Small Crimes - Dave Zeltserman - E-Book

Small Crimes E-Book

Dave Zeltserman

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Beschreibung

Cop Joe Denton wird auf Bewährung entlassen. Sieben Jahre zuvor verletzte er den Bezirksstaatsanwalt der Kleinstadt Bradley schwer und verübte einen Brandanschlag auf dessen Büro. Damals nahm Joe alle Schuld auf sich und deckte den korrupten Polizeiapparat. Inzwischen jedoch liegt der örtliche Mafiaboss Manny Vassey mit Krebs im Endstadium auf Intensiv und der einst attackierte Staatsanwalt versucht seit Wochen, Vassey ins Gewissen zu reden und ihn zu einem umfassenden Geständnis zu bewegen. Das würde weitere zehn bis zwanzig Jahre Knast für Denton bedeuten, etliche andere Beamte ebenfalls belasten und die Cops mit dem Rotlichtmilieu in Verbindung bringen … Der nihilistische Thriller von Dave Z. steht in der Tradition Jim Thompsons und James M.Cains und entwirft das Bild eines desillusionierten Kriminellen, dem allmählich dämmert, dass er alles nur noch verschlimmbessert. Die Verfilmung von Evan Katz wird weltweit auf Netflix ausgestrahlt, mit Nikolaj Coster-Waldau als Joe Denton.

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Dave Zeltserman
Small Crimes

Inhalte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Zum Autor

Pulpmaster Backlist

Kapitel 1
Es sollte unsere letzte Partie Dame sein. Für gewöhnlich spielten wir in meiner Zelle; diese letzte Partie jedoch spielten wir in Morris’ Büro. Im Verlaufe der letzten sieben Jahre hatten wir Zehntausende Partien ausgetragen. Jede vierte oder fünfte hatte ich für mich entschieden, bei den übrigen hatte ich Morris über mich triumphieren lassen.
Morris Smith leitete das Gefängnis in Bradley. Er war ein großer, beleibter Mann Anfang sechzig, mit weichem, wulstigem Gesicht und kleinen Haarbüscheln, die seinen nahezu kahlen Schädel umrahmten. Ich mochte Morris – zumindest so, wie ich jeden mochte, den ich mochte. In diesen sieben Jahren hätte er mir das Leben schwer machen können; stattdessen behandelte er mich so gut wie irgend möglich.
Ich brauchte ein paar Sekunden, um den Spielstand zu analysieren, und sah, dass ich eine Überlegenheit bei den Spielsteinen und den sicheren Sieg herbeiführen konnte, mich aber auch einem gegnerischen Dreifachschlagen hätte aussetzen können. Ein paar Minuten gab ich den in Gedanken Versunkenen und machte dann den Zug, der Morris das Dreifachschlagen ermöglichte.
Morris saß schweigend da, seine kleinen Augen spielten pfeilschnell alle möglichen Züge durch. Ich sah ein kurzes Flackern in seinen Augen, als er die Spielkombination für das Dreifachschlagen erkannte, und verfolgte, durchaus belustigt, seine Bemühungen, ein Lächeln zu unterdrücken. Er brachte seinen Stein in Position – mit einer großen, dicken Hand, die zitterte.
»Sieht so aus, als hättest du einen Fehler gemacht, junger Freund«, sagte er, seine Stimme ein tiefes Krächzen.
Ich verharrte für einen längeren Augenblick, fluchte dann als Beweis für meine Einsicht, dass ich es vermasselt hatte. Einen letzten Kraftausdruck auf den Lippen, machte ich den mir aufgenötigten Zug und beobachtete Morris, der sich auf seinen Spielstein stürzte, sein Mehrfachschlagen ausführte und meine Spielsteine einsammelte.
»Das dürfte es gewesen sein«, sagte er.
Wir spielten die Partie zu Ende. Mir war klar, welch große Genugtuung Morris empfand, als er den letzten Spielstein vom Brett nehmen konnte. Die Partie war vorbei, er lächelte verhalten und streckte mir die Hand für einen versöhnlichen Handschlag entgegen.
»Du bist ein guter Gegner gewesen«, sagte er, »sieht man von diesem einen Fehler ab.«
»Was soll ich sagen? Du hast mir sieben Jahre lang gezeigt, wo der Hammer hängt. Ich muss nun mal anerkennen, dass ich meinen Meister gefunden habe.«
Morris lachte in sich hinein, sichtlich zufrieden mit sich. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Deine Papiere sind fertig. Du bist ein freier Mann. Aber wenn du möchtest, lasse ich uns was zum Lunch kommen und dann könnten wir noch eine Partie spielen.«
»Hätte ich eigentlich nichts dagegen, aber sieben Jahre waren eine lange Zeit. Schon seit einer Weile wünsche ich mir nichts sehnlicher als einen Cheeseburger und ein Bier.«
»Ich kann dafür sorgen, dass man uns das bringt.«
»Nun, ja«, sagte ich zögernd, »aber damit handelst du dir womöglich Ärger ein, Morris. Außerdem wäre es hier drinnen nicht dasselbe. Ist nicht böse gemeint.«
Er nickte, ein wenig Enttäuschung im runden Gesicht. »In den letzten Jahren habe ich durchaus Sympathien für dich entwickelt. Ich hätte niemals gedacht, dass ich das könnte. Nicht nach dem, was du getan hast, um hier zu landen. Darf ich dir einen freundschaftlichen Rat geben?«
»Na klar.«
»Fang irgendwo noch mal von vorn an. Vielleicht in Florida? Ich für meinen Teil ziehe nach Sarasota, sobald ich in Rente bin. Ihre ekelhaften Winter in New England können sie sich an den Hut stecken.«
»Kein schlechter Vorschlag, aber eine meiner Bewährungsauflagen sieht vor, dass ich in Bradley bleibe – «
»Du könntest ein Gesuch einreichen, den Wohnort wechseln zu dürfen.«
»Ja, vermutlich könnte ich das, aber meine Eltern kommen allmählich in die Jahre und ich würde gern Versäumtes nachholen.«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich hoffe, du denkst wenigstens mal drüber nach. Ich bin nicht der Ansicht, dass Bradley noch das Richtige für dich ist.«
»Ich bin dir dankbar für deinen Ratschlag. Doch was das betrifft, sind mir die Hände gebunden. Zumindest momentan.«
Wir standen auf und gaben uns die Hand. Ich drehte mich um, nahm meine Reisetasche und Morris fragte, ob ich meine Eltern anrufen wolle, damit sie mich abholten. Ich erklärte ihm, dass ich ein Taxi nähme. Ich telefonierte kurz, unterschrieb, was immer an Papieren zu unterschreiben war, und dann begleitete mich Morris hinaus. Draußen wartete bereits ein Taxi auf mich, doch ein Mann beugte sich hinein und sprach mit dem Fahrer. Das Taxi fuhr davon, und als der Mann aufrecht dastand, erkannte ich ihn sofort. Ich kam gar nicht umhin, so zerschnitten, wie sein Gesicht war, dazu das fehlende Ge­webe an seiner Nase. Er war einst ein gut aussehender Mann gewesen ... bevor man dreizehnmal auf sein Ge­sicht eingestochen hatte.
Morris fühlte sich offenbar nicht ganz wohl in seiner Haut. »Nun, äh«, sagte er, »es hat mich gefreut, dass du mein Gast gewesen bist, junger Freund. Solltest du mal für eine Lektion in Sachen Theorie des Damespiels vorbeischauen wollen, nur zu!« Dann ernst: »Halt dir Probleme vom Leib.«
Er klopfte mir leicht auf den Rücken, winkte dem anderen Mann zu und verschwand im Gebäude. Der Mann stand mit einem Lächeln da, das seine Augen nicht erreichte. Sein Anblick hatte etwas vom Anblick einer Klapperschlange mit geöffnetem Maul.
