SLEWFOOT - Die Geschichte einer Hexe - BROM - E-Book

SLEWFOOT - Die Geschichte einer Hexe E-Book

Brom

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Beschreibung

Eine Geschichte geheimer Magie und Schrecken, wie sie nur der dunkle Fantast BROM erzählen kann. Connecticut, 1666: Die junge Engländerin Abitha erreicht die puritanische Kolonie, um einen Fremden zu heiraten – und schnell zur Witwe zu werden, denn ihr Mann stirbt unter mysteriösen Umständen. Ganz allein in dieser frommen und patriarchalischen Gesellschaft, kämpft Abitha um ein bisschen Freiheit. Doch als einige Dorfbewohner sterben, macht ein Gerücht die Runde: Hexe. Da trifft sie auf Slewfoot, einen mächtigen Geist aus der Antike ... der versucht, seine eigene Rolle in der Welt zu finden. Heiler oder Zerstörer? Beschützer oder wildes Tier? Für Abitha, die Ausgestoßene, ist Slewfoot der Einzige, den sie um Hilfe bitten kann. Gemeinsam entfachen sie einen Kampf zwischen Heiden und Puritanern – ein Kampf, der droht, nichts als Asche und Blut zu hinterlassen … Andy Davidson: »Ein brüllendes, blutiges, wunderschönes Werk reiner Fantasie.« Library Journal: »Durchsetzt mit unerwarteter Heiterkeit und grenzenlosem Schrecken … Ein Muss für Fans von dunkler Fantasy und historischem Horror.« Clay McLeod Chapman: »Dämon oder nicht, böse oder nicht, der mächtige Junggeselle Slewfoot verdient unsere Liebe und Hingabe. Hoch lebe Brom, hoch lebe Slewfoot!« Booklist Reviews: »Für alle, die historischen Horror mit einer gesunden Dosis dunkler Fantasie, Hexerei und Rache mögen.« BookPage: »Ein gruseliger, kribbelnder, blutiger Spaß. Wenn du auf der Suche nach einer spannenden Hexengeschichte bist, die auch eine philosophische Tiefe hat, dann schnapp dir Slewfoot.« Mallory O'Meara: »Dieses Buch ist wie geschaffen für Liebhaber des Folk-Horrors und alle, die gern Spaß haben wollen.« Dieses Buch erscheint bei Festa in zwei Ausgaben. Beide enthalten mehr als zwei Dutzend von BROMs faszinierenden Bildern und Kapitelillustrationen. Die limitierte Vorzugsausgabe ist jedoch komplett in Farbe gedruckt und von BROM signiert. Sie ist von Hand nummeriert und limitiert auf 666 Exemplare.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 584

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Aus dem Amerikanischen von Simona Turini

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe SLEWFOOT: A Tale of Bewitchery

erschien 2021 im Verlag Tor Nightfire.

Copyright © 2021 by Gerald Brom

All artwork © 2021 by BROM

Published by arrangement with Tor Publishing Group.

Dieses Werk wurde im Auftrag von Tom Doherty Associates durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.

Copyright © dieser Ausgabe 2024 by Festa Verlag GmbH, Leipzig

Titelbild und Illustrationen: BROM

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-173-8

www.Festa-Verlag.de

Dieses Werk widme ich meiner Mutter

Catherine Shirley Brom,

die immer sagte, dass ich es schaffe,

wenn alle sagten, ich schaffe es nicht.

Wandelt achtsam durch diese geheiligten Steine,

wo der Teufel Slewfoot am 5. Oktober 1666

die Leben von 112 braven Bürgern

von Sutton Village beendete.

Möge Gott ihrer unsterblichen Seelen gnädig sein.

Gedenktafel an den Ruinen

des alten Bethauses von Sutton.

KAPITEL 1

Die Neue Welt

Sutton, Connecticut, März 1666

Ein Schatten in tiefster Dunkelheit.

Flüstern …

Zwei Stimmen.

»Nein.«

Weiteres Geflüster – drängend.

»Ich höre euch nicht … Ich kann euch nicht hören. Die Toten hören nichts.«

Ein flüsternder Chor.

»Lasst mich.«

Du musst aufwachen.

»Nein. Ich bin tot, und tot werde ich bleiben.«

Du kannst dich nicht länger verstecken.

»Dort draußen gibt es nichts mehr für mich.«

Es gibt Blut.

»Nein … es reicht. Ich bin fertig damit.«

Sie kommen.

»Lasst mich in Ruhe.«

Sie sind hier, stehen vor deiner Tür.

»Das kümmert mich nicht.«

Wir haben ein Geschenk für dich.

»Ich möchte nichts.«

Blut … Rieche es.

»Nein, ich rieche gar nichts. Ich bin tot.«

Aber der Schatten konnte das Blut durchaus riechen, das ihn umgab, in ihn eindrang, ein Teil von ihm wurde. Und mit dem Blut kam der Hunger – erst nur ein Kribbeln, dann, als der Geruch die Luft sättigte, ein schmerzhaftes Reißen.

»Oh«, stöhnte der Schatten. »Süßes Blut.«

Der Schatten öffnete die Augen, schloss sie, öffnete sie erneut.

Dort im Staub lag ein vierbeiniges Tier. Es war kein Reh, es war überhaupt kein Tier, das er erkannte, sondern ein struppiges Vieh mit gespaltenen Hufen und dicken, gedrehten Hörnern. Sein Bauch war aufgerissen und die Gedärme quollen heraus, in seinen Augen flackerte es und sein Atem ging schnell und flach.

Der Schatten näherte sich dem Tier. Das Vieh fixierte den Schatten mit wildem Blick und begann zu beben, dann zu blöken. Der Schatten ergötzte sich an dessen Angst, schob sich immer näher und näher und steckte Schwaden wie aus Rauch in die warme Masse, um sowohl die Furcht als auch das Blut zu trinken.

Langsam nahm der Schatten Form an. Das Blut zeichnete Venen und Arterien nach, Knorpel, Knochen, Sehnen und Muskeln. Er leckte das Blut auf, dann – als er bemerkte, dass er Zähne hatte – biss er das Tier, vergrub seine Schnauze in den warmen Innereien, verschlang Fleisch und Knochen gleichermaßen. Plötzlich spürte der Schatten ein Pochen in seiner Brust, dann noch eines, und er zuckte erschrocken zusammen. Dann war da ein Herzschlag, der immer schneller wurde. Der Schatten, der nun nicht länger Schatten war, hob den Kopf und stieß ein lang gezogenes Heulen aus.

Gut, sagten die anderen.

»Gut«, sagte der Schatten, der jetzt eine Bestie war. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten hörte er die eigene Stimme von den Höhlenwänden widerhallen.

Bist du noch hungrig?

»Ja.«

Willst du mehr Blut?

»Ja.«

Oben gibt es mehr.

Die Bestie blickte nach oben und entdeckte einen Lichtschimmer am Ende eines langen, schroffen Schachts.

Wie lautet dein Name?, fragten die anderen.

»Das weiß ich nicht mehr«, antwortete die Bestie.

Es wird dir einfallen. Oh, es wird dir einfallen … und ihnen auch.

»Samson!«, rief Abitha und bemühte sich, die Panik in ihrer Stimme zu unterdrücken.

Hastig folgte sie den Spuren gegabelter Hufe, die sich durch die Bündel aus getrockneten Maisstängeln wanden. Da sie das Tier vor nicht einmal einer Stunde gesehen hatte, nahm sie an, dass der Ziegenbock nicht weit sein konnte. Am Rand des Feldes hielt sie an und suchte den dichten Wald Connecticuts ab. Obwohl sämtliche Blätter jetzt, mitten im Winter, auf dem kalten Boden lagen, schluckten die Bäume das Licht und erlaubten es kaum, mehr als 100 Schritt weit zu sehen.

»Samson«, rief sie erneut. »Sam!« Die kalte Luft machte ihre Worte zu Nebel.

Die dichten Wolken am Himmel würden dafür sorgen, dass bald die Dämmerung einsetzte. Wenn sie Samson bis Einbruch der Dunkelheit nicht fand, dann sicherlich die Wölfe oder einer der wilden Männer. Dennoch zögerte sie, wusste sie doch, wie leicht man diesen Wald betreten und nie wieder daraus auftauchen konnte. Sie blickte zur Hütte zurück und überlegte, die Flinte zu holen. Dann entschied sie, dass dafür keine Zeit blieb, holte tief Luft, raffte den Saum ihres grauen Wollrocks und begab sich in das düstere Labyrinth aus Bäumen.

Vorsichtig, um auf den halb getauten Blättern im Schlamm nicht auszurutschen, folgte sie den Spuren um eine Brombeerhecke herum und eine Böschung hinab. Die Ranken und Dornen zupften an ihrem Mantel und dem langen Rock. Ihre Haube blieb an einem Ast hängen und wurde ihr vom Kopf gezogen, sodass sich ihr langes kastanienbraunes Haar löste. Sie griff nach der Haube, rutschte aus und stürzte den Hang hinab in eine sumpfige Schlucht.

»Zur Hölle!«, schrie Abitha, dann blickte sie sich verstohlen um. Hier draußen war niemand, aber die Vorsicht war ihr zur Gewohnheit geworden, wusste sie doch, was ihr blühte, sollte jemand aus der Sekte sie derart fluchen hören.

Sie packte einen Ast und wollte sich aufrappeln, aber der Ast brach, sodass sie auf Händen und Knien landete und der Schlamm ihr die Stiefel von den Füßen zog. »Sohn einer Dirne!«, rief sie, diesmal ohne Angst, dass jemand sie hören könnte.

