Smiley - Nick Harkaway - E-Book

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Nick Harkaway

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Beschreibung

»George Smiley ist ein Gentleman-Spion und eine Klasse für sich.« The New York Times  Nach seiner Niederlage an der Berliner Mauer hat George Smiley den britischen Geheimdienst verlassen. Das westliche Agentennetz liegt am Boden. Da läuft ein russischer Spion zu den Briten über, unter höchst ungewöhnlichen Umständen. Und der Mann, den er eigentlich in London töten sollte, ist verschwunden. Smiley lässt sich nicht lange bitten und übernimmt die Befragung einer Kollegin des Verschwundenen. Doch Moskaus Schatten sind länger geworden, und schon bald verfolgt Smiley wider besseres Wissen den Doppelspion, der für seine Niederlage an der Berliner Mauer verantwortlich war. Doch der ist ihm wie es scheint immer einen Schritt voraus.  Brillante Neuerfindung eines Welterfolgs aus der Zeit des Kalten Krieges

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Smiley

NICK HARKAWAY, 1972 geboren, ist der jüngste Sohn von John le Carré und selbst ein erfolgreicher Autor. Wie seine Brüder, beide Filmproduzenten, hält er das Erbe seines Vaters lebendig. Mit Smiley setzt er den Welterfolg Der Spion, der aus der Kälte kam fort und liefert uns einen fesselnden Agentenroman.www.johnlecarre.comPETER TORBERG, 1958 geboren, studierte in Münster und in Milwaukee, Wisconsin. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören u. a. Paul Auster, William Golding, David Peace, Oscar Wilde und Daniel Woodrell.

»George Smiley ist ein Gentleman-Spion und eine Klasse für sich.« The New York Times 

Nach seiner Niederlage an der Berliner Mauer hat George Smiley den britischen Geheimdienst verlassen. Das westliche Agentennetz liegt am Boden. Da läuft ein russischer Spion zu den Briten über, unter höchst ungewöhnlichen Umständen. Und der Mann, den er eigentlich in London töten sollte, ist verschwunden. Smiley lässt sich nicht lange bitten und übernimmt die Befragung einer Kollegin des Verschwundenen. Doch Moskaus Schatten sind länger geworden, und schon bald verfolgt Smiley wider besseres Wissen den Doppelspion, der für seine Niederlage an der Berliner Mauer verantwortlich war. Doch der ist ihm wie es scheint immer einen Schritt voraus. 

Brillante Neuerfindung eines Welterfolgs aus der Zeit des Kalten Krieges

Nick Harkaway

Smiley

Ein John le Carré Roman

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Karla’s Choice bei Viking, London.

© der deutschsprachigen Ausgabe 2025 by Ullstein Buchverlage GmbH, Friedrichstraße 126, 10117 BerlinWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an [email protected] Rechte vorbehalten.Umschlaggestaltung: zero-media.net, München unter Verwendung eines Umschlagdesigns von Superfantastic.Umschlagmotive: © Trevillion © Arcangel ImagesAutorenbild: © Nadav KanderE-Book powered by pepyrus

ISBN 978-3-8437-3581-0

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Vorbemerkung des Autors

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

Danksagungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Vorbemerkung des Autors

Widmung

Gewidmet

David John Moore Cornwell

Vater, Ehemann, Bruder, Sohn

Tischtennisspieler, Illustrator, Weintrinker, Hundebesitzer

Germanist

Frankreich-Liebhaber

Verlassenes Kind

Später dann Ire

Schrecklicher Koch

und

John le Carré

Schriftsteller

»Im Spionagegeschäft trennen wir uns zuerst von dem, was wir am meisten lieben.«

– Agent in eigener Sache, John le Carré

»Ich kann einen Picasso besser fälschen als jeder andere.«

– Pablo Picasso zugeschrieben

Vorbemerkung des Autors

»Ein sehr beeindruckendes Menü«, sagte Ann, die erste Frau meines Vaters, einmal zu einem verdutzten Küchenchef, »aber die Frage ist doch: Können Sie kochen?«

Wir werden es herausfinden. In Teilen kenne ich die Antwort schon: Meine Familie ist mit diesem Buch sehr zufrieden. Wenn ich etwas geschrieben hätte, das reihum gelobt, von der Familie aber gehasst wird, dann wäre das für mich eine sehr besondere Art von Hölle geworden. Und ich weiß auch, dass es für viele bereits ausgemachte Sache ist, was von dem Buch zu halten ist. Es wird Menschen geben, die dieses Buch lieben, weil ihre Verbundenheit mit George Smiley und dem Circus so groß ist, dass ihnen bereits die kleinste Berührung damit Freude bereitet. Es wird andere geben, die sich aus ebendiesen Gründen nicht vorstellen können, es zu lesen, und denen sich angesichts meiner absurden Selbstüberschätzung die Nackenhaare aufstellen. Und wenn sie dann das Buch unausweichlich von wohlmeinenden Familienangehörigen geschenkt bekommen und gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, kann ich mich nur entschuldigen: Ich hoffe, dass Sie eines Tages, vielleicht am Ende eines besonders trostlosen Tages, das vernachlässigte Buch in die Hand nehmen, sich denken, dass der Tag eh nicht noch schlimmer werden kann, nur um festzustellen, dass der Appetit beim Essen kommt.

Es sollte eigentlich viel mehr Bücher mit Smiley geben. Das weiß ich, denn ich war dabei. Ich wurde im November 1972 geboren, ob nun aus Zufall oder nicht ungefähr zu der Zeit, als Control starb, und ich bin mit George Smiley aufgewachsen. Seine Anwesenheit war, in all ihren Ausformungen, wie ein freundlicher Geist an meiner Tafel. Erst war da der George Smiley meines Vaters, mit gepresster und manchmal im Zorn erhobener Stimme, die dann wieder ruhig genug war, um aus dem Bauch zu kommen und die Wahrheit auszusprechen, wie dunkel sie auch sein mochte. Dann war da Alec Guinness’ Version, weich, launisch und gedankenverloren, so als würde seine Genialität immer nur dann sichtbar, wenn sich der Nebel lichtete. Michael Jayston las Smiley in einer gekürzten Audiofassung, und ich hörte mir die Kassetten jeden Abend vor dem Einschlafen an. Später dann las mein Vater sein Buch in einem solchen Audioformat selbst ein, und sein Sprachduktus vermischte sich mit dem von Alec Guinness; und das sei auch der Grund, sagte er, warum er nicht mehr so viele Fortsetzungen schreiben konnte, wie er ursprünglich beabsichtigt hatte. Der Smiley der anderen hatte den in seinem Kopf ersetzt. Viel später dann verkörperten ihn Denholm Elliott und dann Gary Oldman und andere, und all ihre Stimmen klangen mir in den Ohren, als ich mich hinsetzte, um herauszufinden, ob mir eine Geschichte einfiele, die in den zehn Jahren zwischen Der Spion, der aus der Kälte kam und Tinker Tailor Soldier Spy spielt.

Doch es ist, als sei Smiley schon immer da gewesen und hätte nur geduldig auf mich gewartet, obwohl ich ein bisschen spät dran war. Wenn Sie dann so weit sind, Nicholas, können wir anfangen. Mein Smiley ist der meines Vaters, aber er ist auch der Smiley, den wir alle kennen. Die Ursprünge der Figur liegen im Dunkeln, und es wurden viele Vermutungen angestellt. Wir wissen, dass er ohne Adresszettel im Gepäckwagen des Expresszuges der Gesellschaft reist; dass er Akademiker ist, kein Aristokrat; nicht zu verorten, auch nicht zu sehen und doch hervorstechend. Es gibt eine gängige Interpretation, nach der Peter Guillam mein Vater ist und Smiley eine Mischung aus Maurice Oldfield und Vivian Green, doch jeder Schriftsteller wird Ihnen verraten, dass im Zentrum eines Romans immer die Person steht, in die man sich selbst hineinversetzt, ganz gleich wie umgeformt und umgedacht. Smiley war mein Vater: das überaus wachsame Kind, faktisch oder durch Ungeheuerlichkeiten verwaist, allein in einem überfüllten Raum und nur dann glücklich, wenn er wie durch einen Zufall an einem Ort emotionaler Wärme landete. Ein scharfer Verstand an einem grauen, unerbittlichen Tag: Dieses Skelett nun umkleidet von dem synkretistischen Leib Smileys, wie man ihn von den Darstellungen eines halben Dutzends ausgezeichneter Schauspieler her kennt. Die Stimme natürlich eindeutig.