Ich begrüßte ihn mit einem Nicken. »Ich will keinen Ärger, Phil.«
Phil Coakley grinste mich an, seine Augen hart wie Glas. Phil war unser Bezirksstaatsanwalt. Dass man dreizehnmal auf sein Gesicht eingestochen hatte, wusste ich, da es die Anzahl Stiche war, von denen man mir gesagt hatte, ich hätte sie seinem Gesicht zugefügt. Das war der maßgebliche Grund, weshalb ich sieben Jahre im Ge­fängnis zugebracht hatte.
»Was passiert ist, tut mir leid«, sagte ich und blieb auf Abstand.
Phil winkte mich zu sich heran, sein Grinsen unberührt, seine Augen noch immer ohne Regung. »Ich will auch keinen Ärger, Joe«, sagte er. »Wenn’s nach mir ginge, hättest du deine Schuld an der Gesellschaft abgetragen, und was geschehen ist, ist geschehen. Ich will nur was klären, will sichergehen, dass nichts zwischen uns steht. Komm doch näher. Lass uns kurz reden.«
Es gefiel mir nicht, aber ich hatte nicht das Gefühl, vor einer Alternative zu stehen. Als ich mich auf ihn zubewegte, konnte ich die Vernarbungen in seinem Gesicht deutlicher erkennen, und es war das Einzige, was mich abhalten konnte wegzuschauen. Von Nahem betrachtet war die Verwüstung noch dramatischer. Man hätte meinen können, jemand habe Tic-Tac-Toe in seinem Gesicht gespielt. Als handele es sich bei ihm um eine groteske Karikatur aus einem Dick-Tracy-Comic. Partien seines Gesichts bildeten mit anderen Partien keine Einheit, und dann dieses Gewebe, das an seiner Nase fehlte – du lieber Himmel! So hart es auch war, ich blickte ihm geradewegs ins Gesicht.
»Ich hoffe, es macht dir nichts aus, Joe«, sagte er, »aber ich habe den Taxifahrer gebeten, später wiederzukommen. So können wir uns ein paar Minuten unterhalten.«
»Klar, das geht schon in Ordnung.«
»Ich habe fast eine Stunde hier draußen gewartet. Deine Haftentlassung war eigentlich für den Mittag an­gesetzt.«
»Du kennst doch Morris. Er lässt sich bei allem Zeit.«
Phil nickte träge. »Sieh dich nur an«, sagte er. »Joe, ich habe den Eindruck, Gefängnis kann dir nichts anhaben. Dein Bierbauch ist weg. Verdammt, du siehst besser aus als noch vor Jahren. Ich befürchte nur, du kannst das Gleiche nicht von mir behaupten.«
»Gäbe es eine Möglichkeit, die Zeit zurückzudrehen und es ungeschehen zu machen, was ich getan habe – «
»Ja, ich weiß, mach dir deswegen keinen Kopf. Was passiert ist, ist passiert.« Er hielt inne, sein Grinsen wurde wieder härter. »Ich habe mich oft gefragt, wie es dir gelungen ist, deine Zeit in einem normalen Gefängnis abzusitzen. Brandstiftung, versuchter Mord, Verstümmelung eines Bezirksstaatsanwalts, und du sitzt am Ende in einem normalen Gefängnis. In den letzten sieben Jahren habe ich alles darangesetzt, deine Verlegung in ein Hochsicherheitsgefängnis zu erwirken, doch mir scheint, du bist ein Glückskind. Selbst noch Craig Simpson als Bewährungshelfer an Land zu ziehen ... «
Ich sagte nichts. Er zuckte unbeeindruckt mit den Schultern, grinste noch immer. »Doch das gehört alles der Vergangenheit an«, fuhr er fort. »Du hast deine Schuld beglichen, wenngleich sieben Jahre nicht ganz an­gemessen erscheinen. Wie war noch mal das ursprüngliche Strafmaß? Vierundzwanzig Jahre?«
»Sechzehn bis vierundzwanzig«, sagte ich.
»Sechzehn bis vierundzwanzig Jahre.« Phil stieß einen kurzen Pfiff aus. »Mir kommt das wie eine verdammt kurze Strafe vor, bedenkt man, was du getan hast. Und davon hast du gerade mal sieben Jahre in einem normalen Gefängnis absitzen müssen, die ganze Zeit über bemuttert vom guten, alten Morris Smith.«
»So locker war das nicht. Meine Frau hat sich scheiden lassen – «
»Ja, ich weiß. Auch meine Frau hat sich scheiden lassen.« Er stockte. »Ich schätze, sie hatte ein Problem damit, mich anzusehen.«
Er hatte das Grinsen aufgegeben. Ich starrte ihn nur an, starrte auf die Menge an Narbengewebe, die auf mein Konto ging. Nach einer Weile fragte ich ihn, was er wolle.
»Ein paar Dinge klären«, erwiderte er. »Sicherstellen, dass es zwischen uns kein böses Blut gibt. Außerdem möchte ich ein wenig Polizeikram mit dir besprechen. Immerhin warst du zwölf Jahre Polizist in dieser Stadt. Ist dir zu Ohren gekommen, dass Manny Vassey an Krebs sterben wird?«
»Hab davon gehört.«
Phil fand mit Mühe zu seinem Grinsen zurück und schüttelte sacht den Kopf. »Der Mann ist erst sechsundfünfzig und stirbt an Magenkrebs. Manny war immer ein harter Brocken. Unter normalen Umständen hätte ich keine Chance, ihn zu knacken, aber ein Mensch, der im Sterben liegt, hat mitunter das Bedürfnis, sich zu offenbaren. Nun, ich denke, ab eines gewissen Punktes ist jeder Dollar, der aus dem Drogengeschäft, aus dem Glücksspiel und der Prostitution durch Vermont gerollt ist, bei ihm gelandet. Erinnerst du dich an Billy Ferguson? Ich meine, du hättest in seinem Mordfall ermittelt.«
»Ich erinnere mich.«
»Das dachte ich mir«, sagte er. »Man kann schließlich nicht behaupten, wir hätten viele Mordfälle hier, und meiner Meinung nach hatten wir niemals einen, der so brutal gewesen wäre wie der. Wie viele Jahre ist das jetzt her?«
»Keine Ahnung. Vielleicht zehn.«
Phil überlegte und schüttelte den Kopf. »Es war vor nicht einmal achteinhalb Jahren. Nur wenige Monate, bevor du mich verunstaltet hast. Ich sag dir was, Joe, das war ein verteufelt grausamer Mord. Ich kann mich nicht erinnern, auch nur einmal jemanden gesehen zu haben, den man so zusammengeschlagen hat wie Ferguson.«
Er wartete, dass ich mich dazu äußerte, doch ich stand nur da und starrte zurück. Nach einer Weile gab er auf und fuhr fort.
