So, this is Christmas - Tracy Andreen - E-Book

So, this is Christmas E-Book

Tracy Andreen

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Beschreibung

Weihnachten in Christmas, Oklahoma: Chaos, Küsse und die große Liebe

Als die 16-jährige Finley über Weihnachten nach Hause fährt, erwartet sie keine große Veränderung. Weit gefehlt: Ihr Ex ist mit ihrer besten Freundin zusammen, ihre Eltern haben sich getrennt und ihre Erzfeindin jobbt im Inn ihrer Grandma. Dann steht auch noch Arthur vor der Tür, dem sie ihre Heimatstadt Christmas als idyllisches Paradies geschildert hat, um mit seiner Tante das perfekte amerikanische Weihnachten zu verbringen. Leider ist gerade nichts perfekt. Finley versucht, das Beste daraus zu machen, und findet dabei eines der besten Weihnachtsgeschenke überhaupt: die Liebe.


Eine zauberhafte Weihnachts-Romcom zum Dahinschmelzen für Fans von »Tage wie diese« und »Gilmore Girls«

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Seitenzahl: 478

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Tracy Andreen

Aus dem amerikanischen Englisch

von Doris Attwood

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstausgabe Oktober 2023

© 2021 Tracy Andreen

© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with Viking Children’s Books, an imprint of Penguin Young Readers Group, a division of Penguin Random House LLC

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »So, this is Christmas« bei Penguin Young Readers Group in der Verlagsgruppe Penguin Random House LLC, New York.

Aus dem amerikanischen Englisch von Doris Attwood

Lektorat: Eva Spessa

Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin

Umschlagmotive © Shutterstock.com (Beskova Ekaterina)

kk · Herstellung: UK

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-28972-0V001

www.cbj-verlag.de

Für Mary und Mayo Andreen

Prolog

9. Dezember

Vielleicht lag es daran, dass es für Anfang Dezember ein ungewöhnlich warmer Abend war. Vielleicht hatte die Biene deshalb ihren Stock verlassen, um auf Erkundungstour zu gehen. Weil sie es sattgehabt hatte, so eng mit den anderen Bienen aufeinanderzuhocken, war sie ausgebrochen und hatte ihre Bienenflügel ausgebreitet, um einen anderen Teil der Welt zu sehen. Oder vielleicht musste sie auch einfach mal für eine Weile weg, weil ihr die anderen Bienen auf die Nerven gingen und sie ein bisschen Raum für sich brauchte, bevor sie schließlich wieder zurückkehrte.

Was auch immer sie sich dabei gedacht hatte, es war eine ziemlich miese Entscheidung gewesen.

Ich nahm sie aus dem Augenwinkel wahr, als ich am frühen Abend vom Campusladen zurückging, eine winzige, hektische Bewegung, kaum zu erkennen auf dem ansonsten stillen Wasser des Zierteichs zwischen Charity House, dem Mädchenwohnheim, und Waller Hall, dem Wohnheim der Jungs.

Ich blieb stehen und starrte eine Weile darauf, bevor mir klar wurde, was ich sah: Die Biene lag rücklings im Wasser. Zappelnd.

Ich zögerte ein paar Sekunden, bis ich es nicht länger mit ansehen konnte – das arme Ding – und den Pfad verließ.

Die Biene lag etwa anderthalb Meter vom Teichufer entfernt, und obwohl der Abend ungewöhnlich mild war, befanden wir uns immer noch in Connecticut, und es war immer noch der 9. Dezember.

Mein sechzehnter Geburtstag, wie es der Zufall so wollte. Und ein früher Samstagabend. Ich hätte also eigentlich damit beschäftigt sein sollen, mich für eine sensationelle Party fertig zu machen, die nur aus dem einen Grund veranstaltet wurde, alles zu feiern, was irgendwie mit meiner wundervollen Wenigkeit zu tun hatte.

Stattdessen dachte ich darüber nach, eine Biene zu retten.

Ich zog meine schwarzen Converse aus, gefolgt von meinen rot-grünen Weihnachtssocken, krempelte meine Jeans über den dünnen, blassweißen Wölbungen hoch, die mir als Wadenmuskeln dienten, schnappte mir ein herabgefallenes Blatt und watete ins Wasser.

Heilige Scheiße! War das kalt! Und schleimig. Gott, worauf latschte ich da rum? War das Moos? Ich hoffte wirklich, dass es Moos war.

Natürlich entdeckte mich in exakt diesem Moment Arthur Chakrabarti Watercress, der zwar vielleicht nicht der letzte Mensch war, dem ich in dieser Situation begegnen wollte, es aber definitiv in die Top Five schaffte.

»Finley? Was um alles in der Welt treibst du denn da?«, wollte er wissen, weil Arthur immer irgendwas zu wollen schien. Ich war überzeugt, »überheblich« war seine Grundhaltung.

Ich schaute mich um und sah, dass er mich stirnrunzelnd von der Steinbrücke aus anglotzte, die sich über den Teich spannte und den Hauptcampus unseres Internats, der Barrington Academy, mit den Jungs- und Mädchenwohnheimen verband. Sein glattes tintenschwarzes Haar war mit einer schlichten blauen Wollmütze bedeckt und das erdige Grün seiner dicken Daunenjacke glänzte im Lichtschein der auf alt gemachten Laternen.

»Ich rette diese Biene«, antwortete ich, als wäre es das Normalste der Welt.

Ich zeigte auf das winzige Insekt, das noch ungefähr einen halben Meter von mir entfernt war. Das Problem war nur, ich war mir nicht sicher, ob ich mich der Biene noch einen weiteren Schritt nähern konnte, ohne auf den glitschigen Steinen das Gleichgewicht zu verlieren und mit dem Hintern ins Wasser zu plumpsen.

Also stand ich da, im knapp einen halben Meter tiefen Wasser, das so kalt war, dass ich zitterte, während ich herauszufinden versuchte, wie ich am besten zu der Biene und mit ihr wieder zurück ans trockene Ufer gelangen konnte, ohne dabei klitschnass zu werden. So hatte ich mir meinen Ausflug vom Wohnheim zum Campusladen, um mir ein buntes Sortiment an Süßigkeiten für mein Bad in Selbstmitleid zu beschaffen, eigentlich nicht vorgestellt.

Ich wartete darauf, dass Arthur sich über mich lustig machte. Was nur verständlich gewesen wäre. Diese Situation schrie förmlich nach Hohn und Spott.

Stattdessen fragte er: »Und warum rettest du sie dann nicht?« Sein britischer Akzent war von der näselnden Präzision eines fünfzigjährigen Parlamentsabgeordneten. Was einer der vielen Gründe war, warum er von den anderen in unserer Klasse – die eine Ausbildung in einem Internat in Neuengland eher als ein Geburtsrecht betrachteten und nicht als etwas, das man aus eigener Kraft erreichen musste – ständig schikaniert wurde.

»Weil ich mich nicht bewegen kann.«

»Was?« Er hielt eine Hand wie einen Trichter an sein Ohr. Ja, okay – er stand ungefähr fünf Meter entfernt, und ich hatte genuschelt.

Lauter wiederholte ich: »Ich kann mich nicht bewegen!«

Er wirkte verdutzt. »Dann geh einfach zurück.«

»Kann ich nicht.«

Die Laternen warfen Schatten auf die Brücke und den Weg und verhinderten, dass ich sein Gesicht richtig erkennen konnte. Nicht dass das nötig gewesen wäre.

Er blickte eindeutig zwischen mir und dem Ufer des Teichs, das sich nicht einmal einen Meter hinter mir befand, hin und her und beurteilte die Entfernung als wenig einschüchternd.

Aber ich war eingeschüchtert.

Er schüttelte den Kopf und setzte seinen Weg über die Brücke fort. Ich nahm an, um zu verschwinden, wohin auch immer er unterwegs war. Was ich als Erleichterung empfand, weil ich mir wie eine absolute Vollidiotin vorkam, und dafür brauchte ich wirklich kein Publikum.