Abitha spuckte einen Mundvoll Schlamm aus, begann, nach ihren Stiefeln zu graben, fand sie und zerrte sie aus dem Sumpf. Sie versuchte, den Matsch herauszuschütteln. Als das nicht funktionierte, kratzte sie ihn ab. Das harte Leder schmerzte an ihren halb gefrorenen Fingern. Als der Schmerz zu heftig wurde, hörte sie auf und presste die tauben Hände im Versuch, ein wenig Wärme zu finden, an ihre Brust.

»Samson«, rief sie und suchte den feuchten Sumpf ab, spähte in die endlose Wildnis und fragte sich, wie ein Londoner Mädchen bloß an so einem brutalen, erbarmungslosen Ort hatte enden können. Sie spürte das Brennen von Tränen und wischte sich mit den Handrücken über die Augen, wobei sie Schlamm auf ihren Wangen verschmierte. »Hör auf zu weinen. Du bist kein Kind mehr.«

Sie ließ das einen Moment wirken.

Nein, schon 20 im Frühjahr. Eine Frau … und außerdem vermählt. Stirnrunzelnd zählte sie die Monate und stellte fest, dass sie bereits seit fast zwei Jahren verheiratet war. Es fiel ihr schwer, all das zu akzeptieren – ein Ehemann, eine Farm, die Puritaner, besonders die Puritaner mit ihrer asketischen Lebensweise. Und das nach all der Zeit, die man sie hatte glauben lassen, sie würde einst als Dienstmädchen bei irgendeinem Herrn oder einer Herrin dienen. Sicherlich auch kein gutes Leben, aber zumindest müsste sie dann nicht jeden Winter aufs Neue fürchten zu verhungern. Es kam anders, nicht wahr, Abi? O ja, dafür hat Vater gesorgt.

Ihr Vater hatte von dem Kopfgeld gehört, das der König für Bräute für die Kolonisten ausgelobt hatte, und hatte seine Tochter für eine Handvoll Münzen an den Staat verkauft. Sie war ihrem Ehemann Edward Williams versprochen worden, bevor sie überhaupt die Gestade Englands verlassen hatte, mit gerade einmal 17 Jahren.

Als Lehrer hatte Abithas Vater darauf bestanden, dass sie gemeinsam mit ihren zwei jüngeren Brüdern das Lesen erlernte. So hatte Abitha das Schriftstück, das sie anpreisen sollte, ohne Probleme studieren können. Sie hatte es während der langen Reise immer wieder hervorgezogen, wenn sie lachen oder weinen wollte.

›Tugendhafte, gehorsame junge Frau, hübsch von Antlitz, wohlgeformte Figur, gut erzogen aus frommem, wohlgesittetem Hause.‹

Fromm fürwahr, hatte sie gedacht, wenn es zählt, dass der Vater lieber trinkt, als Brot zu kaufen, und die Mutter das Fluchen als Kunst ansieht. Und tugendhaft? Nun, ignorierte man die Ausbrüche übler Flüche, das gelegentliche Stehlen und einen Hang zum Raufen, dann war sie wohl die geeignete Kandidatin, um in ein puritanisches Dorf einzuheiraten. Was »hübsch von Antlitz« anging, das hatte vorher noch niemals jemand über sie gesagt, nicht mit der vorwitzigen Nase, nicht mit dem Teint, der dunkel anlief, wenn sie sich aufregte und in der Kälte rot wurde. »Wohlgeformt« musste für den Mann, der dieses Pamphlet verfasst hatte, etwas anderes bedeuten als für sie, denn ihr wäre nie aufgefallen, dass sich jemand nach ihrer merkwürdigen Figur umschaute.

Der Humor verging ihr, als das Schiff den Hafen von New Haven erreichte. Während ihrer Reise kam sie immer mehr zu der Überzeugung, dass ihr zukünftiger Ehemann sie nach dem ersten Blick abweisen würde. Sollte Edward jedoch enttäuscht gewesen sein, sie war es ebenfalls. Zwar war er ein gut aussehender Mann, vielleicht sogar attraktiv, etwa zehn Jahre älter als sie und mit vollen, dunklen Locken, aber er hatte einen Buckel, der ihn zwang, vornübergebeugt zu gehen.

Was er von ihr dachte, wusste sie nicht, zumindest damals noch nicht, denn falls Edward wirklich enttäuscht war, ließ er es sich nicht anmerken – bei ihrer Ankunft begrüßte er sie mit einem schüchternen Lächeln. Dann, nach einem peinlichen Händedruck und einer kurzen, geschäftsmäßigen Vorstellung, nahm er ihre Tasche und führte sie zu seinem Eselskarren und in ihr neues Leben.

Und hier bin ich nun, dachte sie, kratze gefrorenen Matsch aus meinen Stiefeln und jage einen dämlichen Ziegenbock durch die dunkle Wildnis.

Ein fernes Heulen riss Abitha aus ihren Gedanken. Sie gab den Versuch auf, die Stiefel vom Matsch zu befreien, sondern zog sie rasch über und kämpfte sich auf die Füße. Ihr langer Rock war nun voller Schlamm und völlig durchnässt, sodass ihr das Gewicht das Gehen noch schwerer machte. Sie pflückte einen kräftigen Ast aus dem Matsch, um sich darauf abzustützen, und suchte erneut nach den Spuren, die sie auch schnell fand. Sie führten quer durch die Schlucht zu einer Ansammlung von Felsen, die aus dem Hang ragten.

Abitha musterte die dunklen Steine, die ihr verdächtig nach einem gigantischen, verfallenen Stamm aussahen, und fragte sich, ob das die versteinerten Überreste eines uralten Baumes sein mochten. Wie groß musste dieser Baum gewesen sein, um derart riesige Relikte zu hinterlassen? Dann bemerkte sie noch etwas – kleinere Steine, die aufrecht und in einem gleichmäßigen Kreis um den Stumpf herum angeordnet waren; sie zählte zwölf davon. Die Art ihrer Anordnung war merkwürdig, es war, als hätte sie ein längst verstorbener Riese dort aufgestellt.

Die Spuren der Hufe verschwanden in einer Öffnung an der Basis des versteinerten Stumpfes. Abitha erkannte, dass es sich um den Eingang zu einem Bau oder einer kleinen Höhle handelte, und näherte sich vorsichtig, aufmerksam nach Anzeichen für Bären oder Wölfe suchend. Aber die einzigen Spuren auf den feuchten Blättern waren die der Ziege.

Sie legte eine Hand auf den Überhang der Öffnung und spähte in die Höhle, in der sich nichts als Dunkelheit und Schatten fanden. Dennoch fühlte sie sich unwohl, als würde sie beobachtet, und bedauerte, nicht die Flinte mitgenommen zu haben.

»Samson?«

Keine Reaktion, nur diese beunruhigende Dunkelheit.

»Verdammenswertes Vieh, warum bist du nur in dieses Loch gekrochen?« Jetzt kam es ihr seltsam vor, wie gerade die Spur verlaufen war, eine fast direkte Linie von der Scheune hierher, als wüsste die Ziege von der Höhle.

»Samson«, rief sie wieder.

Nichts.

»Samson! Komm da raus … sofort! Lass mich ja nicht hinter dir herkommen!« Und leise flüsternd: »Bitte zwing mich nicht, da hineinzugehen.« Sie überlegte, zur Hütte zurückzukehren und gemeinsam mit Edward herzukommen, aber sie wusste nicht, wann er zu Hause sein würde – es konnte noch Stunden dauern. Wir dürfen diesen Bock nicht verlieren, dachte sie, denn sie wusste, was das Tier sie gekostet hatte. Eine weitere Erhöhung ihres Schuldenbergs. Aber mehr noch: Es war ihre eigene Schuld, war sie doch heute als Einzige im Ziegenpferch gewesen und hatte das Fehlen des Bocks erst bemerkt, als sie die beiden Geißen zum Abend melken wollte. Am meisten fürchtete sie Edwards Miene, wenn sie ihm gestand, was sie getan hatte, seine Enttäuschung über den Verlust. Nein, das würde sie nicht ertragen.

»Samson«, flehte sie. »Bitte.«

Nervös beugte sie sich vor, steckte den Kopf durch den Höhleneingang und wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Die Höhle war größer, als sie gedacht hatte, etwa so groß wie ein Fuhrwerk und mit einer niedrigen Decke. Sie tastete mit ihrem Stock nach dem Boden und trat ein.

»Samson«, rief sie. Ihre Worte hallten von den Wänden wider. Jetzt konnte sie etwas besser sehen und entdeckte eine weitere Kammer. Nein, dachte sie. Da werde ich nicht reingehen. Auf keinen Fall gehe ich da rein.

Ein leises Rascheln drang aus der Tiefe der Höhle, gefolgt von einem Schnauben wie von einer Ziege. Abitha spannte jeden Muskel an, bereit zu fliehen. »Wer ist da?«, rief sie und hob den Stock wie einen Speer. »Samson? Sag schon, bist du das?« Sie wartete, den Stock so fest umklammert, dass ihre Hände schmerzten. Als eine Minute ohne weitere Geräusche vergangen war, stieß sie den angehaltenen Atem aus. Sei nicht so ein Angsthase. Sie biss sich auf die Lippe und machte einen vorsichtigen Schritt, dann noch einen, und mit einem Mal stürzte sie.

Sie landete auf der Seite, schlug auf der Suche nach Halt wild um sich, während sie nach unten rutschte, krallte sich in den losen Dreck, um etwas, irgendetwas zu finden, das ihren Absturz bremsen mochte. Mit einer Hand packte sie einen hervorstehenden Stein, dann mit der anderen, und klammerte sich fest, während sie versuchte, mit den Füßen Halt zu finden. Sie keuchte auf, als ihr klar wurde, dass unter ihr kein Boden war, sondern nur ein dunkles Loch.