»Billy Ferguson steckte bis über beide Ohren in Spielschulden. Soweit ich weiß, schuldete er Manny dreißigtausend Dollar. Ich gehe davon aus, dass Manny einen seiner Schläger geschickt hat, um Geld eintreiben zu lassen, und dann ist die Situation außer Kontrolle geraten. Hast du noch irgendwas präsent, was deine Ermittlungen betrifft?«
»Das ist lange her. Aber ich erinnere mich, dass wir irgendwann an unsere Grenzen gestoßen sind. Keine Fingerabdrücke, keine Zeugen, nichts.«
»Nun, ich lasse die Sache nicht auf sich beruhen. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, Manny regelmäßig zu besuchen.« Phil lachte auf, sein Grinsen jedoch war längst gelöscht. »Tag für Tag opfere ich Zeit, um ihm aus der Bibel vorzulesen. Ich habe den Eindruck, langsam kommt er zur Erkenntnis. Mit ein wenig Glück könnte es jeden Tag so weit sein, dass ich ein Geständnis höre und den Mord an Ferguson aufklären kann, zusammen mit einer Reihe anderer Straftaten, deren Aufklärung mir schon immer auf den Nägeln brannte.«
Kapitel 2
Im Taxi lehnte ich mich zurück und holte ein abgegriffenes, zerknittertes Foto meiner beiden Töchter aus meiner Tasche. Das Foto wurde bei Courtneys erstem Geburtstag gemacht. Melissa war seinerzeit etwas über drei und beide Mädchen standen nebeneinander, Melissa mit Courtney an der Hand, um sie vorm Hinfallen zu bewahren. Sie trugen die gleichen gelben Kleider, hatten beide pinkfarbene Bänder in den langen, blonden Haaren. Beide sahen sie etwas pummelig aus, Courtney mehr noch als Melissa. Das schüchterne kleine Lächeln auf Melissas Gesicht und der Ausdruck völliger Verwirrung auf Courtneys bescherten mir ein Ziehen im Herzen. Ich erinnerte mich an den Rest des Tages. Daran, dass Courtneys Gesicht schließlich voller Schokoeiscreme gewesen war und Melissa Courtney später in die Arme genommen hatte, als hätte es sich bei ihr um eine Puppe gehandelt. Daran, dass beide auf meinen Schoß gehüpft waren und wie verrückt gekichert hatten. Ich hatte noch einige andere Erinnerungen an meine Mädchen, auf jeden Fall solche, die ich gern abrief.
Nach einer Weile schob ich das Foto vorsichtig in mei­ne Brieftasche. Dann schloss ich die Augen und dachte darüber nach, wie es so weit hatte kommen können mit mir.
Vor neun Jahren steckte ich bis zur Oberkante in Wettschulden. Ich steckte tief drinnen, weit tiefer, als Billy Ferguson jemals dringesteckt hatte. Damals hatte ich die Kontrolle verloren. Nicht dass ich kokainsüchtig gewesen wäre, aber ich konsumierte zu viel davon und ich trank zu viel und wettete zu viel. Viel zu viel. Vor allem auf Footballspiele. Ich hätte mich besser auf das Werfen von Münzen verlegen sollen statt auf meine Art, Wetten zu platzieren. Es hatte Wochen gegeben, da war ich komplett neben der Spur gewesen. Aber so ist das mit haltlosen Spielern – man meint immer, man habe den richtigen Riecher und dass man mit einem fetten Ding alles wieder reinholen könne. Natürlich klappte das bei mir nie. Damit erreichte ich lediglich, dass ich mich immer weiter reinritt.
Ich schuldete Manny eine Menge Geld. Ich zahlte es ihm zurück, so viel ich ermöglichen konnte, aber es war nie genug und er setzte mich weiter unter Druck. Als er damit drohte, meiner Frau und meinen Kindern wehzutun, war mir klar, dass es keinen Ausweg gab. Ich er­klärte mich einverstanden, Jobs für ihn zu erledigen, um den Schuldenberg abzutragen. Anfangs waren es kleine Sachen, einigermaßen unspektakulär, aber nach und nach zog Manny die Schraube an. Ich musste mich ir­gend­wie aus seiner Umklammerung lösen. Also begann ich, höheres Risiko zu gehen bei dem, was ich aus der Asservatenkammer stahl. Dan Pleasant, der Sheriff von Bradley County und der womöglich korrupteste Ordnungshüter, der mir je über den Weg gelaufen war, fand heraus, dass Phil Coakley einige meiner manipulierten Unterlagen entdeckt hatte und Beweismaterial gegen mich zusammentrug, um mich wegen krimineller Verschwörung dranzukriegen. Ich bedankte mich bei Dan für den Hinweis und erklärte, dass ich mich darum kümmern würde.
Ich war ziemlich zugekokst, als ich in dieser Nacht in Phils Büro einbrach. Ich fand die Papiere, die mich be­lasteten. Ich war gerade dabei, überall Benzin zu verschütten, als er auf der Bildfläche erschien. Es war nach Mitternacht und er hätte in diesem Moment gar nicht auftauchen dürfen. Wir sahen einander nur an. Ihm war klar, was ich vorhatte, und er hätte abhauen und die Polizei alarmieren sollen. Stattdessen versuchte er, sich mir in den Weg zu stellen. Tja, Phil ist ein großer Kerl. An der Highschool ein Linebacker der Spitzenklasse, hatte er später sogar in einer Collegemannschaft ge­spielt; aber ich kämpfte um mein Leben. Und Koks und Adrenalin waren ganz sicher förderlich für mein Durchdrehen.
Irgendwie war es mir gelungen, ihn auf den Rücken zu zwingen, und dann schnappte ich mir einen Brieföffner vom Schreibtisch. Vermutlich stach ich damit auf Phil ein. Offen gestanden ist diese Phase nicht mehr als ein verschwommenes Bild vor meinen Augen. Viel ist es nicht, woran ich mich erinnern kann. Nur daran, dass Phil sich irgendwann nicht mehr regte. Ich ließ ab von ihm, entzündete ein Streichholz und wartete, dass sich das Feuer ausbreitete, bevor ich mich davonmachte.
Das Seltsame war, dass ich Phil immer gut leiden konnte. Für mich war er ein zuverlässiger Mann, ein treu sorgender Familienvater, eben ein durch und durch an­ständiger Mensch. Hätte ich ein Messer gehabt, ein Jagd- oder Fischmesser, ich hätte ihn in dieser Nacht getötet. Der Brieföffner war nicht scharf genug. Ich fügte Phil Verletzungen zu – mein Gott, was für Verletzungen! –, aber ich brachte ihn nicht um.
Etwa zu dem Zeitpunkt, als ich das Feuer legte, musste er einen stummen Alarm ausgelöst haben. Ich hatte Phil nicht im Blick, aber in dem Moment musste es passiert sein. Als ich das Gebäude verließ, waren Polizei und Feuerwehr bereits im Anrücken. Ich lief ihnen geradewegs in die Arme. Seinerzeit war mein Dad noch bei der Feuerwehr und er war im Einsatz. Verdammt, ich glau­be, ich hielt sogar noch den mit Blut verschmierten Brief­öffner in der Hand.
Ich kam in dieser Nacht in Haft. In den Gesichtern ei­niger meiner Polizeikollegen zeigte sich die Enttäuschung, in anderen eine gewisse Angst. Einige liefen Gefahr, in den Knast zu wandern, sollte ich auspacken. Harold Grayson, einer der besseren Anwälte hier, wurde von meiner Polizeigewerkschaft angeheuert. Er bestand darauf, dass ich mich nicht schuldig bekannte und aufgrund meines exzessiven Kokainkonsums verminderte Schuldfähigkeit für mich reklamierte. Ich lehnte das ab und bekannte mich schuldig. Es schien mir an der Zeit für die bittere Pille der Konsequenzen. Und ich schwieg zu alldem, was mir sonst noch bekannt war. Darüber hinaus traf ich eine Abmachung mit Manny – ich würde auch in Hinblick auf ihn Stillschweigen wahren und im Gegenzug würde er mir die Schulden erlassen. Niemand wurde also belastet.
