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SO GUT WIE VORÜBER (DAS AU-PAIR—BUCH #1) ist der Debütroman einer neuen Psychothriller-Reihe von der Erstlingsautorin Ophelia Night. Der erste Au-Pair-Job der 23-jährigen Cassandra Vale verschlägt sie auf den Gutshof einer wohlhabenden Familie außerhalb von Paris. Zuerst scheint alles zu gut, um wahr zu sein. Doch schon bald entdeckt sie hinter den goldenen Toren eine funktionsgestörte Familie, eine verdorbene Ehe, problembeladene Kinder – und Geheimisse, die zu dunkel sind, um enthüllt zu werden. Cassandra ist davon überzeugt, ein neues Leben beginnen zu können, als sie den Job als Au-Pair-Mädchen in der idyllischen Provinz Frankreichs annimmt. Der Landsitz der Dubois liegt gerade außerhalb von Paris und ist ein großartiges Relikt der Vergangenheit, das von einer Bilderbuchfamilie bewohnt wird. Genau das hat Cassandra gebraucht! Doch dann stößt sie auf deren dunkle Geheimnisse und erfährt, dass nicht alles so glamourös ist, wie es scheint. Hinter all dem Reichtum befindet sich ein dunkles Netz der Tücke und der List. Ein Netz, das Cassandra nur allzu bekannt vorkommt und Erinnerungen an eine Vergangenheit voller Qual und Gewalt in ihr auslöst. Eine Vergangenheit, die sie verzweifelt hinter sich zu lassen versucht. Als ein grässlicher Mord das Haus auseinandernimmt, droht auch ihre labile Psyche zu zerbrechen. Eine fesselnde Mystery-Geschichte mit komplexen Figuren, verdeckten Geheimnissen, dramatischen Wendungen und einer unglaublichen Spannung: SO GUT WIE VORÜBER ist das erste Buch der spannungsgeladenen Psycho-Thriller-Serie, die man gar nicht aus der Hand legen möchte. Buch #2--SO GUT WIE VERLOREN – kann nun vorbestellt werden!
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SO GUT WIE VORÜBER
(DAS AU-PAIR — BUCH EINS)
B L A K E P I E R C E
Blake Pierce
Blake Pierce ist der Autor der meistverkauften RILEY PAGE Krimi-Serie, die 13 Bücher umfasst (und weitere in Arbeit). Blake Pierce ist ebenfalls der Autor der MACKENZIE WHITE Krimi-Serie, die neun Bücher umfasst (und weitere in Arbeit); der AVERY BLACK Mystery-Serie, bestehend aus sechs Büchern; der KERI LOCKE Mystery-Serie, bestehend aus fünf Büchern; der Serie DAS MAKING OF RILEY PAIGE, bestehend aus drei Büchern (und weitere in Arbeit); der KATE WISE Mystery-Serie, bestehend aus zwei Büchern (und weitere in Arbeit); der spannenden CHLOE FINE Psycho-Thriller-Serie, bestehend aus drei Büchern (und weitere in Arbeit); und der spannenden JESSE HUNT Psycho-Thriller-Serie, bestehend aus drei Büchern (und weitere in Arbeit).
Als begeisterter Leser und lebenslanger Fan der Mystery- und Thriller-Genres liebt Blake es, von seinen Lesern zu hören. Bitte besuchen Sie www.blakepierceauthor.com, um mehr zu erfahren und in Kontakt zu bleiben.
Copyright © 2019 durch Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Außer wie im US-amerikanischen Urheberrechtsgesetz von 1976 erlaubt, darf kein Teil dieser Veröffentlichung in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen werden oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem ohne die vorherige Genehmigung des Autors gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Genuss lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch für eine andere Person freigeben möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen und es nicht gekauft haben oder es nicht für Ihre Verwendung erworben wurde, geben Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Danke, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dieses Buch ist reine Fiktion. Namen, Charaktere, Geschäfte, Organisationen, Orte, Ereignisse und Ereignisse sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen lebenden oder toten Personen ist völlig zufällig.
BÜCHER VON BLAKE PIERCE
DAS AU-PAIR
SO GUT WIE VORÜBER (BAND #1)
SO GUT WIE VERLOREN (BAND #2)
SO GUT WIE TOT (BAND #3)
JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE
DIE PERFEKTE FRAU (BAND #1)
DER PERFEKTE BLOCK (BAND #2)
DAS PERFEKTE HAUS (BAND #3)
DAS PERFEKTE LÄCHELN (BAND #4)
DIE PERFEKTE LÜGE (BAND #5)
CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE
NEBENAN (BAND #1)
DIE LÜGE EINES NACHBARN (BAND #2)
SACKGASSE (BAND #3)
STUMMER NACHBAR (BAND #4)
KATE WISE MYSTERY-SERIE
WENN SIE WÜSSTE (BAND #1)
WENN SIE SÄHE (BAND #2)
WENN SIE RENNEN WÜRDE (BAND #3)
WENN SIE SICH VERSTECKEN WÜRDE (BAND #4)
WENN SIE FLIEHEN WÜRDE (BAND #5)
WENN SIE SICH FÜRCHTEN WÜRDE (BAND #6)
DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE
BEOBACHTET (BAND #1)
WARTET (BAND #2)
LOCKT (BAND #3)
NIMMT (BAND #4)
LAUERT (BAND #5)
RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE
VERSCHWUNDEN (BAND #1)
GEFESSELT (BAND #2)
ERSEHNT (BAND #3)
GEKÖDERT (BAND #4)
GEJAGT (BAND #5)
VERZEHRT (BAND #6)
VERLASSEN (BAND #7)
ERKALTET (BAND #8)
VERFOLGT (BAND #9)
VERLOREN (BAND #10)
BEGRABEN (BAND #11)
ÜBERFAHREN (BAND #12)
GEFANGEN (BAND #13)
RUHEND (BAND #14)
GEMIEDEN (BAND #15)
VERMISST (BAND #16)
EINE RILEY PAIGE KURZGESCHICHTE
EINST GELÖST
MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE
BEVOR ER TÖTET (BAND #1)
BEVOR ER SIEHT (BAND #2)
BEVOR ER BEGEHRT (BAND #3)
BEVOR ER NIMMT (BAND #4)
BEVOR ER BRAUCHT (BAND #5)
EHE ER FÜHLT (BAND #6)
EHE ER SÜNDIGT (BAND #7)
BEVOR ER JAGT (BAND #8)
VORHER PLÜNDERT ER (BAND #9)
VORHER SEHNT ER SICH (BAND #10)
VORHER VERFÄLLT ER (BAND #11)
VORHER NEIDET ER (BAND #12)
AVERY BLACK MYSTERY-SERIE
DAS MOTIV (BAND #1)
LAUF (BAND #2)
VERBORGEN (BAND #3)
GRÜNDE DER ANGST (BAND #4)
RETTE MICH (BAND #5)
ANGST (BAND #6)
KERI LOCKE MYSTERY-SERIE
EINE SPUR VON TOD (BAND #1)
EINE SPUR VON MORD (BAND #2)
EINE SPUR VON SCHWÄCHE (BAND #3)
INHALTSVERZEICHNIS
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
KAPITEL EINUNDZWANZIG
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
KAPITEL DREISSIG
KAPITEL EINUNDREISSIG
KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG
KAPITEL DREIUNDDREISSIG
KAPITEL VIERUNDDREISSIG
KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG
Die dreiundzwanzigjährige Cassie Vale saß auf einem der beiden Plastikstühle im Wartebereich der Au-Pair-Agentur und starrte auf die Poster und Landkarten an der gegenüberliegenden Wand. Über dem kitschigen Maureens Europa Au-Pairs Logo hing ein Bild des Eifelturms und eines vom Brandenburger Tor. Daneben ein Café in einem gepflasterten Hinterhof und ein malerisches Dorf mit Blick auf das azurblaue Meer. Szenen zum Träumen; Orte, nach denen sie sich sehnte.
Das Agenturbüro war eng und erdrückend. Die Klimaanlage klapperte nutzlos vor sich hin und aus der Lüftung kam definitiv keine frische Luft. Cassie hob die Hand und wischte sich diskret einen Schweißtropfen von der Wange. Sie wusste nicht, wie lange sie es noch aushalten konnte.