Was ist mit Karla? Die eiserne Regel lautete, dass er ein wandelndes Rätsel ist. Karlas Undurchsichtigkeit ist die eines autoritären Regimes, seiner launischen Gewalt, seiner Allgegenwart, seiner Last. Wie der Hai in Der weiße Hai verliert auch Karla immer mehr von seinem Schrecken, je öfter man ihn aus der Nähe sieht. Doch die Feindschaft der beiden Männer muss einen Anfangspunkt haben. Karla muss im Laufe der Zeit zum Ungeheuer werden. Zum ersten Mal versucht Smiley 1955, Karla zum Überlaufen zu bewegen, und als das schließlich gelingt, sind Smileys Gefühle für diesen russischen Offizier – ein Einzelfall unter vielen – fast kollegial. Zwei Jahrzehnte später ist der eine der Schatten des anderen geworden und definiert den Untergang der einen Macht und die erdrückende Brutalität der anderen. Was aber geschieht in der Zwischenzeit? Vielleicht gehört das zu den Dingen, die wir hier entdecken werden.

Natürlich handeln die Geschichten um Smiley letzten Endes nicht von Spionage. Smileys Circus war die Darstellung der Spionagetätigkeit, die für viele Menschen den Kalten Krieg ausmachte, ob sie nun davon Kenntnis hatten oder nicht. Es geht um den grimmigen, unerbittlichen und unerklärten Grabenkrieg der Spionage, umgeben von der Bedrohung durch atomare Auslöschung, ausgetragen in einem Mosaik aus Ländern, die in einen binären internationalen Konflikt gezwungen worden waren, einen letztlich nicht zu gewinnenden Krieg, denn ein Sieg im eigentlichen Sinne des Wortes hätte ganz woanders gelegen. Die Romane sind Schnappschüsse von Augenblicken, sind Fenster zur Seele. Erfolg meinte stillschweigend etwas anderes: Mitgefühl in dem unverrückbaren Schatten finden, die Welt zu einem besseren Ort machen, nicht zu einem schlechteren, nach einem Weg suchen, wie man in einer Welt, die das Grausame bevorzugt, freundlich bleibt. Die späteren Bücher meines Vaters sind unverhohlen politisch, aber die Geschichten um den Circus sind ebenso zornig – sie beschränken sich eben nicht nur auf ein einziges Thema. Der Kalte Krieg von damals ist vorüber, Smiley kann also oberflächlich betrachtet kein Abbild der Gegenwart sein. Andererseits ist das dringende Bedürfnis, sich für das Mitgefühl zu entscheiden – ob nun für zwangsverpflichtete Feinde, Flüchtlinge, zukünftige Generationen oder für uns selbst –, niemals stärker als heute gewesen. Eric Hobsbawm meinte einmal, das 20. Jahrhundert sei kurz gewesen, doch könnte man dem entgegenhalten, dass wir immer noch auf sein Ende warten.

In dieser Hinsicht ist Smiley also per Definition sein eigener Protagonist. Sein Lebensweg ist gelinde gesagt recht unklar. Er wurde 1907 geboren (Schatten von gestern) oder 1917 (wie in Tinker Tailor Soldier Spy angedeutet wird). Zugleich ist er aber auch aus derselben Generation wie Karla, der 1904 als Küchenjunge auf einem Panzerzug gearbeitet hat (ebenfalls in Tinker), woraus man Smileys Geburtstag irgendwo in den späten Jahren des 19. Jahrhunderts verorten könnte. Doch so ist das nun mal: Die Dinge ändern sich, und woran wir uns mit absoluter Klarheit erinnern, stellt sich nur als eine Gestalt im Nebel heraus.

Alles schön und gut, doch worauf läuft das hinaus? Warum irrlichtert Smileys Geburtstag? Oberflächlich betrachtet wegen des Umstandes, dass mein Vater daraus kein Franchising gemacht hat. Es ging ihm nicht um die makellose Konstruktion einer Welt im professionellen Sinne, sondern um das künstlerische Erzählen einer Mitgefühl weckenden Geschichte. Und wenn man noch einen Schritt weitergeht, dann sieht man etwas anderes: die Eckdaten von Smileys Leben ändern sich, weil sein Alter über die Bücher hinweg gleich bleibt. Smiley ist auf dieselbe Weise immer Mitte fünfzig, wie Sherlock Holmes immer in der Baker Street wohnt oder Poirot Belgier ist. Smiley folgt also einer klanglichen Kontinuität: Fühlt es sich richtig an? Ist dies der Smiley, den wir kennen? Kann man dieses Buch lesen und dann mit Tinker Tailor weitermachen oder zum Spion, der aus der Kälte kam zurückkehren und immer noch den Circus so erkennen, wie man ihn aus einem anderen Roman von le Carré kennt? In praktischer Hinsicht bedeutet das, den Verlauf der Ereignisse hinzunehmen und zuzulassen, dass sich die Einzelheiten ändern, damit das Ganze einen Sinn ergibt, obwohl nicht alle Details zu hundert Prozent identisch sind – was sie ja weder in die eine noch die andere Richtung sein können. Der Perfektionist in mir ist empört. Der Schriftsteller ist erfreut. Erst kommt die Geschichte, dann die Details, sie müssen sich anpassen. Die Aufgabe lautet, ein Buch zu schreiben, das einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat. Es muss Sie bewegen, sich Ihnen einprägen und Sie mit dem Wunsch nach mehr entlassen.

Mal sehen, ob es das tut.

Prolog

Der junge Mann, der auf dem Tisch in der Mitte stand und klatschte, war wild und vollkommen. Er hatte die Augen eines Heiligen, erinnerte sich Frau Möller später, eines irdischen Heiligen wie Franziskus oder eines großen Denkers wie Galileo. Sie hatte ihn gleich bemerkt, als er durch die Tür trat und an ihrer kleinen Nische neben der Tür vorbeikam. Den Jugendklub im Blick zu behalten war nicht ihre Aufgabe. Die Partei hatte es der Jugend zur Aufgabe gemacht, sich selbst zu organisieren. Für Fortbildungen und Kulturprogramme waren eigens Freiräume geschaffen worden, und auch die Musik gehörte dazu. Und wenn diese Treffen mal wild und unangemessen verliefen – also wenn die jungen Leute sich nicht strikt an das hielten, was das Komitee sich vorgestellt hatte –, war das nicht ihre Sorge. Sie war nur für die Garderobe zuständig und dafür, abzuschließen. Eine andere Aufgabe hatte sie nicht.

Der Junge hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, weil er so schön war. Ein Deutscher war er wohl nicht, fand sie; so sah er nicht aus. Wenn sie hätte raten müssen, dann hätte sie gesagt, er sei von weiter östlich her, vielleicht sogar aus Odessa. Jedenfalls wirkte sein kantiges Gesicht mit den breiten, hohen Wangenknochen so. Die Schönheit selbst war mehr als nur körperlich, aber vor allem das, von jener Art, die bei Männern selten vorkommt, dann aber ungeheuer attraktiv ist. Frau Möller hatte eine solche Schönheit schon mal bei einem Mann gesehen, und er hatte ihr leidgetan. Männer, die eine solche Schönheit besaßen, waren meist Dummköpfe, denn nur selten bekamen sie das Wort »Nein« zu hören, wenn überhaupt. Die Menschen machten ihnen Platz und verhätschelten sie, ohne dass ihnen das jemals auffiel, denn diese Schönheit zwang sie regelrecht dazu. Und manchmal fügten sie ihnen Schaden zu, und zwar aus demselben Grund. Auch das hatte Frau Möller schon mal gesehen.

An diesem Abend war die Musik nicht gut gewesen. Die Combo war nicht gut gewesen, war aber eingesprungen, weil die angekündigte jugoslawische Gruppe nicht eingetroffen war. Drogen, hatte Frau Möller mitbekommen: Haschisch im Gitarrenkoffer. Aber so war das eben mit Musikern: Irgendwas war immer.