Wenn ich nicht mit Morris Dame spielte, verbrachte ich in den letzten sieben Jahren meine Zeit mit Überlegungen, wie ich so vom Weg hatte abkommen können. Es hätte eigentlich nicht sein müssen. Nichts in meinem Umfeld hatte nahegelegt, dass aus mir einmal ein korrupter Bulle, ein Kokser und ein haltloser Spieler würde. Meine Kindheit war eine normale. Geboren in Bradley, verbrachte ich mein gesamtes Leben dort, war der Quarterback meiner Mannschaft an der Highschool und heiratete schließlich meine Jugendliebe. Ich hatte mich nur wenige Male außerhalb von Bradley County aufgehalten und stets nur im Radius einer vierstündigen Fahrt. Verflucht noch mal, ich hatte das perfekte Norman-Rockwell-Leben geführt.
Als Kind sah ich Adam-12 und Dragnet und weiß nur noch, dass ich Cop werden wollte, sobald ich erwachsen war. Nach meinem Abschluss an der Highschool ging ich zur Polizei in Bradley. Geld nebenher zu machen, danach hatte ich nie getrachtet, aber die Bestechungsgelder erwarteten mich bereits und ich steckte sie ein. Ein paar Bars offerierten mir fünfzig Dollar, damit ich Freitag- und Samstagnacht ein Auge zudrückte, sollten ihre Gästen betrunken nach Hause fahren. Und dann fing es an, dass ich mein wöchentliches Salär erhielt, weil ich übersah, was in einem Stripschuppen namens Kelley’s vor sich ging. Hinzu kamen andere Sachen. Wie das Geld, das aus der Asservatenkammer verschwand und das wir untereinander aufteilten, oder die Selbstbedienung, wenn wir gelegentlich einen Betrunkenen erleichtern konnten. Klein fing es an, geringfügige Vergehen, nichts Großes, doch genau das verleitete mich zum Wetten und zum Koksen. Schmiergelder und Diebstähle sorgten dafür, dass ich mich schmutzig fühlte, nährten das Bedürfnis in mir, das Geld genauso schnell abzustoßen, wie ich es erhalten hatte. Das war der Auslöser, dessen bin ich mir ziemlich sicher.
Die schweren Straftaten begannen vor etwa zwölf Jahren, in einer Sommernacht. Es war drei Uhr morgens und ich hatte Schwierigkeiten einzuschlafen. Ich setzte mich in meinen Streifenwagen und fuhr durch die Stadt, als ich die aufgebrochene Tür eines Juweliergeschäftes bemerkte. Wie immer hatte ich meinen Dienstrevolver da­­bei und als ich hineinging, um der Sache auf den Grund zu gehen, erwischte ich Dan Pleasant und einige seiner Jungs beim Ausräumen des Ladens. Nun stand ich vor der Wahl: unseren Sheriff auffliegen zu lassen und einige seiner Beamten oder für einen Anteil einzusteigen. Ich schätze mal, es war mir unangenehm, einen anderen Ordnungshüter hinter Schloss und Riegel zu bringen, fühlte ich mich schließlich selbst schmutzig, also steckte ich meinen Anteil ein. Dan arbeitete mit einem Hehler im Norden des Staates New York zusammen und mein Anteil betrug fünfzehn Riesen – die ich ebenso schnell verpulverte, wie sie mir zugewachsen waren. Die­­sem Fischzug folgten weitere mit Dan und auf diese Weise geriet ich an Manny.
Kapitel 3
Bradley County, das sind ein halbes Dutzend Städte, alle gelegen in einem Tal am Rande der Green Mountains. Zu meiner Zeit als Cop lag die Einwohnerzahl von Bradley County bei etwa zweiundsiebzigtausend, die achttausend Studenten, die an den beiden Instituten für Geisteswissenschaften in Eastfield eingeschrieben waren, nicht mitgerechnet. Bradley ist die größte Stadt im County und allein ihre Einwohnerzahl liegt bei vierundzwanzigtausend.
Als ich Kind war, brauchte man das Stadtzentrum nur fünf Meilen hinter sich zu lassen und schon sah man nichts als Ackerland, Weideflächen und Wälder. Vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren siedelte sich ein Rüstungskonzern an, erwarb achtzig Hektar Ackerland und errichtete darauf Produktionsstätten. Zum Zeitpunkt meiner Inhaftierung wurden mehr und mehr Weideflächen und Ackerland für Ladenzeilen und Einkaufszentren versiegelt.
Selbst mit dem Verlust landwirtschaftlicher Nutzflächen verteilten sich die Arbeitsplätze in Bradley County gleichmäßig auf die Land- und Milchwirtschaft, auf Ge­werbe und Tourismus – wobei sich die Gruppe der Touristen aus Liebhabern der Herbstsaison in den New-England-Staaten zusammensetzte und aus Eltern, die ihre studierenden Kinder besuchten.
Das Leben der meisten Menschen in Bradley verlief in ruhigen Bahnen. Eine klassische bürgerlich-idyllische Stadt in New England eben.
Das Taxi hielt vor dem Haus meiner Eltern. Sie be­wohnten ein kleines Ranchhaus mit drei Zimmern an der Maple Street, etwa eine Meile vom Stadtzentrum entfernt. Mein Dad hatte es vor fünfundvierzig Jahren für sechstausend Dollar erworben. Obwohl es sich um weniger als hundertacht Quadratmeter Wohnfläche handelte, war das Haus mittlerweile vermutlich seine zweihundert Riesen wert. Mein Vater, Joe Denton sen., war in Bradley aufgewachsen, genau wie sein Vater vor ihm. Seit fast einhundert Jahren lebten Dentons nun schon in Bradley. Morris hatte mir erzählt, dass mein Dad wenige Monate nach meiner Inhaftierung bei der Feuerwehr in Ruhestand gegangen sei, und doch hatte es mein Vater in den halben Dutzend Telefonaten, die wir während meiner Haft geführt hatten, nie erwähnt.
Ich betrachtete den Vorgarten. Die Rasenflächen waren frisch gemäht und die Blumenbeete penibel ge­pflegt. Am Haus begann an einigen Stellen die Farbe abzublättern, aber ansonsten schien es in gutem Zustand zu sein, zu­mindest von außen. Die Reisetasche in der Hand, ging ich zur Haustür und klingelte.
Nachdem ich vor drei Wochen erfahren hatte, dass meine Bewährung durch war, rief ich meine Eltern an, um ihnen mitzuteilen dass ich bei ihnen wohnen würde, bis ich mich wieder berappelt hätte. Mein Auftauchen hätte also keine Überraschung sein dürfen, dennoch dauerte es eine Weile, bis mein Vater die Tür öffnete. Der Gesichtsausdruck, mit dem er mich empfing, war seltsam. Ich beobachtete die Veränderung, als er sich schrittweise ein gequältes Lächeln erarbeitete.
»Ich habe dich kaum wiedererkannt, Joey«, sagte er. »Komm rein, ich mach dir was zu essen.«
Er ging voran, als wir das Haus betraten. Einmal drehte er sich um, warf mir einen flüchtigen, fahrigen Blick zu und fing an loszuplappern, ob ich lieber Eier oder Hotdogs mit Bohnen wolle. Ich erklärte ihm, dass ich eigentlich vorhätte, auswärts zu essen.
»Unfug. Sag mir, was du haben willst, und ich mach’s dir.«
Jede Widerrede war zwecklos, so viel war klar. »Also gut. Hast du Salami im Haus?«
»Hab ich. Ich mach dir ’n Sandwich mit Wonder Bread und Mayonnaise. Was meinst du?«
»Hört sich gut an.«
Ich folgte ihm in die Küche. Er wirkte wenig entspannt, während er das Sandwich zubereitete. Und er schien weit mehr als nur die sieben Jahre gealtert zu sein, die seit unserem letzten Zusammentreffen vergangen waren. Er stand in krummer Haltung da, ließ die Schultern stärker hängen, als ich es in Erinnerung hatte, und auch seine Wangen waren schlaffer. Beim letzten Mal war sein Haar fast schwarz gewesen, mit einigen grauen Einsprengseln. Inzwischen hatte es sich stark gelichtet und das, was noch vorhanden war, schimmerte weiß. Er war erst fünfundsechzig, sah aber aus wie nahe achtzig.