Ich richtete den Blick wieder auf die Biene, die mir nun zwar näher war als noch vor ein paar Sekunden, aber trotzdem noch außerhalb meiner Reichweite, und fragte mich: Was zur Hölle tue ich hier eigentlich …?

»Hier.«

Ich riss den Kopf herum und sah Arthur am Teichrand stehen. Er streckte einen langen, dünnen Zweig in meine Richtung.

»Versuch’s hiermit«, fügte er hinzu und zeigte mit einem Nicken aufs Wasser.

Ich starrte ihn an, überrascht und unsicher. In den sechs Monaten, seit ich auf die Barrington ging, hatten wir nicht viel miteinander zu tun gehabt, abgesehen von gelegentlichen Gruppenarbeiten im Unterricht und einer beschwipsten Unterhaltung auf der Halloweenparty von Bronwyn Campbell. So oder so hatte er mir bisher keinen Anlass zu der Vermutung gegeben, dass er jemand sein könnte, der auch nur einen einzigen Gedanken an das Wohlergehen einer Biene verschwenden würde. Ich hatte angenommen, das wäre unter Arthur Chakrabarti Watercress’ Niveau. Schließlich war seine britisch-indische Mutter eine weltberühmte Wissenschaftlerin – fragt mich jetzt aber nicht, auf welchem Gebiet –, während die Ahnenreihe seines Vaters, eines Londoner Geschäftsmanns, bis zu den Rosenkriegen zurückverfolgt werden konnte.

Arthur zog genervt die Stirn in Falten und wackelte mit dem Zweig. »Willst du sie nun retten oder nicht? Weil sie nicht ewig durchhalten wird, unter diesen Umständen.«

Okay. Das klang schon eher nach Arthur.

Ich nahm ihm den Zweig ab und drehte mich wieder zur Biene um, deren Bewegungen jetzt schon bedenklich weniger hektisch wirkten. Da war jedoch immer noch das Problem mit den rutschigen Steinen unter meinen nackten, immer tauberen Füßen.

»Gib mir deine Hand«, sagte er und streckte mir seine behandschuhte Rechte hin. Ich nahm sie, und es half mir tatsächlich, das Gleichgewicht zu halten, auch wenn er sich dafür ein Stück nach vorne lehnen musste. Arthur war für seine siebzehn Jahre zwar nicht unbedingt klein, aber er würde wohl auch nie der Längste in irgendeinem Basketballteam sein.

Ich konzentrierte mich auf die Biene, streckte den Zweig aus, bis er sich nah genug an dem zappelnden Insekt befand und ihm etwas Festes bot, an dem sich seine kurzen Beinchen festklammern konnten.

»Hab sie«, verkündete ich schließlich und richtete mich wieder auf, in einer Hand den Zweig mit der erschöpften Biene, während ich mich mit der anderen immer noch an Arthurs festklammerte.

»Das sehe ich«, erwiderte er. »Wie wär’s, wenn du jetzt wieder einen Schritt zurück machst? An Land. Nur falls ich mich irgendwie vage ausgedrückt haben sollte.«

Ich musste all meine Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht mit einer ebenso schnippischen Bemerkung zu kontern. Aber da er meine wichtigste Gleichgewichtsstütze war, biss ich mir auf die Zunge.

Ich umfasste seine Hand noch fester und hielt den Zweig mit unserer geretteten Biene Richtung Ufer, damit er ihn mir abnahm. Anschließend machte ich einen Satz in dieselbe Richtung.

Meine Landung war … wenig elegant. Ich knallte mit dem Hintern auf den Boden und meine rote Mütze rutschte mir vom Kopf. Aber ich setzte weder Arthur noch die Biene außer Gefecht und plumpste auch nicht rückwärts wieder in den Teich, deshalb verbuchte ich es alles in allem als Erfolg.

Arthur würdigte mich kaum eines Blickes. Er war voll und ganz auf die Biene konzentriert. Natürlich.

Die kühle, feuchte Erde durchnässte meine Lieblingsjeans, und ich wusste, dass ich heute Abend noch ein paar Vierteldollarmünzen im Waschraum liegen lassen würde.

Auch so hatte ich mir meinen sechzehnten Geburtstag nicht vorgestellt.

Ganz und gar nicht.

Und dann wurde alles noch schlimmer.

Ich hörte zuerst das Gelächter und dachte sofort, es ginge auf meine Kosten.

Ging es aber nicht.

Es stammte vielmehr von vier anderen aus unserer Klasse, die sich auf die steinerne Brücke zubewegten. Die Schatten verbargen Arthur und mich vor ihnen, was wirklich gut war, weil die, die am lautesten kicherte, meine Zimmergenossin Thea Selsky war, die mir erst vor einer halben Stunde erklärt hatte, sie könnte heute Abend nicht mit mir Geburtstag feiern, weil sie mit ihrem Freund Beaux lernen musste. Ich hatte zwar durchaus angenommen, »lernen« wäre nur ein Vorwand, aber trotzdem geglaubt, sie würden in seinem Zimmer abhängen. Ganz offensichtlich stimmte aber auch das nicht. Nur wohin –

»Sie gehen wahrscheinlich zu Bronwyns Party«, sagte Arthur, als könnte er meine Gedanken lesen.

Ich schaute von Thea zu Beaux – den ich inzwischen als einen der vier erkannt hatte – und wieder zurück zu Arthur, der die Biene von dem Zweig auf ein stabiles Blatt umgesetzt hatte.

»Welche Party?«, fragte ich, bevor ich mich selbst davon abhalten konnte, obwohl mir bereits Böses schwante.

»Für Josie Sutton. Sie hat heute Geburtstag. Hast du die Einladung nicht gekriegt?«

Hatte ich nicht. Und ich wusste, das war kein Versehen. Meine Klassenkameradin Bronwyn war vieles, aber vor allem war sie akkurat. Wie ein Laser. Und aus irgendeinem Grund mochte sie mich nicht. Vor allem in letzter Zeit. In den ersten beiden Monaten waren unsere seltenen Begegnungen zwar auch schon unerfreulich gewesen, aber in den letzten sechs Wochen schien sie ihre Bösartigkeit derartig auf mich zu fokussieren, dass ich mir das Gehirn zermartert hatte, ob ich ihr womöglich in irgendeiner Weise unrecht getan hatte. Mir war jedoch nichts eingefallen. Sicher, ich war nicht das klassische superbeliebte Mädchen, aber ich hatte mich bisher auch nie zu denjenigen gezählt, die ständig gemobbt wurden. Alles in allem war ich ziemlich … langweilig, ehrlich gesagt. Deshalb war Bronwyns offene Abneigung gegen mich ja auch so rätselhaft.

»Gehen alle da hin?«, fragte ich. Meine Stimme klang selbst für meine eigenen Ohren angespannt.

»Ich nicht.«

»Aber du warst eingeladen.«

Er zuckte desinteressiert mit den Schultern. »Das waren alle.«

Nicht alle.

Ich schnappte mir meine Mütze vom Boden, stand auf und schlug sie gegen meinen Oberschenkel, um sie von Gras und Erde zu befreien, bevor ich sie wieder aufsetzte und mein langes blondes Haar energischer als unbedingt nötig darunterschob. Mein Hirn fühlte sich an, als würde es brodeln.

Ich holte mein Handy aus meiner Jackentasche und rief Instagram auf. Schon nach ein paar Sekunden sah ich die erste Insta-Story vom Beginn einer wilden Party auf dem Dach des La Belle’s, eines nahen Restaurants, das Bronwyns Familie gehörte, was es den minderjährigen Feierwütigen entschieden einfacher machte, an Alkohol zu kommen.

Ich aktualisierte die Seite zweimal und beide Male tauchten neue Posts von Leuten aus meiner Klasse auf. Lauter Selfies von lächelnden Gesichtern. Und sie alle feierten einen sechzehnten Geburtstag. Nur nicht meinen.

»Fliegst du über Weihnachten zurück nach Oklahoma?«, fragte Arthur.