Aber dem Jungen war es egal gewesen, ob die Musik gut war oder nicht. Er wollte sich nur eine gute Zeit machen und hatte auf diese Art, die ganz typisch für solche Leute ist, den ganzen Jugendklub mit sich gerissen. Er hatte zur langweiligen Gitarre geklatscht, bis die anderen mitklatschten; dann hatte er die Gruppe angetrieben, mehr zu wagen; dann hatte der Junge angefangen zu tanzen, hatte ein hübsches Mädchen zur Partnerin gewählt; danach hatten alle Jungs mit ihr und die anderen Mädchen dann mit ihnen getanzt. Er hatte teure Getränke bestellt, war dann auf den Tisch gestiegen und hatte mit den Füßen gestampft. Das Bier, das er in der Hand hielt, war ihm über das halb geöffnete Hemd geschwappt, er hatte so skandalös und salzig gewirkt wie eine dem Meer entsteigende Aphrodite im Hauptsaal des Staatsmuseums, und der ganze schäbige kleine Raum hatte im Takt eines einzigen Herzens geschlagen; erst dann war er zufrieden gewesen. Er fläzte sich auf einem Stuhl und besah sich das hübsche Chaos, das er angerichtet hatte; Frau Möller sah den wilden Blick seiner Augen und fragte sich, ob er nicht vielleicht weinte.

Zum Höhepunkt des Abends waren drei Männer hereingekommen – ernste Männer, älter und sehr humorlos –; sie hatten sich nicht weiter um das zügellose Treiben ringsum geschert, sondern sich nur auf den Jungen konzentriert. Sie hatten ihn zu sich gebeten und mit ihm gesprochen, und er hatte nicht sonderlich besorgt gewirkt. Er hatte genickt: Gewiss. Er würde sie gern begleiten. Er hätte schon früher mit ihnen gerechnet. Würden sie erst noch etwas trinken wollen? Und sie hatten, zur Überraschung von Frau Möller, tatsächlich gemeinsam etwas getrunken. Und nach dem einen Glas waren sie gemeinsam verschwunden, der Junge hatte beim Hinausgehen mit ihr gewitzelt, doch sie erinnerte sich nur an den Nachsatz: »Aber klar, Mutti, bis jetzt war doch alles bestens!«

Und mit diesem Lachen war er zur Tür hinaus in die Kälte des Prenzlauer Bergs getreten.

1

Susanna Gero, die auf dem Weg zu den Büroräumen von Bánáti & Clay, in denen ihr Arbeitgeber Mr. Bánáti über die Karrieren der nicht ganz so strahlenden Stars der literarischen Szene Londons herrschte, Primrose Hill durchquerte, hatte den Eindruck, als würde London erst jetzt aus tiefem Winterschlaf erwachen. In den gelb erleuchteten Fenstern der Wohnungen und Häuser am unteren Ende des Hügels sah sie, wie sich die Menschen für den Tag zurechtmachten. Die Sonne, die tief über St Pancras hing, zeigte sich von ihrer besten Seite. Zufriedenstellend, hätte ihre Mutter gesagt, ihr liebstes Wort der Ablehnung. Viele Dinge waren gerade mal zufriedenstellend, so auch dieser Montagmorgen.

Susanna wandte sich in Richtung Ormand Terrace und machte kleinere Schritte. Diesen Preis musste man eben zahlen, wenn man der Aussicht halber auf den Hügel stieg: Man musste wieder heruntersteigen und dazu den matschigen Weg nehmen, der selbst mit flachen Schuhen beschwerlich war. Sie achtete auf ihr Gleichgewicht und breitete die Arme aus, hoffte nur, dass niemand zu den Terrassenfenstern hinausschaute und sie mit den Pinguinen eine halbe Meile entfernt im Londoner Zoo verglich. In der ersten Hälfte ihres Lebens war sie jeden Winter im Schnee zu Fuß zur Schule gegangen, jetzt würde sie sich doch vom Schlamm nicht abhalten lassen.

Als Susanna zum Büro kam, rechnete sie schon damit, Mr. Bánáti an seinem Schreibtisch vorzufinden; er stand in der Mitte, ihr eigener links davon, ein dritter rechts. Aber die Tür war noch zu, Susanna musste aufschließen und Licht anmachen, und sofort hatte sie ein ungutes Gefühl. Mr. Bánáti stand früh auf – die Armee, hatte er ihr gesagt – und vollführte eine Reihe von grotesken Übungen, die irgendein Schweizer entwickelt hatte. Dann trank er Kaffee, aß, was immer ihm die Bäckerei an der Hauptstraße vorbeibrachte, und las Bücher, meist eingereicht von Autoren, die darauf hofften, von ihm vertreten zu werden. Das Büro war pedantisch sauber, der Postsack prall gefüllt. An drei Abenden die Woche kam eine alte englische Dame namens Wright vorbei und wischte Staub, wobei sie stets ganz altmodisch ein Kopftuch trug. Wenn Susanna am Morgen eintraf, wartete stets ein Stapel abgelehnter Manuskripte rechts auf seinem Schreibtisch darauf, zurückgeschickt zu werden, und nur selten eines zur Linken, das sie sich anschauen sollte. Die beiden Stapel wurden von einem 20 × 25 Zentimeter großen Porträtfoto getrennt, dem einzigen persönlichen Gegenstand. Das Bild war älter als der Rahmen; darauf zu sehen waren ein Junge und eine Frau. Die Anwesenheit des Porträts wirkte wie ein Punkt in einem Selbstgespräch: Diese Arbeit habe ich erledigt, an diesem Punkt bin ich angekommen, jetzt kann ich mich ausruhen – aber nur für kurze Zeit, denn die Literatur schläft nie. Und wenn Susanna dann eintraf, sprachen sie über die Einreichungen.

»Was halten Sie von unserer Ms Chancellor? Hat sie das Zeug zur Schriftstellerin?« Oder: »Unser Mr. Simmonds: Wird er es schaffen? Sollen wir ihn in unser Heiligtum aufnehmen?«

»Nein«, hatte Susanna mit Bestimmtheit erklärt, denn Simmonds hatte nun schon den dritten Titel eingereicht, und jeder war noch schlechter als der zuvor gewesen. Ms Chancellor, musste sie zugeben, war gar nicht mal so übel.

An diesem Morgen aber war der Schreibtisch bis auf das Foto leer, und ein einsamer weicher Bleistift, Mr. Bánátis bevorzugtes Schreibutensil für die Korrekturen, wartete auf den Einsatzbefehl. Diese Einfachheit war so verlogen wie vollständig. Die Contenance des Büros war rein oberflächlich und endete an der verkratzten grünen Lederauflage des Schreibtischs. In den Schubladen, die nach Möbelpolitur rochen, herrschte Chaos: weitere Bleistifte, Manschettenknöpfe, Kekse in Dosen oder daneben, Pfefferminzbonbons und ein Paar Hosenträger; Schuhcreme, Lesebrille, Tacker, Quittungen und Rechnungen; dazu noch eine verschlossene, gut gefüllte Geldkassette, zu der Mr. Bánáti den Schlüssel verloren hatte.