»Wo steckt Mom?«
»Sie ist bei ihrem Ehrenamt in der Bücherei.«
»Ich habe gedacht, dass sie mich gern begrüßt hätte.«
Er lächelte verunsichert. »Freitag arbeitet sie immer ehrenamtlich in der Bücherei. Sie kommt nachher nach Hause.«
Er schnitt das Sandwich in zwei Hälften, legte sie auf einen Teller und gab ihn mir. »Ich mach dir noch einen Kaffee«, sagte er.
»Wie ist es euch ergangen? Viel hast du ja nicht erzählt, wenn wir telefoniert haben.«
»Gut ist es uns ergangen, Joey. Ich hab zwar hohen Blutdruck, aber man hat mir Medikamente verschrieben. Sieht man davon ab und von dem bisschen Arthritis, bin ich ganz fit. Deine Mutter investiert jetzt sehr viel Zeit in ihr Ehrenamt.« Er hielt kurz inne. »Keine Ahnung, ob du’s irgendwie mitbekommen hast, aber ich bin jetzt im Ruhestand.«
»Ich habe es mitbekommen.«
Ich sah aus dem Küchenfenster. Zwei Eichhörnchen jagten einander durch den Garten. Nachdem ihr Jagen sie aus meinem Blickfeld getrieben hatte, fragte ich meinen Vater, ob er etwas von meiner Exfrau gehört habe.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, mein Junge, wir haben nichts von ihr gehört. Nicht, seit du ins Gefängnis ge­kommen bist.«
»Was?!«
»Es ist so.«
»Kein einziges Mal in sieben Jahren?«
»Nein.«
»Auch nicht, damit ihr mit euren Enkeln sprechen könnt?«
Er schüttelte den Kopf.
»Oder hat sie euch Fotos von ihnen geschickt?«
Er lächelte mich an, traurig und beklommen. »Sie hat das alleinige Sorgerecht für die Mädchen. Sie ist nicht verpflichtet, Kontakt mit uns zu halten. Sie hat sich wohl für einen klaren Bruch entschieden. Joey, du weißt ja, sie ist kurz nach deiner Verurteilung weggezogen. Ihre neue Adresse haben wir nie erfahren. Wir wissen also nicht, wo sie jetzt wohnen.«
Ich kam nicht gegen den Ärger an, der bei dem Ge­danken in mir hochstieg, meine Eltern seien von meinen Kindern quasi wie abgeschnitten. »Ich bin erstaunt«, sagte ich. »Elaine hat dich und Mom immer gemocht. Ich hätte gedacht, dass sie den Kontakt zu euch aufrechterhalten will. Und will, dass meine Kinder ihre Großeltern kennen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich kann dazu nichts sagen, mein Junge.«
Ich biss von meinem Sandwich ab und kaute langsam, verschaffte mir Zeit, sacken zu lassen, was er mir gerade erzählt hatte. »Das ist nicht in Ordnung«, sagte ich nach einer Weile. »Jetzt, wo ich draußen bin, suche ich einen Anwalt auf, damit das geändert wird.«
»Na ja, ich weiß nicht. Du kannst drüber nachdenken, Joey, aber vor Gericht zu ziehen, könnte ins Geld gehen, und deine Mutter und ich können dich dabei finanziell nicht unterstützen.«
Ich starrte ihn an, bis er wegsah. Ich glaubte ihm nicht. Die beiden waren völlig vernarrt in meine Kinder und sie würden alles dafür tun, den Kontakt wieder aufleben zu lassen. Natürlich wusste er, dass ich pleite war. Mein Haus war weg und Elaine hatte alles, was an Ersparnissen vorhanden gewesen war, an sich genommen. Mir waren nur die zweihundert Dollar geblieben, die ich zum Zeitpunkt meiner Festnahme in der Tasche gehabt hatte, und mein Wagen. Zumindest hoffte ich, dass ich den noch besäße. Dad hatte sich einverstanden erklärt, sich für die Zeit meiner Abwesenheit um den Wagen zu kümmern.
»Ich hab vergessen, dir zu sagen, dass jemand für dich angerufen hat«, sagte er und versuchte zu lächeln. »Ich hab’s für dich aufgeschrieben.«
Er holte einen Zettel aus der Tasche und gab ihn mir. Dan Pleasant hatte angerufen und um meinen Rückruf gebeten.
»Steht mein Wagen in der Garage, Dad?«
Er schüttelte den Kopf. »Ron Hardacher, ein paar Häuser weiter, hatte nichts dagegen, dass ich ihn in seiner Garage unterstelle. Es wurde zu umständlich, deinen und meinen Wagen ständig umzuparken. Alle zwei Wochen bin ich damit gefahren und habe jedes halbe Jahr den Ölwechsel gemacht, so, wie ich es dir versprochen habe. Ich geb dir mal die Schlüssel.«
Er ging zu dem kleinen integrierten Schreibplatz in der Küche, kramte so lange in der obersten Schublade, bis er das Schlüsselbund gefunden hatte. Ich fragte ihn nach einem Haustürschlüssel.
»Du brauchst keinen«, sagte er. »Wir schließen die Türen niemals ab. Nicht, dass wir etwas dagegen hätten, dass du bei uns bist, Joey, aber es ist doch nur vorübergehend, oder?«
»Klar, nur bis ich einen Job gefunden und mich wieder eingelebt habe. Danke, dass du dich um meinen Wagen ge­kümmert hast, und danke, dass ich hier wohnen kann.«
Der Kaffee war fertig und er goss mir eine Tasse ein. Als er sie mir reichte, sah es so aus, als wolle er mich etwas fragen. Er schien eine Weile mit sich zu ringen, sein Mund formte einen kleinen Kreis. Dann murmelte er etwas von wegen, er sei müde, drehte sich um und ging Richtung Schlafzimmer.
Mit dem Rest meines Sandwiches und dem Kaffee ging ich zum Telefon. Nachdem ich das Sandwich ganz gemächlich aufgegessen hatte, rief ich Dan Pleasant an. Er war nicht da, aber ich hinterließ eine Nachricht und wartete, dass er zurückrufen würde. Es dauerte nur fünf Minuten, bis das Telefon läutete. Ich hob ab und hörte Dans Stimme.
»Bist du’s, Joe?«, fragte er.
»Hallo, Dan.«
Ich hörte ihn leise lachen. »Wie geht’s dir, Joe? Meine Güte, ist das lange her.«
»Müsste nicht so sein. Ich habe sieben Jahre in deinem Gefängnis gesessen. Du hättest jederzeit vorbeikommen können.«
»Ich hielt es nicht für ratsam, das zu tun. Aber wir müssen uns unterhalten. Komm raus zur Mills Farm Road in Chesterville. Wir treffen uns da in einer halben Stunde.«
»Ich weiß nicht, Dan, ich fänd’s angenehmer, wenn wir uns da unterhalten würden, wo mehr Leute sind. Was ist mit Zeke’s Tavern?«
Und wieder das leise Lachen. »Das wär nicht schlau, Joe. Nein, ich denke, dass Öffentlichkeit nicht das ist, was wir jetzt wollen. Ich denke auch, dass es nicht klug wäre, wenn du dich bei Zeke’s blicken lässt. Wir sehen uns in einer halben Stunde in Chesterville.« Klick! Er hatte aufgelegt.
