Killer - Dave Zeltserman - E-Book

Killer E-Book

Dave Zeltserman

4,5

Beschreibung

Nach vierzehn Jahren Gefängnis wird Leonard March vorzeitig entlassen, weil er bei einem Deal mit dem Staatsanwalt gegen seinen Exboss Salvatore Lombard aussagt. Als die Presse Wind davon bekommt, dass March selbst 28 Auftragsmorde ausgeführt hat, wird die Situation prekär: Verwandte der Opfer bedrohen ihn und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Schergen seines Exbosses Vergeltung üben. Doch bis dahin fügt sich March in sein neues, ödes Dasein als Reinigungskraft, ein alter, einsamer Mann, der auf den Tod wartet. Bis die attraktive Sophie auftaucht, die sich als Ghostwriter für seine Biographie ins Spiel bringt … Mit literarischer Finesse entwirft Zeltserman die brillante Charakterstudie eines Mannes — einst Topkiller der Bostoner Mafia — auf der Suche nach sich selbst.

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Impressum

Zum Autor:

Zu den Übersetzern:

Pulpmaster Backlist

Dave Zeltserman

Killer

1. Kapitel

1993

»Und wenn ich denen Salvatore Lombard liefere?«

Mein Anwalt horcht auf. Logisch, schließlich würde ich den Gangsterboss Bostons auf dem Silbertablett servieren. Bisher hat dieser Rechtsverdreher nur sein Programm abgespult, hat lustlos durchblicken lassen, er könne vielleicht einen Deal von dreißig Jahren aushandeln, aber in einem Ton, der klar signalisiert hat, dass er nicht wirklich daran glaubt. Ich kann ihm das nicht übelnehmen. Wie er kenne ich die Videobänder und Tonbandprotokolle. Die Staatsanwaltschaft hat mich wegen einer ganzen Latte von Straftaten bei den Eiern, Schutzgelderpressung, Menschenhandel, Prostitution und versuchter Mord in­klusive. Dass ich einem verdeckten Ermittler den Schädel mit einem Brecheisen eingeschlagen habe, setzt aus deren Sicht dem Ganzen die Krone auf.

»Sind Sie sicher?«, fragt er.

Ich nicke. Mein Entschluss ist keiner aus dem Augenblick heraus. Es geht mir seit Wochen durch den Kopf, seitdem ich geschnallt habe, dass jemand in Lombards Apparat die Sache aufgegeben hat. Deshalb habe ich Lombards handverlesenen Anwalt gefeuert und meine Frau Jenny in die Spur geschickt, einen sauberen Verteidiger ausfindig zu machen, einen ohne gewisse Verbindungen. Ich bin achtundvierzig, Lombard jetzt ans Messer zu liefern könnte bedeuten, dass ich meinen Neunundvierzigsten nicht erlebe, aber ich wäre richtig am Arsch, müsste ich die nächsten dreißig Jahre in einer Gefängniszelle dahinvegetieren.

»Und Sie können ihn mit all dem in Verbindung bringen?«

»Ja.«

»Das könnte die Sachlage ändern«, räumt er ein. »Mal sehen, was ich tun kann.«

Sein Gesicht ist jetzt gerötet. Er steht unvermittelt auf, klopft gegen das kleine quadratische Fenster aus Plexiglas in der verschlossenen Tür und zwei Wärter kommen herein, um mich in meine Zelle zu bringen. Keine Stunde später führt man mich in denselben Raum. Mein Anwalt ist bereits da, das Gesicht noch immer gerötet, wenn es nicht sogar ein wenig glänzt. Ich setze mich ihm gegenüber auf den Stuhl und wir warten, bis die Wärter den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen haben.

»Wenn Sie Salvatore Lombard wirklich belasten können – «

»Das kann ich.«

»Dann kann ich vierzehn Jahre für Sie herausschlagen«, sagt er. »Ein Geschenk, wenn man bedenkt, was die Ihnen alles zur Last legen.«

»Das reicht nicht.«

Er starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an, als sei ich völlig durchgedreht. »Leonard, lassen Sie mich Ihnen erklären, wie großzügig das Angebot ist. Ich weiß, dass dem Bezirksstaatsanwalt bei der Aussicht, Lombard dranzukriegen, das Wasser im Mund zusammenlaufen muss, aber vierzehn Jahre sind das Höchste, was er Ihnen geben kann, ohne bei der Polizeibehörde einen Aufstand zu provozieren, nach dem, was Sie mit dem Beamten angestellt haben, ganz zu schweigen von den anderen Leuten. Ich sehe nicht den Hauch einer Chance für mehr, wenn das hier vor Gericht kommt – «

»Die vierzehn Jahre kann ich abreißen. Darum geht es nicht.«

»Worum geht es dann?«

Ich verändere meine Position auf dem Stuhl und schaue an meinem Anwalt vorbei. »Wenn ich Lombard ans Messer liefere, wird er mich mit anderen Verbrechen belasten. Für die brauche ich Straffreiheit. Vierzehn Jahre, mehr werde ich nicht absitzen, egal, was ich sonst noch gestehe.«

»Was haben Sie sonst noch getan?«

Ich schüttle den Kopf. »Wenn der Deal unter Dach und Fach ist, erzähle ich dem Bezirksstaatsanwalt den Rest.«

Mein Anwalt wirft mir einen seltsamen Blick zu, aber er steht auf und macht sich am Plexiglasfenster bemerkbar. Man öffnet ihm die Tür, bequemt sich jedoch nicht, mich in meine Zelle zu bringen. Für eine knappe Viertelstunde bin ich allein, bis mein Anwalt wieder den Raum betritt. Er sieht mir direkt in die Augen und nickt.

»Sofern es sich nicht um Verbrechen an Kindern handelt, um Kinderpornographie und Sexualdelikte, ist der Bezirksstaatsanwalt bereit, Ihnen einen Freifahrtschein auszustellen, wenn all das, was Sie liefern, einer Überprüfung standhält und für eine Anklage ausreicht.«

»Dann haben wir einen Deal«, erkläre ich.