Susanna hatte ihren Mantel noch an, aber ihr war kalt. Der eisige Nebel war bis ins Büro vorgedrungen, unsichtbar, aber scharf an ihren Vorderzähnen. Sie verspürte den Drang, sich umzudrehen und wieder hinaus auf die Straße zu treten, irgendwo anders zu sein, nur nicht hier, und wie stets gab es innerlich keine klare Grenze zwischen dem Gedanken und seiner Ausführung. Das ist es wohl, was Heimatlose von anderen Menschen unterschied: ein tieferes Verständnis von Flucht. Du fragst nicht nach der Notwendigkeit. Ist Flucht nicht notwendig, kannst du immer noch zurückkehren. Du gehst los, gehst einfach immer weiter in dem Wissen, dass die Welt hinter dir in Brand gerät. Du gehst an den Stadtrand, triffst auf einen Bauernwagen und schaust dem Fahrer ins reglose Gesicht mit der kalten bulgarischen Zigarette zwischen den Lippen, wie der Lauf eines gleichgültigen Gewehrs. Tischst ihm deine Lüge auf: Meine Leute wohnen in Tatabánya, in Győr. Ich muss nach Hause. Es ist nicht wichtig, ob er dir glaubt, nur, dass er das hinterher behaupten kann. Auf dem Beifahrersitz teilst du dir den Platz mit seinen Überziehstiefeln aus Gummi und seinem Schnaps, und ihr fahrt an Autos vorbei, die im Schlamm stecken geblieben sind, und überquert die zerfurchten Panzerspuren der Russen. Ihr umfahrt dieses Dorf, weil die anderen angeblich dort sind, und fahrt zum nächsten. Aus dem Tag wird Nacht, ihr werdet an einer Straßensperre patriotischer Bauern angehalten, aber um welchen Patriotismus handelt es sich? Zu welchem Ungarn gehören die Bauern? Es gibt so viele. Mihály, der Fahrer, ist ihnen aber bekannt. Als er sagt, du seist eine Cousine, wissen sie, dass das gelogen ist, aber alles wird besser. Sie lachen: Du Glückspilz, Mihály. Du steigst in der Nähe von Fertőd aus, er drückt dir kurz die Lippen auf die Stirn, als wolle er dich segnen, dann zeigt er dir den Weg, und sein Atem ist eine Qualmwolke. Fast im Schatten des Schlosses Esterházy folgt dir ein Blick aus traurigen Augen. Du gehst die letzten paar Kilometer zu Fuß, überquerst die Grenze im Wald, kommst an den Punkt, wo du gehst, ohne es noch zu bemerken, du versteckst dich, erschrickst bei irgendwelchen Schatten, bis du von einem Polizisten in österreichischer Uniform angehalten wirst, und du weinst, weinst, weinst an der Schulter des verwirrten Mannes in grobe Wollaufschläge. Du siehst Mihály nie wieder, versuchst auch nie, ihn zu finden, das würde ihn nur in Schwierigkeiten bringen. Du schreibst deiner Mutter und bekommst zur Antwort, dass dein Vater und sie verhaftet worden sind. Du wartest und wartest auf die Nachricht von ihrer Entlassung, wartest immer weiter, bis du vergisst, dass du wartest und nur lebst.

Sie betrachtete ihr eigenes Spiegelbild in der Fensterscheibe. Du bist dreiundzwanzig, nicht sechzehn. Das Fenster passt genau in den Rahmen, das Glas hat die richtige Größe und ist von guter Qualität. Das hier ist London, nicht Budapest. Es ist 1963. Und diesmal bleibst du hier.

Sie nahm den Lappen und den Messingschlüssel vom Fensterbrett und ließ die Luft aus dem Heizkörper ab, hörte es gurgeln und zog schnell die Hand zurück, als das heiße Wasser ans Ventil stieß und herausspritzte. Die Wärme ließ das Zimmer weniger bedrohlich wirken, und die Sonne stand hoch genug, dass die 60-Watt-Birnen den Raum heller, nicht dunkler wirken ließen. Sie setzte Kaffee auf und nahm einen Stapel noch nicht durchgesehener Romane von dem dritten Schreibtisch. Das war Mr. Clays Schreibtisch, der aber ungenutzt blieb, denn Mr. Clay war eine Kriegslist. Mr. Bánáti sagte, die Leute würden eine Agentur lieber mögen, wenn über der Tür zwei Namen standen, und noch lieber, wenn die leicht schrullige Skurrilität des ersten mitteleuropäischen Namens ausgeglichen wurde durch die angelsächsische Sachlichkeit des zweiten. Sie nahm sich willkürlich drei Stück von dem Stapel und legte sie beiseite; niemals von oben nehmen, denn so verwirft man nur, was zuunterst liegt, eben weil es ganz unten ist, oder man bewertet es über, weil man ja so tief gebuddelt hatte, um bis dorthin zu gelangen. Dann stand sie vor dem verwaisten Schreibtisch von Mr. Bánáti.

Das Foto lag auf dem Rücken, so als habe er es sich angeschaut. Einen Augenblick lang fragte sich Susanna, ob er den Bleistift genommen und einen Bart aufs Glas gemalt habe oder ob an diesem Vormittag die gemeinsame Geschichte zwischen den Personen auf dem Foto und ihm zutage getreten sei. Na ja, nicht an diesem Morgen. Es musste letzte Nacht gewesen sein, nachdem Susanna nach Hause gegangen war: Bánáti musste wohl noch mal ins Büro gekommen sein und dort lange gesessen haben. Vielleicht tat er das öfter, und sie hatte nur bisher keine Spuren davon gesehen. Aber ihr Instinkt sagte, dass er das nicht getan hatte, dass dies hier etwas Neues war, die Art von Neuem, die Ärger bedeutete. Als sie zu diesem Schluss gekommen war, klopfte es an der Tür.

Susanna hatte sich ein paar Ausreden zurechtgelegt: Mr. Bánáti ist leider verhindert, Familienangelegenheiten. Sie hatte keine Ahnung, ob er überhaupt Familie hatte. Sie glaubte schon: Die Frau und der Junge, aber er hatte nie über sie gesprochen. Sie nahm auch bei seinem Namen an, dass er Ungar war wie sie und dass er ihre schwache Tarnung, den Buchstaben z aus »Zsuzsanna« entfernt zu haben, durchschaut und sie deswegen eingestellt hatte – aber auch darüber wurde nie gesprochen. Und mit ihrem Schweigen hatten sie jene Art von Zuneigung geschaffen, fand sie, die daraus entsteht, wenn man keine weiteren tieferen Verpflichtungen hatte und jeder bei dem anderen vor den schwierigeren Dingen Zuflucht finden konnte. Sie sprachen nicht über die alte Heimat oder darüber, warum sie nicht dort waren. Alle haben ihre Gründe, und nur ein Dummkopf rechnet damit, dass sie bei allen gleich sind.

Susanna öffnete die Tür und sagte Guten Morgen; der Mann, der dort stand, tat dasselbe. Er lächelte, und sie lächelte, sie beide kamen gut voran mit dem Austausch von Höflichkeiten, und sie hatte den Eindruck, dass sie sich gut zusammengetan hätten, dass alles ganz normal wirkte, trotz des leeren Büros hinter sich und der drohenden Enttäuschung, wenn er nach Mr. Bánáti fragte oder wissen wollte, ob sein Manuskript Gefallen gefunden hätte. Noch nicht, würde sie antworten, seinen Namen notieren und versprechen, den Roman nach oben auf den Stapel zu legen. Vielleicht würde sie das sogar tun, vielleicht hatte Bánáti es auch schon längst abgelehnt. Alles einerlei: ein ganz gewöhnlicher Tag.

Doch dann tanzte der Mann aus der Reihe und verriet sie und ihre gedeihende Komplizenschaft. Er schaute sie an, nahm sie erst jetzt richtig wahr, und gerade, als sie selbst bemerkte, dass sie ihn vor ein paar Augenblicken durchs Fenster gesehen und mit ihrem zwar jungen, aber nicht unerfahrenen, unbeirrbaren Instinkt einer Frau für einen schwierigen älteren Herrn gehalten hatte, sah oder spürte sie die Bombe, die hinter seinen Augen hochging. Er hielt ihr linkisch, fast unwillkürlich die Hand hin, sie nahm sie und spürte die schwielige Haut an den Fingerspitzen und erkannte jemanden, der, so Mr. Bánáti gelegentlich, einer richtigen Arbeit nachging. Sie starrte ihn auf offene, unenglische Weise an, wie er es tat, so als sei tiefere Vertrautheit zwischen ihnen beiden nicht nur unausweichlich, sondern habe in gewisser Hinsicht bereits stattgefunden. Und dabei ging es Gott sei Dank nicht um Sex. In seiner Haltung, in seinem Blick gab es nicht den Hauch eines peinlich romantischen Verlangens. Es handelte sich um etwas viel Verstörenderes, Unangebrachtes: ein fieberhaftes Bedürfnis, das Wollust weit überstieg und ins beunruhigende Reich des Glaubens gehörte.