Die Frage riss mich aus dem Strudel des Elends, der wie wild in meiner Brust zu toben begonnen hatte. Wäre sie auch nur zwanzig Sekunden früher gekommen, hätte meine Antwort schlicht »Nein« gelautet, weil ich dies bereits allen verkündet hatte: meinen Eltern, meiner Großmutter und meiner besten Freundin Mia. Seit ich die Zusage für das Internat erhalten hatte, hatte ich in Visionen geschwelgt, wie ich allein über den verschneiten Campus der Privatschule schlenderte, ein Buch las und mich unabhängig fühlte.

Als wäre die Barrington meine ganz private Zuflucht.

Aber das wäre vor zwanzig Sekunden gewesen. Und in diesen zwanzig Sekunden hatte sich eine Menge verändert. Denn obwohl ich den Mund mit der Absicht öffnete, Nein zu sagen, kam ein sehr bestimmtes »Ja« heraus.

Und ich meinte es auch so. Bronwyns Brüskierung heute Abend war der letzte Tropfen in einem bereits vor Beleidigungen, Sticheleien und allgemeinen Gehässigkeiten überlaufenden Fass. Es reichte. Ich war fertig mit diesen Leuten und dieser Schule. Sie hatte einst so viel Hoffnung für mich bedeutet, aber das war jetzt vorbei.

In diesem Moment sauste die Biene plötzlich von dem Blatt in Arthurs Hand davon und verschwand am dunklen Himmel des frühen Abends.

Zurück nach Hause.

Ich war unhöflich zu Arthur. Das war nicht meine Absicht gewesen, als ich ohne ein »Danke, dass du mir geholfen hast, die Biene zu retten« oder wenigstens ein »Bis dann« verschwand, aber es war trotzdem das Endergebnis. Unhöflichkeit.

Mir war gar nicht wirklich aufgefallen, dass ich ihn völlig unvermittelt am Teich hatte stehen lassen, bis ich wieder zurück in dem leeren Zimmer war, das ich mir mit Thea teilte, und durch Billigflugwebsites scrollte, während ich mit der Notfallkreditkarte meiner Eltern in der rechten Hand auf die Holzplatte meines Schreibtischs klopfte.

Klack, klack, klack, klack.

Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, beim Reinkommen das Licht anzuschalten, sondern war direkt auf meinen Laptop zugesteuert, der beim Fenster mit Blick auf den Teich stand.

Erst als ich jetzt hinausschaute, sah ich Arthur noch genau dort stehen, wo ich ihn zurückgelassen hatte.

Das schlechte Gewissen meldete sich sofort. Grandma Jo wäre gar nicht erfreut gewesen. Gute Manieren waren ihr wichtig.

Mein erster Gedanke war, ihm zu sagen, dass es mir leidtat, sobald ich ihn das nächste Mal sah – auch wenn mir im Grunde klar war, dass es ihm wahrscheinlich sowieso egal wäre. Arthur waren gute Manieren nicht besonders wichtig, zumindest nicht meiner Erfahrung nach.

Ich hatte ihn an meinem ersten Tag im Mathekurs kennengelernt. Ich hatte den Fehler gemacht, mich auf den ersten Platz in der zweiten Reihe zu setzen, der sich als sein Lieblingsplatz herausstellte. Er hatte mir einen finsteren Blick zugeworfen, sich dann mit einem genervten Schnauben auf den ersten Platz in der ersten Reihe links von mir niedergelassen und sich während des gesamten darauffolgenden Monats geweigert, mich auch nur anzuschauen oder sonst irgendwie zur Kenntnis zu nehmen.

Im Prinzip kannten wir uns also vom Wegsehen.

Während ich darauf wartete, dass mir die Flugsuche-Website eine Liste mit möglichen Verbindungen anzeigte, sah ich, wie er etwas vom Boden aufhob und ins Wasser warf, und fragte mich plötzlich, was Arthur wohl an Weihnachten machte.

Ich hätte ihn natürlich fragen können. Blieb er hier in der Barrington? Oder flog er zurück nach England? Man konnte auch während der unterrichtsfreien Zeit im Internat bleiben, sofern man alles vorab arrangierte.

Als ich hier angefangen hatte, hatte ich mir vorgenommen, genau das zu tun. Ich hatte es mir immer so wie in den Mittelkapiteln der Harry-Potter-Bücher vorgestellt, in denen Harry und Co. über die Feiertage in Hogwarts blieben und alle möglichen lustigen und spannenden Sachen erlebten. Genau genommen gebe ich Harry Potter die Schuld an vielen meiner bedauerlichen Fehleinschätzungen in Bezug auf meine Zeit an der Barrington Academy. Nicht, dass ich Zauberei oder epische Schlachten gegen fantastische Kreaturen um das Schicksal der Welt erwartet hätte. Es war eher eine leise Sehnsucht nach dem Außergewöhnlichen. Rückblickend hätte ich wahrscheinlich mehr Salinger lesen sollen.

Anfangs war es eigentlich ziemlich gut gelaufen.

Ich hatte mich für die Sommerschule eingeschrieben, um mich mit ein paar Kursen schon mal ein wenig einzugewöhnen, bevor im Herbst der eigentliche Unterricht begann. Ich hatte sogar mein Zimmer für mich allein gehabt, bis Mitte August Thea eingetroffen war.

Alles war so vollkommen anders gewesen als mein Leben in Oklahoma, dass ich genauso gut auf der Venus hätte gelandet sein können. Und ich fand es cool.

Dann hatte im Herbst das Schuljahr begonnen, und ich hatte schnell feststellen müssen, dass es richtig schwer werden würde. Was ich erwartet hatte. Theoretisch. Aber praktisch?

Es war richtig viel.

Ich war schon immer schlau. Das hat jetzt nichts mit Angeberei zu tun, es entspricht einfach der Wahrheit. Schon als ich noch ein Baby war, hatten die Ärzte meinen Eltern erklärt, ihre Tochter wäre »weit für ihr Alter«. Es war Anlass zu großem Stolz für Mom und Dad, aber vor allem für Mom, die sich schon immer zutiefst danach gesehnt hatte, außergewöhnlich zu sein. Und wie eine Eislaufmutter, die ihr Kind ins Rampenlicht schubst – ob es nun will oder nicht –, hatte sie beschlossen, ich würde diejenige sein, die diesen Traum verwirklichte.

Ich würde außergewöhnlich sein.

Und in den ersten fünfzehneinhalb Jahren meines Lebens hatte ich alle Erwartungen erfüllt. Ich hatte jeden Meilenstein frühzeitig erreicht und alle Erwartungen übertroffen, wobei meine Noten stets widerspiegelten, dass ich etwas »Besonderes« war. Was auch der Grund dafür war, dass ich die vierte Klasse überspringen und mich dann mit fünfzehn an einem prestigeträchtigen Internat in Connecticut bewerben konnte. Ich war allerdings nicht sofort angenommen worden, was meinem Ego einen ziemlichen Schlag versetzt hatte. Doch schon ein paar Tage nachdem ich erfahren hatte, dass ich die Erste auf der Warteliste war, hatte die Barrington Academy mir mitgeteilt, dass ein Platz frei geworden war. Ob ich noch Interesse hätte?

Äh, ja. Ja, das hatte ich.

Mom war wie eine Verrückte durchs Haus gerannt und hatte Luftsprünge vollführt. Dad war ebenfalls sehr stolz gewesen, auch wenn ihn Mom ein wenig zu irritieren schien.

Im Lauf der Jahre hatte Mom im Familienzimmer ein Regal nach dem anderen mit meinen akademischen Auszeichnungen gefüllt und so eine Art Finley-Schrein erschaffen, den ich total peinlich, insgeheim aber auch ziemlich cool fand. Denn das war ich nun mal: Finley Brown, Superhirn.

Und dann war ich in der Barrington angekommen und plötzlich nichts Besonderes mehr gewesen.

Hier war ich Durchschnitt.

Durchschnitt.

Es war ein Schock. Ich war noch nie zuvor durchschnittlich gewesen. Als ich zum ersten Mal eine Drei auf einer meiner Klausuren gesehen hatte, war ich mir sicher gewesen, der Lehrerin wäre ein Fehler unterlaufen.