Abitha hing keuchend da und lauschte auf die Steine, die eine schiere Ewigkeit durch den Schacht fielen. Da hörte sie es erneut, das Rascheln. Diesmal konnte sie es problemlos orten, es drang aus der Grube unter ihr. Erst jetzt verstand sie, was passiert war: Die Ziege war in die Grube gestürzt.

»Oh, du dummes Vieh«, sagte sie. »Du dummer, dummer Tollpatsch.« Bestimmt hatte sich der Bock den Hals gebrochen, oder den Rücken, und wenn dem so war, konnte man ihn nicht mehr für die Zucht verwenden, und melken konnte man einen Ziegenbock schließlich auch nicht. »Oh, ich mache Eintopf aus dir, du närrisches Biest. Wenn ich dich …«

Sie verstummte.

Von unten drang ein neues Geräusch herauf.

Sie starrte in den dunklen Schacht.

Da war es wieder, und sie war sich absolut sicher, dass es nicht das Meckern der Ziege war, sondern ein Flüstern. Es klang nach Kindern. Die Worte verstand sie nicht – sie schienen eine andere Sprache zu sprechen. Die Einheimischen, dachte sie, aber nein, das hier war anders, denn sie hörte die Worte nicht nur, sie fühlte sie, als würden sie ihr unter die Haut kriechen. Ein Zittern durchlief ihren Körper und mit einem Mal verstand sie die Worte doch.

Lass los. Wir werden dich auffangen.

Abitha verdoppelte ihre Bemühungen zu flüchten, und kämpfte gegen das Gewicht ihres Rocks an.

Wieder erklang die Stimme – näher jetzt. Erneut spähte sie hinab, sah aber nichts, ihre Füße verschwanden in der schrecklichen Dunkelheit. Sie schaffte es, erst einen Ellbogen, dann ein Bein über den Rand der Grube zu schwingen. Dann rollte sie weg von dem Loch, erhob sich auf die Knie, kroch, so schnell sie konnte, in Richtung des Ausgangs, in Richtung Tageslicht, stolperte, fiel – und spürte plötzlich, wie etwas sie berührte! Sie schrie auf, aber da war nichts.

»Lass mich in Ruhe!«, kreischte sie, kroch auf allen vieren aus der Höhle und stolperte den Hügel hinab. Wieder erhob sie sich auf die Knie, starrte zurück zu der Höhle, wartete darauf, dass es, was immer es sein mochte, ihr folgte.

»Du bist nicht echt«, flüsterte sie und schüttelte den Kopf. »Nicht echt!«

Als sie sich die Haare aus dem Gesicht strich, sah sie inmitten der trügerischen Schatten des Zwielichts einen gigantischen Baum, der über ihr aufragte, unvorstellbar hoch und massig, die Blätter blutrot. Sie konnte sich nicht rühren, konnte nicht einmal blinzeln. Schließlich hörte sie ihren Namen, erst weit entfernt, dann immer näher und lauter.

»Abitha!«

Abitha fuhr herum und sah Edward mit einer Laterne am anderen Ende des Sumpfes, seine gebeugte Silhouette zeichnete sich im schwindenden Tageslicht ab.

Sie schaute wieder zu dem Baum – er war weg, aber an seiner Stelle wuchs ein Schössling an der Spitze des riesigen Stumpfes. »Der war vorher noch nicht da«, flüsterte sie. Nein, den hätte ich nicht übersehen. Nicht mit seinen roten Blättern.

»Abitha!«

Sie rappelte sich hoch und rannte um den Stumpf herum zu Edward. Nie war sie so froh gewesen, ihren Mann zu sehen.

»Abitha. Was …«

Er hob die Laterne und musterte sie von oben bis unten, die Augen riesig vor Bestürzung. Was musste sie auch für einen Anblick bieten, bedeckt von Dreck und Blättern, ohne ihre Haube, das nasse, schlammige Haar im Gesicht und – wie sie erst jetzt bemerkte – mit nur einem Stiefel.

»Du armes Mädchen, was …«

»Ich habe ihn verloren, Edward«, sagte sie schnell, ihre Stimme brach. »Ich habe ihn verloren!«

»Wen? Wen verloren?«

»Unseren neuen Bock, Samson. Ich habe ihn verloren. Es tut mir leid.«

Er spähte in die Dunkelheit. »Wir werden ihn schon finden.«

»Nein, du hörst mir nicht zu. Samson ist tot. Er ist in ein Loch gefallen. Weg … Er ist weg, Edward.« Sie sah in seiner Miene, dass er verstand, was das für sie bedeutete. Ohne den Bock, der ihre Geißen begattete, würden sie im Frühling keine Zicklein haben.

»Bist du sicher?«

»Ja. Edward, da ist eine Grube.« Ihre Stimme brach, als sie hinter sich zeigte. »Er ist dort unten. Es tut mir so schrecklich leid. Ich … Ich …«

Edward zog sie an sich und tat etwas, das er nicht oft tat – er umarmte sie. Die Umarmung war linkisch und väterlich wie all seine Versuche von Intimität, aber sie wusste, dass er sie nur trösten wollte.

Sie schob ihn von sich. »Edward, hast du nicht gehört? Ich habe Samson verloren. Ich. Du solltest böse sein. Du hast jedes Recht dazu.«

»Wir werden uns morgen darum kümmern«, sagte er. »Bei Tag. Wenn dies der Wille Gottes ist, dann … müssen wir damit zurechtkommen.«

Heiße Tränen der Wut stiegen in ihr auf – Wut über Edward, Wut für Edward, denn er würde nicht die Geduld verlieren, nicht bei ihr; das tat er nie. Aber sie wünschte, das würde er, wünschte, er würde sie beschimpfen. Dann musste sie vielleicht nicht ganz so wütend auf sich selbst sein.

»Es war nicht Gott, der das Tor offen ließ«, schimpfte sie. »Ich war es. Das ist mein Werk. Wir können nicht unser Leben lang den Herrn beschuldigen. Das ist doch keine Art zu …«

»Es reicht!«, sagte er mit plötzlich angespannter Stimme. Aber sie hörte die Zerbrechlichkeit nahe der Oberfläche und rief sich zur Ordnung. Sie durfte nicht zu sehr in ihn dringen, musste ihm den Raum lassen, die Dinge auf seine Art zu verarbeiten.

»Es reicht«, flüsterte Edward und wandte sich um, um den Hang hinaufzugehen. Er wirkte geschlagen und müde.

Abitha warf noch einen Blick auf die dunkle Höhle, dann folgte sie ihm.

Als sie die Hütte erreichten, sah Abitha einen weißen Hengst, der an der Scheune angebunden war. O nein, nicht heute.

Edward blieb stehen und einen Moment lang dachte Abitha, dass er umdrehen und weggehen würde.

Stattdessen atmete er tief durch und trat ein. Abitha folgte ihm.

Wallace, Edwards älterer Bruder, hatte die Füße auf den Tisch gelegt, an dem er saß. Beide Männer hatten lockige Haare, dunkle Augen und grüblerische Stirnen, aber da endeten die Ähnlichkeiten auch schon. Wallace schien all das zu sein, was sein Bruder nicht war – groß, breit, laut von Stimme und im Auftreten und mit einem kantigen Kiefer. Ein Kavalier nach jedermanns Beschreibung.

»Edward!«, rief Wallace mit dem Mund voller Schinken.

Abitha hatte den Tisch gedeckt, ehe sie in den Wald gegangen war, und Wallace hatte sich an einer der beiden kleinen Schinkenscheiben bedient. Abitha musste sich zurückhalten, ihn nicht anzuschreien, denn das war der letzte Rest ihres Pökelfleisches und es war nicht abzusehen, wann sie sich neues würden leisten können.

Wallace betrachtete den Schlamm an Abithas Kleidung und in ihrem Haar. »Will ich es wissen?«

»Wir haben eine Ziege verloren«, sagte Edward.

»Oh … Verstehe«, gab Wallace zurück und nahm noch einen Bissen Schinken. »Das tut mir leid zu hören.« Er hielt das Stück Fleisch hoch. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, Bruder. Der Ritt hierher ist lang und ich hatte noch kein Abendessen.«

Du weißt ganz genau, dass es uns etwas ausmacht, dachte Abitha und sah ihren Ehemann in der Hoffnung an, er würde seinen Bruder zurechtweisen. Lass ihm das nicht durchgehen, Edward. Sag ihm wenigstens, dass es höflich gewesen wäre, vorher zu fragen. Lass ihn ein Mal in deinem Leben nicht auf dir herumtrampeln.

»Oh«, sagte Edward. »Nun … Ja, es ist gut, wenn man die Gaben des Herrn teilen kann.«

»Abitha«, sagte Wallace, »hol mir einen Schluck von Edwards süßem Honigmet. Ich muss meine Kehle befeuchten, denn es gibt Neuigkeiten.«

Abitha zögerte, denn sie war nicht in der Stimmung, sich von dem Mann herumkommandieren zu lassen, nicht heute, nicht in ihrem eigenen Haus. Aber das war nicht der einzige Grund; sie hatten kaum noch Met. Da der Winter sich dem Ende neigte, hatten sie fast gar keine Vorräte mehr, und der Mann an ihrem Tisch war daran nicht unschuldig.

Wallace wartete ab. Er wischte sich mit dem Ärmel das Fett von den Lippen und sah Edward an. »Stimmt was nicht mit ihr?«

»Abitha«, sagte Edward. »Hol Met.«

»Aber Edward, es ist nur noch …«

»Abitha«, wiederholte er ernst.