Er war klein und kräftig und roch nach Ropotamo-Zigaretten; der nicht zu verwechselnde Geruch war zu ihr geweht, als er die Hand ausstreckte und mit einem kleinen Flattern wieder zurücknahm und vor die Brust legte, so als sei selbst dieser Rückzug noch unklar und könne revidiert werden. Dieselbe Unsicherheit draußen auf der Straße hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt, als er erst von der Bushaltestelle zum Metzger auf der anderen Straßenseite gegangen war, dann zum Zeitungsladen und dann wieder vom Zeitungsladen zur Bushaltestelle, und sie hatte sein Fortkommen beobachtet, während der Kaffee kochte; er hatte immer wieder innegehalten, war zurückgegangen, hatte den Weg fortgesetzt, immer wieder in den Himmel geschaut, dann zu Boden und jedem Vorübergehenden in die Augen, der vielleicht eine Antwort hatte, die er suchte, doch dabei verhielt er sich derart intim, dass sie um ihn herumeilten wie gute weihnachtliche Kirchgänger um einen Landstreicher.

Dann hatte es einen Abschnitt der Erschöpfung oder Erstarrung gegeben; er hatte an einer Wand gelehnt und auf seine Schuhe gestarrt: dunkle, einfache Schuhe, passend zur Zigarette; die Hose war gut, aber keineswegs fein. Ein langer, zugeknöpfter, unauffälliger Regenmantel hing ihm von den hochgezogenen Schultern bis zu den Knien. Ein lächerlicher Lodenhut, wohl aus Österreich, denn er sah teuer aus, vervollständigte das Bild. Ein erschöpfter, trauriger Mann, der auf die sechzig zuging, mit einem zerfurchten Gesicht mit slawischen Zügen und all dem darin eingeschriebenen Schmerz. Susanna dachte an alte Männer in Kaffeehäusern, die noch immer die Belagerung Budas im Jahre 1541 beklagten.

Jetzt verschränkten sich diese schwieligen Finger mit den geschwollenen Knöcheln, ob nun von Arthritis oder vom Boxen, voller Aufregung ineinander.

»Sie sind Ana, Ihre Mutter war Cintia und Ihre Großmutter war Eniko, und in einem anderen Leben war ich Ihr Vater, und Sie sind ein Geschenk Gottes.« Er hatte alles gesagt, sah sie an und wartete auf die passende Antwort. Doch Susanna hatte nicht sofort eine parat.

Sie mochte Ana sein oder auch nicht. Mutter und Großmutter aber, die stimmten nicht. Und sie konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob sie ein Geschenk Gottes war, aber sie hatte große Bedenken, und sie wollte schon »Nein« sagen – doch als sie damit begann, warf der Mann sich zu ihrer größten Verlegenheit in voller Pilgerhaltung auf den Boden und breitete die Arme zum Kreuz aus, so als sei sie eine heilige Reliquie, zu der er Hunderte von Kilometern gepilgert war.

»Miki!«, sagte er abrupt in den abgetretenen, dunkelgrünen Teppich und die Mottenfallen. »Ich bin Miki. Ich bin hier, um auf persönlichen Befehl eines höheren Offiziers im 13. Direktorat des Komitees für Staatssicherheit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Ihren Mr. Bánáti zu töten. Aber ich habe mich anders entschieden. Ich bin Miki, und Gott hat mir gesagt, dass ich nicht länger ein Mörder bin.«

Als Nächstes tat sie etwas vollkommen Verrücktes, wie Toby Esterhase später zu ihr sagte, so als habe sie das nicht schon längst gewusst. In der Rückschau konnte sie nur schlussfolgern, dass dieser Augenblick seit jener Nacht auf sie gewartet hatte, in der sie aus Budapest geflohen war, und sich erst jetzt endlich auf sie gestürzt hatte. Sie hätte selbstverständlich die Polizei rufen können. Wenn das nicht möglich gewesen wäre, hätte sie Miki auffordern können, sich selbst darum zu kümmern und sich erst hinterher wieder bei ihr zu melden. Schließlich handelte es sich bei ihm um einen kompetenten ausländischen Spion, und er kannte zweifellos zahlreiche Methoden, sich selbst zu stellen. Nichts von alledem hätte ihren eigenen persönlichen Einsatz mit all seinen schwerwiegenden Folgen erfordert.

Schließlich sagte sie Miki, er solle bleiben, wo er sei – genauer gesagt, hereinkommen und sich hinsetzen –, und sie teilte ihm mit, dass er sich nützlich machen und etwas vom Stapel lesen könne. Dann schloss sie ihn ein, trat hinaus auf die Straße und ging die Viertelstunde zu Fuß bis zu dem Mietshaus, in dem Mr. Bánáti seine Wohnung hatte. Sie war wütend auf ihn, sich in derartige Gefahr begeben und ihr nicht gesagt zu haben, dass so etwas in der Verlagswelt möglich war. Sie hatte durchaus die Absicht, ihm deswegen die Hölle heiß zu machen, aber erst nachdem sie sich vergewissert hatte, dass er in Sicherheit war. Sie würde nicht akzeptieren – konnte es nicht –, dass er verletzt sein könnte. Aus Gründen, die sie in diesem Augenblick nicht recht ausdrücken konnte, war das eine völlig inakzeptable Vorstellung.

Der Zweitschlüssel zu Mr. Bánátis Wohnung hing am Schlüsselbund zum Büro, und der Hausmeister kannte sie von den gelegentlichen Partys, die für besonders hochrangige Kunden in der Wohnung gegeben wurden. Susanna nahm den Fahrstuhl in den dritten Stock, wo das Licht bereits ausgeschaltet worden war und der Tag langsam über den von Osten nach Westen reichenden Flur sickerte. Sie ging zur Wohnung Nr. 6 und klopfte. Keine Antwort. Sie klopfte noch einmal lauter und fragte sich, ob Bánáti allein war oder seinen Privatangelegenheiten nachging. Sein Gesellschaftskalender war ziemlich voll, und er schien vor allem bei jener Kategorie von englischen Damen über dreißig beliebt zu sein, auf die die Beschreibung »Bohéme« passte.

»Mr. Bánáti«, rief sie. »Tut mir leid, ich bin’s, Susanna. Zsuzsanna Gero aus dem Büro. In dringenden Angelegenheiten. Sie dulden keinen Aufschub, fürchte ich. Hören Sie mich?« Und als niemand antwortete, fügte sie hinzu: »Ich schließe die Tür auf.«

Sie zählte bis fünf, steckte den Schlüssel ins Schloss, zählte wieder bis fünf in der Hoffnung, dass die Tür von innen geöffnet würde, dann drehte sie den Knauf. Die Tür ließ sich leicht öffnen.

Sie rechnete mit allem Möglichen. Bánáti, der in Unterwäsche auf dem Sofa schlief, Socken und Sockenhalter schauen unter der Decke hervor. Bánáti mit einem Loch im Gesicht wie der alte Mann am Straßenrand auf halber Strecke zwischen Csorna und Kapuvár. Erwürgt, erstochen, erhängt, vergiftet, erschlagen: Bánáti als Museum der Möglichkeiten, dabei war ihr klar, dass sie keine Ahnung hatte, für welche Sünde er hätte bestraft werden sollen. Die Verbreitung dekadenter, halb erotischer Literatur. Schlechte Witze auf Partys. Verbrechen gegen die proletarische Würde, vor allem seine eigene. Denn das war er, wie ihr klar wurde: Proletarier. Daran hatte sie keinen Zweifel. László Bánáti stammte nicht von einem der großen Güter. Er kam nicht mal aus der Stadt. Er hatte ihr erzählt, er sei auf dem Land aufgewachsen, was sie ihm abnahm. Ich bin dürr aufgewachsen, hatte er gesagt und sich den Bauch getätschelt. Die Ernte war nie so gut, wie sie hätte sein sollen.

Susanna zog die Schultern ein, machte sich bereit, sich von einer Leiche oder einem unerwartet nackten Chef wegzudrehen, und ging hinein.