Aber das war es nicht. Es stimmte, und ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte.

Die offensichtliche Lösung war, mehr zu lernen. Und das tat ich auch. Mein Notenschnitt verbesserte sich zu einer respektablen Zwei minus, was sich immer noch wie ein Schlag in die Magengrube anfühlte. Aber mir war klar, dass ich hier nicht mehr in einem kleinen Teich dümpelte. Ich strampelte im riesigen Lake Huron, und wenn ich nicht lernte, energisch gegen die Wellen anzuschwimmen, würde ich ertrinken.

Spoileralarm: Ich bin nicht ertrunken. Aber ich hab mich auch nicht zu neuen Höhen aufgeschwungen. Und vielleicht hätte mir das auch genügt, wenn ich woanders wirklich etwas erreicht hätte, beim Sport oder im Debattierklub oder bei irgendeiner außerschulischen Aktivität. Aber auch da war ich überall nur durchschnittlich. Allerdings gab es einen Bereich, in dem ich nicht durchschnittlich war: mein Sozialleben. In Sachen »neue Freundschaften schließen und dazugehören« hätte ich mir selbst eine Vier plus bescheinigt.

Sicher, ich war auf Bronwyns Halloweenparty gewesen, aber zu der hatte sie absolut alle eingeladen, einschließlich Arthur. Dies bedeutete aber noch lange nicht, dass einer von uns beiden im Klub der coolen Kids war.

Ganz und gar nicht.

Ich selbst fiel in die Kategorie »Lernt andauernd viel zu viel« und Arthur war … na ja, Arthur. Er passte nie wirklich in irgendeine Kategorie. In gewisser Weise waren wir beide so was wie menschliche Satelliten, auf unterschiedlichen Seiten der Welt ins All geschossen – er in London, ich in Oklahoma – und beide im selben unwahrscheinlichen Orbit gelandet.

Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr.

Ich schaute aus dem Fenster und sah, dass Arthur zum Charity House hinaufblickte. Mein Zimmer befand sich im ersten Stock, deshalb war ich mir nicht sicher, was er erkennen konnte. Konnte er mich sehen? Wahrscheinlich nicht. Es war Neumond und die Beleuchtung rund um den Teich eher spärlich. Trotzdem fragte sich ein Teil von mir …

Arthur wandte sich ab und ging davon.

Ein anderer Teil von mir dachte unwillkürlich, dass ich damit Arthur Chakrabarti Watercress, den seltsamen Jungen aus der Schule, in der ich selbst ein ziemlicher Flop gewesen war, wohl zum letzten Mal gesehen hatte. Denn ich war mir allmählich sicher: Wenn ich wieder zu Hause war, würde ich meine Eltern davon überzeugen, mich in Oklahoma bleiben zu lassen. Und obwohl theoretisch die Chance bestand, dass ich Arthur begegnete, wenn ich meine Sachen aus der Barrington abholte, wusste ich, es war unwahrscheinlich.

Ich bin mir nicht sicher, warum mich diese Erkenntnis ausgerechnet in diesem Moment traf. Warum ich den Blick weiter auf diese blaue Wollmütze und die grüne Daunenjacke gerichtet hielt, die langsam von den abendlichen Schatten verschluckt wurden, bevor sie schließlich um die Ecke verschwanden.

Aber ich tat es. Ich sah ihm nach. Und war sicher, ihn nie wiederzusehen.

Wie sich herausstellte, hätte ich damit nicht falscher liegen können.

Eins

19. Dezember

Du schuldest mir ein Weihnachten!«

Arthur Chakrabarti Watercress starrte mich mit seinen dunkelbraunen Augen an, in denen eine Wut und Empörung funkelte, die weit über alles hinausging, was man einem knapp 1,80 Meter großen Jungen zugetraut hätte, der weniger auf die Waage brachte als eine einjährige Deutsche Dogge. (Das ist übrigens nur geraten. Ich habe weder Arthur gewogen noch eine Deutsche Dogge. Aber ihr wisst, was ich meine.) Sein ewig pedantischer britischer Akzent in Kombination mit einem winzigen Fleckchen Spucke in seinem linken Mundwinkel untergrub jedoch seinen offenkundigen Einschüchterungsversuch. Er konnte von Glück sagen, dass ich ihm nicht direkt in sein hochrotes Gesicht lachte.

Aber vielleicht lag es auch daran, dass ich immer noch nicht fassen konnte, dass er hier war. In Oklahoma. In meiner Heimatstadt. Genauer gesagt im Garten hinter der Pension meiner Grandma Jo, in der er, wie ich jetzt wusste, mit seiner Tante die Weihnachtsferien verbrachte.

Großartig. Absolut verflucht großartig.

Und das war noch nicht alles: Arthur hatte leider nicht ganz unrecht. Ich schuldete ihm was. Vielleicht nicht unbedingt »ein Weihnachten«, was immer das auch bedeuten mochte. Aber ich schuldete ihm zumindest eine Entschuldigung, und das nicht nur, weil ich ihn nach dem Bienenzwischenfall einfach hatte stehen lassen. Und dazu wäre ich auch noch gekommen, irgendwann, wenn er nicht auf mich losgegangen wäre wie ein wilder Gockel.

»Arthur –«, setzte ich an.

Weiter kam ich nicht.

»Nein!« Er hielt einen Finger hoch. Den Zeigefinger. Arthur würde niemals so tief sinken, jemandem den Stinkefinger zu zeigen. Das war nur etwas für Vollidioten und Sportfans, wie ich ihn einmal in der Schule hatte sagen hören, und ich war mir ziemlich sicher, dass er das als Synonyme betrachtete.

»Meine Tante und ich würden nicht für die komplette nächste Woche in diesem gottverlassenen Kaff festsitzen, anstatt ein perfektes amerikanisches Weihnachtsfest zu erleben, wenn uns dein Haufen schamloser Lügen nicht hierhergelockt hätte.«

Ja, okay. Auch damit hatte er nicht ganz unrecht. Ich hasste es, wenn er tatsächlich recht hatte, anstatt nur zu glauben, er hätte recht, was er immer tat. Trotzdem war »ein Haufen schamloser Lügen« ein bisschen überdramatisiert, selbst für ihn.

Ich klopfte mit dem nun leeren Plastikbecher auf mein Bein. Er war mit Vogelfutter gefüllt gewesen, und ich hatte gerade den Rest davon ins Futterhäuschen geschüttet, bevor Arthur mich so wutentbrannt zur Rede gestellt hatte. Immerhin hatte er bis nach dem Brunch damit gewartet, mich abzufangen.

Ich versuchte es erneut. »Es tut mir wirklich lei–«

»Mit einer Entschuldigung ist es nicht getan, Finley Brown.«

Vollständiger Name. Das universelle Zeichen dafür, dass man richtig Ärger kriegt. Wundervoll. Offenbar war jegliches Wohlwollen, das vor zehn Tagen bei unseren gemeinsamen Bemühungen zur Bienenrettung womöglich entstanden war, vollkommen verpufft.

»Und was willst du dann von mir?«, fragte ich, hilflos und immer genervter.

»Ich will ein richtiges amerikanisches Weihnachtsfest, und ich will, dass du dafür sorgst, dass wir es bekommen. Das bist du mir schuldig. Du bist mir und meiner Tante ein richtiges amerikanisches Weihnachten schuldig. Wie das auf dieser Mogelpackung von einer Website, die du allen präsentiert hast.«

»Es ist keine Mogelpackung –«

Seine Augen weiteten sich, als er sein Handy hochhielt, auf dessen Bildschirm deutlich ein Main-Street-an-Weihnachten-Idyll zu sehen war, wie direkt aus einem Film.

Denn, na schön, ich gebe es zu: Es stammte direkt aus einem Film und zeigte nicht wirklich meine Heimatstadt. Und die Tatsache, dass dieses Bild auf der offiziellen Website der Stadt zu sehen war, konnte man durchaus als so etwas wie einen Betrugsversuch bezeichnen. Nicht dass sich irgendeiner der Verantwortlichen daran störte.