»Edward, ich …«

»Abitha!«, sagte Edward scharf. »Sofort!«

Wallace beobachtete den Wortwechsel mit einem amüsierten Grinsen. »Du hast so viel Geduld mit ihr, Bruder, du bist wahrlich ein nachsichtiger Mann. Manche sagen, zu nachsichtig. Ich will mich nicht in deinen Haushalt einmischen, aber eine feste Hand im Haus mag dieser da Ärger im Dorf ersparen. Dass du es weißt.«

Abitha errötete, wandte sich ab und ging zum Regal. Sie wusste nur zu gut, dass puritanische Frauen gesehen, nicht gehört werden sollten. Dass sie unterwürfig und respektvoll zu sein hatten, und zwar allen Männern gegenüber, immer. Seit dem Tag ihrer Ankunft hatte man ihr das eingebläut und sie konnte liebend gern darauf verzichten, es ausgerechnet von Wallace erneut zu hören. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, öffnete den Schrank und nahm einen Krug Met heraus. Es war der letzte und er fühlte sich nahezu leer an. Sie nahm einen Becher, füllte ihn halb und stellte ihn schwungvoll vor Wallace ab.

»Man erkennt immer, wenn sie sauer ist«, sagte Wallace und grinste schief. »Das Gesicht wird so rot wie eine Erdbeere.«

»Du sagst, du hast Neuigkeiten?«, fragte Edward.

Wallace’ Grinsen verschwand und er kippte den Met in einem Zug hinunter. »Edward, setz dich. Abitha, Met für Edward.«

Edward setzte sich an den Tisch und Abitha brachte ihm einen Becher und füllte ihn.

Wallace tippte gegen seinen Becher. »Noch ein bisschen.«

Abitha sah Edward an. Er nickte, also goss sie den letzten Rest Met ein, kaum genug, um den Boden von Wallace’ Trinkgefäß zu bedecken.

Wallace war die Enttäuschung anzusehen.

»Es gibt nichts mehr«, sagte Abitha knapp. »Das war der letzte Rest.«

Wallace seufzte. »Aye, die Zeiten sind überall schwer.« Er hielt inne und suchte nach den richtigen Worten. »Edward, es sieht so aus, als steckten wir in der Zwickmühle.«

»Ach ja?«

Wallace räusperte sich. »Ich habe mir mit dem Tabak alle Mühe gegeben … Jeder weiß das. Nicht wahr?«

»Nur Gott hat Kontrolle über das Wetter«, sagte Edward.

»Ja«, fuhr Wallace fort. »Genau. Ich habe keine Mühen gescheut, wie du weißt … habe so viel Arbeit und Kosten gehabt, die richtige Pflanze zu besorgen, die neue Sweet Leaf, die so vielversprechend war. Ich habe alles richtig gemacht. Aber ja, du hast recht, ich kann nicht für Regen sorgen. Das … kann nur der Herr.«

Oh, jetzt ist also das Wetter schuld?, dachte Abitha und gab sich alle Mühe, nicht spöttisch zu lachen. Das Wetter hat dich also dazu gebracht, es mit Tabak zu versuchen, nachdem dich so viele gewarnt haben, dass die Pflanze im Boden Suttons nicht gut gedeiht. Aber hast du auf sie gehört? Nein, denn du weißt es immer besser, Wallace. Besser als alle anderen.

Wallace war einen Moment lang still, die Miene gequält, als durchlebte er einen Albtraum. »Wie dem auch sei, ich bin nicht hier, um all das erneut durchzukauen. Die Saat ging nicht auf und das Unterfangen scheiterte. So ist es nun. Jetzt geht es um unsere Familie. Ich habe den Tabak für uns alle angebaut. Auch für dich und Abitha. Wie du weißt, hatte ich gehofft, dich beteiligen zu können … das Ganze bis zu deinem Fleckchen hier draußen auszudehnen. Ich wollte Vaters Erbe ehren und alles, was er für uns tat, indem ich ein Familiengeschäft aufbaue.«

Er starrte Edward an, als erwartete er Zustimmung.

Edward nickte.

»Es scheint, diese Unternehmung hat uns in die erwähnte Zwickmühle gebracht.« Wallace hielt kurz inne. »Es scheint … Es scheint, als müsste ich einen Kredit ablösen.«

»Einen Kredit? Aber … ich dachte, du hättest mit Lord Mansfield als Partner gearbeitet?«

»Ja … in gewisser Weise. Aber … nun ja … als die Kosten explodierten, verlangte er Sicherheiten.«

»Deine Farm? Wallace … Das hast du nicht getan!«

Wallace blickte in seinen leeren Becher. »Nein … Nein, das habe ich nicht getan. Ich würde niemals die Farm unseres Vaters riskieren.«

Edward wirkte erleichtert.

»Ich habe diese hier eingesetzt.«

Edward fuhr auf. »Diese hier? Du meinst, meine Farm? Das hier?«

Wallace nickte langsam.

Abitha hielt sich am Regal fest. »Was … Was soll das heißen?«

Wallace warf ihr einen bösen Blick zu. »Halt dich da raus, Weib.«

Abitha biss sich auf die Zunge. Sie wusste, dass es Frauen streng verboten war, sich in Geschäftsangelegenheiten einzumischen. So lautete das Gesetz.

»Wallace«, sagte Edward. »Bitte erkläre mir das. Ich verstehe nicht.«

Wallace musterte ihn finster, sein Gesicht lief rot an. »Wie soll ich es denn noch deutlicher machen? Ich habe dieses Haus als Sicherheit versprochen. Es tut mir leid. Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommt.«

»Aber … das kannst du nicht. Das Land gehört mir.«

»Bruder, so einfach ist es nicht und das weißt du genau.«

»Doch, das ist es. Wir … Wir haben eine Abmachung. Ich habe alle Zahlungen pünktlich geleistet. Es fehlt nur noch eine Ernte.«

»Ich behaupte auch nicht, dass es gerecht ist. Was mit dem Tabak passiert ist, war auch nicht gerecht. Glaubst du, ich fühle mich deswegen nicht schrecklich? Was ich sage, ist, dass ich versuche, so gerecht zu sein, wie ich kann. Nicht nur zu dir, sondern zu uns allen.«

Seit wann bist du denn so um Gerechtigkeit besorgt, Wallace?, wollte Abitha fragen. War es gerecht, dass du beide Farmen geerbt hast, einfach weil du der älteste Sohn bist? War es gerecht, Edward zu zwingen, dir eine davon abzukaufen … diese paar schäbigen Morgen mitten in der Wildnis? Und zu einem Preis, der uns ruiniert hat. 50 Scheffel Mais von jeder Ernte. 50! Mindestens zwei-, eher dreimal der eigentliche Wert des Grundstücks. War das gerecht?

»Aber hör zu«, fuhr Wallace fort. »Hör mich an; es ist nicht so finster, wie du vielleicht annimmst. Ich habe eine Einigung mit Lord Mansfield erzielt.«

»Was für eine Einigung?«

»Ihr könnt hierbleiben. Ihr müsst nicht gehen. Du leistest deine Zahlungen jetzt einfach an Mansfield anstatt an mich.«

»Also gebe ich meine letzte Zahlung an ihn?«

Wallace schüttelte traurig den Kopf. »Es gibt keine letzte Zahlung, kleiner Bruder. Das Grundstück gehört jetzt Lord Mansfield. Du bestellst das Land und gibst ihm jedes Jahr die Hälfte der Ernte.«

»Wie ein Farmpächter«, sagte Abitha gepresst.

Wallace warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Edward, ich habe für dich gesprochen … habe die Situation dargelegt. Lord Mansfield ist ein gerechter Mann. Er sagte, er wäre bereit, über Konditionen zu sprechen, die ermöglichen, dass du das Grundstück irgendwann besitzt.«

»Wie lange?«

Wallace zuckte die Achseln. »20 Jahre vielleicht.«

20 Jahre?, dachte Abitha. 20 Jahre! Edward, lass nicht zu, dass er uns das antut.

Edward sagte nichts, er starrte nur betrübt auf die Tischplatte.

»Wir haben Glück, dass er das macht. Ich habe mein Bestes getan. Wirklich.«

Abitha begann zu zittern und ballte die Hände zu Fäusten. Edward, siehst du denn nicht, dass dieser Mann dich ausnutzt, dass er dich immerzu ausnutzt? Aber sie wusste: Egal wie oft sie darauf hinwies, er merkte es nicht. Edward war unfähig, die wahren Absichten seiner Mitmenschen zu erkennen, was ihn leicht angreifbar machte, und sie musste hilflos zusehen, wie sein Bruder das immer wieder zu seinem Vorteil nutzte.

»Es muss eine andere Möglichkeit geben«, sagte Edward. »Vielleicht können wir, wir beide, von jeder Ernte ein bisschen mehr abgeben, um dir bei der Rückzahlung zu helfen.«

»Nein. Ich bin alles durchgegangen. Es ist der einzige Weg.«

Lehn dich gegen ihn auf, dachte Abitha und machte einen Schritt auf Edward zu. Er sah zu ihr hoch, bemerkte ihre Empörung. Abitha schüttelte heftig den Kopf.