Plötzlich öffnete sich die Tür und sie fuhr zusammen. Ihre Hand griff bereits nach den Unterlagen, die sie auf dem anderen Stuhl platziert hatte. Enttäuscht musste sie feststellen, dass es lediglich eine weitere Bewerberin war, die das Zimmer verließ. Dieses Mal handelte es sich um eine große, schlanke Blondine, die all die Zuversicht ausstrahlte, von der Cassie nur träumen konnte. Sie lächelte zufrieden und hielt ein Bündel offiziell aussehender Dokumente in der Hand. Cassie schenkte sie kaum Aufmerksamkeit, als sie an ihr vorbeiging.
Cassies Magen zog sich zusammen. Sie betrachtete ihre eigenen Unterlagen und fragte sich, ob auch sie erfolgreich sein oder das Büro enttäuscht und beschämt verlassen würde. Sie wusste, dass ihre Erfahrung jämmerlich und unzureichend war – schließlich hatte sie keine wirklichen Qualifikationen in der Kindesbetreuung vorzuweisen. In der Woche zuvor hatte sie sich bei einer Kreuzfahrtagentur vorgestellt und war abgelehnt worden. Ohne Erfahrung könnten sie sie nicht einmal in ihr Register aufnehmen. Wenn hier dieselben Richtlinien galten, hatte sie keine Chance.
„Cassandra Vale? Mein Name ist Maureen. Bitte kommen Sie herein.“
Cassie sah auf. Eine grauhaarige Frau in dunklem Anzug wartete im Türrahmen auf sie; es handelte sich offensichtlich um die Besitzerin der Agentur.
Cassie stand hastig auf und ihre sorgfältig geordneten Papiere verteilten sich auf dem Boden. Mit heißem Gesicht suchte sie sie zusammen und eilte dann in das Gesprächszimmer.
Während Maureen mit runzelnder Stirn durch ihre Unterlagen blätterte, begann Cassie, mit den Fingernägeln an ihrer Nagelhaut zu zupfen. Schließlich verschränkte sie die Finger – die einzige Möglichkeit, die nervöse Angewohnheit zu stoppen.
Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen und versuchte, sich davon zu überzeugen, dass die Frau nicht ihre einzige Möglichkeit war, von hier zu verschwinden. Es würden sich auch andere Wege finden, um zu entkommen und von vorne anzufangen. Doch im Moment hatte sie das Gefühl, ihrer einzigen Hoffnung gegenüber zu sitzen. Die Kreuzfahrtagentur hatte sie rigoros abgelehnt. Ihre andere Idee, Englischunterricht zu geben, war ohne die richtigen Qualifikationen unmöglich; diese zu erhalten zu teuer. Sie würde ein weiteres Jahr sparen müssen, um überhaupt damit anfangen zu können. Doch genau das fehlte ihr gerade: Zeit. In der letzten Woche war ihr dieser Luxus genommen worden.
„Also, Cassandra. Sie sind in Millville, New Jersey aufgewachsen? Lebt Ihre Familie noch hier?“, fragte Maureen schließlich.
„Bitte nennen Sie mich Cassie“, antwortete sie. „Und nein, meine Familie ist weggezogen.“ Cassie drückte ihre Hände nun fester aneinander und machte sich Sorgen um die Richtung, die das Interview zu nehmen schien. Sie hatte nicht damit gerechnet, ausführlich zu ihrer Familie befragt zu werden, aber ihr wurde nun klar, dass natürlich der Background der Bewerber durchleuchtet werden musste. Schließlich würden die Au-Pairs in dem Zuhause ihrer Arbeitgeber leben und arbeiten. Sie musste sich schnell etwas überlegen, denn obwohl sie nicht lügen wollte, fürchtete sie doch, dass die Wahrheit ihrer Bewerbung schaden könnte.
„Und Ihre ältere Schwester? Sie schreiben hier, dass sie im Ausland arbeitet?“
Zu Cassies Erleichterung war Maureen zum nächsten Punkt übergegangen. Hierfür hatte sie sich eine Antwort zurechtgelegt, die ihre eigene Sache fördern würde, aber keine Details preisgab, deren Aufrichtigkeit bestätigt werden konnte.
„Die Reisen meiner Schwester haben mich auf jeden Fall dazu inspiriert, selbst im Ausland zu arbeiten. Ich wollte schon immer in einem anderen Land leben und liebe Europa. Besonders Frankreich, wo ich mit der Sprache doch recht vertraut bin.“
„Sie haben Französisch studiert?“
„Ja, zwei Jahre lang, aber ich habe auch davor schon ein enges Verhältnis zu der Sprache gehabt. Meine Mutter ist in Frankreich aufgewachsen und arbeitete hin und wieder als freiberufliche Übersetzerin, als ich noch klein war. Meine Schwester und ich sind also mit einem guten Verständnis der französischen Sprache großgeworden.“
Maureen stellte ihr nun eine Frage auf Französisch: „Was erhoffen Sie sich von einer Position als Au-Pair?“
Cassie freute sich, in fließendem Französisch antworten zu können. „Mehr über das Leben in einem anderen Land zu lernen und meine Sprachfertigkeiten zu verbessern.“
Sie hatte gehofft, Maureen mit ihrer Antwort zu beeindrucken, doch die blieb ernst, während sie die Unterlagen weiter durchging.
„Leben Sie noch zu Hause, Cassie?“
Und wieder zurück zum Familienleben … hatte Maureen den Verdacht, dass sie ihr etwas verheimlichte? Sie musste sich ihre Antworten gut überlegen. Mit sechzehn von zu Hause auszuziehen, wie sie es getan hatte, würde bei der Agenturleiterin Fragen aufwerfen. Warum so früh? Gab es Probleme? Nein, sie musste ihr ein hübscheres Bild malen. Eines, das auf ein normales und glückliches Familienleben hindeutete.
„Ich lebe alleine, seitdem ich zwanzig bin“, sagte sie und fühlte, wie ihr Gesicht vor Scham rot wurde.
„Und Sie arbeiten Teilzeit? Wie ich sehe, haben Sie ein Zeugnis von Primi. Ist das ein Restaurant?“
„Ja, ich habe die vergangenen zwei Jahre dort gekellnert.“ Das war glücklicherweise wahr. Zuvor hatte sie verschiedene andere Tätigkeiten ausgeführt und sogar kurz in einer Spelunke gearbeitet, als sie Probleme hatte, WG-Zimmer plus Fernstudium zu bezahlen. Primi, ihr letzter Job, hatte ihr am meisten Spaß gemacht. Das Restaurant-Team war wie die Familie gewesen, die sie nie hatte. Aber sie hatte dort keine Zukunft. Ihr Gehalt war niedrig und das Trinkgeld nicht viel besser. Die Geschäfte in dem Teil der Stadt waren hart. Sie hatte sich darauf vorbereitet, nach etwas anderem Ausschau zu halten, wenn der richtige Moment gekommen war, doch die Umstände hatten sich zum Negativen verändert und nun war es auf einmal dringend.
„Erfahrung in der Kinderbetreuung?“, fragte Maureen und betrachtete Cassie über ihre Brillenränder hinweg. Cassies Bauch zog sich zusammen.
„Ich – ich habe drei Monate lang in einer Kindertagesstätte ausgeholfen, bevor ich bei Primi eingestiegen bin. Das Zeugnis ist im Ordner. Ich habe ein Grundlagentraining in Sicherheit und Erster Hilfe absolviert und auch mein Background wurde überprüft“, stammelte sie und hoffte, dass es ausreichte. Es war nur eine temporäre Anstellung gewesen, als sie für eine Frau im Mutterschutz kurzzeitig die Vertretung übernommen hatte. Sie hätte nie gedacht, dass daraus ein Sprungbrett in ihre Zukunft werden könnte.
„Ich habe auch Kinderpartys im Restaurant geleitet. Ich bin ein sehr freundlicher Mensch. Ich meine, ich komme gut mit anderen klar und bin geduldig …“
Maureens Mund wurde schmal. „Wie schade, dass Ihre Erfahrung nicht frischer ist. Außerdem haben Sie keine offizielle Bescheinigung einer Ausbildung in der Kinderbetreuung. Die meisten Familien verlangen Qualifikationen oder zumindest etwas mehr Erfahrung in dem Bereich. Es wird schwer werden, Sie mit diesen Voraussetzungen in einer Familie zu platzieren.“
Cassie sah sie verzweifelt an. Es musste einfach klappen. Ihre Aussichten waren glasklar. Entweder schaffte sie es, von hier zu entkommen … oder sie würde sich in einem Kreislauf der Gewalt verfangen, dem sie mit ihrem Auszug damals schon hatte entkommen wollen.
