalb musste sie sich tiefer in die Höhle des Löwen wagen. Charlotte nahm den Rahmen mit Bettinas Foto vom Chefschreibtisch, löste die Rückseite aus der Halterung, nahm den an der Innenseite klebenden Schlüssel zur Hand und öffnete damit Kogelmanns private Schublade. Der Chef hatte natürlich keine Ahnung, dass sie sein Schlüsselversteck kannte. Aber Kogelmann hatte von vielem keine Ahnung.

In der Schublade lag noch immer der Stapel mit den albernen Liebesbriefen einer gewissen Elisa. Ein ganzes Wochenende hatte Charlotte einst mit dieser Lektüre in der Kanzlei verbracht. Vertane Zeit. Purer Kitsch, mit dem nichts anzufangen war.

Es gab ein altes Handy mit Prepaid-Karte, sodass man Anrufe nicht zurückverfolgen konnte. Kogelmann nutzte es manchmal, um den einen oder anderen Zeugen der Gegenseite auf Linie zu bringen, indem er ihnen anonym drohte oder großzügig Geld anbot. Nun ja, diese Methoden beherrschte nicht nur Gerd Kogelmann. Charlotte grinste. Sie sorgte ganz gern mal für ein wenig Ausgewogenheit in der Zeugenbeeinflussung.

Und da war das kleine altmodische Adressbuch mit den handschriftlichen Eintragungen. Mit fliegenden Fingern durchblätterte sie die Seiten voller Namen und Zahlen: Telefonnummern, Bankverbindungen, Schließfachnummern.

Charlotte hatte alle alten Einträge als Kopie. Doch da, das war eine neue Notiz: J. Bernburg und ein Datum in der kommenden Woche. Vermutlich war das ihr nächster Termin jenseits der regulären Kanzleizeiten. Nicht einmal eine Telefonnummer gab es zu diesem Bernburg. Das war allerdings ungewöhnlich.

In diesem Moment hörte Charlotte Schritte im Vorraum der Kanzlei. In Windeseile legte sie das Buch zurück in die Schublade, verschloss sie, klebte den Schlüssel an seinen Platz im Bilderrahmen und baute Bettinas Konterfei wieder zwischen Lampe und Monitor auf. Durch die Verbindungstür huschte Charlotte hinüber in ihr Vorzimmer.

Sie hatte gerade Platz genommen, als auch schon Kogelmanns Partner Breuer erschien.

Franz Breuer hatte Charlotte vor Jahren bei ihrer Scheidung vertreten und dafür gesorgt, dass Charlotte finanziell gut versorgt war. Und weil sie selbst so gute Ideen eingebracht hatte, wurde ihr prompt der Job als Sekretärin angeboten. Es hatte kein Jahr gedauert und sie war zur rechten Hand von Chef Kogelmann geworden; nicht zuletzt durch ihre spontane Freundschaft mit dessen Frau Bettina.

Schließlich behielt Charlotte das Privatleben des Chefs im Auge und sorgte rigoros für ausschließlich männliche Referendare bei Neueinstellungen. Den Herren Juristen musste man nicht lange erklären, dass allzu viel Emanzipation und Quote in einer Kanzlei der männlichen Erfolgsbilanz eher abträglich waren.

„Guten Morgen, Charlotte.“ Breuer nahm Unterlagen aus dem Regal. „Irgendwelche Anrufe?“

„Guten Morgen, Franz.“ Charlotte konzentrierte sich auf einen vermeintlichen Brief. „Nein, alles bis jetzt ist alles ruhig.“

„Tust du mir bitte einen Gefallen und arrangierst für mich ein Abendessen mit dem neuen Staatsanwalt?“

Charlotte sah auf. „Und in welcher Angelegenheit?“

Breuer wandte sich um. „Na, Prinz gegen Prinz.“

Charlotte runzelte die Stirn. Sie wusste ja, dass Breuer häufig trank. Aber bisher hatte sie nicht bemerkt, dass er geistig bereits abbaute. „Franz, was ist los mit dir?“, fragte sie streng. „Prinz gegen Prinz ist eine Scheidung. Seit wann gehört das ins Strafrecht?“

„Charlotte, du bist wirklich ein Goldstück.“ Breuer lachte. „Aber in diesem Falle brauche ich den Staatsanwalt. Er ist Ludwig Prinz, unser Mandant.“