Mein Anwalt und ich treffen mit dem Bezirksstaatsanwalt zusammen. Als ich den Papierkram in Händen habe, den mein Rechtsverdreher für den Deal vorbereitet hat, bekommt der Staatsanwalt von mir, was er braucht. Es kostet sie drei Wochen, alles zu überprüfen, aber nachdem sie Anklage gegen Lombard erhoben haben, treffen wir uns ein zweites Mal, damit ich einen Überblick über meine restlichen Verbrechen geben kann, die, für die ich Straffreiheit erhalte. Das dauert. Es sind so viele. Während ich von den achtundzwanzig Morden berichte, die ich für Salvatore Lombard begangen habe, wird das Gesicht des Staatsanwalts aschfahl. Die Lippen meines Anwalts verziehen sich unwillkürlich zu einem missglückten Lächeln, als wolle ich ihn ebenfalls ablinken.

Danach fällt mir das Atmen leichter. Seit ich Lombards Anwalt in die Wüste geschickt habe, habe ich damit gerechnet, dass Lombard Mittel und Wege findet, mich auszuschalten, oder dass er etwas über meine Beteiligung an den Morden durchsickern lässt, um sicherzustellen, dass ich keinen Deal eingehen kann. Ich schätze mal, ihm ist für keins von beidem eine Variante eingefallen, mit der er sich nicht selbst hineingeritten hätte.

Sei’s drum, mir ist jedenfalls eine Zentnerlast von den Schultern gefallen.

2. Kapitel

Gegenwart

Irgendwo im Zellentrakt stöhnte einer. Es waren unterdrückte Laute. Wer auch immer sie produzierte, musste sein Gesicht in der Matratze vergraben haben. Ich saß da und spitzte die Ohren, versuchte dahinterzukommen, aus welcher Zelle das Stöhnen kam und ob es darauf zurückzuführen war, dass ein Häftling seine Matratze besprang oder dass er in sie hineinschluchzte. Nicht dass es mich wirklich interessierte, aber ich war bereits seit Stunden wach und dankbar für die Ablenkung. Die Stunden, bevor das Licht anging – wenn ich darauf wartete, dass es anging –, waren die schlimmsten. Gleich zu Anfang, in Cedar Junction, als Jenny mir so viel Geld wie sie möglich auf mein Einkaufskonto hatte überweisen können, hatte ich mir eine Leselampe geleistet, wodurch diese Stunden erträglicher geworden waren. Nachdem Jenny an Krebs erkrankt war, änderten sich die Dinge und schon bald war der Lohn für meinen Arbeitseinsatz das einzige Geld, das floss, und der belief sich auf acht Cent die Stunde. So sehr ich es auch hasste, aber ich verkaufte meine Leselampe, nachdem die letzte Glühbirne ihren Geist aufgegeben hatte. Neue Glühbirnen waren nicht mehr drin; das bisschen Geld, das mir zur Verfügung stand, ging für das Allernotwendigste wie Seife und Toilettenpapier drauf. Danach war es mir nicht mehr möglich, diesen stillen Stunden, in denen ich auf mich selbst zurückgeworfen war, durch Lesen zu entkommen.

Wäre ich jetzt in Cedar Junction gewesen, andere Häftlinge wären dem Kerl mächtig aufs Dach gestiegen und hätten ihm lebhaft geschildert, was seinem Rektum am nächsten Tag blühe, sollte er nicht endlich sein dummes Maul halten. Aber nicht hier. Den meisten Insassen war klar, dass sie von Glück sprechen konnten, in diesem Gefängnis mittlerer Sicherheitsstufe einzusitzen. Sie wussten, dass es hässlichere Orte gab, wo man sie wegsperren konnte. Orte wie Cedar Junction. Und dass sie dort einfahren würden, wenn sie zu sehr am Rad drehten.

Im Zellentrakt gab es keine Fenster, dennoch stellte sich nie völlige Dunkelheit ein; allenfalls ein fahles Grau. Genau wie in Cedar Junction. In beiden Gefängnissen flackerte die ganze Nacht über eine Reihe Neonröhren im Gang.

Vermutlich war das Teil der Gefängnisregularien, zu­mindest in Massachusetts.

Meine innere Uhr sagte mir, dass es fünf Uhr dreißig war. Um sechs Uhr jeden Morgen wird das Licht angeschaltet, dazu eine Sirene, die eine Minute lang ununterbrochen heult, um die Glücklichen rüde zu wecken, denen es gelungen ist, die Nacht durchzuschlafen.

Im Anschluss an Licht und Sirene das Duschen, der Speisesaal und dann ab zum Arbeitseinsatz. Nur nicht für mich, nicht an diesem Tag, der mein letzter war im Knast. Eine vierzehnjährige Haftstrafe abgesessen, aus, Schluss, vorbei; ich wäre bescheuert gewesen, hätte ich jemandem die allerletzte Chance gegeben, mich kaltzumachen. Im Laufe des Vormittags stand noch ein Termin mit meinem Re­sozialisierungs-Fallmanager an, und das war es dann. Bis dahin würde ich meine Zelle aus keinem Grund der Welt verlassen. Nicht dass ich befürchtete, hier drinnen habe jemand die Eier, mich umzulegen, auch für Lombards Jungs war es an dieser Stelle unsinnig, dafür zu sorgen – trotzdem, ich wäre mir wie ein Idiot vorgekommen, hätte ich jemanden kurz vor Toresschluss dazu eingeladen.