Graues Winterlicht fiel durch moderne, nach Süden zeigende Fenster. Weißer Teppichboden, keine Blutflecken. Keine Schlammspuren oder tiefen Abdrücke im hohen Flor. Weißes Ledersofa mit Chromfüßen. Dazu passende Sessel, drei schwarze, zwei weiße. Kein roter Spritzer. Und keine Füße mittleren Alters, keine Damenunterwäsche. Eine lange Bar aus dunklem Holz, um dort zu frühstücken oder Cocktails zu trinken oder beides. Bánáti war ganz stolz auf diese Neuerwerbung. Er mochte es, mit der Zeit zu gehen. Die Gläser gewaschen und weggeräumt. Keine offene Champagnerflasche. Kein Eispickel.

Am Fenster ein sauberer Aschenbecher aus dickem Rauchglas. Ein Silbertablett mit sechs kleinen, sehr fein gearbeiteten, gravierten Schälchen mit Nüssen und Oliven. Magazine, von Hochglanzprodukten bis hin zu grob gedruckten, aber intellektuellen Blättchen. Susanna rief noch einmal, rechnete aber mit keiner Antwort.

Sie spürte eine leichte Bewegung in der Luft und hörte etwas tief und undeutlich, dass es kaum die Beschreibung verdiente, und blieb abrupt stehen.

Warum war sie hier? Um Bánáti zu warnen, natürlich. Aber wenn man Miki ernst nehmen sollte, warum musste Bánáti dann gewarnt werden? Die Gefahrenquelle saß im Augenblick an ihrem Schreibtisch, und war noch ganz gefangen von der wahnhaften religiösen Offenbarung, die ihn gepackt hatte. Es sei denn, dass russische Mörder, wie jene, von denen sie als Kind gehört hatte, nicht allein, sondern in Gruppen unterwegs waren. In diesem Fall konnte sich einer hier aufhalten, vielleicht mehr als einer, und sie war einfach dumm.

Dasselbe Rauschen von nebenan. Sie musste offensichtlich verschwinden. Sie musste hier weg und Hilfe holen. Zuflucht suchen und jemanden finden, der sich mit dem Rest von Mikis Geschichte beschäftigte, der Bánátis Leiche fand oder Bánáti noch lebend.

Stattdessen tat sie einen Schritt nach vorn. Unzweifelhaft: Kalte Luft fuhr ihr über Arme und Nacken. Er hat eine Katze. Er hat einen Hund. Jemand raubt ihn aus. Ich bilde mir das alles nur ein.

Susanna öffnete die Tür zum Schlafzimmer und schrie beinahe laut auf, als sie eine große Gestalt dort stehen sah, die Bánátis Burberry und Hut trug. Sie wich zurück, fiel fast hin, stieß sich den Ellbogen am Türrahmen und jaulte auf, dann erkannte sie, dass der Angreifer ein Garderobenständer war.

Noch immer zitternd betrat sie das Schlafzimmer.

Das Fenster stand fünfzehn Zentimeter weit auf, und die Vorhänge bewegten sich in der Brise. In dem Bett hatte jemand geschlafen und es dann gemacht. Auf halber Strecke fand sich ein rechteckiger Abdruck in der Daunendecke: eine Kiste oder wohl eher ein Koffer.

Sie sah sich um. Bánáti war im Büro nur äußerlich ordentlich. Immer gab es einen Platz – ein Schrank, ein Zimmer, eine Schublade –, an dem sich seine unvollständigen Gedanken und Ideen ansammelten. Vielleicht hatte er gar eine Notiz hinterlassen.

Auf der anderen Seite des Flurs lag ein kleines Arbeitszimmer. Susanna ging hinein, setzte sich an den Schreibtisch und zog alles auf. Dasselbe Durcheinander: Stifte, Schokolade, alte Brille. Eine Seidenkrawatte, die ihm ein Autor zum Geburtstag geschenkt hatte. Ein Stapel unbeschrifteter Postkarten aus Urlaubsorten. Bánáti nahm gern solche Ansichtskarten, wenn er jemandem ein Buch zur Begutachtung schickte, nicht die einfachen weißen Karten. Ein weiterer Abzug des Fotos in einem identischen Rahmen. Noch mehr Stifte.

Und von einem Gummiband zusammengehalten: ein kleines Bündel Briefe auf Französisch, abgestempelt in Wien, adressiert an Mr. László Bánáti, London.

Susanna drückte sie an die Brust und rannte los, als sei der Teufel hinter ihr her.

Eine knappe Stunde später stieg Susanna die glatten Steinstufen eines Eckhauses in West Hampstead hinauf. Miki folgte ihr mit weit aufgerissenen Augen wie ein Tourist, so als stünden die Topffarne im Buckingham Palace. Sie fand, er sei womöglich nicht ganz richtig im Kopf, und auf dem Herweg, erst zu Fuß, dann im Untergeschoss eines ratternden roten Doppeldeckers, László Bánátis Briefe an die Brust gedrückt, hatte sie sich wiederholt gefragt, ob sie nicht kategorisch Nein sagen sollte. Nein zu religiösen Erweckungen und russischen Spionen, Nein zu unwillkommenen Erinnerungen, Nein zu seinem lächerlichen Hut. Aber Miki hatte ein Band zwischen ihnen heraufbeschworen, das sie – so fantastisch und fiebrig es auch sein mochte – ebenfalls spürte. Die Briten sprachen von refugees, Zuflucht war das, was man suchte, das ungarische Wort dafür lautete menekült, jemand, der geflohen war – auf Deutsch war man ein Flüchtling, was dasselbe bedeutete, zusätzlich aber noch die tiefere Bedeutung hatte, Bürger des entflohenen Landes zu sein. Wir sind beide Entlaufene, dachte Susanna und akzeptierte, dass sie in dieser Hinsicht Verpflichtungen hatte.

Bánáti war verschwunden. Er hatte nicht angerufen. Er war am Freitag noch spät im Büro gewesen, was so gar nicht seine Gewohnheit war, hatte einen Koffer gepackt und war verschwunden. Und wenn sie genauer darüber nachdachte, war er in den letzten paar Tagen zerstreut gewesen, so als habe er irgendwie von Mikis Besuch gewusst. Bei ihrer flüchtigen, unangemessenen Durchsicht seiner Korrespondenz hatte sie nichts entdeckt, auch nicht im Papierkorb und in den Schubläden; weniger als nichts, denn auch die schwere Geldkassette – die durch ihre andauernde Verschlossenheit skurril, durch ihr Gewicht aber beruhigend wirkte, so als würde das gesamte Gebilde von Bánáti & Clay fest auf einem Fundament aus Goldbarren ruhen, die in diesem Geheimversteck lagerten – war verschwunden.

Miki hatte ihr Vorgehen mit der Höflichkeit beobachtet, die die Profis für blutige Anfänger übrighaben, welche erste Schritte in dem Beruf unternehmen, und zwar in einem Ausmaß, dass Susanna fast einen Schock bekam bei der plötzlichen schrecklichen Überlegung, ob Miki nicht tatsächlich nach einem Hinweis suchte, um den vermissten Bánáti zu finden, und sich dazu diese geniale Täuschung hatte einfallen lassen. Aber in diesem Fall musste ihm nun klar sein, dass er auf dem Holzweg war, denn es wurde immer deutlicher, dass Susanna nicht die leiseste Ahnung hatte, wohin Bánáti verschwunden sein mochte, wer er eigentlich war und wie man ihn finden konnte; in diesem Fall würde er nun wohl dazu übergehen, die Zeugin seines gescheiterten Plans zum Schweigen zu bringen. Aber er machte keinerlei Anstalten, sondern saß ihr nur kleinlaut auf dem gemusterten, filzbezogenen Sitz gegenüber und wartete auf ihren nächsten Befehl. Sie hatte ihn herbeigezaubert wie Faust: Im Namen Anas, die ich nicht bin, im Namen ihrer Mutter, die sich klugerweise einen anderen Mann genommen hatte, und ihrer Mutter Mutter, die zweifellos ganz eigene Ansichten hatte: Tanz nach meiner Pfeife. Was er tat, und das ergab überhaupt keinen Sinn.

Susanna hatte nicht die Nerven dafür – für dieses Verstecken und vor Schatten zu erschrecken –, nicht mehr und vielleicht auch noch nie gehabt, und wenn sie nun das Richtige tun wollte, dann suchte sie sich jetzt Hilfe. Sie brauchte jemanden, dem sie vertrauen konnte; Bánáti war ja nicht verfügbar. Sie brauchte eine Vertraute.