»Wallace«, sagte Edward, »es tut mir leid. Aber das sind deine Schulden. Es ist nicht fair, was du tun willst. Ich habe alles in diese Farm gesteckt. Du kannst nicht einfach so meinLand weggeben.«

»Edward, wem gehört dieses Grundstück?«

»Wie meinst du das?«

»Kleiner Bruder«, sagte Wallace in sanftem Tonfall, als spräche er mit einem Kind. »Ich habe mein Bestes getan, dir das alles so zu erklären, dass du dir nicht minderwertig vorkommst, denn wir wissen doch beide, dass du das große Ganze nicht immer begreifst. Aber jetzt zwingst du mich zur Direktheit.« Wallace beugte sich vor. »Wem gehört dieses Grundstück?«

»Das ist nicht so einfach. Das Land …«

»Es ist einfach«, sagte Wallace ernst. »Du verstehst es nur nicht. Also, wessen Name steht auf der Urkunde für dieses Grundstück?«

»Was … Natürlich deiner.«

»Natürlich. Und von daher gehört es zu meinem Vermögen und steht entsprechend zur Tilgung meiner Schulden zur Verfügung. Es ist wirklich so einfach.«

Nein, dachte Abitha. Nichts von alledem ist so einfach, Wallace Williams. Wir hatten eine Abmachung, was diese Ländereien angeht. Uns bliebe nur noch eine Ernte abzugeben, und du … was machst du? Glaubst du, du kannst uns einfach so alles wegnehmen? »Nein!«, stieß Abitha hervor. »Warum muss es unbedingt Edwards Land sein? Was … Was ist mit deinem Land, Wallace?«

Wallace stand auf, als wollte er sie schlagen. »Warum spricht diese Frau?«

»Abitha!«, sagte Edward scharf. »Es reicht. Bitte. Wallace, es tut mir leid.«

»Mir reicht es jetzt mit dem Weib.«

»Ich kümmere mich um sie. Aber zurück zur Sache. Sie ist für uns alle unerfreulich. Und du musst zugeben, dass die Frage angebracht ist.«

»Welche?«

»Warum setzt du nicht deine eigenen Ländereien ein?«

»Welchen Teil verstehst du nicht? Das hier sind meine eigenen Ländereien.«

»Nein, ich meine deine Farm.«

»Wie kannst du das fragen?«, gab Wallace verletzt zurück. »Du willst, dass ich das Heim aufgebe, in dem wir geboren wurden und aufgewachsen sind? Die Farm, die Papa mit seinem Schweiß und seinem Blut aufgebaut hat? Außerdem ergäbe das gar keinen Sinn; meine Ländereien sind zehnmal so viel wert wie diese.«

»Edward hat diese Farm mit seinem Schweiß und seinem Blut aufgebaut«, sagte Abitha. »Der Grund war nahezu wertlos, bis er ihn bearbeitet und Erde ausgebracht hat. Es ist seine Arbeit, nicht das Land, womit du deine Schulden begleichst. Dass du dich nicht schämst!«

Edward sah Abitha erschrocken an. »Abitha!«

»Ich habe genug!«, grollte Wallace. »Ich habe Mansfield diesen Besitz überschrieben. Das ist und bleibt so.«

»Nein!«, schrie Abitha. »Damit kommst du nicht durch. Du hast einen Vertrag mit Edward gemacht und den musst du auch erfüllen!« Abitha wusste, dass sie besser still sein sollte. »Du hast deinen eigenen Bruder in die Leibeigenschaft verkauft, um deine Schulden abzubezahlen.«

»Abi!«, brüllte Edward. »Es reicht!«

»Edward, lass dich von ihm nicht einschüchtern. Nicht nach all deiner harten Arbeit. Er …«

»Abitha! Kein Wort!«

Abitha bemerkte, dass Edward bebte. Er schien jeden Moment aus dem Zimmer flüchten zu wollen. Sie schloss den Mund.

»Dieses Mal bist du zu weit gegangen, du Göre«, sagte Wallace wütend. »Deine lose Zunge hat dir eine Anhörung vor den Geistlichen eingebracht. Mal sehen, was sie von deinem Ausbruch halten.«

Abitha zuckte zusammen; sie wusste, dass diese Drohung ernst war. Sie hatte schon häufiger Frauen am Pranger gesehen, weil sie gesagt hatten, was sie dachten; eine war sogar für sehr viel weniger als das bestraft worden, was Abitha gerade getan hatte. Wallace’ Drohung hätte weniger Gewicht, wäre dies Abithas erstes Vergehen, allerdings war sie bereits auf Bewährung, weil sie ihren Mund nicht halten konnte.

»Wallace«, flehte Edward. »Bitte … nicht. Ihr Benehmen erschüttert mich. Bitte vergib ihr. Sie ist übermütig … muss noch lernen, wie wir leben. Ich …«

»Nein … genug der Entschuldigungen. Sie wurde schon so oft verwarnt. Morgen werde ich sie anklagen. Es ist höchste Zeit, dass sie lernt, wo ihr Platz ist.« Er nahm seinen Hut und machte sich auf den Weg zur Tür.

Edward stellte sich dem größeren Mann in den Weg und hob die Hände. »Bitte, Wallace, tu es nicht. Für mich. Bitte.«

Abitha zitterte am ganzen Leib, während sie Edward beim Betteln um Gehör beobachtete. Das ist meine Schuld. Wann lerne ich endlich, einfach zu schweigen?

Wallace drängte Edward beiseite.

»In Ordnung … Ich werde mit dir zusammenarbeiten«, gab Edward nach. »Ich meine, wegen der Farm.«

Wallace blieb stehen und sah Edward an, als wäre dieser ein reuiges Kind. »Ich höre.«

»Ich brauche nur ein wenig Zeit, um meine Gedanken zu ordnen. Das ist alles. Es ist etwas viel auf einmal. Das verstehst du doch sicher?«

Wallace wartete.

»Ich …«, setzte Edward an und warf Abitha einen verdrießlichen Blick zu. »Ich bin sicher, wir werden zu einer Einigung kommen. Ich meine, natürlich werden wir das. Es muss eine Lösung geben.«

Wallace lächelte. »Da ist ja der kleine Bruder, den ich kenne und schätze. Manchmal scheinst du zu vergessen, dass Papa gute Gründe hatte, alles mir zu hinterlassen. Er kannte deine Geistesschwäche nur zu gut und vertraute darauf, dass ich auf dich aufpasse. Vertraue du mir auch. Wir dürfen Papa nicht enttäuschen.«

Edward senkte den Blick.

Wallace seufzte tief. »Und, Edward, um ehrlich zu sein, vermutlich hätte ich das wirklich besser angehen können.« Er stieß mit dem Finger in Abithas Richtung. »Es ist allerdings schwer, ruhig zu bleiben, wenn diese Furie uns immerzu belästigt.«

»Ich kümmere mich um sie. Aber lass es mich auf meine Weise tun. Bitte sag nichts zu den Priestern.«

»Aber kannst du dich denn um sie kümmern, Bruder? Ich beginne, das zu bezweifeln. Siehst du denn nicht, dass sie deine freundliche Art ausnutzt, dich manipuliert und mit ihrer giftigen, lästigen Zunge nach ihrem Willen lenkt? Sieh doch nur, wie sie uns anfunkelt. Ich glaube, ein paar Tage am Pranger und eine ordentliche Tracht Prügel wären genau das Richtige für sie.«

»Nein, ich kann sie selbst zurechtweisen. Abitha«, sagte Edward streng, »du wirst dich entschuldigen … Du wirst Wallace um Verzeihung bitten. Sofort!«

Abitha schnappte nach Luft. Obwohl sie wusste, dass Edward ihr lediglich die Strafe ersparen wollte, fühlte es sich an, als hätte er sie geschlagen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, also stand sie nur bebend da.

»Abitha!«, knurrte Edward.

Wallace grinste gemein und sie wusste genau, dass er hoffte, sie würde schreien und fluchen, etwas nach ihm werfen, irgendetwas, das ihm mehr Macht über Edward verlieh. Sie grub die Fingernägel in die Handflächen, als ihr Tränen in die Augen stiegen. Du musst, Abi. Du musst.

»Es hat keinen Sinn, Bruder«, sagte Wallace. »Sie wird niemals …«

»Ich bitte um Verzeihung, Wallace«, sagte Abitha. Sie spuckte die Worte regelrecht aus. Jetzt zitterte sie richtig und ihr Gesicht musste knallrot sein. »Ich hätte nicht so sprechen dürfen. Bitte verzeih meine Respektlosigkeit.«

Edward sah den größeren Mann an. »Siehst du? Sie gibt sich Mühe.«

»Ihr Blick ist schneidend«, sagte Wallace. »Es missfällt mir, wie sie mich ansieht.«

»Abitha«, sagte Edward. »Senke deinen Blick.«

Abitha funkelte Wallace weiterhin an.

»Abitha!«

Sie richtete den bösen Blick auf Edward, wollte ihn am liebsten ohrfeigen, weil er sie im Angesicht dieses Monstrums so behandelte. Aber als sie die Furcht in seiner Miene erkannte, Furcht um sie, kamen die Tränen und liefen heiß über ihre Wangen. Gehorsam starrte sie auf ihre Füße.

»Wallace, was willst du noch? Sie ist gefügig. Bitte. Dieser Abend wäre für jedermann eine Prüfung. Ich habe versprochen, dir zu Diensten zu sein. Lass uns das also vergessen.«

Abitha spähte nach oben und entdeckte ein durchtriebenes Lächeln in Wallace’ Gesicht.