Die blauen Flecken auf ihrem Oberarm waren innerhalb der letzten Tage aufgeblüht und zeigten nun klar definiert die Knöchelabdrücke, wo er sie geschlagen hatte. Ihr Freund, Zane, der ihr bei ihrem zweiten Date gesagt hatte, dass er sie liebte und dass er sie immer beschützen würde.
Als die hässlichen Flecken erschienen waren, hatte sie sich mit einer Gänsehaut auf dem Rücken daran erinnert, vor zehn Jahren fast identische Blutergüsse gehabt zu haben. Zuerst an ihrem Arm. Dann ihrem Hals und schließlich in ihrem Gesicht. Ebenfalls von einem angeblichen Beschützer zugefügt – ihrem Vater.
Er hatte begonnen, sie zu schlagen, als sie zwölf Jahre alt war, nachdem Jacqui, ihre ältere Schwester, von zu Hause weggerannt war. Zuvor war Jacqui die Zielscheibe seiner Wut gewesen. Ihre Anwesenheit hatte Cassie vor dem Schlimmsten bewahrt.
Zanes Hämatome waren noch immer da; es würde eine Weile dauern, bis auch diese verblassten. Sie trug ein langärmeliges T-Shirt, um sie bei dem Gespräch zu verstecken und schwitzte in dem stickigen Büro.
„Gibt es andere Stellen, wo ich mich bewerben kann?“, fragte sie Maureen. „Ich weiß, dass dies die beste Agentur im Ort ist, aber vielleicht sind Sie ja in der Lage, eine Webseite zu empfehlen?“
„Nein“, sagte Maureen bestimmt. „Zu viele Kandidaten haben damit schlechte Erfahrungen gemacht. Manche endeten in Familien, wo ihre Arbeitsstunden nicht eingehalten wurden. Von anderen wurde erwartet, neben der Kinderbetreuung auch niedere Putzaufgaben zu erfüllen. Das ist keinem gegenüber fair. Ich habe auch von anderen Belästigungen Au-Pairs gegenüber gehört. Also, nein.“
„Bitte – gibt es denn in Ihren Unterlagen irgendjemanden, der mich in Betracht ziehen könnte? Ich bin fleißig, lerne schnell und kann mich gut anpassen. Bitte geben Sie mir eine Chance.“
Maureen schwieg für einen Moment, dann klopfte sie stirnrunzelnd gegen ihre Tastatur.
„Ihre Familie, was hält sie davon, Sie für ein Jahr an das Reisen zu verlieren? Haben Sie einen Freund, jemanden, den Sie zurücklassen müssten?“
„Ich habe kürzlich mit meinem Freund Schluss gemacht. Und ich war schon immer sehr unabhängig, meine Familie weiß das.“
Zane hatte geweint und sich entschuldigt, nachdem er sie am Arm getroffen hatte. Aber sie hatte nicht nachgegeben und stattdessen an die Warnung ihrer Schwester gedacht, die sie ihr vor langer Zeit mit auf den Weg gegeben und die sich seither stets als richtig erwiesen hatte: „Kein Mann schlägt eine Frau nur einmal.“
Sie hatte ihre Taschen gepackt und war bei einer Freundin eingezogen. Um ihm aus dem Weg zu gehen, hatte sie seine Anrufe blockiert und ihre Schicht im Restaurant geändert. Sie hatte gehofft, dass er ihre Entscheidung akzeptieren und sie alleine lassen würde. Doch tief drinnen war ihr klar gewesen, dass dem nicht so sein würde. Schluss zu machen hätte seine Idee sein sollen, nicht ihre. Sein Ego konnte mit der Zurückweisung nicht umgehen.
Er hatte bereits im Restaurant nach ihr gesucht. Der Manager hatte ihm erzählt, sie habe sich zwei Wochen Urlaub genommen, um nach Florida zu gehen. Dadurch hatte sie etwas Zeit gewonnen. Aber sie wusste, dass er die Tage zählte. Noch eine Woche, dann begänne seine Jagd aufs Neue.
Die USA fühlte sich plötzlich zu klein an, um ihm zu entkommen. Sie brauchte einen Ozean - einen großen - zwischen ihnen. Denn am schlimmsten war ihre Angst, schwach zu werden, ihm zu verzeihen und eine zweite Chance zu geben.
Maureen beendete die Durchsicht der Unterlagen und stellte Cassie dann einige Standardfragen, die leichter zu beantworten waren. Ihre Hobbies, regelmäßige Medikamenteneinnahme, ernährungsspezifische Einschränkungen oder Allergien.
„Ich habe keine Einschränkungen oder Allergien. Und keine gesundheitlichen Probleme.“
Cassie hoffte, dass ihre Tabletten für Angstzustände nicht dazu zählten. Es war vermutlich besser, diese nicht zu erwähnen. Sie war sich sicher, damit ein großes Fragezeichen hervorzurufen.
Maureen kritzelte eine Notiz in den Ordner.
„Was würden Sie tun, wenn die Kinder in Ihrer Obhut unfolgsam oder frech sind? Wie würden Sie die Situation klären?“
Cassie atmete tief durch.
„Nun, ich denke nicht, dass es eine Einheitsantwort auf diese Frage gibt. Wenn ein Kind unfolgsam ist, während es auf eine gefährliche Straße zurennt, ist ein anderer Ansatz angebracht, als wenn es um das Essen von Gemüse geht. Im ersten Beispiel würde ich das Kind so schnell wie möglich außer Gefahr bringen. Im zweiten würde ich argumentieren und verhandeln – warum magst du kein Gemüse? Liegt es am Aussehen oder am Geschmack? Möchtest du einen Bissen versuchen? Schließlich machen wir alle verschiedene Phasen beim Essen durch und wachsen früher oder später daraus hinaus.“
Maureen schien mit der Antwort zufrieden zu sein, doch die nächsten Fragen waren komplizierter.
„Was würden Sie tun, wenn die Kinder Sie anlügen? Wenn Sie Ihnen zum Beispiel erzählen, dass sie die Erlaubnis haben, etwas zu tun, obwohl die Eltern es ihnen verboten haben?“
„Ich würde ihnen sagen, dass es nicht erlaubt ist und gleichzeitig auch den Grund nennen, woher ich das weiß. Ich würde vorschlagen, gemeinsam mit den Eltern zu sprechen und die Regel innerhalb der Familie zu diskutieren, um den Kindern klar zu machen, warum es wichtig ist, sich daran zu halten.“ Cassie hatte das Gefühl, einen Drahtseilakt zu vollführen und hoffte, dass ihre Antworten akzeptabel waren.
„Cassie, wie würden Sie reagieren, wenn Sie einen Streit mitansehen müssen? Innerhalb einer Familie gibt es Zeiten, in denen nicht alle miteinander klarkommen.“
Cassie schloss für einen Moment ihre Augen und schob die Erinnerungen beiseite, die Maureens Worte in ihr ausgelöst hatten. Schreie, zerbrechendes Glas, wütende Nachbarn. Ein Stuhl, der unter den wackelnden Türgriff ihrer Schlafzimmertür gedrückt wurde. Der einzige, aber unsolide, Schutz, den sie finden konnte.
Doch gerade, als sie erklären wollte, wie sie sich und die Kinder in einem sicheren Raum einschließen und dann die Polizei rufen würde, fiel ihr ein, dass Maureen vermutlich nicht diese Art von Streit gemeint hatte. Warum sollte sie auch? Offensichtlich dachte sie an eine Diskussion, Worte, die aus Ärger und Wut gekeift, vielleicht auch mal geschrien wurden. Eine temporäre Reibung, keine endgültige Zerstörung.
„Ich würde versuchen, die Kinder außer Hörweite zu beschäftigen“, sagte sie und wählte ihre Worte vorsichtig. „Und ich würde die Privatsphäre der Eltern respektieren und mich zurückziehen. Schließlich sind Streitereien ein Teil des Lebens und ein Au-Pair hat kein Recht, Stellung zu beziehen oder sich einzumischen.“
Endlich hatte sie sich ein kleines Lächeln verdient.
„Eine gute Antwort“, sagte Maureen. Sie überprüfte erneut ihren Computer und nickte, als wolle sie ihre Entscheidung bestätigen.