Das Stöhnen hatte aufgehört. Ich musste mich gedanklich mit etwas anderem beschäftigen als mit der Stille und dem Schweigen, die mir die Luft abdrückten, also fing ich an, mich mit Lombards Jungs zu beschäftigen, damit, wie baff sie sein mussten, dass ich hier lebendig rauskam. Flüchtig dachte ich darüber nach, wie wohl die Wetten auf der Straße standen, dass ich überhaupt aus dem Knast käme. Vermutlich zehn zu eins, mindestens, und selbst das wäre ein Rohrkrepierer von Wette gewesen. Nicht dass Lombards Jungs es nicht versucht hätten. Ich wusste, dass sie ein Kopfgeld ausgesetzt hatten: Zuweilen hatte ich diejenigen ausgemacht, die sich innerlich darauf vorbereiteten loszulegen. Doch dann trafen sich unsere Blicke und ich konnte verfolgen, wie ihr Draufgängertum sich in Luft auflöste, und wusste, dass sie nicht das hatten, was notwendig gewesen wäre, um es durchzuziehen. Das einzige Mal, wo es tatsächlich zum Versuch gereicht hatte, waren sie zu dritt gewesen und sie hatten es so arrangiert, dass wir allein waren. Als sie sich bewegten, bewegte ich mich schneller, und der, der mir am nächsten war, ging in die Knie und spuckte Blut, während die beiden anderen unversehens zusammenzuckten wie Schulkinder und es plötzlich sehr eilig hatten, sich von mir zu entfernen. Danach sollten alle anderen, die von Lombards Jungs auf mich angesetzt worden waren, ebenfalls den Fehler begehen, mir als Erstes herausfordernd in die Augen zu sehen, nur um anschließend wie vernichtet zu sein.

So war das in der Vergangenheit. Eine andere Sorte als die, die man sich draußen an Land ziehen konnte, be­völkerte jetzt den Knast. Bald schon würden sich die Dinge für Lombards Jungs wesentlich einfacher gestalten oder schwieriger, je nachdem, wie man es sah.

Ich schloss die Augen und lauschte, ob das Stöhnen wieder angefangen hatte. Dem war nicht so. Nur tote, beklemmende Stille. Und davon viel zu viel.

Es war elf Uhr, als der Wärter die Kleidung vorbeibrachte, die ich zum Zeitpunkt meiner Verhaftung getragen hatte. Ich stieg aus dem Anstaltsoverall, zog das T-Shirt aus und meine alten Sachen an. Meine Schuhe, wenn auch eingestaubt und abgewetzt, passten noch. Alles andere nicht. Meine Hosen hingen an mir, genauso wie Hemd und Lederjacke. Ein Gürtel wäre nützlich ge­wesen, aber vermutlich hielten sie den bis zu meiner offiziellen Entlassung zurück. Doch es tat gut, die eigenen Sachen tragen zu können. Zum letzten Mal trat ich aus meiner Zelle, als Einziges einen dicken Umschlag voller Papiere dabei. Den Rest mitzunehmen lohnte nicht.

Als er mich durch den Zellentrakt zum Verwaltungsgebäude führte, bemerkte der Wärter in meiner Begleitung kurz angebunden, dass es mein letzter Tag sei.

»Die letzte Stunde, um genau zu sein.«

Wir gingen schweigend weiter, bis er nach etwa einer Minute leise hervorstieß: »Gerechtigkeit, von wegen!«

Ich sah ihn an. Er war Ende zwanzig, in etwa so alt wie mein jüngster Sohn. Ein junger Kerl, groß und plump, mit kurzem blondem Haar, einer Knollennase und auseinanderstrebenden Augen. Das Fleisch hing schlaff an ihm wie die Kleidung an mir und es hatte die Farbe von gekochtem Schinken. Etwas an ihm kam mir bekannt vor und ich begriff, was es war. Er sah einem Kerl, den ich umgelegt hatte, dermaßen ähnlich, dass er sein Sohn hätte sein können. Ich fragte, wie er heiße, was ihn regelrecht zusammenfahren ließ und ihm die Panik ins rosige, feiste Gesicht trieb.

»Meine Güte«, sagte ich. »Ich möchte doch nur wissen, ob Sie mit Donald Sweet verwandt sind.«

Er schüttelte den Kopf.

»Oder vielleicht mit einem von den anderen, mit de­nen ich, ähem, geschäftlich zu tun hatte?«

Und wieder bewegte er den Kopf träge von einer Seite zur anderen.

Ich musterte ihn von oben bis unten, spürte, wie sich mein altes Ich zurückmeldete. »Dann halten Sie die Klappe«, sagte ich. »Und zeigen Sie verdammt noch mal Respekt vorm Alter.«

Von da an starrte er nur noch geradeaus, seine Augen glasig, sein Mund zu einem engen, von Verärgerung zeugenden Oval geschrumpft und mit der richtigen Menge Blut, die ihm ins Gesicht geschossen war, um seinem Teint die Farbe von rohem Schinken zu verleihen. Wir wechselten kein Wort mehr miteinander; erst als wir am Büro meines Fallmanagers ankamen und ich bereits zur Hälfte durch die Tür war, bemerkte er, dass mich die Gerechtigkeit vielleicht im Gefängnis verschont habe, aber man draußen sehr wohl wisse, wie man mit Ratten wie mir zu verfahren habe. Ich schloss einfach die Tür hinter mir.

Theo Ogden, mein Fallmanager, saß inmitten des Chaos seines Büros, eines engen Zimmers ohne Fenster. Er blinzelte mich hinter den dicken Gläsern seiner Brille an und dem gequälten Lächeln, das mich empfing, war zu entnehmen, dass er die Bemerkung des Wärters mitbekommen hatte. »Ich möchte mich dafür entschuldigen, Mr. March«, sagte er.

»Ich werde mir demnächst Schlimmeres anhören müssen«, erwiderte ich.

»Kann sein, es war dennoch unangebracht.«

Ich nahm das Ganze gelassen und setzte mich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches, nachdem mich Theo Ogden mit einer Handbewegung dazu aufgefordert hatte. Theo musste in etwa genauso alt sein wie besagter Wärter, hatte aber hinsichtlich Größe und Gewicht, wesentlich weniger aufzubieten und war auch in seinem Auftreten das krasse Gegenteil. Wie bereits zu­vor, wenn ich mit ihm zu tun gehabt hatte, wirkte er auch heute fahrig und gestresst, und der Anzug, den er trug, schien ihm ebenso wenig zu passen wie meine alte Kleidung mir.