»Vielleicht hast du recht, kleiner Bruder; wir haben größere Probleme zu lösen. Wir dürfen nicht zulassen, dass das schlechte Benehmen dieses Weibs zwischen uns kommt. Aber ich sage dir, wenn sie sich das nächste Mal einmischt, kriegt sie die Peitsche zu spüren. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Ja«, sagte Edward. »Natürlich.«

»Ist das klar, Abitha?«, fragte Wallace. Es war offensichtlich, dass er jede Sekunde genoss. »Verstehst du, wo dein Platz ist? Verstehst du das? Ich muss es von dir hören, damit es beim nächsten Mal keine Diskussion gibt. Verstehst … du … wo … dein … Platz … ist?«

»Ich verstehe«, sagte Abitha, den Kopf gesenkt, mit zusammengebissenen Zähnen.

Wallace grinste; er freute sich hämisch. Abitha bezweifelte nicht, dass bei diesem Besuch mehr für ihn herausgesprungen war, als er sich erhofft hatte.

»Also morgen, kleiner Bruder«, sagte Wallace leichthin. »Nach der Kirche. Wir besprechen die Details und teilen den Geistlichen mit, wie es ist.« Er setzte seinen Hut auf und verließ die Hütte.

»Langsam, Abi«, rief Edward.

Abitha wandte sich zu Edward um, der mehrere Meter hinter ihr lief, verloren im morgendlichen Nebel mit seinem Buckel, der ihn bremste. Sie blieb stehen und wartete.

»Wir dürfen nicht zu spät kommen, Edward. Nicht heute.«

»Wir haben noch viel Zeit«, sagte er schwer atmend. »Wir sind fast da und die erste Glocke hat noch nicht geläutet.«

Abitha nickte. »Das stimmt. Ich bin nur so nervös, das ist alles. Letzte Nacht fand ich kaum Schlaf.« Aber Angst war nur die halbe Wahrheit – sie behielt ihre Träume von dem gigantischen Baum für sich, wie er ihren Namen flüsterte, wie seine riesigen Wurzeln umherkrochen wie Schlangen und sie durch den dunklen Wald jagten.

»Wir sind im Recht, Abitha, das weißt du. Mit Gottes Hilfe werden auch die Geistlichen die Wahrheit erkennen.«

Gottes Hilfe, dachte sie. Wenn ich mich nur darauf verlassen könnte. Aber wo war Gott, als meine Mutter starb und mein Vater vor Trauer und Alkohol verrückt wurde? Ich wünschte, ich hätte deinen Glauben, Edward. Das wäre so eine Erleichterung.

Als könnte er diese Gedanken an ihrem Gesicht ablesen, griff Edward nach ihrer Hand.

Abi zog sie weg.

»Was ist los?«

Sie antwortete nicht.

»Bist du noch böse wegen gestern Abend?«

»Es ist schwer, nicht böse zu sein.«

»Abi, ich sagte bereits, dass es mir leidtut, aber wenn du es erneut hören musst, sei es so. Es tut mir leid. Ich musste so mit dir sprechen. Das weißt du doch. Andernfalls hätte Wallace dich gemeldet.«

Sie wusste das. Sie wusste auch, dass er recht hatte, dass sie zu weit gegangen war. Dennoch schmerzte es. Er schien nach den richtigen Worten zu suchen, also blieb sie stehen.

»Ohne dich bin ich verloren, Abitha. Ich sollte das nicht aussprechen müssen … Du weißt es.«

Sie nahm seine Hand und er drückte sie fest. Die Geste sagte so viel mehr als all seine Worte. In dem Moment erklang die Glocke und brachte ihnen zu Bewusstsein, wie nahe sie dem Dorf waren. Edward ließ Abithas Hand los und entfernte sich einen Schritt. Beide sahen sich furchtsam um, denn das öffentliche Bezeugen von Zuneigung war eine weitere auf der langen Liste der Verfehlungen und misstrauische Augen waren überall.

Sie gingen weiter und die Fahrspuren der Wagen wurden immer tiefer, sodass sie ein ums andere Mal ins Gestrüpp ausweichen mussten, um die vereisten Pfützen zu meiden. Die Glocke schlug zweimal und Abitha wurde endlich langsamer. »Wir wollen nicht zu früh kommen, erst kurz bevor sie die Türen schließen.«

»Wallace wird das nicht freuen. Ich bin sicher, er will die Sache vor dem Gottesdienst klären.«

Abitha lächelte. »Ja, ich weiß.« Was sie nicht sagte, war, dass sie Wallace keine Gelegenheit lassen durften, Edward zu verwirren, ehe sie die Geistlichen trafen.

Abitha konnte den Fluss riechen, dann tauchte aus dem Nebel das Tor auf wie ein Geistwesen. Hohe Holzpalisaden verschwanden zu beiden Seiten im Nebel, ihre zerklüfteten Spitzen wie tödliche Zähne. Diese Palisaden umgaben das gesamte Dorf, um es zu schützen und das Böse fernzuhalten. Aber Abitha schauderte, als sie eintraten; das Tor zu durchqueren fühlte sich immer an, als würde sie in eine Falle gehen, nicht in einen Schutzraum.

Es gab keinen Wächter, der sie aufhielt – alle waren in der Kirche –, also folgten sie dem Pfad zwischen den sauber aufgereihten, einfachen, mit Stroh gedeckten Häusern, wobei sie weiterhin Pfützen und Misthaufen auswichen.

Die Häuser glichen einander, alle waren mit ungestrichenen Schindeln verkleidet und durch graue Flechtzäune aus Schösslingen getrennt. Abitha hielt Ausschau nach Dekorationen – nach einem Kranz, einer Girlande aus getrockneten Blumen –, irgendetwas, um das erdrückende Meer aus grauer Farbe zu unterbrechen. Sie sah nur trübe, gewachste Fensterscheiben, die sie verurteilend anstarrten, ihre Seele prüften, darauf warteten, dass sie etwas Falsches sagte oder tat, damit sie sie in aller Öffentlichkeit verdammen konnten.

Aus den Schornsteinen drang kein Rauch, die Feuer, Öfen und Kerzen waren alle gelöscht, da sämtliche Bewohner entweder bereits in der Kirche oder still auf ihrem Weg dorthin waren. Abitha hörte nichts außer dem Knirschen ihrer Schritte auf dem frostigen Boden und in diesem Moment fühlte es sich an, als wären Edward und sie in einer finsteren Geisterstadt verloren.

Schließlich schälte sich der Gemeindeplatz aus dem Nebel und direkt dahinter die Silhouette des Bethauses.

»Vergiss nicht, was wir gesagt haben«, flüsterte Abitha. »Lass diesen Mann nicht …«

»Ich weiß, ich weiß«, flüsterte Edward zurück. »Wir haben das ein Dutzend Mal besprochen. Ich werde mein Bestes tun. Das verspreche ich dir.«

»Es tut mir leid, Edward. Ich wollte nicht nörgeln. Es … Es steht nur so viel auf dem Spiel.«

Er lächelte und drückte nochmals kurz ihre Hand. »Du bist keine Nörglerin, Abi. Du bist ein Segen. Du gibst mir Kraft. Sorge dich nicht. Ich weiß, was ich zu sagen habe. Wir können nur hoffen, dass die Priester es ebenso sehen. Jetzt versprich du mir etwas.«

Sie sah ihn misstrauisch an.

»Ganz egal wie es gehen mag, du wirst deine Zunge hüten und dich still verhalten. Du darfst dir keinen Ausrutscher mehr erlauben, sonst wird Wallace dich sofort an den Pranger stellen und auspeitschen lassen. Versprich es mir.«

»Ich verspreche es«, sagte Abitha und dachte: Bitte, lieber Gott, hilf mir, mein Temperament zu zügeln.

Die Pranger schälten sich aus der Dunkelheit, düstere Erinnerungen an die Konsequenzen, die drohten, wenn man sich nicht an die Regeln hielt. Abitha verspürte ein Schaudern; wie jedes Mal, wenn sie sie sah.

Auf dem Gemeindeplatz standen ein Schandpfahl für die Auspeitschungen und fünf Pranger. Zwei der Pranger waren zum Stehen gemacht, mit dreilöchrigen Jochen, die sich um Hals und Handgelenke des Opfers schlossen, und drei Pranger wurden um die Fußknöchel geklemmt, sodass man gezwungen war, im Dreck zu sitzen. Bei ihrem ersten Besuch im Dorf war Abitha über die Anzahl erschrocken gewesen und hatte sich kaum vorstellen können, wofür eine so kleine Gemeinde all diese Geräte brauchte. Aber mehr als einmal hatte sie sie alle belegt gesehen.

Abitha bemerkte eine Gestalt am Boden. Als sie näher kamen, erkannte sie, dass es ein Mann war, dessen Füße im Pranger gefangen waren.

»Joseph?«, fragte Edward mit leiser Stimme.

Es war in der Tat Joseph, aber er blickte nicht auf, sondern wandte das Gesicht beschämt ab. Er umarmte sich selbst, zitterte unkontrolliert und Abitha erkannte rasch, warum. Seine Decke lag neben ihm am Boden, gerade außer Reichweite. Sie fragte sich, warum er sie weggeworfen hatte. Erst als sie den Matsch auf seinem Rücken und in seinem Haar bemerkte, verstand sie, dass nicht er es gewesen war. Jemand hatte ihm das angetan.

»Oh, du arme Seele«, sagte Abitha und raffte eilig die Decke zusammen, um sie ihm zu bringen. Sie zögerte, als sie das getrocknete Blut an seinem Rücken bemerkte. Offenbar war er übel verprügelt worden. »Joseph … es tut mir so leid.« Sanft legte sie die Decke um ihn und bemerkte dabei, dass in seinem Haar nicht nur Matsch, sondern auch Mist klebte. Sie wusste, dass so etwas keinesfalls Teil der offiziellen Bestrafung war, sondern jemandes Vorstellung von Spaß. »Wer hat dir das angetan, Joseph? Wer hat deine Decke weggenommen?«

Joseph antwortete nicht, er zog nur die Decke über seinen Kopf, wie um sich zu verstecken.