Und deshalb war sie zu diesem Eckhaus der aus roten Ziegeln errichteten Reihenhaussiedlung in der Broomsleigh Street gekommen, in der Adams’ Secretarial Agency saß, eine Vermittlungsagentur für Sekretärinnen; hier hatte Genevieve Adams, eine kleine, kantige Nonkonformistin, zwei Jahrzehnte lang mit der schlichten und einfachen Klarheit einer Bahnhofsuhr Struktur in das Leben der Mächtigen gebracht. Sie hatte mit derselben Gewissenhaftigkeit die Büros eines Bischofs und eines Industriemagnaten geführt; zwei Richter am Hohen Gerichtshof hatten nicht ohne ihren magischen Terminkalender auskommen können, und einer von ihnen war schließlich zum Lordrichter ernannt worden und hatte sie fünf Jahre lang weiterbeschäftigt, bis ein Sturz vom Pferd während einer Staatsfeierlichkeit seine Karriere bedauerlicherweise beendete. Miss Adams war dann dem Testament zufolge für die Altersversorgung des Pferdes verantwortlich gewesen, bis auch das Tier zu seinem Schöpfer zurückgekehrt war. Nun spezialisierte sie sich darauf, den Nachschub von zuverlässigen Verwaltungssekretärinnen zu sichern, die das ihrer Meinung nach nötige Maß an Standard erreicht hatten, und sie nahm nicht nur britische junge Damen unter Vertrag, die aus Familien weggelaufen waren, die Bildung und Karriere bei jungen Frauen nicht guthießen, sondern auch die neueren Zugänge, denen noch der Staub der Straße an den Schuhen haftete.

Irgendwo entlang der Lebensreise – aus welcher Quelle genau, war unbekannt, doch alles Mögliche war gemutmaßt worden, von der Metropolitan Police bis zu den Hinterzimmern der Theater im West End – hatte sie eine Geschäftspartnerin aufgegabelt, die sich so überaus deutlich von Miss Adams unterschied, wie man es sich nur vorstellen konnte.

Rose Jeremy war untersetzt und kräftig, hatte große Hände und einen dichten Schopf aus lockigen braunen Haaren, die erst in letzter Zeit grau wurden, und wenn sie irgendeiner religiösen Vorstellung nachhing, dann nur ihrer ureigensten. Sie trauerte um jemanden, und das regelmäßig, dann saß sie allein und schaute aus dem Vorderfenster, doch wurde nie darüber gesprochen, was sie dort sah oder vermisste. Wie bei allem in ihrem Leben war auch ihre Trauer unverblümt und unverhohlen. Zu Mrs. Jeremy ging man mit all den Problemen, die für Miss Adams zu peinlich menschlich waren. Sie hütete Geheimnisse, pflegte Herzen gesund und warf unliebsame Liebhaber hinaus, wenn es die Situation erforderte. Susanna hatte sie dabei beobachtet, wie sie erst höflich und dann mit Nachdruck vorging. Sie hatte den jungen Mann am Kragen gepackt und hinausgeworfen, und dabei hatte er vom Wohnzimmer bis zur Straße kaum den Boden berührt. Gerüchte besagten, dass Mrs. Jeremy in den Pubs regelmäßig Armdrückwettbewerbe gewann, dass sie im Krieg gedient hatte und ausgezeichnet worden war und dass früher mal Jeremy womöglich ihr Vorname gewesen war. Ob irgendetwas davon stimmte, tat nichts zur Sache. Miss Adams sorgte dafür, dass man eine Anstellung fand, und es gab keinen Papierkram, keine heiklen Fragen zu Vorschriften und Etikette, die sie nicht rechtzeitig entwirren konnte, ganz gleich, wie komplex sie auch waren. Mrs. Jeremy aber konnte einem Fragen beantworten, die man nicht zu stellen wusste, und bei allem, was sie überblicken konnte, bekam das Böse kein Bein auf die Erde.

Susanna, die hier ihren Abschluss gemacht und auch gewohnt hatte – die Agentur bot auf der mittleren Etage Unterkunft für Unverheiratete –, war stets willkommen und hatte einen Hausschlüssel, aber es galt die Regel, dass jede Person, die einen Gast mitbrachte, klingelte. Männlichen Gästen war der Zutritt rein theoretisch unter allen Umständen verboten, doch galt dieses Diktum konkret nur für Männer, die als Gäste nicht gewünscht waren. In Susannas Vorstellung war Miki nicht so sehr Gast als vielmehr ein falsch geliefertes Päckchen oder ein besonders erschreckendes Haustier, auf das zu achten sie jemand gebeten hatte, doch wie auch immer, es musste geklingelt werden. Also klingelte sie, und einen Augenblick später öffnete Mrs. Jeremy, deren Lächeln nicht wankte, während sie den Mann betrachtete, einen Blick auf seine dunklen Schuhe und das zerfurchte Gesicht warf, auf etwas Unbestimmtes unter seiner linken Achselhöhle und etwas anderes unter dem Knie schaute und schließlich bei seinen knotigen Händen landete.

»Ja, bitte?«, fragte Mrs. Jeremy.

»Er gehört zu mir«, sagte Susanna. »Er ist harmlos«, was auf den ersten Blick absurd klang, doch Susanna hielt das im unmittelbaren Kontext für wahr.

»Ich bin Miki«, sagte der Mann, und Susanna legte ihm eine Hand auf die Schulter, bevor er hinzufügen konnte, er sei ein professioneller Mörder, der eine neue Stelle suche und Susanna für ein Zeichen Gottes hielte.

Mrs. Jeremys braune Augen waren auf Miki und Susanna gerichtet, vermaßen den Abstand zwischen den beiden und suchten dann Susannas Gesicht nach Vorbehalten oder heimlicher Bestürzung ab. Schließlich seufzte sie.

»Obdachlose und Streuner, richtig?«

»Ja«, gestand Susanna und war froh, dass jemand das laut ausgesprochen hatte. »Obdachlose und Streuner.«

Im Westteil des Circus-Hauptgebäudes lag die Telefonzentrale, die von sechs Uhr früh bis Mitternacht von der Haushaltung betrieben wurde und danach in den Geltungsbereich des Diensthabenden überging. Mit Ausnahme der Direktverbindung zu Controls Schreibtisch, die mit dem Ministerium verbunden war und in Kriegszeiten zur Downing Street führte, gingen alle einkommenden und ausgehenden Telefonate durch diesen Raum. In Krisenzeiten – von denen das jüngste Jahrzehnt mehr hervorgebracht hatte, als wünschenswert gewesen wäre, von Suez bis Kuba und alle anderen dazwischen – bedienten bis zu einem Dutzend Telefonistinnen die Zentrale. Üblicherweise waren sie zu viert.

Fünf Minuten nach eins, so das Protokollbuch, nahm Lily Rippon den Anruf bei einer der Nummern entgegen, die das Postamt freundlicherweise dem Circus vorbehalten hatte, diese aber intern unter erfundenen Firmen im Norden führte.