„Es gibt nur eine Möglichkeit, die ich Ihnen anbieten kann. Eine Anstellung in einer französischen Familie“, sagte sie und Cassies Herz machte einen Sprung. Es fiel schmetternd zu Boden, als Maureen weiterredete. „Das letzte Au-Pair ist unerwartet nach nur einem Monat zurückgetreten und die Familie hat Schwierigkeiten, einen Ersatz zu finden.“
Cassie biss sich auf die Lippe. Sie wusste nicht, ob das Au-Pair gekündigt hatte oder gefeuert worden war. Aber sie konnte es sich nicht leisten, denselben Weg zu gehen. Die Agenturgebühren und die Flugreise kosteten sie ihr ganzes Erspartes. Es war egal, wie sie es anstellte, aber es musste funktionieren.
Maureen fügte hinzu: „Es ist eine wohlhabende Familie mit einem wunderschönen Zuhause etwas außerhalb von Paris. Das Herrenhaus liegt im ländlichen Raum auf einem großen Grundbesitz. Es gibt einen Obstgarten und einen Weinberg – nicht kommerziell – und Pferde. Reiterliches Fachwissen ist allerdings keine Jobvoraussetzung. Sie haben jedoch die Möglichkeit, reiten zu lernen, wenn Sie das möchten.
„Sehr gerne“, sagte Cassie. Der Reiz der französischen Provinz und die Aussicht auf Pferde machte das Risiko lohnenswert. Und eine wohlhabende Familie bedeutete doch sicher mehr Jobsicherheit. Vielleicht war das letzte Au-Pair einfach nicht willig gewesen, es zu versuchen.
Maureen richtete ihre Brille gerade, bevor sie auf Cassies Unterlagen etwas notierte.
„Ich muss betonen, dass nicht jede Familie einfach ist. Manche sind sehr herausfordernd und andere sogar richtig schwierig. Der Erfolg des Jobs liegt auf Ihren Schultern.“
„Ich werde mein Bestes geben.“
„Eine Anstellung zu verlassen bevor das Jahr vorbei ist, ist nicht akzeptabel. Eine substantielle Kündigungsgebühr wird dann auf Sie zukommen, außerdem werden Sie nie wieder für uns arbeiten können. Die Details stehen im Vertrag.“ Maureen klopfte mit ihrem Stift gegen die Seite.
„Das kann ich mir nicht vorstellen“, antwortete Cassie bestimmt.
„Gut. Der letzte Punkt, den wir besprechen müssen, ist die Timeline.“
„Ja. Wie bald werde ich abreisen?“, fragte Cassie und wurde wieder unruhig bei dem Gedanken daran, Verstecken zu spielen.
„Für gewöhnlich dauert es etwa sechs Wochen, bis alles geregelt ist, aber diese Familie hat es sehr eilig, also werden wir den Prozess beschleunigen. Wenn alles nach Plan läuft, werden Sie innerhalb der nächsten Woche abfliegen. Ist das in Ordnung?“
„Das ist – es ist perfekt“, stotterte sie. „Bitte, ich nehme die Position an. Ich werde alles tun, um meinen Job gut zu machen und sie nicht enttäuschen.“
Die Frau starrte sie lange und intensiv an, als versuche sie, die Lage ein letztes Mal zu erfassen.
„Das will ich auch hoffen“, sagte sie.
An Flughäfen geht es nur um Abschiede, dachte Cassie. Hektische Verabschiedungen in einer unpersönlichen Umgebung, die dir die Worte raubt, die du wirklich sagen willst. Und die Zeit, sie richtig zu sagen.
Sie hatte darauf bestanden, von der Freundin, die sie zum Flughafen gebracht hatte, vor dem Gebäude rausgelassen zu werden. Die Umarmung, bevor sie aus dem Wagen hüpfte, war schnell und einfach. Besser als teurer Kaffee und eine unbequeme Unterhaltung, die trockener wird, je näher die Abflugzeit rückt. Schließlich reiste sie alleine und ließ alles Vertraute hinter sich zurück. Es machte Sinn, diesen Prozess so schnell wie möglich zu beginnen.
Als Cassie den Gepäckwagen zum Terminal schob, fühlte sie eine Welle der Erleichterung über sich schwappen, als sie daran dachte, was sie schon erreicht hatte. Sie hatte den Job bekommen, was die wichtigste Errungenschaft überhaupt gewesen war. Dann hatte sie für den Flug und die Agenturgebühren bezahlt, im Schnelldurchlauf ein Visum bekommen und pünktlich zum Einchecken den Flughafen erreicht. Ihre Sachen hatte sie mithilfe der bereitgestellten Liste gepackt und sie war froh, den hellblauen Rucksack mit dem ‚Maureens Au-Pairs‘-Logo bekommen zu haben. In ihren Koffer hätten ihre Klamotten nicht alle gepasst.
Sie war sich sicher, dass bis zu ihrer Landung in Paris alles gut gehen würde.
Dann sah sie ihn und sie blieb stehen. Ihr Herz klopfte wie wild.
Er stand am Terminaleingang mit dem Rücken zur Wand und den Daumen in den Taschen der Lederjacke, die sie ihm geschenkt hatte. Seine Größe, sein dunkles, stacheliges Haar und sein aggressiver Kiefer ließen ihn aus der Menge herausstechen.
Zane.
Er musste herausgefunden haben, wann ihr Flug ging. Sie hatte von Freunden gehört, dass er sich nach ihr erkundigt, Telefongespräche geführt und die Florida-Geschichte überprüft hatte. Zane hatte eine manipulative Ader und nicht jeder kannte ihre Situation. Jemand musste ihm, ohne böse Absicht, die Wahrheit erzählt haben.
Bevor er sie erblicken konnte, drehte sie ihren Gepäckwagen um und warf sich die Kapuze ihres Hoodies über ihr welliges, kastanienbraunes Haar. Sie eilte in die entgegengesetzte Richtung, schob den Wagen hinter eine Säule und damit außerhalb seines Blickfelds.
Der Air France Schalter befand sich am Ende des Terminals; es war also unmöglich, dorthin zu gelangen, ohne von ihm gesehen zu werden.
Denk nach, Cassie. In der Vergangenheit hatte Zane sie für ihre Fähigkeit, in schwierigen Situationen schnell einen Plan entwerfen zu können, gelobt. „Du reagierst schnell“, hatte er gesagt. Das war am Anfang ihrer Beziehung gewesen. Am Ende hatte er sie verbittert beschuldigt, hinterhältig, fies und zu gerissen zu sein.
Ok, dann wollte sie ihre Gerissenheit mal auf die Probe stellen. Sie atmete tief durch und hoffte auf eine Idee. Zane stand in der Nähe des Terminaleingangs. Warum? Es wäre einfacher gewesen, am Check-In-Schalter zu warten, wo er sie mit Sicherheit entdeckt hätte. Das bedeutete, er wusste nicht, mit welcher Airline sie fliegen würde. Sein Informant hatte es also entweder selbst nicht gewusst oder es ihm nicht gesagt. Wenn sie einen anderen Weg zum Schalter finden konnte, wäre sie vielleicht in der Lage, einzuchecken, bevor er begann, nach ihr zu suchen.
Cassie lud ihr Gepäck ab, setzte sich den schweren Rucksack auf die Schultern und zog den Koffer hinter sich her. Am Eingang des Gebäudes hatte sie eine Rolltreppe gesehen. Wenn sie damit zum obersten Stockwerk fuhr, könnte sie vielleicht mit einer weiteren Rolltreppe oder einem Aufzug am anderen Ende der Halle wieder nach unten fahren.
Sie ließ den Gepäckwagen stehen und eilte in die Richtung, aus der sie gekommen war, um die Rolltreppe nach oben zu nehmen. Die Treppe am anderen Ende war außer Betrieb, also kletterte sie die steilen Stufen samt schwerem Koffer nach unten. Der Air France Schalter war nun direkt vor ihrer Nase, aber zu ihrem Entsetzen befand sich davor bereits eine lange Schlange, die sich nur stockend vorwärtsbewegte.
Sie zog die graue Kapuze tiefer ins Gesicht, stellte sich in die Schlange, nahm ein Buch aus ihrer Handtasche und begann zu lesen. Sie verstand nicht, was sie las und unter der Kapuze war es drückend heiß. Sie wollte sie runterziehen und den Schweiß auf ihrem Nacken kühlen. Aber das konnte sie nicht riskieren. Ihr leuchtendes Haar wäre sofort sichtbar. Es war besser, versteckt zu bleiben.
Dann klopfte ihr eine starke Hand auf die Schulter.
Sie wirbelte keuchend herum und starrte in die überraschten Augen einer großen Blondine, die etwa in ihrem Alter war.