»Das solltest du lieber lassen«, rief jemand.

Abitha blickte sich um und entdeckte Wallace’ Tochter Charity und deren Freundin Mary Dibble, die unterwegs zur Kirche waren.

»Onkel Edward, sie täte gut daran, sich nicht einzumischen.«

»Und du tätest gut daran, dich um deine Angelegenheiten zu kümmern, Charity Williams«, sagte Edward in einem für seine Verhältnisse strengen Ton. »Du bist zu jung, um derart zu reden.«

Die Mädchen blieben stehen. »Ich wollte nicht respektlos sein, Onkel. Ich möchte nur nicht meine Tante neben diesem Mann am Pranger sehen. Nicht in dieser Kälte.« Obwohl ihre Worte besorgt klangen, lag in ihrem Blick nichts als Verachtung für Abitha.

Eine untersetzte Frau, Marys Mutter Goody Dibble, kam heran und stellte sich zu den Mädchen. »Was ist denn los?«

»Abitha half diesem Sünder. Ich wollte sie vor den Konsequenzen warnen.«

»Abitha«, rügte sie Goody. »Weißt du denn nicht, was dieser Mann getan hat? Er ist schuldig, die Messe zur Wochenmitte versäumt zu haben.«

Die Donnerstagsmesse, dachte Abitha. Oftmals vergaß sie, dass die Bewohner des Dorfes zwei Messen zu besuchen hatten.

»Er ist nicht nur ein Schwänzer«, fuhr Goody mit erhobener Stimme fort, die vor Selbstgerechtigkeit triefte, »sondern auch ein Lügner. Er sagte Reverend Carter, er sei wegen Magenkrämpfen bettlägerig gewesen. Aber er wurde überführt, als seine Nachbarn vortraten und bezeugten, ihn in seiner Scheune bei einem Nickerchen erwischt zu haben, sowohl vor als auch nach der Messe.« Anklagend deutete sie mit dem Finger auf den Mann. »Er hat dem Reverend ins Gesicht gelogen.«

Und du, Goody, dachte Abitha, solltest am Pranger stehen, weil du immerzu lästerst und deine Nase in aller Leute Angelegenheiten steckst.

Zwei junge Männer kamen hinzu, die Brüder Luke und Robert Parker.

»Ist er immer noch hier draußen?«, fragte Luke.

»Ja«, sagte Charity. »Bei dem, was er getan hat, überrascht mich das nicht.«

»Vier Nächte sollten es sein«, sagte Goody. »Ich wette, der verschläft die Messe nie wieder.«

Luke beugte sich nieder und hob einen Mistklumpen auf, den er auf Joseph warf. Er traf den Mann an der Schulter. Joseph stöhnte.

»Was machst du da?«, fragte Abitha entsetzt.

Luke sah sie an, als hätte er die Frage nicht verstanden, dann bückte er sich nach einem weiteren Klumpen.

»Er erfüllt seine Pflicht vor Gott«, sagte Goody Dibble. »Reverend Carter sagt, wir alle müssen helfen, den Teufel zu vertreiben … wo immer er lauern mag.«

Die anderen folgten Lukes Beispiel, auch die Mädchen und sogar Goody Dibble. Sie alle hoben Dreck und Mist vom Boden auf.

Abitha schnappte nach Luft, als sie begannen, den am Boden kauernden Mann zu bewerfen. Bei jedem Treffer stieß Joseph ein schmerzerfülltes Stöhnen aus.

Abitha erschrak über ihre Mienen; niemand grinste oder lachte wie beim Herumblödeln. Stattdessen zeigten sie entschlossene, bitterernste Konzentration. Schlichte Bosheit hätte sie verstanden, aber diese Leute wirkten, als befänden sie sich in einem Krieg mit Satan höchstpersönlich und auf irgendeine krude Art steckte Satan in diesem armen Mann.

Ein großer Erdbrocken traf Joseph an der Schläfe und warf ihn um.

»Hört auf!«, schrie Abitha und wollte zu ihm eilen, aber Edward packte ihren Arm.

»Abitha, nicht.«

»Lass mich los«, schimpfte Abitha und versuchte, sich zu befreien.

Hinter ihnen erklang eine strenge Stimme. »Warum seid ihr nicht in der Kirche?«

Die Gruppe erstarrte.

Aus dem Nebel trat ein Mann mit einem hohen Hut und einem langen, fließenden Mantel. Es war Reverend Thomas Carter, der oberste Geistliche, ein schlanker Mann Ende 40. Die breite Krempe seines Huts warf einen Schatten auf sein langes Gesicht, der jedoch seine dichten Brauen und die harten Augen nicht verbarg, Augen, deren Blicke sie alle zu verurteilen schienen. »Seht eure Hände an. Sie sind schmutzig.«

Die Gruppe schien ratlos zu sein, unfähig zu sprechen.

»Wascht sie und geht sofort zur Kirche.«

Sie ließen die Dreckklumpen fallen und trollten sich, sodass Abitha und Edward allein mit dem Geistlichen waren. Abitha hoffte, er hatte sie nicht bei Joseph gesehen, denn sicherlich würde das ihrem Fall nicht gerade dienlich sein.

»Kommt mit mir«, sagte der Reverend, und sie folgten ihm zum Bethaus.

»Abitha, glaubst du, du hast Joseph geholfen?«

Abithas Blut gefror. »Ich … Ich wollte mich nicht einmischen, Sir. Ich wollte nur … nur …«

»Du willst dich niemals einmischen, dennoch tust du es unentwegt. Warum ist das so?«

»Ich gebe mir Mühe. Das tue ich wirklich.«

»Glaubst du, du warst barmherzig zu Joseph?«

»Ich fand nur … fand nur, dass sie allzu grausam waren.«

»Verstehst du nicht, wie deine Bemühungen Joseph davon abhalten, Gnade zu erlangen? Wie sie diese Gemeinde untergraben?«

»Ich bin nicht sicher, Sir.«

»Joseph muss verstehen, dass seine Sünden von allen hier verurteilt werden. Das ist nicht immer einfach und ja, es kann grausam sein, aber es ist der einzige Weg. Wenn ein Elternteil das Kind für sein schlechtes Benehmen bestraft, der andere es dagegen in seinen Tränen tröstet, dann wird die Lektion unterlaufen und die Einheit der Familie gerät in Gefahr. Verstehst du das?«

»Ja. Ich glaube, schon«, sagte sie und bemühte sich zu verstehen, was das alles damit zu tun hatte, einen Mann mit Mist zu bewerfen.

»Wir alle müssen den Teufel gemeinsam bekämpfen. Wenn wir dem Teufel erlauben, uns zu trennen, werden wir verlieren. Ja?«

»Ja«, stimmte sie zu.

Sie überquerten den Gemeindeplatz und näherten sich dem Bethaus – ein großes, düsteres Gebäude, das, wie alle Häuser Suttons, mit unbemalten Schindeln gedeckt und bar jeder Dekoration war. Als Abitha aus London gekommen war, hatte sie überrascht festgestellt, dass es in Sutton keine richtige Kirche gab – kein Gebäude mit einem Turm und einem Kreuz darauf –, weil die Puritaner Kirchen, so asketisch sie auch sein mochten, als Beleidigung Gottes betrachteten. Daher hielten sie ihre Messen im Bethaus ab, demselben Ort, an dem alle zivilen und sozialen Zusammenkünfte stattfanden.

Aber heute prangte an der Fassade doch eine Art Schmuck, eine Reihe Wolfsköpfe, die man über die Tür genagelt hatte und deren dunkles Blut die Bretter befleckte. Sutton zahlte ein Kopfgeld für Wölfe und diese Trophäen sollten als Erinnerung dienen, dass die Gegend wild und ungezähmt war und dass Tod und Gottesurteil sie in jedem Moment ereilen konnten. Abitha blickte in die toten Augen der Tiere und erschauderte.

Sie erklommen die Treppe, als der zweite Pastor Reverend Collins gerade die Türen schließen wollte. Sie grüßten ihn und traten ein.

Alle waren hier, das gesamte Dorf Sutton, über 100 Menschen, alle in einen Raum gepfercht. Die Sitzordnung entsprach Landbesitz und Status, wobei die Männer links saßen und die Frauen rechts. Abitha drückte rasch Edwards Arm, als er seinen Platz einnahm. Auch nach zwei Jahren wurde sie noch als Auswärtige betrachtet, sodass ihr Platz ganz hinten auf der Seite der Frauen war. Sie war noch nicht voll in die Gemeinde integriert – teilweise wegen ihres Betragens – und saß daher bei den Dienstmädchen. Im Geheimen genoss es Abitha, nicht die verurteilenden Blicke der Versammlung in ihrem Hinterkopf spüren zu müssen.

»Abitha«, rief jemand leise.

Es war Helen, die sie zu sich winkte. Sofort wurde Helen zur Ruhe gerufen, denn die Frauen hatten während der gesamten Messe zu schweigen.

Wallace entdeckte Edward und drängelte sich zu ihm durch, um neben seinem jüngeren Bruder Platz zu nehmen, sich über den kleineren Mann zu beugen und ihm ins Ohr zu flüstern.