Nach dem Verlauf unseres letzten Treffens erwartete ich nicht viel, aber dieser Teufelskerl überraschte mich damit, dass er einen Putzjob in einem kleinen Bürogebäude in Waltham für mich an Land gezogen und ein möbliertes Einzimmerapartment angemietet hatte, das nur einen kurzen Fußmarsch von meinem neuen Arbeitsplatz entfernt lag. Arbeitszeit war von acht Uhr abends bis zwei Uhr morgens, Montag bis Samstag. Bis auf das Wachpersonal war das Gebäude während dieser Zeit vermutlich menschenleer, sodass mich die Mieter nie zu Gesicht be­kämen, trotzdem, ich staunte nicht schlecht, dass es ihm gelungen war, jemanden aufzutreiben, der sich bereit erklärte, mich zu beschäftigen, und sei es auch nur, um Toiletten zu putzen und Böden zu wischen. Theo hatte dafür gesorgt, dass ich meinen neuen Job schon heute Abend antreten konnte, dachte, ich könne das Geld gut gebrauchen, also ging er gleich noch einen Finanzplan mit mir durch, der meine monatlichen Einnahmen in Form von staatlicher Unterstützung und aus meinem Job den Ausgaben gegenüberstellte. Es würde eng werden, wie ich da so knapp über der Armutsgrenze hing, was aber zweitrangig war. Selbst wenn ich auf der Straße landete, wäre das allemal ein besserer Ort als der, wo ich die letzten vierzehn Jahre verbracht hatte. Und nebenbei bemerkt, ich ging nicht davon aus, so lange auszuharren, um mir über dergleichen den Kopf zerbrechen zu müssen, nicht mit meiner familiären Vorgeschichte, erst recht nicht mit Lombards Jungs, die draußen auf mich warteten und mit ihnen achtundzwanzig Familien, die wo­möglich noch schneller sein wollten.

Theo war mit dem Finanzplan durch, starrte mich jetzt unbehaglich an und nagte dabei an seiner Unterlippe. Mir war klar, dass er darüber nachsann, ob er wieder die Sache aufs Tapet bringen sollte, über die wir bei unseren letzten Treffen diskutiert hatten. Ich erlöste ihn und erklärte, dass ich keinerlei Neigung verspürte, Massachusetts zu verlassen.

»Sie sollten es in Betracht ziehen, Mr. March«, sagte er. »Selbst jetzt, zu diesem späten Zeitpunkt, könnte ich etwas arrangieren, wenn Sie mich ließen.«

»Was sollte das bringen? Wenn man mich finden will, spürt man mich auch auf, egal, wohin ich mich verziehe.«

»Aber Sie machen es denen so leicht ... « Er hielt inne, nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. Ohne Brille sah er aus wie ein magerer Teenager, der Vorsitzender der Schach-AG an seiner Highschool hätte sein können, und nicht wie ein Fallmanager, der seine Zeit damit zubringen musste, sich mit Leuten wie mir zu be­schäftigen. Er setzte die Brille wieder auf, alterte mit einem Schlag um fünfzehn Jahre und erklärte mir mit ernster Miene: »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich dessen bewusst sind, aber die Medien haben eine Menge Geschichten über Sie gebracht und jemand hat ein Foto jüngeren Datums von Ihnen veröffentlicht, eine Aufnahme aus der Zeit, als Sie von Cedar Junction hierherkamen. Die Leute wissen, wie Sie aussehen, Mr. March. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es draußen sehr ge­mütlich für Sie wird.«

Ich gab ihm den Umschlag, den ich dabeihatte, den, der mir zwei Wochen zuvor zugestellt worden war, randvoll mit Dokumenten, die Aufschluss gaben über fünf Klagen auf Tod durch Fremdverschulden, die gegen mich angestrengt wurden, samt und sonders eingereicht von ein und demselben Anwalt. Während Theo die Schriftsätze studierte, breitete sich zusehends Ratlosigkeit auf seinem Gesicht aus. Als ihm klar war, worum es bei den Papieren ging, sah er mich an, die Augen leicht zusammengekniffen.

»Es muss eine Möglichkeit geben, dem aus dem Weg zu gehen«, sagte er.

»Gibt es nicht«, erwiderte ich. »Wie Sie sehen, muss ich wegen des ersten Verfahrens in drei Wochen vor dem Bezirksgericht in Chelsea erscheinen. Die wissen doch, dass ich pleite bin und sie keinen Cent aus mir herausholen können. Dieser Anwalt arbeitet nicht auf Erfolgsbasis und er macht es auch nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit, das ist so klar wie das Amen in der Kirche. Jemand muss für die Kosten aufkommen, entweder die Familien oder, was wahrscheinlicher ist, eine dritte interessierte Partei, die das hier veranlasst hat. Und vermutlich nur aus einem Grund – um zu verhindern, dass ich aus der Gegend verschwinde.«

Theo starrte angespannt auf die Schriftsätze, suchte nach einem Ausweg, wie ich mein pflichtgemäßes Er­scheinen vor Gericht umgehen konnte. Es gab keinen. Mir fehlte das Geld für die Hin- und Rückfahrt, das ich aber brauchte, sollte ich den Staat jetzt verlassen, und selbst wenn ich es getan hätte, geändert hätte es nichts. Sobald ich bei einem der Gerichtstermine in Chelsea auftauchte, befand ich mich direkt in Lombards Hinterhof. Klar, ich hätte es noch finsterer ausmalen können – die Klagen seien nur eingereicht worden, um den Familien ihren Tag vor Gericht zu gewähren. Doch Aufwand und Kosten ließen das eher zweifelhaft erscheinen. Also nahm ich Theo die Papiere aus der Hand. Es war egal – nicht zuletzt verkürzten diese Klageeinreichungen die Diskussion zwischen uns, denn selbst wenn ich dazu imstande gewesen wäre, ich hätte Boston nicht verlassen. Keine Ahnung, weshalb dem so war, jedenfalls war es nichts, was ich in Worte fassen konnte oder irgendwie zu packen bekam. Natürlich hätte ich schlicht und ergreifend die Ausrede gebrauchen können, dass ich – von meinem Aufenthalt im Knast mal abgesehen – mein ganzes Leben in Boston verbracht hatte und jetzt nicht weg wollte, dass ich hoffte, wieder Kontakt zu meinen Kindern herstellen zu können. Da war ein Körnchen Wahrheit dabei, aber auch etwas anderes, das vage Ge­fühl nämlich, mich in der Gegend aufhalten zu müssen. Nur weshalb, das wusste ich nicht.