„Tut mir leid, dich erschreckt zu haben“, sagte sie. „Ich bin Jess. Ich habe deinen Rucksack gesehen und wollte hallo sagen.“
„Oh. Ja. Maureens Au-Pairs.“
„Bist du auf dem Weg zu einem Job?“, fragte Jess.
„Das bin ich.“
„Ich auch. Sollen wir fragen, ob die Airline uns zusammensetzt? Das können wir beim Einchecken klären.“
Während Jess über das Wetter in Frankreich plapperte, sah Cassie sich nervös in der Terminalhalle um. Sie wusste, dass Zane nicht einfach so aufgeben würde – nicht, nachdem er sich die Mühe gemacht hatte, herzufahren. Er würde etwas von ihr wollen, eine Entschuldigung vielleicht oder eine Zusage. Er würde sie dazu bringen, mit ihm einen ‚Abschiedsumtrunk‘ zu nehmen und dann einen Streit anfangen. Es würde ihn nicht interessieren, wenn sie mit frischen Hämatomen in Frankreich ankäme … oder ihren Flug einfach verpasste.
Und dann sah sie ihn. Er war auf dem Weg in ihre Richtung und nur noch ein paar Schalter entfernt, während er jede Schlange sorgfältig nach ihr absuchte.
Sie drehte sich schnell weg, für den Fall, dass er ihren Blick spüren konnte. Mit einem Hoffnungsschimmer sah sie, dass sie das Ende der Schlange erreicht hatte.
„Ma’am, die müssen Sie abnehmen“, sagte die Dame am Schalter und deutete auf Cassies Kapuze.
Widerwillig schob sie sie nach hinten.
„Hey, Cass!“, rief Zane.
Cassie erstarrte und wusste, dass eine Antwort Desaster bedeuten würde.
Tollpatschig vor Nervosität ließ sie ihren Reisepass fallen. Als sie sich danach bückte, rutschte ihr kopflastiger Rucksack nach vorne.
Ein weiterer Ausruf. Und dieses Mal sah sie ihn an.
Er hatte sie gesehen und schob sich mithilfe seiner Ellbogen durch die Schlange. Die Passagiere wurden wütend; sie konnte ihre erhobenen Stimmen hören. Zane verursachte einen Tumult.
„Wir würden gerne zusammensitzen“, erklärte Jess der Dame am Schalter. Cassie biss sich auf die Lippen, weil das eine zusätzliche Verzögerung bedeutete.
Zane rief wieder und sie realisierte panisch, dass er sie in wenigen Momenten erreicht hätte. Er würde sie mit viel Charme und Liebreiz anbetteln, ihm eine Chance zu geben. Nur um zu reden. Er würde ihr versichern, dass er lediglich eine Minute mit ihr alleine brauchte, um ihr zu sagen, was er sagen wollte. Sie wusste aus Erfahrung, dass es sein Ziel war, mit ihr alleine zu sein. Dann würde sein Charme verschwinden.
„Wer ist der Kerl?“, fragte Jess neugierig. „Meint er dich?“
„Mein Ex-Freund“, murmelte Cassie. „Ich habe versucht, ihm aus dem Weg zu gehen. Ich will nicht, dass er vor meinem Abflug noch Ärger macht.“
„Aber das tut er doch bereits!“ Jess wirbelte zornig herum.
„Security!“, rief sie. „Hilfe! Halten Sie diesen Mann auf!“
Von ihren Rufen aufgerüttelt, packte einer der anderen Passagiere Zane an der Jacke, als dieser sich vorbeidrängte. Er rutschte mit wild fuchtelnden Armen auf den Fliesen aus und zog einen der Pfähle mit sich, als er fiel.
„Haltet ihn fest“, meinte Jess. „Security, schnell!“
Erleichtert stellte Cassie fest, dass die Sicherheitsbeamten tatsächlich alarmiert worden waren. Zwei Flughafen-Polizisten eilten in ihre Richtung. Sie würden rechtzeitig da sein, bevor Zane sie erreichen oder wegrennen konnte.
„Ich wollte nur meiner Freundin auf Wiedersehen sagen“, redete Zane los. Doch seine Charme-Versuche trafen bei dem Duo auf Granit.
„Cassie“, rief er, während der größere Beamte ihn am Arm packte. „Au revoir.“
Widerwillig sah sie ihn an.
„Au revoir! Das ist kein Abschied“, rief er, während er von den Polizisten abgeführt wurde. „Wir werden uns wiedersehen. Eher als du denkst. Pass auf dich auf.“
Sie hörte die Warnung in Zanes letzten Worten, aber fürs erste waren es leere Drohungen.
„Vielen, vielen Dank“, sagte sie voller Dankbarkeit für ihre mutige Aktion zu Jess.
„Ich hatte auch mal eine ungesunde Beziehung“, meinte Jess mitfühlend. „Ich weiß, wie besitzergreifend sie sein können. Sie kleben wie Klettverschluss. Es war mir ein Vergnügen, ihn aufzuhalten.“
„Lass uns durch die Passkontrolle gehen, bevor er einen Weg zurückfindet. Ich schulde dir einen Drink. Was möchtest du? Kaffee? Bier? Wein?“
„Wein natürlich“, sagte Jess, während sie durch die Absperrung zum Gate gingen.
„Also, wohin verschlägt es dich?“, fragte Cassie, nachdem sie ihren Wein bestellt hatten.
„Dieses Mal geht es für mich zu einer Familie in Versailles. In die Nähe des Palastes, wenn ich richtig liege. Ich hoffe, mir den an einem freien Tag ansehen zu können.“
„Dieses Mal? Warst du schonmal als Au-Pair angestellt?“
„Ja, aber es hat nicht funktioniert.“ Jess ließ einen Eiswürfel in ihr Glas fallen. „Die Familie war furchtbar. Das hat mich auch davon abgehalten, mich jemals wieder über Maureens Au-Pairs vermitteln zu lassen. Ich bin jetzt bei einer anderen Agentur. Aber keine Sorge“, fügte sie hastig hinzu. „Ich bin mir sicher, du wirst keine Probleme haben. Maureen muss einige guten Kunden in ihrem Register haben.“
Cassies Mund war plötzlich ganz trocken, schnell nahm sie einen großen Schluck Wein.
„Ich dachte, sie sei seriös. Schließlich lautet ihr Slogan The Premier European Agency – Die Führende Agentur Für Europa.“
Jess lachte. „Naja, das ist nur Marketing. Ich habe schon ganz andere Dinge gehört.“
„Was ist mit dir passiert?“, fragte Cassie. „Bitte erzähle es mir.“
„Nun, die Stellenbeschreibung klang ganz gut, auch wenn einige Fragen, die Maureen mir gestellt hat, etwas besorgniserregend klangen. Sie waren so seltsam, dass ich begann, mich zu fragen, ob mit der Familie etwas nicht stimmte. Keiner meiner Au-Pair-Freunde musste bei den Gesprächen je solche Fragen beantworten. Und als ich ankam – nun, die Situation war nicht so wie beschrieben.“
„Warum nicht?“ Cassie war inzwischen eiskalt. Sie hatte Maureens Fragen auch komisch gefunden. Zu dem Zeitpunkt hatte sie angenommen, dass jeder Bewerber dasselbe durchstehen musste, dass es ein Test ihrer Fähigkeiten war. Und vielleicht war es das auch gewesen … aber nicht aus den Gründen, die sie sich vorgestellt hatte.
„Die Familie war extremst ungesund“, sagte Jess. „Sie war respektlos und erniedrigend. Meine Aufgaben lagen weit außerhalb der Grenzen meines Jobs, aber das interessierte sie nicht und sie weigerten sich, daran etwas zu ändern. Als ich ankündigte, zu gehen, begannen die richtigen Probleme.“
Cassie biss sich auf die Lippe. Sie hatte als Kind ähnliche Erfahrungen gemacht, erinnerte sich an erhobene Stimmen hinter geschlossenen Türen, leise Streitereien im Wagen und die allgegenwärtige Spannung in der Luft. Sie hatte sich immer gefragt, warum ihre Mutter, die so still, unterwürfig und geschlagen wirkte, mit ihrem aufgeblasenen, aggressiven Mann stritt. Erst nach dem Verkehrsunfalltod ihrer Mutter hatte Cassie realisiert, dass es bei den Diskussionen darum gegangen war, den Frieden zu wahren, der Situation Herr zu werden und Cassie und ihre Schwester von den unvorhersehbaren und unbegründeten Aggressionen ihres Vaters zu schützen. Ohne die Anwesenheit ihrer Mutter hatte sich der schmorende Konflikt in einen ausgewachsenen Krieg entwickelt.