Der Narr erzählt sicherlich davon, was ihr Vater, ihr lieber Papa, erwarten würde, dachte Abitha. Ich wette, er hält sich für den direkten Draht zur Seele des Vaters. Sie biss sich auf die Lippe. Gib acht, was du sagst, Edward. Vorsicht. Er ist eine Schlange. Sie hatte ein Gutteil der vergangenen Nacht damit verbracht, die ganze Sache mit Edward durchzukauen. Aber wenngleich sie beide sicher waren, dass Wallace’ Forderungen weit außerhalb von allem lagen, was sich gehörte, und dass es keine rechtliche Handhabe dafür gab, wussten sie doch auch, dass das Gesetz in Sutton oftmals offen für Auslegungen war, die auf Emotionen und Vorurteilen basierten. Viel zu häufig wurde derjenige vorgezogen, der mehr Reichtum und Land besaß. Zwar hielt sie Reverend Carter für einen gerechten Mann, aber die beiden anderen Priester waren nicht so verlässlich in ihren Urteilen. Sie warf einen Blick zu Reverend Smith. Er war Wallace’ direkter Nachbar und die beiden waren seit ihrer Kindheit enge Freunde.

Abitha schloss die Augen, kreuzte die Finger und bat um Gottes Hilfe an diesem so wichtigen Tag. Als sie die Augen wieder öffnete, bemerkte sie, dass Cadwells Sohn Cecil ihr verstohlene Blicke zuwarf. Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrer Haube gelöst. Wallace’ Tochter Charity funkelte sie beide finster an und versuchte nicht einmal, ihre Eifersucht und Missbilligung zu verhehlen. Charity tippte sich heftig an die eigene Haube und deutete dann auf Abitha, was ihr die Aufmerksamkeit mehrerer Frauen einbrachte, von denen die meisten entrüstet den Kopf schüttelten.

Herrgott, man könnte meinen, ich wäre hier aufgetaucht und hätte meine beiden Dinger raushängen lassen. Abitha schob seufzend die Locke zurück unter die Haube. So ein Unsinn, dachte sie. Was für eine Gefahr geht denn von einer losen Haarsträhne aus?

Die Türen schlossen sich mit einem satten Knall, das Zeichen, dass nun die Messe begann, und alle wandten sich nach vorn, steif und aufrecht auf harten Bänken ohne Rückenlehnen.

Reverend Thomas Carter schritt den Mittelgang entlang und alle erhoben sich, als er seinen Mantel ablegte und die Kanzel betrat. Reverend Carter trug nie die bauschigen Roben, die die anderen Geistlichen vorzogen, sondern kleidete sich stattdessen tagtäglich in einen einfachen schwarzen Mantel und den weißen Kragen. Mit einem Knall, der im ganzen Raum widerhallte, legte er seine mächtige Bibel neben einer großen Sanduhr ab. Er schlug das Buch bei der ersten Markierung auf und setzte zu sprechen an, als von der Tür her ein zaghaftes Klopfen ertönte.

Reverend Carter nickte Samuel Harlow zu, einem der Büttel des Dorfes, der mit einem langen Stock mit einem hölzernen Knauf daran ganz hinten stand. Seine Aufgabe war es, mit dem Stock jeden anzustoßen, der nicht richtig aufpasste. Samuel öffnete die Tür.

Ansel Fitch stand auf der Schwelle, den Hut an die Brust gepresst, den Blick zu Boden gerichtet.

»Komm herein, Ansel«, sagte Reverend Carter.

Ansel verbeugte sich kurz und eilte zu einem Platz in der letzten Reihe.

»Ansel«, rief der Reverend.

»Ja.«

»Steh auf.«

Der Mann erhob sich. Ansel war älter als die meisten hier; Abitha schätzte ihn auf Ende 50. Er war rappeldürr und ein wenig verwahrlost, das Gesicht rau und bitter, der Blick verschlagen. Seine Augen quollen bei der geringsten Aufregung regelrecht hervor, so wie jetzt gerade.

Reverend Carter seufzte. »Du kommst zu spät. Und du weißt genau, was das bedeutet.«

»Bitte, vergebt mir … alle. Aber ich hatte andere göttliche Pflichten, die keinen Aufschub duldeten. Ich erwischte zwei Katzen, die sich höchst unnatürlich benahmen. Sie liefen Seite an Seite und flüsterten einander ins Ohr, wie es nur die Diener des Teufels tun. Ich musste herausfinden, was sie vorhatten. So bitte ich Sie, lieber Reverend, verzeihen Sie mir dieses eine Mal.«

»Wie oft habe ich dir bereits verziehen? Drei Mal oder vier? Es scheint, du verfolgst häufig Katzen oder jagst eine andere Inkarnation des Satans, wenn die Messe beginnt. Da fragt man sich doch, ob du dich wegen deiner Wachsamkeit so oft verspätest oder weil du nicht gern so früh aus dem Bett kommen willst wie wir.«

Ansels Gesicht lief rot an. Er funkelte den Reverend mit seinen großen Augen an. »Sie müssen wissen …«

»Es reicht! Deine Verantwortung gegenüber Gott beginnt hier in der Kirche. Tritt nach vorn.«

Ansel verzog das Gesicht, als zwänge man ihn, Feuerameisen zu essen. Er schlurfte nach vorn, wo der Reverend auf einen Punkt gleich neben der Kanzel deutete.

»Dort. Auf die Knie.«

Ansel stöhnte und kniete sich langsam auf die harten Dielen. Seine Knie knirschten dabei. Dem Gesetz nach musste er so verharren, vor der gesamten Gemeinde, bis die Predigt vorbei war.

Reverend Carter wandte sich wieder seiner Bibel zu und führte die Gemeinde durch das Eröffnungsgebet. Nach dem Gebet drehte er die Sanduhr um und begann mit seiner Predigt. Normalerweise gab es drei Predigten, eine von jedem der Priester, mehr als drei Stunden der Verkündung.

Immer wieder und wieder, dachte Abitha, während sie lauschte. Sie verstand nicht, wie man jeden Sonntag aufs Neue dieselben Empfindungen durchkauen konnte. So kompliziert ist das doch nicht, dachte sie. Gib einfach dein Bestes, deine Mitmenschen so zu behandeln, wie du selbst behandelt werden möchtest. Was muss man denn noch dazu sagen? Aber Abithas Erfahrung nach machten die Puritaner die moralisch eindeutigsten Sachverhalte am kompliziertesten. Das überraschte sie, waren es doch die Edikte und Rituale und der Kanon, alles, was der katholischen Lehre entstammte, dem sie am dringendsten entkommen wollten. Ihre Philosophie bestand darin, alles, was zwischen ihnen und dem Herrn stand, auszumerzen. Nirgends wurde das offensichtlicher als hier, im Bethaus, das vollkommen nackt war, bar jeder Dekoration – kein Altar, kein Kreuz, keine einzige Verzierung außer einem großen Auge, dem Auge Gottes, das auf die Kanzel gemalt war und sie alle ansah, sie alle verurteilte.

Abitha schaute zu dem Auge und wandte schnell den Blick ab, als sie ein unangenehmes Gefühl überkam. Nicht an Gott dachte sie bei diesem unnachgiebigen Starren, sondern an ihren Vater, sein Schimpfen und Toben, besonders am Ende, als ihre Mutter schon gestorben war.

Der Reverend kam jetzt in Fahrt, steif und unnachgiebig stand er da, leicht in Richtung der Gemeinde gebeugt, als stünde er allein gegen die Winde der Hölle. Mit einer knotigen Hand umklammerte er die Kanzel und klopfte mit der anderen auf die Bibel, um jede einzelne Verdammung zu betonen, während er ihnen allen erklärte, wie sie in den Augen Gottes noch viel tugendhafter werden konnten.

Jemand schrie auf und Abitha sah, wie sich Cecil den Hinterkopf rieb. Deputy Harlow hatte ihn mit dem langen Stock fest angestoßen. Sie nahm an, dass er eingedöst war. Vielleicht hatte man ihn auch dabei erwischt, wie er einem seiner Freunde etwas zuflüsterte.

Wie die meisten Gemeindemitglieder richtete sich Abitha ein Stückchen auf, um nicht nachlässig zu wirken. Sie zog ihr Schultertuch enger um sich, denn sie konnte schwören, dass es im Bethaus kälter war als draußen. Es gab einen großen Ofen, aber es war verboten, ihn während der Messe zu befeuern, weil irgendjemand irgendwo einst beschlossen hatte, dass man während der Predigten am besten frieren sollte, weil einen das auf irgendeine Weise näher zu Gott brachte. Wer hat sich das wohl ausgedacht?, überlegte Abitha. Welcher sadistische Narr hielt das für eine gute Idee? Sie stellte sich eine Gruppe von verbitterten alten Männern mit sehr großen Hüten vor, die in einem stinkenden Keller eingepfercht saßen und sich gegenseitig darin überboten, Arten zu erdenken, auf die Gläubige leiden sollten.

Reverend Collins übernahm den Platz auf der Kanzel, dann endlich Reverend Smith. Etwa bei der Hälfte von Reverend Smiths Predigt begann Ansel zu stöhnen und versuchte, seine Qual zu lindern, indem er sein Gewicht von Knie zu Knie schob. Man hielt ihn für einen Verrückten, wie er immerzu umherschlich, die Leute ausspionierte, stets auf der Suche nach Teufelswerk und Hexerei, aber wie er nun dort kniete, die Schultern hängend, wirkte er auf Abitha nur wie ein gebrochener alter Mann und sie konnte nicht anders, als ihn zu bedauern. In den Blicken der Gemeinde fand sie jedoch keinerlei Mitleid, nur Verdammung. Manchmal kam es ihr vor, als erfreuten sie sich an den Verfehlungen der anderen, weil sie selbst dadurch besser erschienen, frommer, rettenswerter, wenn dereinst die große Entrückung stattfinden und Gott seine Herde um sich versammeln würde.