»Ich denke, das war’s dann«, sagte Theo.

»Ja, das war’s wohl.«

»Vielleicht ziehen Sie einen Wechsel des Wohnortes in Erwägung, wenn diese juristischen Fragen vom Tisch sind.«

»Vielleicht«, räumte ich ein, obwohl uns beiden klar war, dass es dann einerlei sein würde. Zu diesem Zeitpunkt wäre es so oder so vorbei. Ich wäre entweder tot oder vergessen.

»Dann sollten wir Ihre Sache jetzt zum Abschluss bringen«, sagte Theo mit einem schwachen Lächeln.

Er präsentierte mir einen kleinen Stapel Unterlagen, die ich zu unterschreiben hatte, und verließ das Büro. Als er zurückkam, hatte er meine persönlichen Gegenstände dabei – Gürtel, Brieftasche, Armbanduhr und Ehering. Ich staunte nicht schlecht, dass man die Uhr nicht gestohlen hatte. Es musste verlockend gewesen sein, vor allem mit dem Gedanken im Hinterkopf, es komme sowieso niemals ans Licht, weil ich im Knast abkratzen würde.

Ich schnallte den Gürtel um. Er war zu weit und meine Hosen schlackerten immer noch. Es mussten unbedingt ein paar zusätzliche Löcher in den Gürtel gebohrt werden. Ich war drauf und dran, Theo nach einem Taschenmesser zu fragen, aber er schien nicht der Typ für Ta­schenmesser zu sein und geriet womöglich noch in Panik und bildete sich ein, ich hätte andere Motive, danach zu fragen.

»Soll ich Ihnen ein Taxi rufen, das Sie zum Bahnhof fährt?«, fragte er, nachdem ich Brieftasche und Ehering in meiner Hosentasche verstaut hatte und jetzt mit der Armbanduhr das Gleiche tat.

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte einhundertsiebenundzwanzig Dollar, darunter die vierzig Piepen, die ich bei meiner Verhaftung bei mir gehabt hatte, der Rest stammte von meinem Gefängniskonto zuzüglich dem, was Theo als Vorschuss auf meine staatliche Unterstützung hatte lockermachen können. Ich musste das Weni­ge, was ich besaß, zusammenhalten. Der Bahnhof war viereinhalb Meilen entfernt. Ein Taxi kostete vermutlich nur ein paar Dollar, trotzdem, ich würde zu Fuß gehen. Nach all den Jahren würde mir die frische Luft guttun. Vielleicht half sie auch gegen meine Kopfschmerzen.

»Weiß die Presse, dass ich heute entlassen werde?«

Theo verzog das Gesicht.

»Eigentlich nicht. Es hat ein paar Anrufe gegeben und ich habe mich in der Kunst der Falschinformation geübt und gesagt, der Tag Ihrer Entlassung sei Mittwoch.«

Die Tür ging auf und ein Wärter kam herein. Er nickte Theo zu, richtete dann seinen Blick starr an mir vorbei, um jeglichen Augenkontakt zu vermeiden. Ich stand auf und dankte Theo für sein faires Verhalten mir gegenüber.

Zum Glück gab ich mir keine weitere Blöße, indem ich mich darüber ausließ, dass es die einzige Fairness gewesen sei, die ich in den letzten vierzehn Jahren erfahren hätte, denn ich konnte ihm die Gedanken von den Au­gen ablesen – dass er nur seine Arbeit mache und sich nicht berufen fühle, den Stab über Menschen zu brechen, dass er das Gott überlasse. Nichts davon sprach er aus. Stattdessen hatte er wohl entschieden, dass Vorsicht besser sei als Nachsicht. »Viel Glück, Mr. March«, sagte er. Er gab mir nicht die Hand, was ich auch nicht erwartet hatte. Ich nahm meine Papiere und verließ in Begleitung des Wärters das Büro.

Es war nicht der Wärter, der mich zuvor in Theos Bü­ro gebracht hatte. Der hier war mindestens zwanzig Jahre älter, hatte kurze graue Haare und ein von tiefen Falten durchzogenes Bulldoggengesicht. Auf dem Weg zum Tor sprach er kein einziges Wort. Ich trat nach draußen und kniff die Augen zusammen, so strahlend hing die Sonne über mir. Nahezu geräuschlos schloss sich das Gefängnistor hinter mir. Draußen wartete niemand auf mich, nicht einer aus dem Knast hatte der Presse ge­steckt, dass man mich heute entließ. Für mich nachvollziehbar, denn für sie war ich eine Zumutung. Wäre es ihnen möglich gewesen, sie hätten den Schlüssel weggeworfen und mich nie wieder rausgelassen, nur, diese Alternative hatten sie nicht. Im Laufe der Jahre hatte es durchaus Wärter gegeben, die mich hatten reinlegen wollen in der Hoffnung, meine Strafe auf diese Weise zu verlängern, alles eher halbherzige Versuche und stets gepaart mit Furcht. Sie wussten, wozu ich fähig war, und hatten allen Grund zur Sorge, dass ich ihnen nicht in die Falle tappte und irgendwann wieder auf freiem Fuß sein würde. Jetzt mussten sie mich rauslassen und wollten es so unauffällig wie möglich über die Bühne bringen. Verübeln konnte ich ihnen das nicht.