Sie hatte sich vorgestellt, als Au-Pair einer glücklichen Familie angehören zu können, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Jetzt fürchtete sie, das Gegenteil könnte der Fall werden. Sie war nie in der Lage gewesen, zu Hause den Frieden zu wahren. Wäre sie fähig dazu, eine unbeständige Situation zu managen, wie ihre Mutter es getan hatte?
„Ich mache mir Sorgen um meine Familie“, gab Cassie zu. „Auch mir wurden bei dem Interview seltsame Fragen gestellt – und das letzte Au-Pair hat die Familie frühzeitig verlassen. Was passiert, wenn ich dasselbe tun muss? Ich will nicht dabei sein, wenn die Situation zu sehr aus dem Ruder gerät.“
„Geh nur im Notfall“, warnte Jess sie. „Ein vorzeitiges Verlassen der Familie wird einen massiven Konflikt verursachen und einiges an Geld kosten. Denn du wirst für zusätzliche Kosten verantwortlich gemacht. Das hat mich fast davon abgehalten, es erneut zu versuchen. Ich war sehr zögerlich, diesen Auftrag anzunehmen. Wenn mein Dad dieses Mal nicht für alles gezahlt hätte, wäre ich nicht dazu in der Lage gewesen.“
Sie stellte ihr Weinglas ab.
„Sollen wir uns auf den Weg zum Gate machen? Wir sind ziemlich weit hinten im Flugzeug, also werden wir in der ersten Gruppe sein, die an Bord gehen darf.“
Die Aufregung des An-Bord-Gehens lenkte Cassie von dem Gespräch ab und sobald sie ihre Plätze eingenommen hatten, redeten sie über andere Dinge. Als das Flugzeug abhob, spürte sie, wie ihre Stimmung sich ebenfalls hob – einfach, weil sie es getan hatte. Sie hatte das Land verlassen, war Zane entkommen und in der Luft auf dem Weg in ein fremdes Land. Ihr Neustart hatte begonnen.
Erst nach dem Abendessen begann sie, intensiver über die Details ihres Auftrags nachzudenken, ebenso wie über die Warnungen, die Jess ausgesprochen hatte. Ihre Bedenken kamen zurück.
Nicht jede Familie konnte schlecht sein, oder?
Aber was, wenn diese Agentur den Ruf hatte, schwierige Familien zu akzeptieren? Dann wären die Chancen, selbst einen komplizierten Fall zu erwischen, um einiges höher.
Cassie versuchte, zu lesen, aber merkte schnell, dass sie sich nicht auf die Worte konzentrieren konnte. Ihre Gedanken rasten und sie machte sich Sorgen, was sie erwartete.
Sie sah kurz zu Jess hinüber. Nachdem sie sichergestellt hatte, dass diese mit ihrem Film beschäftigt war, zog Cassie diskret ihre Pillenflasche aus der Tasche und schluckte eine mit dem letzten Schluck ihrer Cola Light. Wenn sie schon nicht lesen konnte, war es vermutlich am besten, zu schlafen. Sie schaltete ihr Licht aus und lehnte sich zurück.
*
Cassie fand sich in einem zugigen Dachgeschosszimmer wieder, wo sie sich mit dem Rücken gegen die kalte, raue Wand unter dem Bett verzogen hatte.
Betrunkenes Gelächter, dumpfe Schläge und Schreie kamen von unten. Eine Orgie, die sich jeden Moment in Gewalt verwandeln konnte. Ihre Ohren warteten angestrengt auf das Zerbrechen von Glas. Sie erkannte die Stimme ihres Vaters und der seiner neuesten Freundin, Deena. Sie waren mindestens zu viert da unten, vielleicht sogar mehr.
Und dann, durch die Schreie hindurch, hörte sie das Krachen der Dielenbretter, als schwere Schritte die Treppe hinaufstiegen.
„Hey, kleiner Schatz“, flüsterte eine tiefe Stimme und ihr zwölfjähriges Selbst zuckte vor Angst zusammen. „Bist du da, Mädchen?“
Sie drückte ihre Augen fest zusammen und redete sich ein, dass es nur ein Albtraum war, dass sie sicher im Bett lag und die fremden Menschen unten dabei waren, zu gehen.
Langsam und quietschend öffnete sich die Tür und im Mondschein sah sie einen großen Stiefel.
Die Schritte kamen näher.
„Hey, Mädchen.“ Ein rauchiges Flüstern. „Ich bin hier, um hallo zu sagen.“
Sie schloss die Augen und betete, dass er ihren schnellen Atem nicht hören konnte.
Das Rascheln der Bettdecke, als er sie zurückzog … das überraschte Grunzen, als er lediglich Kissen und Mantel entdeckte, die sie darunter drapiert hatte.
„Unterwegs“, murmelte er. Sie nahm an, dass er die schmierigen Vorhänge betrachtete, die im Wind wehten. Das Regenrohr deutete auf eine heikle Fluchtroute hin. Nächstes Mal würde sie den Mut finden, hinunter zu klettern. Es konnte nicht schlimmer sein, als sich hier zu verstecken.
Die Stiefel verschwanden aus ihrem Blickfeld. Musik dröhnte von unten, gefolgt von einer lauten Diskussion.
Im Raum war es still.
Sie zitterte. Wenn sie vorhatte, die Nacht in ihrem Versteck zu verbringen, brauchte sie eine Decke. Vermutlich war es am besten, sich gleich darum zu kümmern. Sie löste sich von der Wand.
Doch als sie die Finger unter dem Bett herausschob, wurde sie von einer rauen Hand gepackt.
„Hier bist du!“
Er zog sie heraus, während sie sich an dem Bettrahmen festklammerte. Das kalte, raue Eisengestell schmerzte in ihren Händen und sie begann, zu schreien. Ihre angsterfüllten Schreie füllten das Zimmer, das Haus …
Schwitzend und schreiend wachte sie auf und hörte die besorgte Stimme ihrer Nachbarin. „Hey, Cassie. Bist du okay?“
Der Albtraum wirkte noch immer nach und wartete darauf, sie zurück zu ziehen. Sie konnte die Schürfwunden an ihrem Arm spüren, wo das rostige Bettgestell sie verletzt hatte. Sie legte ihre Finger darauf und war erleichtert, ungebrochene Haut vorzufinden. Sie öffnete ihre Augen weiter und schaltete das Licht an, um die Dunkelheit zu verscheuchen.
„Alles gut. Nur ein böser Traum, das ist alles.“
„Möchtest du etwas Wasser? Oder Tee? Ich kann die Stewardess rufen.“
Cassie wollte zuerst höflich ablehnen, aber dann erinnerte sie sich daran, ihre Medikamente zu nehmen. Wenn eine Tablette nicht wirkte, waren zwei normalerweise ausreicehnd, um die Albträume aufzuhalten.
„Wasser wäre prima, danke“, sagte sie.
Sie wartete, bis Jess nicht hinsah und schluckte schnell eine weitere Pille.
Sie versuchte nicht, wieder einzuschlafen.
Während der Landung tauschte sie mit Jess Handynummern aus. Und nur für den Notfall schrieb sie sich auch den Namen und die Adresse der Familie, für die Jess arbeiten würde, auf. Cassie sagte sich selbst, dass es wie eine Versicherung war – wenn sie sie hatte, würde sie sie hoffentlich nicht brauchen. Sie versprachen einander, bei der ersten Gelegenheit zusammen das Schloss von Versailles zu besichtigen.
Als sie auf dem Rollfeld des Charles de Gaulle Flughafen parkten, lachte Jess aufgeregt. Schnell zeigte sie Cassie ein Selfie ihrer Familie, das diese beim Warten aufgenommen hatte. Das attraktive Paar und die zwei Kinder lächelten und hielten ein Schild mit dem Namen ‚Jess‘ hoch.
Cassie hatte keine Nachricht erhalten. Maureen hatte ihr lediglich gesagt, dass man sie am Flughafen treffen würde. Der Gang zur Passkontrolle kam ihr ewig vor. Sie war von dem Geplapper der Gespräche in verschiedenen Sprach umgeben und als sie versuchte, dem Pärchen zuzuhören, das neben ihr lief, realisierte sie, wie wenig gesprochenes Französisch sie tatsächlich zu verstehen in der Lage schien. Die Realität war so anders wie Schulunterricht und Sprachaudiotapes. Sie hatte Angst, fühlte sich einsam und unausgeschlafen. Als sie sich mit den elegant gekleideten, französischen Reisenden verglich, wurde ihr plötzlich bewusst, wie verknittert und vollgeschwitzt ihre Kleidung war.