Und, okay, na gut. Als ehemalige Rathauspraktikantin, die noch immer über sämtliche Passwörter verfügte, war ich dafür verantwortlich, dass dieses Foto dort zu sehen war – zusammen mit mehreren anderen, die das volle Spektrum von »ein wenig irreführend« bis »totaler Humbug« abdeckten. Zu meiner Verteidigung muss ich jedoch sagen, ich hätte niemals gedacht, irgendjemand würde wirklich tun, was Arthur und seine Tante getan hatten: der Website tatsächlich glauben und den ganzen Weg von Connecticut nach Oklahoma fliegen, in der Hoffnung, ein Weihnachtsfest zu erleben, das in Wahrheit nichts weiter als eine von einem skrupellos kapitalistischen System erzeugte Illusion war, durch die Nostalgie in Profit verwandelt und unerfüllbare Erwartungen geschaffen werden sollten. Außerdem gab es Yelp-Bewertungen, die die beiden hätten zurate ziehen können und die wirklich nicht schön waren.

Ich hatte jedoch nicht vor, Arthur auf irgendetwas davon hinzuweisen. Stattdessen biss ich auf meine Unterlippe.

»Also?«, fragte er. »Was hast du dazu zu sagen?«

Nichts Höfliches.

»Könnt ihr nicht einfach euer Geld zurückverlangen?«

»Nein. Können wir nicht.«

Ich seufzte, mein Atem kondensierte sichtbar in der Kälte, und ich blickte mich um – eher um seinem Versuch eines tödlichen Blicks auszuweichen, und nicht, um mich zu orientieren.

Als könnte ich jemals nicht wissen, wo ich war in der Stadt, in der ich aufgewachsen war. Sie war schließlich nicht besonders groß, weder einwohner- noch flächenmäßig.

Und hier – im Garten des Hoyden Inn, Grandma Jos ganzer Stolz – war der Ort, den ich besser kannte als alle anderen in der Stadt. Ich hatte schon als Kind unzählige Stunden hier verbracht, weil Grandma Jo auf mich aufgepasst hatte, während Mom und Dad bei der Arbeit waren, später dann als ihre inoffizielle Assistentin. In dieser Funktion war ich gerade unterwegs, als Arthur mich vor etwa zehn Minuten abgefangen und mir wegen meiner wirklich völlig unbeabsichtigten Missetaten den Marsch geblasen hatte.

Ihr fragt euch jetzt wahrscheinlich, wie das Einstellen von ein paar falschen Fotos auf der Website einer winzigen Stadt in Oklahoma überhaupt zu diesem ungeheuerlichen Feiertagsschlamassel hatte führen können. Diese Frage ist durchaus berechtigt. Und es gibt tatsächlich eine Information, die hier ein wenig Aufschluss geben kann:

Der Name meiner Heimatstadt ist Christmas.

Ja, richtig: Christmas, Oklahoma.

Zu den Ursprüngen des Namens komme ich gleich noch, aber ihr versteht wahrscheinlich, dass er bei Besuchern eine gewisse Erwartungshaltung auslösen kann, auch wenn die Begeisterung in der Regel sofort nachlässt, sobald sie hier ankommen und der Realität ins Auge blicken. Normalerweise setzen sie sich dann einfach wieder ins Auto und fahren mit kaum mehr als gelinder Verärgerung und ein paar kitschigen Fotos wieder davon.

Andererseits fliegen die üblichen Besucher auch nicht extra hierher, nur weil eine Highschoolschülerin versucht hat, ihre neuen Klassenkameradinnen und -kameraden mit ihrer charmanten Heimatstadt zu beeindrucken, und finden vor Ort dann nichts weiter als heruntergekommene Fassaden und ein acht Meter hohes, kopfloses Weihnachtsmannschild aus Holz vor. Den Kopf hatte es vor ungefähr zwei Jahren verloren: Er war so oft als Zielscheibe benutzt worden, dass er während eines Frühlingssturms schließlich abgebrochen war.

Der Kopf wurde übrigens nie wiedergefunden, was schon ein bisschen beunruhigend war. Schließlich ist er nicht so leicht zu verstecken.

Ich schaute wieder zu Arthur.

»Und wie genau soll das aussehen?«, fragte ich ihn.

»Nun ja, laut dieser Lügenwebsite, die du absichtlich verfälscht hast, um diese Stadt allen in der Schule als Weihnachts-Shangri-La im Herzen Amerikas zu präsentieren –«

»Komm mal wieder runter, Arthur.«

»– bietet sie ihren Besuchern eine Vielzahl von Möglichkeiten, an weihnachtlichen Unternehmungen teilzunehmen und ganz besondere Erinnerungen zu schaffen. Zum Beispiel«, er wischte über seinen Handybildschirm, »einen Schneemann bauen.«

Ich runzelte die Stirn und ließ den Blick über die flache, frostige Landschaft schweifen, die nicht viel mehr als totes vergilbtes Gras bot.

»Es liegt kein Schnee.«

»Dann finde welchen.« Er wischte weiter. »Eine Schlittenfahrt.«

»Wie ich schon sagte: kein Schnee.«

»Dann hättest du es wohl nicht auflisten sollen.« Erneutes Wischen. »Kastanien rösten über offenem Feuer.«

Gott. Warum hatte ich das bitte erwähnt? Oh, richtig. Auf dem Dauerweihnachtssender im Radio war dieses Lied gelaufen, als ich mir Mitte November an der Website zu schaffen gemacht hatte – und jetzt musste ich innerhalb nicht mal einer Woche irgendwo Kastanien auftreiben. Was zur Hölle waren Kastanien überhaupt? So was wie Haselnüsse? Würde Arthur den Unterschied überhaupt bemerken? Wie ich ihn kannte, wahrscheinlich schon.

Vielleicht gab’s bei Amazon welche.

Erneutes Wischen.

»Rentiere.«

Ich runzelte die Stirn. »Rentiere?«

»Rentiere.«

Er zeigte mir ein Foto von einem Rentier, das mich über der Bildunterschrift Echte Rentiere mit Reindeer Corn füttern! anstarrte.

Und dann fiel es mir wieder ein: Ich hatte während meiner großen Täuschung »Reindeer Corn« gegessen – diesen rot-grün gestreiften Süßkram, den es nur zu Weihnachten gab – und mich ganz offensichtlich davon inspirieren lassen.

Zauberhaft.

Das Problem war nur: Rentiere waren in Oklahoma nicht direkt heimisch, und auch wenn ich nicht viel über sie wusste, war ich mir ziemlich sicher, dass sie keine Süßigkeiten fraßen. Nicht dass ich es jemals herausfinden würde.

»Ah«, fuhr Arthur fort, und seine Augen begannen zu leuchten. »Ganz wichtig: der Zauber der Weihnachtslichter.«

Gott sei Dank! Endlich etwas, das ich ihm tatsächlich bieten konnte. Nicht hier in Christmas, aber in Chickasha, einer Stadt ganz in der Nähe, die ein großartiges Lichterfest veranstaltete – und von der ich mir, nicht ganz zufällig, das Foto für die Christmas-Website geborgt hatte.

»Geht klar«, erklärte ich zuversichtlich.