Es war Mitte Oktober und ziemlich kalt, vielleicht um die fünf oder sechs Grad, und durch den heftigen Wind fühlte es sich noch kälter an. Binnen Sekunden spürte ich die Kälte in meinen Knochen. Neuerdings fing ich mir schnell eine Erkältung ein. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke hoch, packte den Kragen und raffte ihn so eng wie möglich um meinen Hals. Ich sah mich um, ob Autos in der Nähe standen, und nachdem ich keine hatte entdecken können, machte ich mich auf zum Bahnhof.

3. Kapitel

1965

Man munkelt, Ernie Arlosi hätte neulich in Suffolk Downs bei einer Dreierwette abgesahnt, und wir sind der Meinung, dass er den Geldsegen freudig verteilen und etwas davon rüberwachsen lassen sollte, damit wir ihn und seinen Laden nicht auseinandernehmen. Aber das dumme Sackgesicht lässt es auf einen Streit ankommen, also bin ich gezwungen, ihm mit einem Stück Rohr die Fresse zu polieren, während Steve und Joey schon mal Kleinholz aus einem seiner Kühlschränke machen, be­vor Ernie die Kohle endlich abdrückt. Verdammt über­flüssig, das Ganze, aber manche Jungs sind eben so be­schränkt. Als wir uns verabschieden, ist seine Fresse demoliert und mit seinem Laden steht’s auch nicht viel besser. Es hätte alles ohne Probleme ablaufen können, aber er hat sich nun mal entschieden. Was soll’s, nichts, worüber ich mir weiter Gedanken mache.

Als ich am nächsten Tag die Centennial Avenue hinunterschlendere, taucht neben mir ein silberner Caddy auf. Die Fenster sind noch nicht heruntergeglitten, da ahne ich bereits, wem der Wagen gehört und wer auf dem Beifahrersitz hocken wird. Und richtig, es ist Vincent Di­Grassi. Den Schläger hinterm Steuer kenne ich nicht, auch nicht den Mafioso auf dem Rücksitz, aber DiGrassi, den erkenne ich. Alle Welt weiß, er ist Salvatore Lombards rechte Hand.

Mit einem Blick gibt mir DiGrassi zu verstehen, dass ich einsteigen soll. Mir bleibt keine andere Wahl, und selbst wenn, ich würde trotzdem einsteigen. Der Gang­s­ter auf dem Rücksitz starrt mich kalt an, als ich mich neben ihn setze. Weder DiGrassi noch der Fahrer halten es für notwendig, mich anzusehen. Der Wagen fährt los, die Centennial Avenue hinunter bis zum Revere Beach Boulevard, biegt dort rechts ab, dann in den Kreisverkehr und auf den Winthrop Parkway. Weiter geht’s, bis wir bei einem kleinen, ziemlich verfallenen Haus im Kolonialstil ankommen, ganz in der Nähe vom Meer. Wir sind in einer Sackgasse, weit und breit keine Nachbarn zu sehen, dafür aber befinden wir uns nahe einer Startbahn des Logan Airports, wo der Lärm der abhebenden Maschinen ohrenbetäubend ist. Wir steigen alle aus. So einsam wie es hier ist, bezweifle ich, dass uns jemand beobachtet. Die beiden Mafiosi rücken mir auf die Pelle und stoßen mich ins Haus. DiGrassi folgt uns.

Sie bringen mich in den Keller. Niemand spricht. Eine halbe Minute lang erzittert das Haus unter dem Dröhnen eines Flugzeugs. Einer der Mafiosi nimmt ein Schwert in die Hand – eins, das vielleicht ein Samurai benutzen würde – und zieht es aus der Scheide. Während er mit dem Daumen über die Klinge fährt, grinst er mich an. Es ist ein dreckiges Grinsen, als wolle er mir zu verstehen geben, wie sehr er hoffe, mich mit diesem Schwert vierteilen zu können. Ich beachte ihn nicht. Ich beachte niemanden.

DiGrassi spricht mich jetzt zum ersten Mal an. Er hat eine Tenorstimme. Sanft, melodisch, erinnert sie mich an die alten Schallplatten, die mein Vater sonntags immer auflegte. Die Stimme passt nicht zu DiGrassis fettem Körper und seinem zerfurchten, mit Narben übersäten Gesicht. Er nennt mich Dreckskerl, fragt, wie alt ich bin. Ich antworte, mein Name sei Lenny March und nicht Dreckskerl.

Der Mafioso rammt mir den Griff des Schwerts in den Magen. Ich zeige keine Reaktion. Sieht so aus, als überraschte ich DiGrassi, weil ich nicht vornüberkippe. Zu­mindest hüpft seine rechte Augenbraue kurz in die Höhe.

»Ich habe nicht nach deinem Namen gefragt, Arschloch«, sagt er. »Ich kenne deinen Scheißnamen. Ernie Arlosi kennt deinen Scheißnamen. Wie alt bist du?«

»Zwanzig.«

»Scheiße, wie hast du es geschafft, in nur zwanzig Jahren komplett zu verblöden?«, fragt er.

Ich muss unwillkürlich lächeln. Diese Worte aus seinem Mund, dazu die hohe Tenorstimme, das passt einfach nicht zusammen. Der zweite Mafioso schlägt mir in die Fresse, kräftig genug, um ein paar Zähne zu lockern. Ich schmecke Blut, aber zeige noch immer keine Reaktion, von meinem kleinen Lächeln mal abgesehen.

DiGrassi bewegt sein Gesicht auf mich zu, bis es nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt ist, und als er anfängt zu schreien, trifft mich ein Sprühregen aus Spucke. »Du weißt, wer ich bin?«

»Ja.«

»Du weißt, für wen ich arbeite?«

Ich nicke.