Sobald sie ihre Koffer hatte, eilte sie auf die Toilette, zog sich ein frisches Oberteil an und machte ihre Haare zurecht. Sie fühlte sich immer noch nicht bereit, ihre Familie zu treffen und hatte keine Ahnung, was sie erwartete. Maureen hatte ihr erzählt, dass das Haus über eine Stunde Fahrzeit vom Flughafen entfernt lag. Vielleicht waren die Kinder also nicht mitgekommen. Sie würde nach keiner großen Familie Ausschau halten, irgendein freundliches Gesicht reichte ihr.
Doch in dem Menschenmeer schien niemand auf sie zu warten, obwohl sie ihren ‚Maureens Au-Pairs‘-Rucksack gut sichtbar auf dem Gepäckwagen platziert hatte. Langsam ging sie vom Gate in die Ankunftslounge und sah sich nervös nach jemandem um, der sie erkannte, ihr zuwinkte oder ihren Namen rief.
Aber jeder schien auf jemand anderen zu warten.
Mit kalten Händen am Griff des Gepäckwagens durchkreuzte Cassie die Ankunftshalle im Zickzack und durchsuchte die langsam kleiner werdende Menge. Maureen hatte sie nicht auf diese Situation vorbereitet. Sollte sie jemanden anrufen? Würde ihr Handy in Frankreich überhaupt funktionieren?
Und dann, als sie eine letzte, panische Runde durch die Halle drehte, sah sie es.
„CASSANDRA VALE.“
Ein kleines Notizbrett, das von einem schlanken, dunkelhaarigen Mann in schwarzer Jacke und Jeans gehalten wurde.
Er stand in der Nähe der Wand, war auf sein Handy konzentriert und sah sich nicht einmal nach ihr um.
Sie ging unsicher auf ihn zu.
„Hi – ich bin Cassie. Sind Sie …?“. Ihre Worte verebbten, als sie realisierte, dass sie keine Ahnung hatte, wer er sein könnte.
„Ja“, sagte er mit stark französisch akzentuiertem Englisch. „Hier entlang.“
Sie wollte sich gerade anständig vorstellen und das vortragen, was sie einstudiert hatte – wie aufgeregt sie war, ein Teil der Familie zu werden – als sie das laminierte Schild auf seiner Jacke sah. Er war lediglich ein Taxifahrer und die Karte sein offizieller Flughafenpass.
Vor Cassies Augen wurde die Stadtlandschaft von Paris sichtbar. Hohe Wohngebäude und düstere Industrieblöcke verwandelten sich langsam in die baumreiche Vorstadt. Der Nachmittag war kalt und grau und stellenweise regnete und windete es.
Sie reckte ihren Hals, um die vorbeiziehenden Schilder sehen zu können. Sie fuhren in Richtung Saint Maur und zeitweise glaubte sie, ihr Reiseziel könnte dort liegen. Doch der Fahrer fuhr an der Ausfahrt vorbei und folgte weiter der Straße aus der Stadt hinaus.
„Wie weit ist es noch?“, fragte sie, um ein Gespräch zu beginnen. Doch er grunzte nur unbestimmt und drehte das Radio lauter.
Der Regen klopfte gegen die Fenster und sie spürte das kalte Glas an ihrer Wange. Sie wünschte sich ihre dicke Jacke aus dem Kofferraum herbei. Außerdem hatte sie einen Bärenhunger – sie hatte kein Frühstück gegessen und seither keine Gelegenheit gefunden, sich etwas zu essen zu kaufen.
Nach über einer halben Stunde erreichten sie das offene Land und fuhren am Ufer der Marne entlang. Bunt bemalte Binnenschiffe waren die einzigen Farbtupfer in der Trübheit. Nur wenige Menschen in Regenjacken liefen unter den Bäumen. Einige der Bäume waren bereits kahl, andere trugen noch immer rostbraune und goldene Blätter.
„Ziemlich kalt heute, nicht wahr?“, bemerkte sie und versuchte sich erneut an einer Unterhaltung mit dem Fahrer.
Seine einzige Antwort bestand aus einem gemurmelten ‚oui‘, doch wenigstens schaltete er die Heizung an und ihr Zittern stoppte. In der Wärme des Wagens nickte sie unruhig ein, während sie Kilometer für Kilometer zurücklegten.
Eine scharfe Bremsung und ein schrilles Hupen ließen sie aufschrecken. Der Fahrer schob sich an einem stehenden LKW vorbei, verließ den Highway und bog auf eine schmale, mit Bäumen gesäumte, Straße ab. Der Regen hatte sich verzogen und das frühabendliche Licht malte den Herbst in wunderschönen Farben. Cassie sah aus dem Fenster, bewunderte die hügelige Landschaft und das Patchwork aus Feldern und riesigen, dunklen Wäldern. Sie fuhren an einem Weinbaugebiet vorbei, wo die ordentlichen Rebenreihen sich am Hügel entlangschlängelten.
Mit verlangsamter Geschwindigkeit passierte der Fahrer ein Dorf. Helle Steinhäuser mit gebogenen Fenstern und steilen Ziegeldächern standen an der Straße. Dahinter sah sie offene Felder und als sie an einer Steinbrücke vorbeikamen, erhaschte sie einen Blick auf den Kanal, der von Trauerweiden gesäumt war. Die hohe Kirchturmspitze zog sie in ihren Bann und sie fragte sich, wie alt das Gebäude war.
Sie mussten nun bald da sein, vielleicht befand sich das Anwesen ja sogar in dieser Nachbarschaft. Doch sie verabschiedete sich schnell von dieser Vermutung, als sie das Dorf verließen und sich immer weiter durch die hügelige Landschaft bewegten. Schließlich hatte sie die Orientierung ganz verloren und auch die Spitze des Kirchturms war nun nicht mehr sichtbar. Das GPS wies darauf hin, kein Signal mehr zu haben und der Fahrer brummte verärgert. Schließlich nahm er sein Handy und betrachtete konzentriert die Karte, während er fuhr.
Und dann bogen sie rechts ab und fuhren zwischen zwei hohen Torpfosten hindurch. Cassie setzte sich aufrechter hin und starrte auf die lange Kieseinfahrt. Vor ihnen lag mächtig und elegant das Anwesen – die untergehende Sonne beleuchtete auf atemberaubende Weise die Steinwände.
Die Reifen knirschten auf dem Kies, als der Wagen vor einem großen und einschüchternden Eingang zum Stehen kam. Sie wurde nervös; das Gebäude war viel größer, als sie es sich vorgestellt hatte. Es war wie ein Palast mit hohen Schornsteinen und kunstvoll verzierten Türmchen. Sie zählte an der eindrucksvollen Front achtzehn Fenster mit aufwändiger Steinarbeit und vielen Details. Das Haus selbst überblickte einen gepflegten Garten mit sorgfältig getrimmten Hecken und befestigten Wegen.
Wie konnte sie sich mit einer Familie identifizieren, die so prachtvoll wohnte, wo sie doch selbst mit Nichts aufgewachsen war?
Sie realisierte, dass der Fahrer ungeduldig mit den Fingern gegen das Lenkrad klopfte. Offensichtlich würde er ihr nicht mit ihren Koffern helfen. Schnell kletterte sie aus dem Wagen.
Im gnadenlosen Wind fror sie sofort und eilte zum Kofferraum, um ihren Koffer herauszuheben, ihn über den Kies zu zerren und sich dann unter dem Vordach unterzustellen, um sich die Jacke zuzuziehen.
Es gab keine Klingel an der großen Holztür, lediglich einen großen Türklopfer aus Eisen, der kalt in ihrer Hand lag. Das Geräusch war überraschend laut und nur wenige Augenblicke später hörte Cassie Schritte.
Die Tür öffnete sich und vor ihr stand eine Hausangestellte in dunkler Uniform mit eng zurückgebundenem Pferdeschwanz. Hinter ihr konnte Cassie die große Eingangshalle mit opulenten Wandbehängen und einer riesigen Holztreppe am anderen Ende sehen.
Das Hausmädchen sah sich um, als die Tür zufiel.