Er kniff zweifelnd die Augen zusammen, fuhr jedoch fort: »Außerdem will ich auf eine Party gehen.«

»Das steht aber nicht auf der Website.«

»Nichtsdestotrotz bin ich mir ziemlich sicher, dass es in einer Stadt dieser Größe für Teenager nicht viel anderes zu tun gibt, als sich zu versammeln und zu trinken. Vor allem in den Weihnachtsferien. Und du scheinst über ausreichende soziale Kompetenzen zu verfügen, um hier wenigstens eine Freundin zu haben –«

»Danke?«

»Deshalb solltest du durchaus in der Lage sein, eine weihnachtliche Soiree aufzutun – und an dieser würde ich gerne teilnehmen. Mit dir als meiner Begleitung, natürlich.«

Die Vorstellung, einen Typ, der die Worte »weihnachtliche Soiree« vollkommen ironiefrei aussprach, meinen Kleinstadtfreunden vorzustellen, mit denen ich in Oklahoma aufgewachsen war, erschien mir alles andere als reizvoll. Aber meine Optionen waren begrenzt. Außerdem hatte mit genügend Alkohol selbst Arthur das Potenzial, annähernd erträglich zu sein. Unsere einzige nennenswerte Begegnung vor dem Zwischenfall mit der Biene war bei Bronwyn Campbells Halloweenparty gewesen. Arthur hatte seinen eigenen Chianti mitgebracht – natürlich hatte er das –, und nach ein paar Gläsern hatte er sich bei unserer Diskussion über die Möglichkeit, das Universum könnte nur eine Simulation sein und wir alle empfindungsfähige Programme, die zur Unterhaltung gottgleicher Überwesen vorbestimmte Geschichten durchspielten, recht vernünftig gebärdet. Nach dem Wein hatte die Theorie übrigens durchaus einleuchtend geklungen.

»Ich könnte mich ja mal umhören«, bot ich an.

Er nickte zufrieden. Wisch! Wisch! Wisch!

»Hier steht noch jede Menge mehr. Schau es dir noch mal an und wir reden später darüber. Du solltest aber wissen, dass ein Punkt nicht verhandelbar ist: Schnee. Am Weihnachtstag muss Schnee liegen.«

»Ernsthaft, Arthur, das hatten wir doch schon. Wir haben keinen Schnee.« Ich zeigte mit ausladender Geste auf unsere noch immer schneelose Umgebung. Er ließ sich jedoch nicht beirren.

»Zu jedem perfekten amerikanischen Weihnachtsfest gehört Schnee. Das ist allgemein bekannt. Deine Website der Täuschungen verspricht sogar an allen Weihnachtstagen Schnee.« Er zeigte darauf. »Hier steht es, klar und deutlich. Und ich weiß mit Sicherheit, dass Tante Esha sich bei unserem Besuch hier vor allem auf den Schnee gefreut hat.«

»Wenn ihr Schnee wollt, dann hättet ihr über Weihnachten in Connecticut bleiben sollen.«

»Na, das sind wir aber nicht, oder?«

Nein.

Arthur betrachtete mich einen Moment lang, bevor er fortfuhr: »Du wirst uns beiden alle auf besagter Website versprochenen Weihnachtserlebnisse bieten«, er hielt sein Handy wieder hoch, »und dafür sorgen, dass sie idyllisch, perfekt und, am allerwichtigsten, unvergesslich sind.«

»Warum?«

»Weil du es mir schuldig bist.«

»Wegen der Biene?«

»Nein. Aber das kommt erschwerend hinzu.«

»Deine Reaktion ist total unverhältnismäßig.«

»Die Gründe für meine Reaktion gehen nur mich etwas an.« Sein plötzliches Unbehagen verriet mir, dass mehr hinter dieser ganzen Sache steckte.

Aber ich war noch nicht bereit zu kapitulieren.

»Und wenn ich das nicht alles tun will?«

Er schien auf diese Frage vorbereitet zu sein.

»Dann werde ich all meine Zeit hier damit verbringen, so viele Fotos und Videos von diesem völlig reizlosen Kaff zu machen wie möglich, deine Freunde und andere Einwohner der Stadt befragen und diese Informationen dann mit zurück an die Barrington nehmen. Dort werde ich dafür sorgen, dass sie von absolut allen zur Kenntnis genommen werden, damit dein Image der Prinzessin aus dem Mittleren Westen als die Lüge enttarnt wird, die es ist. Und du weißt ja, was Bronwyn Campbell oder Josie Sutton und Konsorten damit anstellen würden.«

Ja, das wusste ich. Und einem Teil von mir tat Bronwyns Brüskierung von vor zehn Tagen immer noch weh.

Aber tief in meinem Inneren hatte ich auch das Gefühl, Arthur bluffte nur. Allerdings spielte es sowieso keine Rolle, weil er nicht wusste, dass ich nicht vorhatte, an die Barrington zurückzukehren – was seine Drohung, meinen Ruf dort zu ruinieren, vollkommen wirkungslos machte.

Das änderte jedoch nichts an meinem schlechten Gewissen.

Nicht wegen Arthur – er konnte von mir aus lange jammern –, sondern wegen seiner Tante Esha, die ich beim Brunch kennengelernt hatte. Dort hatte ich auch Arthur zum ersten Mal hier gesehen, wobei ich fast den Teller mit den Pfannkuchen hätte fallen lassen, die ich gerade an Mr und Mrs Yablonskis Tisch hatte bringen wollen.

Ich mochte seine Tante Esha sofort, obwohl sie über ein geradezu unheimliches Pokerface verfügte und ich keine Ahnung hatte, ob dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte.

Grandma Jo hatte uns miteinander bekannt gemacht. Tante Esha hatte gewusst, dass ich eine Klassenkameradin ihres Neffen war, und meiner Großmutter gegenüber den Wunsch geäußert, mich kennenzulernen. Sie strahlte Anmut und innere Ruhe aus, wie eine international erfahrene Diplomatin – die sie übrigens war.

Es war gleichermaßen einschüchternd und faszinierend.

Der Gedanke, sie könnte von ihrem Besuch über die Feiertage hier enttäuscht sein, traf mich ziemlich hart. Vor allem, weil ich wusste, wie sehr sich Grandma Jo darüber freute, endlich mal ein paar andere Weihnachtsgäste zu haben als nur die üblichen. Sie war sogar so weit gegangen, neue Rezepte wie Chicken Biryani, Samosas und Kheer auszuprobieren, damit die beiden sich willkommen fühlten. Es war ihr immer wichtig, dass sich ihre Gäste bei ihr wie zu Hause fühlten, und ich wollte sicher nicht diejenige sein, die das kaputtmachte.

Außerdem gab es da noch ein paar ganz andere, persönlichere Dinge, von denen ich seit meiner Rückkehr erfahren hatte. Zum Beispiel war meine beste Freundin Mia mit meinem Ex-Freund Brody zusammengekommen, während ich weg war. Und meine Eltern hatten sich überraschend getrennt, was sie während unserer wöchentlichen Telefonate irgendwie zu erwähnen vergessen hatten. Beiden Problemen wollte ich am liebsten einfach aus dem Weg gehen – und für Arthur eine Art durchgeknallte Best-of-Weihnachtstour durch die Stadt zu veranstalten, würde mir dabei helfen.

Die ganze Sache hatte für mich also noch bedeutend mehr Vorteile, als nur seine Erpressungsversuche zu verhindern, weshalb ich erwiderte: »Okay.«

Arthur kniff erneut die Augen zusammen. »Was soll das heißen?«

»Nun, Arthur, die Ursprünge dieses Begriffs finden sich im Boston des neunzehnten Jahrhunderts. Er gehörte zu den ersten Wörtern, die, wie wir es heute nennen würden, ›viral gingen‹, als ein Redakteur –«

Sein Gesicht glühte noch röter. »Mir ist durchaus bekannt, was ›okay‹ im allgemeinen Sinne bedeutet – ebenso wie seine Etymologie, vielen herzlichen Dank. Meine Frage galt seiner Bedeutung in diesem Kontext, hier und jetzt, mit dir.«

»Okay bedeutet … okay. Ich werde dir dabei helfen –«

»Und Tante Esha, wenn sie will?«

»Und deiner Tante Esha, wenn sie will, ein« – ich malte Anführungszeichen in die Luft – »›richtiges amerikanisches Weihnachtsfest‹ zu erleben.«

Das hätte ihn zufriedenstellen sollen.

Aber natürlich tat es das nicht.