Ich ging zwei Häuser weiter zu Ron Hardacher und holte mein Mustang Cabrio aus seiner Garage. Mir war klar, dass Dan es vorziehen würde, wenn ich tot wäre, aber es bereitete mir kein Kopfzerbrechen, ihn auf einer abgelegenen Landstraße zu treffen. Wenn er überzeugt gewesen wäre, mich ohne Weiteres umbringen und da­mit davonkommen zu können, hätte er es bereits vor Jahren getan.
Ich ließ das Verdeck herunter und fuhr Richtung Chesterville. Ein paar Meilen hinter dem Stadtzentrum fiel mir auf, dass Ladenzeilen und Einkaufszentren bis dorthin vorgedrungen waren, wo einst Freiflächen ihren Platz gehabt hatten. Irgendwann hatte ich das und die Ampelanlagen hinter mir gelassen. Die Straße war nicht mehr so belebt, wurde ländlicher, mit sanften Hügeln und gemächlich grasenden Kühen dazwischen. Es war ein milder Herbsttag und es tat gut, den Wind im Ge­sicht zu spüren. Ab und an beschleunigte ich, fuhr rund hundert Sachen, um dann wieder vom Gas zu gehen. Die Fahrt bescherte mir ein Gefühl der Ruhe, wie ich es seit Jahren nicht empfunden hatte.
Ich bog in die Mills Farm Road ein und fuhr diese unbefestigte Straße entlang, bis ich Dan entdeckte, der an seinem Pick-up lehnte. Er hatte sich kaum verändert, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Ein großer, schlaksiger Kerl mit großem Kopf und mächtigem braunem Haarschopf. Ich stellte meinen Wagen hinter seinem ab und stieg aus, um Dan zu begrüßen.
Für einen Moment verdüsterte sich sein Blick, der zu meinem Mustang hinüberwanderte, doch dann kam das warme, freundliche Lächeln zurück, das so typisch war für Dan. Dan hatte immer ein Problem damit gehabt, dass ich mir diesen Wagen zugelegt hatte. Er hatte seine Leute stets in die Schranken verwiesen und gefordert, sie sollten ihre Extraeinnahmen in die Altersvorsorge investieren. Keine teuren Anschaffungen. Keine protzigen Wagen, keine Boote, nichts, was Aufmerksamkeit auf sie lenken würde. Der Mustang war das Einzige gewesen, was ich gekauft hatte. Das ganze andere Geld hatte ich einfach so zum Fenster rausgeworfen. Es war nicht zu übersehen, dass Dan mir den Kauf nach all den Jahren noch immer übel nahm.
Er kam auf mich zu, begrüßte mich mit einem warmen Händedruck und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Schön, dich zu sehen, Joe«, sagte er. Und hätte ich ihn nicht besser gekannt, ich hätte geschworen, dass es ihm ernst damit sei.
»Dass du noch Sheriff bist, werd ich wohl nie begreifen«, sagte ich.
Er lachte. »Ich bleibe im Amt, solange sie mich wählen. Wann hast du dein letztes Bier getrunken?«
»Du solltest die Antwort darauf kennen.«
»War ’ne rhetorische Frage, Joe. Aber ich glaube, ich habe die passende Antwort.« Er öffnete die Tür seines Pick-ups und holte zwei Flaschen aus einer Kühlbox. Eine davon gab er mir.
»Du siehst gut aus, Joe. Hat dich Morris anständig be­handelt?«
»Es gibt keinen Anlass zur Klage.«
»Ich musste mir den Arsch aufreißen, damit du dort bleiben konntest. Unser Freund von der Staatsanwaltschaft hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit du in ein Hochsicherheitsgefängnis überstellt wirst.«
»Ich weiß. Er hat’s mir erzählt.«
»Hat er das? Tatsächlich?« Dan lächelte dünn. »Hat er dir auch erzählt, dass er alle seine Beziehungen hat spielen lassen, um dich aus Vermont nach Danamora verlegen zu lassen? Es hätte beinahe geklappt, und eins kann ich dir flüstern, mein Freund, ein Vergnügen wär das nicht geworden. Es waren ’ne Menge Strippen zu ziehen, damit du in Bradley bleiben konntest.«
»Das war die Abmachung.«
Dan lachte und schüttelte den Kopf. »Es ging sehr weit über unsere Abmachung hinaus. Hat mich einen Haufen Kleingeld gekostet, diese frühzeitige Bewährung, besonders nach Coakleys zu Herzen gehender Stellungnahme vor dem Bewährungsausschuss. Scheiße, selbst mich hat er zu Tränen gerührt. Hättest du nicht die Verantwortung übernommen und dich schuldig bekannt, wärst du auch mit Schmiergeld nicht draußen. Dieser Schritt hat sich langfristig für dich ausgezahlt, Joe.«
»Deswegen hab ich’s nicht gemacht.«
»Ja, schon klar. Ich habe immer vermutet, dass du nicht das Risiko eingehen wolltest, in den Zeugenstand gerufen zu werden. Gewiefte Taktik. Gott weiß, was für Sachen unser Freund von der Staatsanwaltschaft noch so auf den Tisch gelegt hätte.«
»Darum ging es mir nicht.«
Dan wartete auf eine Erklärung, die ich jedoch nicht abzugeben gedachte. Er hätte es nicht verstanden. Es lag nicht in seiner Natur, etwas zu verstehen, was so simpel war wie mein Gefühl, dass es nicht richtig wäre, Phil eine Gerichtsverhandlung zuzumuten nach allem, was ich ihm angetan hatte. Merkwürdig nur, dass Phil es mir anscheinend krummnahm, dass ich mich schuldig bekannt hatte. Als hätte ich ihm seinen Auftritt vor Gericht vermasselt. Hätte ich das seinerzeit erkannt, hätte ich ihm diesen Auftritt ermöglicht und Grayson seine bescheuer­te Strategie der verminderten Schuldfähigkeit ­um­­­­­­­­setzen lassen.
Dan kapierte schließlich, dass ich nichts weiter zu sagen hatte. Er nahm einen kräftigen Schluck von seinem Bier und fing an zu lachen.
»Immer noch der Alte, was, Joe?«, sagte er und dabei bildeten sich Lachfältchen um seine Augen. »Na ja, wie dem auch sei ... ich habe Geschenke für dich.«
Er nahm zwei Umschläge aus der Innentasche seiner Jacke und reichte sie mir. Der erste war prall gefüllt mit Hundertern. Ich zählte sechstausendfünfhundert Dollar. Der zweite Umschlag enthielt einige Papiere. Während ich sie las, klärte Dan mich auf, dass sie meine Pension beträfen.
»Setz einfach deine Unterschrift darunter und das Da­tum, und gut ist«, sagte er.
»Du machst Witze.«
»Nicht im Geringsten. Es ist alles geregelt. Offiziell gehst du nach zwanzig Dienstjahren in Pension. Du er­hältst dreitausendvierhundertsechzig im Monat. Plus Kranken- und Zahnversicherung.«
»Wie hast du das deichseln können?«
Er lächelte schwach. »War keine große Übung, Joe. Immerhin bist du vor zwanzig Jahren der Polizei beigetreten. Wenn jemand es versäumt hat, sich schlauzumachen, dass du die letzten sieben Jahren wegen Brandstiftung und versuchten Mordes eingesessen hat, hey!, wen juckt das?«
»Tja, Joe«, fuhr Dan fort, allerdings mit etwas mehr Härte im Blick, »was mich betrifft, sind wir quitt. Meine Jungs und ich haben es dir hoch angerechnet, dass du uns aus der Sache rausgehalten hast. Aber es war ziemlich unklug von dir, das Gebäude zu verlassen, obwohl Coakley noch gelebt hat. Seitdem ist nichts mehr, wie es mal war.«
»Was meinst du?«
Dan trank sein Bier aus. »Deinetwegen haben sie uns jetzt öfter im Visier«, erwiderte er und ließ dabei einen Anflug von Gehässigkeit in seinen Augen aufblitzen. »Die Zeiten sind wesentlich magerer, wesentlich weniger Geld lässt sich machen. Ich lebe überwiegend nur von meinem Gehalt. Das eigentliche Problem jedoch ist Coak­ley. Du hast dafür gesorgt, dass er sich verändert hat.«
Dan schmiss die leere Flasche auf die Wiese, vor der wir standen, und holte sich ein zweites Bier. Nachdem er einen kräftigen Schluck genommen hatte, schüttelte er fast resigniert den Kopf.