Sofort spürte Cassie die Präsenz von Streit. Sie konnte die Spannung in der Luft fühlen wie einen näherkommenden Sturm; sie war in der nervösen Haltung des Mädchens, dem Knallen der Tür und den weitentfernten, chaotischen Schreien, die in Stille übergingen, erkennbar. Ihr Inneres zog sich zusammen und sie überkam der übermächtige Wunsch, wegzurennen, dem Fahrer nachzueilen und ihn zurück zu rufen.
Stattdessen blieb sie stehen und zwang sich zu einem Lächeln.
„Ich bin Cassie, das neue Au-Pair. Die Familie erwartet mich.“
„Heute?“ Das Mädchen wirkte besorgt. „Einen Moment.“ Als sie ins Haus eilte, hörte Cassie sie rufen: „Monsieur Dubois, bitte kommen Sie schnell.“
Eine Minute später eilte ein kräftiger Mann mit dunklem Haar, das im Ansatz bereits grau wurde, ins Foyer. Sein Gesicht war verzerrt. Als er Cassie an der Tür warten sah, blieb er ruckartig stehen.
„Du bist schon hier?“, sagte er. „Meine Verlobte meinte, du kommst erst morgen früh.“
Er drehte sich zu einer jungen Frau mit blond gebleichtem Haar, die ihm gefolgt war. Sie trug ein Abendkleid und ihr attraktives Gesicht war angespannt.
„Ja, Pierre. Ich habe die E-Mail ausgedruckt, als ich in der Stadt war. Die Agentur meinte, der Flug lande um vier Uhr morgens.“ Sie drehte sich zu einem verzierten Holztisch, schob einen venezianischen Briefbeschwerer aus Glas beiseite und fuchtelte abwehrend mit einem Blatt. „Hier. Siehst du?“
Pierre schielte auf die Seite und seufzte.
„Da steht vier Uhr nachmittags, nicht vormittags. Der Fahrer, den du gebucht hast, kannte offensichtlich den Unterschied.“ Er drehte sich zu Cassie und streckte seine Hand aus. „Ich bin Pierre Dubois. Das ist meine Verlobte, Margot.“
Das Dienstmädchen stellte er nicht vor. Stattdessen keifte Margot sie an, das Zimmer gegenüber den Kinderzimmern herzurichten und das Mädchen eilte davon.
„Wo sind die Kinder? Schon im Bett? Sie sollten Cassie kennenlernen“, sagte Pierre.
Margot schüttelte den Kopf. „Sie essen zu Abend.“
„So spät? Habe ich dir nicht gesagt, dass an Schultagen früher zu Abend gegessen werden soll? Sie haben zwar Ferien, sollten aber dennoch bereits im Bett sein, um ihre Routine nicht zu verlieren.“
Margot starrte ihn an und zuckte ärgerlich mit den Schultern, bevor sie mit klackernden Stöckelschuhen in den Gang zu ihrer Rechten stiefelte.
„Antoinette?“, rief sie. „Ella? Marc?“
Sie wurde von donnernden Füßen und lauten Rufen belohnt.
Ein dunkelhaariger Junger rannte in das Foyer und hielt eine Puppe an den Haaren. Er wurde dicht von einem jüngeren, pummeligen Mädchen verfolgt, das laut weinte.
„Gib mir meine Barbie zurück!“, schrie sie.
Sie kamen rutschend ins Stehen, als sie die Erwachsenen sahen und der Junge rannte zur Treppe. Dabei verfing sich seine Schulter an der gebogenen Seite einer großen, blau-goldenen Vase.
Cassie schlug die Hände schockiert über dem Mund zusammen, als die Vase auf ihrem Sockel taumelte und dann auf dem Boden zerbarst. Bunte Glassplitter verteilten sich auf dem dunklen Holzboden.
Die Schockstille wurde von Pierres wütendem Bellen gebrochen.
„Marc! Gib Ella ihre Puppe zurück.“
Schlurfend und schmollend bewegte sich Marc an dem Trümmerhaufen vorbei. Widerwillig gab er Pierre die Puppe, der sie an Ella überreichte. Ihr Schluchzen verstummte und sie glättete die Haare der Puppe.
„Das war eine Durand Vase“, zischte Margot den Jungen an. „Antik. Unersetzlich. Hast du keinen Respekt für die Besitztümer deines Vaters?“
Er schwieg zur Antwort nur missmutig.
„Wo ist Antoinette?“, fragte Pierre und klang frustriert.
Margot sah nach oben und als Cassie ihrem Blick folgte, sah sie ein dünnes, dunkelhaariges Mädchen am oberen Ende der Treppe. Sie schien einige Jahre älter als ihre Geschwister zu sein. Sie trug ein elegantes und perfekt gebügeltes Kleid und wartete mit einer Hand an der Brüstung, bis sie die volle Aufmerksamkeit ihrer Familie hatte. Dann kam sie mit erhobenem Kinn die Treppe hinunter.
Erpicht darauf, einen guten Eindruck zu machen, räusperte Cassie sich und versuchte sich an einer freundlichen Begrüßung.
„Hallo Kinder. Mein Name ist Cassie. Es freut mich sehr, hier zu sein und nach euch sehen zu dürfen.“
Ella lächelte schüchtern zurück, während Marc unerbittlich gen Boden starrte. Antoinette sah sie lange und herausfordernd an. Dann, ohne ein Wort, wandte sie ihr den Rücken zu.
„Bitte entschuldige mich, Papa“, sagte sie zu Pierre. „Ich habe noch Haussaufgaben zu erledigen.“
„Natürlich“, sagte Pierre und Antoinette stolzierte wieder die Treppe hinauf.
Cassie spürte, wie ihr Gesicht vor Scham glühte, so bewusst abgelehnt worden zu sein. Sie fragte sich, ob sie etwas sagen, die Situation bereinigen oder Antoinettes unhöfliches Verhalten irgendwie erklären sollte. Aber sie war nicht in der Lage, die passenden Worte zu finden.
Margot murmelte wütend. „Ich hab’s dir doch gesagt, Pierre. Die Teenagerlaunen beginnen bereits.“ Cassie bemerkte, dass sie nicht als einzige von Antoinette ignoriert worden war.
„Wenigstens macht sie ihre Hausaufgaben, obwohl ihr niemand dabei hilft“, konterte Pierre. „Ella, Marc, warum stellt ihr euch Cassie nicht anständig vor?“
Kurze Stille. Offensichtlich würde sich hier niemand ohne Diskussion vorstellen. Aber vielleicht konnte sie die Spannung mit einigen Fragen auflösen.
„Also, Marc, ich kenne zwar deinen Namen, aber ich wüsste nur zu gerne, wie alt du bist“, sagte sie.
„Ich bin acht“, murmelte er.
Es war leicht, eine Ähnlichkeit zwischen ihm und Pierre auszumachen. Das widerspenstige Haar, das starke Kinn, die hellblauen Augen. Sie runzelten sogar die Stirn auf ähnliche Art und Weise. Die anderen Kinder hatten auch dunkles Haar, aber Ella und Antoinette hatten feinere Gesichtszüge.
„Und Ella, wie alt bist du?“
„Ich bin fast sechs“, verkündete Ella stolz. „Ich habe am Tag nach Weihnachten Geburtstag.“
„Das ist ein prima Tag, um Geburtstag zu haben. Ich hoffe, das bedeutet, dass du extra viele Geschenke bekommst.“
Ella lächelte überrascht, als hätte sie diesen Vorteil bisher nicht bedacht.
„Antoinette ist die älteste. Sie ist zwölf“, sagte sie.
Pierre klatschte in die Hände. „Okay, jetzt ist Schlafenszeit. Margot, zeig Cassie das Haus, nachdem du die Kinder zu Bett gebracht hast. Sie muss wissen, wie sie sich hier zurechtfinden kann. Aber mach schnell. Wir müssen um sieben los.“
„Ich muss mich noch fertig machen“, antwortete Margot säuerlich. „Du kannst die Kinder ins Bett bringen. Und ruf einen Butler für dieses Chaos. Ich werde Cassie das Haus zeigen.“
Pierre atmete scharf ein, sah zu Cassie und presste dann die Lippen zusammen. Sie nahm an, dass ihre Anwesenheit ihn dazu verleitet hatte, seine Worte hinunterzuschlucken.
„Ab ins Bett“, sagte er und die zwei Kinder folgten ihm unwillig die Treppen hinauf. Sie freute sich, zu sehen, dass Ella sich umdrehte und ihr kurz zuwinkte.