»Wie kann’s dann sein, dass du so völlig verblödet bist und Mr. Lombards Freund aus Kindertagen zusammenschlägst und ausnimmst?«

Ich erwidere nichts darauf. Es ist mir neu – ich habe gedacht, Arlosi sei irgendein Sackgesicht aus unserer Gegend, das sein Maul einmal zu viel aufgerissen hat. DiGrassi rückt mit seinem Gesicht noch näher heran und brüllt, er wolle wissen, wer die beiden Dreckschweine sind, die dabei waren. Ich starre ihn an, noch immer diesen Ansatz eines Lächelns auf den Lippen. Nicht das Schwarze unterm Fingernagel wird er von mir bekommen.

Er geht jetzt auf Abstand und seine beiden Schläger treten in Aktion. Jedes Mal, wenn sie mich am Boden haben, stehe ich wieder auf. Ich gebe ihnen nichts. Nichts in meinen Augen, nichts in meiner Miene. Wenn das hier mein Abgang werden soll, dann ist es eben so. Scheiß auf sie, das ist der einzige Gedanke in meinem Kopf.

Ein lautes Dröhnen hallt im Keller wider. DiGrassi hat eine Riesenkanone gezogen und ein Loch in die Wand geschossen. Seine Schläger lassen von mir ab und er feuert drei weitere Schüsse in die Wand, kommt dann zu mir und drückt mir die heiße Mündung gegen die Wan­ge, verbrennt mich dabei. »Schluss jetzt mit deiner Schei­ße«, schreit er und in meinem Gesicht landet noch mehr Spucke. »Du nennst mir jetzt die Namen oder ich blas dir ein Loch in deinen hohlen Schädel!«

Ich sage nichts. Mit leerem Blick halte ich seinem Starren stand. Ihm kommt ein Knurren über die aufgeworfenen Lippen und er drückt ab.

Klick. Die Waffe muss mit nur vier Patronen geladen gewesen sein, alle von DiGrassi verschossen, als er in die Wand geballert hat. Er grinst mich an und seine beiden Jungs lachen leise.

»Eier aus Stahl«, sagt DiGrassi zu ihnen. »Hat nicht mal mit der Wimper gezuckt.«

Er betrachtet mich von oben bis untern und sein Grinsen wird breiter. »Hat sich auch nicht eingepisst und es riecht auch nicht so, als ob er sich vollgeschissen hätte.«

»Ein harter Bursche«, sagt einer von den Jungs.

DiGrassi nickt. Dann erzählt er mir, dass meine beiden Kumpels mich verpfiffen hätten. »Alle beide, in weniger als fünf Minuten, ich schwöre bei Gott. Aber mach dir nichts draus, beide haben mehr einstecken müssen als du.«

Jetzt begreife ich, was hier läuft. Eine Prüfung, um herauszufinden, aus welchem Holz ich geschnitzt bin. Und ich habe bestanden. Ich frage DiGrassi, was er eigentlich von mir will, mit einer Stimme, die mir nicht völlig gehorcht angesichts meiner geschwollenen Lippen, meines lädierten Kinns und meiner Wut auf Steve und Joey. DiGrassi legt mir seinen dicken Arm um die Schulter und sieht mich beinahe respektvoll an.

»Das hast du gut gemacht, Junge«, sagt er. »Du hast Härte bewiesen. Und was genauso wichtig ist, du hast gezeigt, dass du keine Ratte bist. Einen wie dich können wir brauchen. Ruf mich nächste Woche an, wenn du wiederhergestellt bist und die Beulen und blauen Flecke abgeklungen sind. Schau’n wir mal, ob wir dann was arrangieren können.«

Er greift in seine Tasche und gibt mir einen Zettel mit einer Telefonnummer darauf. Ich nicke, stecke den Zettel ein. Er runzelt die Stirn und mustert mich.

»March ... was für ein Name soll das sein?«, fragt er.

»Der Familienname meines Vaters war Marcusi. Er hat ihn in March geändert.«

»Scheiße, warum hat er das gemacht?«

Ich kenne die Antwort nicht, also schweige ich. Di­Grassi mustert mich intensiver, intensiver wird auch sein Stirnrunzeln.

»Du bist kein vollblütiger Italiener, nicht wahr?«, fragt er.

Ich schüttle den Kopf. »Nein, die Familie meiner Mutter kommt aus Deutschland.«

»Ist deine Mutter wenigstens katholisch?«

Wieder schüttle ich den Kopf.

»Drauf geschissen«, sagt er. »Ich wünschte zwar, du wärst ein vollblütiger Italiener, aber für jemanden wie dich haben wir immer Verwendung. Ruf mich an.«

Ich sage ihm, dass ich das machen werde.

4. Kapitel

Gegenwart

Ich stieg in den Pendlerzug zur South Station und musste sehen, dass ich dort einen Bus nach Waltham erwischte. Während der Zugfahrt nahm niemand Notiz von mir, alle waren eingesperrt in ihrer eigenen Welt. Trotz allem, ich konnte dankbar sein dafür.

Nachdem ich an der South Station ausgestiegen war, musste ich anderthalb Stunden totschlagen, bevor mein Bus abfuhr, also ging ich die South Street hinunter bis zur Beach Street und dann weiter nach Chinatown in der Annahme, dass mich dort niemand beachten würde. Als Erstes kaufte ich Aspirin in einem Eckladen, hoffte, es werde gegen meine Kopfschmerzen helfen. Anschließend ging ich in ein kleines, schäbiges Restaurant, wo ich für drei Dollar fünfzig einen Teller gebratenen Reis mit Schweinefleisch und einen Becher heißen Tee bekam. Allein die Eiswürfel in meinem Glas Wasser bedeuteten einen Luxus, den ich längst vergessen hatte. Ich saß da und aß mit gesenktem Kopf über meinen Teller gebeugt. Außer mir war gerade mal eine Hand voll anderer Gäste in dem Laden. Wessen Blick auch immer sich zu mir verirrte, derjenige hätte nur einen alten Mann in schlecht sitzender Kleidung gesehen, der allein in einem billigen Restaurant in Chinatown saß.