»Anderson Ltd.?«

»Ich möchte bitte mit Mrs. Kemp sprechen«, sagte eine Frau. »Es geht um einen Freund.«

»Ich stelle Sie durch«, sagte Lily, »geben Sie mir bitte nur Ihre Nummer, falls wir getrennt werden.« Sie schrieb die Nummer auf, bei der es sich um die Kennung handelte, wenn die Anruferin sich ans Drehbuch hielt, und die zu einem Eintrag im Register mit dem richtigen Namen und der Anschrift führte. Dann schaltete sie ihr Mikrofon aus und belegte eine Hausleitung. Kemp: Sektionsleiter. Freund: mögliches russisches Engagement. »Mrs. McCraig?«, fragte sie. »Für Sie. Die Chorus Line.«

Die Abteilung Haushaltung besetzte innerhalb des Circus eine ungewöhnliche Position. Sie war im Prinzip für keinerlei Informationserfassung verantwortlich, stand aber nominell auf derselben Ebene wie die Abteilung Bankwesen, in der Agenten, die für den Außeneinsatz nicht länger tauglich waren, aber keinerlei Erfahrungen mit deren Planung oder Beaufsichtigung hatten, zwischengeparkt wurden, bis sie ins Pensionsalter kamen. Die Haushaltung war vorwiegend mit Frauen besetzt, die während des Krieges eine Uniform getragen und sie seitdem innerlich nie wieder abgelegt hatten, oder mit ihren Töchtern, und sie kümmerte sich um jene Tätigkeiten, die die Heißblütigeren in der Circus-Hierarchie gern übersahen. So war die Haushaltung dafür verantwortlich, im Inland Anwesen zu erkennen, zu erwerben und umzubauen, die als konspirative Wohnungen genutzt werden konnten. Es war die Haushaltung, die Flugtickets beschaffte, den Wagenpark beaufsichtigte, für detailliertes Kartenmaterial sorgte und das völlig absurde Warenlager in Eltham unterhielt, in dem sich unter anderem sämtliche Telefonbücher aller europäischen Staaten befanden; und es war die Haushaltung, die zuallererst das Büropersonal für den Circus und die Botschaften einstellte und gründlich durchleuchtete und dieses Personal im weiteren Verlauf im Auge behielt für den Fall, dass sie zu den Bösen überliefen – oder, hoffnungsvoller formuliert, für den Fall, dass ihnen im Verlauf ihrer Beschäftigung jemals etwas unterkam, das, wie diffus auch immer, nach fremdländischer Spionage roch.

In der Praxis hielt der Leiter der Haushaltung also nicht nur die Lichter im Circus am Brennen und wehrte die Knickrigkeit des Schatzamtes ab, sondern stand einem der größten passiven Sicherheitsnetze der Welt vor. Die Chorus Line beabsichtigte nicht, im Rampenlicht zu stehen, doch von Zeit zu Zeit sorgte sie für den entscheidenden Anfang oder das Ende einer Show.

»Verbinden Sie mich«, sagte Millie McCraig. »Aber bleiben Sie in der Leitung und schreiben Sie mit.«

Kurze Zeit später verließ sie ihr Büro und marschierte mit einem Teetablett aus der Küche nach oben. Zehn Minuten danach kehrte sie zurück und erteilte eine Reihe von Befehlen. Als Erstes sollte Lily die Mitschrift bis auf Weiteres falsch ablegen und dann den Rest des Tages freinehmen. Dieser Befehl, gab McCraig Lily zu verstehen, kam direkt von Control. Zweitens wollte sie eine verfügbare konspirative Wohnung im Großraum London für eine Person plus Babysitter hergerichtet haben. Dann kehrte sie in ihr Büro zurück, rief Oliver Mendel von Scotland Yard, Special Branch, an und bat ihn höflich, unverzüglich in die Broomsleigh Street zu fahren.

»Wie schnell?«, fragte Mendel.

Im Idealfall vor einer Stunde, meinte Millie McCraig zu ihm, aber jetzt sofort wäre auch in Ordnung.

»Also gut«, hatte Control in seinem kargen Büro im fünften Stock gesagt. Das Jahr war noch nicht weit genug fortgeschritten, um den Raum zu heiß werden zu lassen, also war es dort bitterkalt, und Control trug eine dünne Wolljacke, die seine dürren Rippen nicht verbergen konnte. Als er sich umdrehte, spiegelte sich das Licht seiner Schreibtischlampe in der Brille, und all seine Gesichtszüge verschwanden beinah. »Ich will ihn haben. Aber ich will ihn für mich selbst, verstanden? Für niemanden sonst. Was den restlichen Circus angeht, ist er vollkommen drittklassig. Und vielleicht stellt sich das ja als Wahrheit heraus. Zum allgemeinen Verzehr: Ein verbündeter Dienst hat ihn verbrannt, und er ist zu plattfüßig, um wieder zurückzukehren. Vielleicht waren sie auch ein wenig zu lautstark, und er hat Angst. Er ist von mäßiger Qualität und den Zeitaufwand nicht wert; wir werden ihn auswringen und ihm dann einen zivilen Job besorgen. Codename … irgendwas von Gilbert und Sullivan. Frederick. Marmaduke. Stanley. Lassen Sie den Papierkram so aussehen, als hätten Sie Besseres zu tun. Überstellen Sie ihn als ganz normalen Fall nach Sarratt, aber schicken Sie ihn erst dorthin, wenn ich mit ihm fertig bin.«

Millie McCraig nickte. »Er braucht einen Babysitter.«

»Tom Lake aus der Reiseabteilung. Holen Sie ihn aus Brixton zurück und sagen Sie ihm, dass ich es befohlen habe. Und geben Sie ihm zu verstehen, dass es sich um eine Strafaktion handelt. Er hat mich mit seinem barbarischen Atheismus beleidigt. Er ist doch Atheist?«

»Das weiß ich nicht. Womöglich.«

»Na, und wenn nicht, dann lehne ich seine wehleidige Frömmigkeit ab. Wollen Sie sich das nicht aufschreiben?«

»Nicht nötig, danke.«

»Und noch etwas: Ich will Smiley.«

»Ich hole Ihnen Sam Collins.«

»Ich will Mozart, und Sie bieten mir Clementi. Nein, Millie, nicht Collins. Nicht Collins, nicht Haydon, nicht Esterhase und auch nicht diesen Dummkopf Alleline. Erst recht nicht Bobby Maston oder den Wirt vom Dog und Duck. George Smiley.« Er wedelte gereizt mit einer fast durchscheinenden Hand, so als sei er ihrer Aufmüpfigkeit überdrüssig. »Smiley. Sorgen Sie dafür.«

»Aber Ihnen ist schon klar, dass Sie ihn nicht einfach zurückbeordern können?«

»Ich beordere ihn nicht zurück. Ich befehle Ihnen, ihn zurückzuholen.« Sein boshafter, wissender Blick hinter der Brille stach ihr direkt in die Augen.

»Er wird nicht einfach sein Leben umkrempeln, nur weil ich ihn darum bitte.«

Nur zu wahr. Eines dunklen Herbstmorgens, nach all den schrecklichen Dingen, hatte sie aus dem Stand heraus, und ganz gegen ihre simplen religiösen Vorstellungen, vorgeschlagen, sie beide könnten doch einfach einpacken und gemeinsam für immer durchbrennen. Nach Neuseeland, hatte sie vorgeschlagen, ihre Schwester habe dort eine Farm. Smiley war sehr höflich gewesen.

»Allerdings. Aber ich schätze, Sie können ihn mir ein, zwei Wochen überlassen. Vielleicht nur achtundvierzig Stunden. Oder?«

Sie wusste, sie sollte das ablehnen und George ziehen lassen.

»Ja«, sagte sie.

Der Circus erlebte, nach allem, was geschehen war, eine kleine Blütezeit. Controls Vorliebe für geduldige Informationsbeschaffung im Gegensatz zum interventionistischen amerikanischen Stil wirkte im Schein von Chruschtschow und Kennedy nur umso klüger, und wenn gewisse Personen – womit er Bill Haydon meinte – mehr Action wollten, dann sollten sie nach Wegen suchen, ohne dabei die Welt aus den Angeln zu heben.

Haydon hatte das Büro in Kairo an Percy Alleline übergeben, und niemand wusste, wohin es ihn jetzt zog. Venezuela, erklärte Roddy Martindale, schmuggelt Schnaps nach Kuba und knüpft Netzwerke von Caracas bis Recife. Unsinn, entgegnete Brookes: Addis Abeba, mit Sicherheit, die Sowjets nahmen sich Afrika vor. Wenn man Haydon danach fragte, antwortete er, beides sei ihm recht, solange es Leinwand, Frauen und Wein gäbe, woraus die klügeren Beobachter schlossen, dass es sich um keinen der beiden Orte handelte.

Aber was ist mit Smiley, fragten sie stattdessen, kriegt er den Job? Noch nicht, erst wenn, wer sonst, und warum auch nicht? Dazu noch ein Dutzend weiterer Fragen und Spekulationen, die durch die Gerüchteküche von St James’s waberten, zwischen Fisch und Brandy, ohne irgendein Licht auf irgendetwas zu werfen.