»Du musst enthusiastisch sein.«

»Was?«

»Es wird nicht funktionieren, wenn du uns durch dieses« – er wedelte mit der Hand in der Luft herum, als wollte er Fliegen verscheuchen – »von der Welt vergessene Hinterwäldlerkaff führst und dabei permanent diesen miesepetrigen Ausdruck im Gesicht hast.«

»Ich hab nicht permanent einen miesepetrigen Ausdruck im Gesicht!«

»Als jemand, der den besseren Blick auf dein Gesicht hat, kann ich dir versichern: Den hast du.«

»Vielleicht liegt das ja an dir. Vielleicht bin ich einfach immer miesepetrig, wenn du in der Nähe bist.«

»Wie dem auch sei, ich bitte dich, dies für die Dauer unseres Ferienaufenthalts zu unterlassen.«

Ich hielt es nicht mehr aus. »Gott, Arthur, du klingst, als wärst du siebzig.«

»Das nennt man ›sich vernünftig ausdrücken‹. Du solltest es auch mal versuchen.«

»Und du solltest mal versuchen, kein Arschloch zu sein.«

Wow, das war wirklich eine üble Retourkutsche, das erkannte selbst Arthur.

Er grinste spöttisch. »Unmöglich.« Er schob den Ärmel seiner mir inzwischen vertrauten grünen Daunenjacke zurück, schaute auf seine Uhr – eine Rolex natürlich, denn Arthur Chakrabarti Watercress nahm nicht nur in der Ruhmeshalle der nervtötenden Leute einen Ehrenplatz ein, er war auch geradezu widerwärtig reich, oder zumindest waren es seine Eltern – und dann wieder zu mir.

»Es ist 12:30 Uhr an unserem ersten vollen Tag hier. Tante Esha und ich werden um 18 Uhr im Speisesaal zu Abend essen. Wir beide können uns vorher treffen, um den morgigen Tag zu planen.«

»So schnell kann ich aber nichts vorbereiten. Ich muss bis vier arbeiten. Ich bin Grandma Jos stellvertretende Managerin für Gästeservice und -zufriedenheit.«

»Diese Jobbezeichnung ist eindeutig erfunden.«

»Sind nicht alle Jobbezeichnungen erfunden, wenn du mal darüber nachdenkst?«

Er dachte darüber nach. Und nickte dann halb. »Auch wieder wahr. Aber wir werden das trotzdem heute Abend weiterbesprechen.«

Und damit ging er, bevor ich mir irgendeine Erwiderung einfallen lassen konnte, was zweifellos seine Absicht war. Dramatischer Abgang, dein Name ist Arthur.

Aber was konnte ich schon sagen? Hatte ich es mit ihm am Teich nicht mehr oder weniger genauso gemacht? Abgesehen von der blumigen Ausdrucksweise natürlich.

Ich sah ihm nach, wie er durch den kleinen Garten zum Hintereingang der Pension ging, das einzige Geräusch das Rascheln seiner Ärmel, die seitlich an seiner Jacke streiften, sein Rücken kerzengerade, als hätte er irgendwann mal einen Unfall gehabt, nach dem all seine Wirbel in einer starren Linie miteinander hatten verschweißt werden müssen, weshalb er sie nun nicht mal mehr ein winziges bisschen beugen konnte.

Auf der Veranda blieb er stehen, drehte sich abrupt um und schaute mir in die Augen. Dann tippte er erneut auf sein Handy, um seine Forderungen zu unterstreichen, bevor er ins Haus ging und die Tür mit einem beeindruckenden Knall, der in der ansonsten ungetrübten Stille des Nachmittags widerhallte, hinter sich ins Schloss fallen ließ.

Gott, würde dieses Weihnachten beschissen werden.

Zwei

Ich wartete volle fünf Minuten im Garten, um Arthur ganz sicher nicht noch einmal zu begegnen, bevor ich zurück ins Haus und direkt in die Küche ging.

Das Hoyden Inn wurde in den späten 1990ern im traditionellen »American Craftsman«-Stil erbaut, mit rotem Backsteinsockel, weißer Verkleidung und einer breiten Veranda inklusive weißem Geländer mit schmalen senkrechten Latten.

Ich liebte diese Pension.

Auf dem hinteren Teil des Grundstücks, jenseits des Gartens, standen vier Cottages. Grandma Jo versuchte schon seit einer Weile, die Genehmigung des örtlichen Bauamts für ein fünftes Cottage zu bekommen, um das Haus um einen richtigen Wellnessbereich erweitern zu können. Es war schon lange ihr Traum, und sie war überzeugt, das Hoyden damit zusätzlich aufwerten und Touristen durch mehr als nur den etwas kuriosen Weihnachtsfaktor in die Stadt locken zu können.

Bisher hatte die Behörde Grandma Jos Anträge jedoch immer wieder abgelehnt – mit ziemlich fadenscheinigen Begründungen. Sie war überzeugt, das Bauamt wollte sie damit nur dazu bringen, den Namen der Pension zu ändern, damit er thematisch zum Rest der Stadt passte.

Aber meine Großmutter gab nicht auf. Und ich bewunderte sie dafür.

Als ich in die Küche kam, stand mein Dad an der weißen Marmorarbeitsplatte der Kücheninsel und machte sich ein Pimiento-Käsecreme-Sandwich.

Das war nicht gut.

Und nicht nur für seine Verdauung.

Pimiento-Käse auf Weißbrot war ein sicheres Zeichen dafür, dass Dad sich beschissen fühlte und Trostfutter brauchte – und leider war das der Trost seiner Wahl.

In jeder anderen Situation hätte ich ihn für seine miese kulinarische Entscheidung ausgeschimpft, aber im Moment konnte ich ihm das nicht antun. Nicht, nachdem ich von der Trennung meiner Eltern erfahren hatte. Sie war der Grund dafür, dass er momentan in einem der Cottages hinter der Pension seiner Mutter wohnte und nicht in dem Haus auf der anderen Seite der Stadt, das er vor zwölf Jahren gekauft hatte.

Mom nahm sich »ein bisschen Zeit für sich selbst«. So hatte Dad mir erklärt, warum sie bei meiner Ankunft vor einer Woche nicht zu Hause gewesen war. Sie war in irgendeinem Retreat in Branson, Missouri, zusammen mit Tante Jennifer.

Und sie war noch immer nicht nach Hause zurückgekehrt. Bisher hatten wir noch nicht miteinander gesprochen, sondern uns nur ein paar knappe und völlig unbefriedigende Nachrichten hin- und hergeschickt.

Es war seltsam. Alles war seltsam.

»Hey, Kleines«, sagte Dad kauend. Er lehnte sich lässig an die Theke.

Mein Dad – Vernon Lee »Skip« Brown, fürs Protokoll – war ziemlich gut aussehend, für einen Dad jedenfalls. Er hatte noch sein komplettes Haar und keinen wachsenden Rettungsring wie die Väter so vieler meiner Freunde. Mit seinen vierunddreißig Jahren war Dad allerdings auch deutlich jünger als die Väter der meisten meiner Freunde, was er definitiv als Vorteil verbuchen konnte. Zum Glück nahm er sein relativ junges Alter nicht zum Anlass, mein Kumpel sein zu wollen anstatt mein Vater. Ich meine, das braucht schließlich niemand, oder?

»Hey«, grüßte ich zurück und stellte den leeren Vogelfutterbecher ab.

Ich zog meine Jacke aus, schnappte mir eine der blau-weiß längs gestreiften Schürzen vom Haken in der Ecke, band sie mir um, griff nach den latexfreien Handschuhen, streifte auch sie über, drehte das warme Wasser auf und machte mich daran, den imposanten Stapel aus Töpfen und Pfannen abzuwaschen, der im Spülbecken auf mich wartete. Auch das gehörte zu meinen Aufgaben als stellvertretende Managerin für Gästeservice und -zufriedenheit. Es gab keinen Manager für Gästeservice und -zufriedenheit, es gab überhaupt keine Jobbezeichnungen. Arthur hatte recht gehabt: Ich hatte mir das nur ausgedacht. Aber jetzt gefiel es mir irgendwie. Vielleicht würde ich den Titel sogar bei meiner Collegebewerbung erwähnen.

»Mit wem hast du dich denn da unterhalten?«, wollte Dad wissen.