Nachdem ich mit dem Essen fertig war, nahm ich die Gabel mit zur Herrentoilette, betrat eine leere Kabine und bohrte ein paar zusätzliche Löcher in den Gürtel, damit meine Hosen mehr Halt bekamen. Ich bezahlte meine Rechnung, verließ das Restaurant und machte mich auf den Weg durch Chinatown zur Washington Street. Ich staunte nicht schlecht, wie proper die Gegend aussah, jetzt, da die Pornokinos und die meisten Sexshops verschwunden waren. Den einen oder anderen Stripschuppen gab es noch, aber die sahen edel aus und mir fiel eine Gruppe Geschäftsleute auf, die in ihren Anzügen in einem verschwanden. Und so ging ich weiter, bis ich zu einem Juweliergeschäft kam, das in seinem Schaufenster mit dem Spruch Zahle Höchstpreise. Garantiert lockte. Drinnen stieß ich auf einen offenkundigen Lahmarsch, der mit dem Hocker verwachsen schien, auf dem er kauerte. Um die fünfzig plus, mit wenig Haar, dafür aber mit einem Vielfachkinn ausgestattet und einer Anzahl Wülsten, wie ich sie seit Jahren nicht gesehen hatte. Als ich näher trat, sicherte mir das sein gnädiges Desinteresse. Ich gab ihm meine Rolex und den Ehering, woraufhin er die Rolex mit großspurigem Gebaren unter einer Juwelierlupe begutachtete, dann einen Katalog zurate zog, obwohl der Preis für ihn längst feststand.

»Ist die echt?«, fragte er, obwohl er die Antwort bereits wusste.

»Ja«, sagte ich. »Man hat sie mir neunzehnhundertachtzig geschenkt.«

Seine Miene nahm wieder den Ausdruck des Desinteresses an. »Diese Oysterquartz-Modelle ... nicht sonderlich beliebt. Ich könnte Ihnen dreihundert dafür geben – « Er sprach nicht weiter, da er die Gravur auf der Rückseite entdeckt hatte: In tiefster Dankbarkeit, Salvatore Lombard. Sein Blick schoss hoch zu mir, und als den Juwelier die Erkenntnis traf, verabschiedete sich das Wenige, was sein Gesicht an Farbe zu bieten hatte, und ließ seinen Teint aschfahl zurück. »Achthundert Dollar«, spuckte er hervor, seine Stimme nur ein heiseres Flüstern, da seine Lippen ihm nahezu den Dienst versagten, als wären sie urplötzlich von einer Lähmung befallen. Ich wollte wissen, was für den Trauring herausspringe. Er legte ihn auf eine Waage und meinte, er könne mir zweihundert Dollar dafür geben.

Nur so aus Spaß fragte ich, ob er dafür garantieren könne, damit den Höchstpreis zu zahlen, und für einen Augenblick fror der Juwelier förmlich ein und ich dachte, er stehe kurz vor einem Herzanfall, bis er schließlich heftig nickte. Wenn dem so sei, erklärte ich ihm, dann solle er mir die tausend Dollar geben.

Während er das Geld abzählte, starrte er unverwandt auf seine Hände, als befürchte er, versehentlich hochzuschauen und mich ins Blickfeld zu bekommen.

»Sie sind das«, sagte er.

Ich überhörte es. Mittlerweile hatte er vierhundert Dollar in Fünfzigdollarscheinen abgezählt, peinlich genau darauf bedacht sicherzustellen, dass ja kein Schein am anderen klebte. Als er bei siebenhundert Dollar angelangt war, hakte er nach, ob ich dieser Typ sei, der, über den die Nachrichten berichteten und der ein Auftragsmörder gewesen sei.

»Geben Sie mir einfach nur mein Geld.«

»Ja, okay«, erwiderte er verschnupft. »Kein Grund sich aufzuregen.« Er zögerte kurz, um dann hinzuzufügen: »Aber ich weiß, dass Sie dieser Typ sind.«

»Und was spielt das verdammt noch mal für eine Rolle?«

Er schien auf dem Schlauch zu stehen, als es darum ging, eine Antwort darauf zu finden. Als er mir endlich den Stapel Fünfziger auf den Tresen gelegt hatte, nahm ich den Stapel und fütterte meine Brieftasche damit. Mit tausend Dollar würde ich nicht weit kommen, aber ich ging ohnehin nicht davon aus, sehr weit zu kommen. Ich war fast zur Tür hinaus, als dem Juwelier doch etwas einfiel und er mich fragte, wie es sich so anfühle. Ich sah ihn irritiert an und er schob hinterher: »Sie wissen, was ich meine. Nach den Morden an all diesen Menschen einen Deal aushandeln, indem man Salvatore Lombard verpfeift. Also, wie fühlt sich so was an? Empfinden Sie irgendwelche Reue?«

Sein Vielfachkinn hatte sich in einem Anflug bemühter Verwegenheit nach vorn gereckt, aber ich sah die Verunsicherung in seinen wässrigen Augen. Ich verstand nicht mal, was er eigentlich von mir wissen wollte – ob ich Reue empfände, weil ich ein Verräter war oder weil ich diese Morde begangen hatte? Wie auch immer, ich blieb ihm die Antwort schuldig, verließ den Laden und überließ es dem Wind, die Glastür zuzuschlagen.

Zurück an der South Station, sah ich, dass eine kleine Schlange abgekämpfter Leute sich bereit machte, in den Bus nach Waltham zu steigen. Ich stellte mich hinten an, unterschied mich nicht von den anderen. Wenn man mich fragt – niemand zeigte Interesse an mir, allenfalls traf mich der eine oder andere gelangweilte Blick. Keine Ahnung, ob mich jemand erkannte. Ich setzte mich in die letzte Reihe. Auf dem Boden lag eine ausrangierte Zeitung. Ich hob sie auf und entdeckte auf Seite fünf einen Artikel über mich. Es war ein langer Artikel über zwei Seiten. Zum Glück enthielt er kein Foto von mir, nur eines von diesem Bezirksstaatsanwalt, der den Deal mit mir gemacht hatte, und dann, auf der nächsten Seite, ein Foto einiger Familienmitglieder eines meiner Opfer.