»Unser Freund von der Staatsanwaltschaft war immer ein durch und durch ehrlicher Typ. Es gab niemals auch nur den Hauch einer Chance, ihn mit einem Anteil kaufen zu können. Aber er hat sich stets anständig verhalten, war sachlich, und jemanden unter Druck zu setzen war nie sein Ding. Deinetwegen ist aus ihm ein rachsüchtiger Mistkerl geworden. Er sinnt auf Vergeltung, Joe. Wenn er dich irgendwie drankriegen kann, wird er es tun, und ich habe Sorge, dass er meine Jungs und mich zusammen mit dir in den Abgrund reißt. Weißt du, dass Manny an Krebs sterben wird?«
»Hab davon gehört.«
»Weißt du auch, dass Coakley ihn jeden verschissenen Tag bearbeitet? Ihn jeden Tag am Sterbebett besucht und ihm aus der Bibel vorliest? Versucht, einen gottesfürchtigen Menschen aus ihm zu machen? Ich befürchte, er könnte Erfolg haben.«
»So weit wird’s nicht kommen«, widersprach ich. »Manny ist eine verdammt harte Nuss. Unmöglich, ihn zu knacken. Phil verschwendet seine Zeit.«
»Sei dir mal nicht so sicher.« Dan schüttelte besorgt den Kopf. »Manny ist nicht mehr der, der er mal war. Er hat sich verändert. Vor ein paar Wochen habe ich ihn besucht. Nicht schön, was ich da gesehen habe. Er hat Angst, Joe. Das konnte ich ihm von den Augen ablesen. Er schwankt, und wenn er auspackt, sind wir alle geliefert. Aber du bist derjenige, der dann wegen Mordes dran ist. Und im Falle von Mord ersten Grades wirst du deine Strafe wohl kaum in einem stinknormalen Gefängnis absitzen.«
»Keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Ach komm! Mich kannst du nicht aufs Glatteis führen.«
»Ich weiß noch immer nicht, wovon du sprichst.«
»Spiel von mir aus den Begriffsstutzigen. Ändern tut das nichts.« Dan seufzte leise. »Erinnerst du dich an Billy Ferguson? Ich weiß, dass du damals im Auftrag von Manny Geld eingetrieben hast, und ich denke, Coakley hatte diesbezüglich einen Verdacht. Wir beide, also Coak­ley und ich, wissen auch, dass Ferguson dreißig Riesen von seinem Ruhestandskonto abgehoben hat, und zwar an dem Tag, als man ihn erschlagen hat. Was jedoch nur ich weiß, du hast eine Woche später dreißig Riesen bei einem Buchmacher in South Boston gesetzt. Und wie üblich verloren.«
»Wer immer dir das aufgetischt haben mag, er hat dich verarscht.«
»Pass mal auf, Joe. Wie ich vorhin gesagt habe, mich kannst du nicht aufs Glatteis führen.«
»Nein, Dan, ich führ dich nirgendwohin. Mit Ferguson hatte ich nichts zu tun. Und wenn ein Buchmacher dir was anderes erzählt hat, dann war er gekauft.«
Dan lächelte, während er meine Worte überdachte. »Mag sein. Ist auch egal. Wenn Manny auf dem Sterbebett aussagt, dass du Ferguson auf dem Gewissen hast, fährst du für den Mord an ihm ein. Selbst wenn er es nicht tut, was ich über deine Handreichungen für Manny weiß, würde ausreichen, dich für eine sehr lange Zeit wegzusperren. Wie du siehst, haben wir ein echtes Problem. Eins, worum sich unverzüglich zu kümmern ist. Manny oder Coakley, du hast die Wahl.«
»Keine Ahnung, was du meinst.«
Dans Lächeln verabschiedete sich und der Ausdruck in seinem großen Gesicht wechselte zu todernst. »Pass mal auf, Joe. Der ganze Schlamassel geht auf dich zurück und du wirst dich darum kümmern. Plan A sieht vor, dass du uns einen von beiden vom Halse schaffst. Wer, ist mir egal. Ist Manny erst mal tot, kann Coakley rumpissen, so viel er will, aber es bringt ihn nicht weiter. Und wenn Coakley verschwindet, setzt keiner mehr Manny unter Druck und er kann sanft entschlafen.«
»Vergiss es. Ich mach das nicht.«
»Was machst du nicht, Joe?«
»Jemanden umbringen.«
»Tatsächlich, hä? Blas dich mir gegenüber nicht so auf. Manny stirbt an Krebs, Herrgott noch mal. Ihm jetzt das Licht auszupusten, wäre ein Gnadenakt.«
»Wie soll ich an ihn rankommen, wenn er im Krankenhaus liegt?«
»Du bist nicht auf den Kopf gefallen. Denk dir was aus. Wenn dir das nicht gelingt, dann bring zu Ende, was du bei deinem Kumpel von der Staatsanwaltschaft be­gonnen hast. Nachdem du das mit seinem Gesicht angestellt hast, würdest du ihm einen Gefallen tun. Entweder der oder der, Joe. Mir egal, welcher.« Dan kratzte sich hinter dem Ohr. »Ich geb dir ein paar Tage Zeit. Drei, maximal. Sollte es dann nicht erledigt sein, gehe ich zu Plan B über. Eins will ich dir noch sagen, Joe, mir gefällt Plan B genauso wenig wie Plan A, aber ich garantiere dir, dir würde er überhaupt nicht gefallen.«
Er trank sein Bier aus und warf die Flasche weg. Als er mich wieder ansah, war das freundliche Lächeln zurück.
»Zieh die Sache durch und unsere Probleme sind Ge­schichte. Und wir leben glücklich bis ans Ende unserer Tage.«
»Was hättest du gemacht, wäre ich nicht auf Bewährung rausgekommen?«
»Ich hätte keine Wahl gehabt und hätte Plan B umsetzen müssen. Und noch was, Joe. Ist das erst mal bereinigt, wär’s doch eine gute Idee, aus Bradley wegzugehen. Vielleicht kannst du dich mit dem Gedanken anfreunden, nach Albany zu ziehen, um näher bei deinen Töchtern zu sein.«
Mein Herz geriet ins Stolpern. »Woher weißt du, dass Elaine in Albany ist?«, fragte ich, bemüht, gelassen zu klingen.
»Ich weiß nun mal so einiges, Joe. Deine Ex hat ihren Namen geändert. Sie will wohl nicht, dass du sie findest. Meine Vermutung. Sie heißt jetzt Elise Mathews.«
»Ist sie wieder verheiratet?«
»Nicht dass ich wüsste. Zumindest war sie es nicht, als ich sie das letzte Mal überprüft habe.«
»Hast du eine Ahnung, wie es meinen Mädchen geht?«
Er zog eine Miene, als wolle er fragen, woher er das wissen solle. Wir starrten einander an, eine ganze Weile. Es war Dan, der schließlich das Schweigen beendete und mir noch mal erklärte, ich hätte maximal drei Tage. »Versuch, die Schweinerei früher in Ordnung zu bringen, wenn du kannst, Joe. Aber bring sie in Ordnung. Ich will Plan B wirklich nicht umsetzen müssen.«
Er gab mir die Hand und verabschiedete sich mit einem Kopfnicken, ein breites freundliches Lächeln im Gesicht. Ich verfolgte, wie er seinen Pick-up wendete und davonfuhr.
Auf der Fahrt zum Haus meiner Eltern ließ ich mir die Sache durch den Kopf gehen. Ich war mir ziemlich sicher, dass Dan die Dinge viel zu dramatisch sah. Der Manny Vassey, den ich kannte, würde Phil eher ins Gesicht spucken, als auch nur ein Wort zu sagen. Es erschien mir ausgeschlossen, dass er sich derart gewandelt haben sollte. Und doch hatte es etwas Beunruhigendes, sich einen Manny vorzustellen, der tägliche Besuche von Phil hinnahm, geduldig dalag und zuhörte, wie man ihm aus der Bibel vorlas. Eher wahrscheinlich, dass er Phil zum Narren hielt, dass es ihm schlichtweg Spaß machte, ihn in die Irre zu führen.
Dan nach Plan B zu befragen, die Mühe hatte ich mir erspart, wusste ich schließlich, worum es dabei ging. Dan mutmaßte, dass Phil im Falle meines Todes das Interesse an Manny verlieren und ihn samt seinen Geheimnissen in Frieden gehen lassen würde. Vor Jahren hatte ich mir mal ein Aufnahmegerät in die Jackentasche gesteckt und ein Gespräch zwischen Dan und mir aufgenommen, über eine Münzhandlung, in die wir eingebrochen wa­ren. Es war ein hitziger Wortwechsel, in dessen Verlauf ich vorgab, mit meinem Anteil unzufrieden zu sein, wo­raufhin Dan bei seinem Versuch, die Wogen zu glätten, äußerst detailfreudig ausführte, was gestohlen worden sei und wie viel sein Hehler dafür lockermachen werde. Ich hatte das Band zusammen mit Aufzeichnungen über die von uns gemeinsam begangenen Straftaten in einem Schließfach deponiert und veranlasst, dass dessen Inhalt im Falle meines Todes an den Justizminister des Staates Vermont übergeben werden sollte. Später erzählte ich Dan von dem Schließfach. Er klatschte nicht gerade in die Hände, aber es nötigte ihm Respekt ab. Seine Erwägungen in Hinblick auf Plan B legten nahe, dass er entweder mit der Chance rechnete, ich könne bluffen, oder dass er versuchen würde, meine Beweise als Hörensagen abzutun. Möglich war auch, dass Manny noch Übleres gegen ihn in der Hand hatte als ich. Er gab sich Illusionen hin. Sollten Band und Aufzeichnungen jemals an die Öffentlichkeit gelangen, würde er für satte zwanzig Jahre einfahren.
Kapitel 4
Ich traf meine Mutter in der Küche an, beim Zubereiten des Abendessens. Als sie mich sah, rang sie sich ein verunglücktes Lächeln ab, zögerte für einen Moment und kam dann zu mir, um mich flüchtig auf die Wange zu küssen. Genau wie mein Vater war sie während dieser sieben Jahre über die Maßen gealtert. Sie schien leicht geschrumpft und ihr Haar, einst in der Hauptsache blond mit nur ein wenig Grau darin, war jetzt weiß. Sie stand vor mir, bemüht zu lächeln, die Augen winzig in dem rosinenartigen Gesicht.
»Du siehst abgespannt aus, Joey«, sagte sie, ging zu­rück an den Herd, zurück zum Rühren der Soße.
Ich fing an zu lachen, musste, kam nicht dagegen an. »Das ist nach sieben Jahren das Erste, was du zu mir sagst?«, fragte ich. »Oh, so ganz nebenbei, ich hab dich auch vermisst.«
»Natürlich habe ich dich vermisst«, sagte sie mit leicht stockender Stimme. »Aber du siehst nun mal abgespannt aus. Hast du genug gegessen?«
»Ich habe anständig gegessen. Zum Gefängnis ist es nur eine Fahrt von zwanzig Minuten, Mom. Du und Dad, ihr hättet mich wenigstens ein einziges Mal besuchen können.«
»Die Vorstellung war uns unangenehm«, sagte sie fast im Flüsterton. Sie machte Anstalten, noch etwas zu sagen, doch es erstarb in ihrer Kehle.
Ich beobachtete, wie sie in der Soße rührte, ihr Körper angespannt, die Augen leblos wie ihr Mund. Ich fragte, wo mein Vater sei.
»Er fühlte sich nicht und hat sich kurz hingelegt.« Sie zögerte. »Ich schau mal nach, ob er wach ist.«
Mein Blick folgte ihr, als sie schnurstracks Richtung Schlafzimmer ging. Sie schloss die Tür hinter sich. Sie bemühten sich, leise zu sprechen, aber die Wände waren dünn und ich konnte das Meiste von dem, was sie sagten, verstehen.
»Dein Sohn ist nach Hause gekommen. Er ist gerade in der Küche.«
»Könntest du bitte leiser sprechen? Joey kann dich hören.«
»Die Tür ist zu. Er wird mich nicht hören. Ich möchte, dass wir beide da draußen sind.«
»Ich bin müde. Lass mich noch ein wenig ruhen.«
»Oh, nein, das wirst du nicht. Du kommst jetzt mit mir in die Küche!«
»Herrgott, Irma, er ist dein Sohn. Er wird dich schon nicht beißen.«
»Ich will, dass du mit mir in die Küche kommst. Immerhin hast du darauf bestanden, dass er hierbleibt!«
»Schon gut, schon gut.«
Ich hörte ihn aus dem Bett steigen. Die Tür ging auf und meine Mutter erschien, meinen Vater im Schlepptau. Er lächelte mich an, ein dünnes Lächeln, als er an mir vorbei zur Spüle ging, wo er einen Teekessel mit Wasser füllte. Meine Mutter machte sich wieder ans Rühren der Soße. Ich sah mir das vielleicht eine Minute an und erklärte ihnen dann, dass ich noch weggehen würde.
»Du wirst nicht gemeinsam mit uns zu Abend essen?«, fragte sie überrascht.
»Ich denke nicht. Später bin ich ja wieder da.«
»Warum willst du nicht mit uns essen? Ich mache dicke Makkaroni und Fleischklößchen.«
»Lieber nicht, vor allem wenn ihr beide euch meinetwegen so ungeheuer schämt.«
»Führ dich nicht so auf«, blaffte sie mich an. »Wie sollen wir uns deiner Meinung nach fühlen, nach alldem, was du gemacht hast?« Mein Vater sah von seinem Teekessel auf, aber er schwieg.
Ich musste hier raus – ich spürte, dass meine Hände anfingen zu zittern. Als ich mich zum Gehen wandte, hörte ich meine Mutter meinen Namen rufen.
»Bleib zum Abendessen«, sagte sie. »Du solltest heute Abend nicht unterwegs sein, Joey. Heute war ein Artikel in der Zeitung, dass du entlassen wurdest und darüber, was passiert ist. Auf der Titelseite haben sie ein Foto von dir gebracht. Es wäre besser, wenn du nicht in die Stadt gehen würdest.«
Ich starrte meine Eltern eine ganze Weile an, kaum fähig, einen von beiden wiederzuerkennen. Dann drehte ich mich um und verließ diesen Ort so schnell wie möglich.