Ich schaute ihn stirnrunzelnd an. »Wann?«

»Gerade eben.«

Er zeigte mit einem Nicken auf das Küchenfenster, durch das man den Garten sehen konnte.

»Oh. Das war Arthur. Er und seine Tante haben gestern Abend eingecheckt.«

»Chakrabarti?«

Wir hatten alle die Angewohnheit, Gäste nur mit ihrem Nachnamen zu bezeichnen, wenn wir uns über sie unterhielten, und obwohl Dad nicht offiziell hier arbeitete – er war Versicherungskaufmann –, machte er es genauso.

Ich nickte. »Aber genau genommen ist Arthurs Nachname Watercress – wie die Pflanze. Sein Dad ist weiß.«

»Du kennst ihn?«

»Äh, ja.«

Ich schrubbte weiter die Rosmarinkartoffelreste von der Innenseite des 10-Liter-Edelstahltopfs und hoffte, Dad würde die Sache damit auf sich beruhen lassen. Doch meine Chancen darauf standen so ziemlich exakt bei null. Es gab zwei Arten von Vätern: Die einen wollten andauernd über jeden einzelnen Aspekt deines Lebens Bescheid wissen und die anderen waren mit den allgemeinen Schlagzeilen zufrieden. Mein Dad gehörte definitiv zu ersteren.

»Woher?«

»Barrington.«

»Er geht auf die Barrington?«

»Yep.«

»Wusstest du, dass er nach Christmas kommt?«

»Gott, nein.«

Dad kaute ein bisschen weiter. Nachdenklich.

»Seid ihr zwei … zusammen?«

Ich hätte beinahe den Topf fallen lassen.

»Was? Nein! Igitt. Widerlich.«

Er hielt beide Hände hoch, in einer noch immer das Sandwich. »Ich frag ja nur.«

Ich widmete mich wieder dem Topf und schrubbte noch energischer. Versuchte den Gedanken, mit Arthur zusammen zu sein, aus meinem Kopf zu kriegen.

Dad fuhr fort: »Ihr schient euch nur sehr angeregt zu unterhalten, das ist alles.«

»So ist Arthur eben.«

»Du warst es aber auch.«

»War ich?«

Ayisha Lewis bemerkte: »Warst du, total.«

Ich drehte mich um, als Ayisha in die Küche und, allem Anschein nach, in meine Unterhaltung mit Dad platzte.

Sie hatte ihre langen schwarzen Braids oben zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst und trug sie unten offen. Ihr üblicher Style, nur die weinroten Spitzen waren neu. Neu war auch, sie in der »Uniform« von Grandma Jos Angestellten zu sehen, die ich auch trug: hellblaues Hemd, marineblauer Rundhalspullover und Kakihose.

Denn Ayisha Lewis, das hübscheste Mädchen meiner alten Highschool, arbeitete ebenfalls im Hoyden Inn.

Eine weitere Überraschung für mich. Wer hätte gedacht, dass in sechs Monaten so viel passieren konnte?

Sie lächelte und nickte meinem Dad zu. »Hey, Mr Brown.«

Er lächelte zurück. »Hi, Ayisha.«

Dann wandte sich Ayisha um und richtete ihre dunkelbraunen Augen auf mich. Sie grinste süffisant. Sie grinste immer süffisant. Als sie geboren und ihrer Mutter in die Arme gelegt wurde, schlug sie – da würde ich bares Geld darauf verwetten – ihre winzigen Babyaugen auf, guckte die Frau an, die sie erschaffen hatte, und grinste süffisant. Allerdings grinste sie besonders gern süffisant, wenn sie mich anschaute. Wofür es Gründe gab.

»Und rot geworden bist du auch«, fügte sie hinzu, weil sie genau wusste, es würde mich ärgern.

Was es auch tat.

»Mir war kalt. Es ist kalt draußen. Mir hat die ganze Zeit der Wind ins Gesicht geblasen, deshalb waren meine Wangen rot.« Eine schamlose Übertreibung, der berühmt-berüchtigte Wind von Oklahoma benahm sich heute eigentlich recht anständig. Aber kalt war es trotzdem. Und ich war definitiv nicht rot geworden.

»A-ha«, erwiderte Ayisha in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie mir nicht glaubte.

Ich wandte mich von ihr ab und stellte den nun sehr gründlich geschrubbten Topf auf das Abtropfgestell, bevor ich mir den nächsten schnappte und von Neuem zu schrubben begann.

Ayisha bot mir keine Hilfe an. Stattdessen begann sie, Zimttee in einer Kanne mit Weihnachtssternmuster aufzusetzen. Ihre Hände waren schlank und elegant. Sie pflegte sie, wie ich es bei meinen nie tat. Vor allem ihre Fingernägel. Die waren sensationell und sie änderte das Acryldesign ständig. In dieser Woche war das Motto offenbar Rot-Grün und die Nägel zeichneten sich als wunderschönes Relief auf Ayishas dunkelbrauner Haut ab. Ich hätte niemals so cool einen solchen Look tragen können. Niemals.

Sie ertappte mich dabei, wie ich sie beim Teekochen anstarrte, und zog eine perfekt gezupfte dunkle Augenbraue hoch. Sie erklärte nichts weiter, weil der Tee ganz offensichtlich für einen der Gäste der Pension bestimmt war. Im Augenblick waren es insgesamt sechs Gäste – mit Dad und mir war das ein volles Haus.

Dad verschlang den Rest seines Sandwiches und lächelte Ayisha und mich an, bevor er sich mir zuwandte.

»Willst du später auf ein Spiel vorbeikommen?«, fragte er.

Er meinte Schach. Dad und ich spielten Schach, seit ich die Figuren über das Brett bewegen konnte. Es war unser Ding. Und auch wenn wir nicht immer tiefschürfende Gespräche dabei führten, bot ein Spiel die Gelegenheit dazu, falls einer von uns etwas auf dem Herzen hatte.

Ich nahm an, es war seine Art, »das Gespräch« anzukündigen, bei dem es vor allem um »die Situation« mit ihm und Mom gehen würde. Darüber hatten wir nämlich noch nicht wirklich geredet. Man sollte meinen, das hätten wir längst. Aber wenn es etwas gab, worin meine Familie wirklich gut war, dann im Vermeiden schwieriger Themen. Wir würden definitiv Medaillen darin gewinnen.

»Sicher. Nach dem Abendessen«, antwortete ich. Vielleicht wäre das ja auch eine gute Gelegenheit, meinen Plan anzusprechen, nicht an die Barrington zurückzukehren.

Er nickte und verließ die Küche.

Ich schaute ihm einen Moment lang nach und spürte, wie sich mir die Brust zusammenschnürte bei dem Gedanken, auch nur über eins dieser beiden Themen zu sprechen. Vor allem über ihn und Mom. Mit meinen sechzehn Jahren hatte ich wirklich nicht geglaubt, noch zum Scheidungskind zu werden, aber anscheinend war das voreiliger Optimismus gewesen.

Der Wasserkessel begann zu pfeifen, aber Ayisha nahm ihn nicht vom Gasherd. Stattdessen ließ sie ihn immer lauter heulen, während sie auf ihrem Handy herumscrollte.

»Bin mir ziemlich sicher, dass es kocht«, sagte ich.

Sie blickte langsam zu mir hoch, bewegte sich jedoch keinen Zentimeter in Richtung des kreischenden Kessels.

Ich rollte mit den Augen und schrubbte weiter.

So war es zwischen Ayisha und mir nicht immer gelaufen. In der Grundschule waren wir beinahe Freundinnen gewesen, als sie noch eine Klasse über mir war – bevor ich die vierte übersprungen und direkt in die fünfte gekommen war.

Ich war damals neun und landete durch den Sprung in einer Gruppe älterer und reiferer Kinder, auch wenn uns nur ein Jahr oder so trennte. Bei Erwachsenen fällt ein Jahr nicht ins Gewicht, aber bei Kindern wirkt es sich auf alles aus, vor allem auf persönliche Beziehungen. Denn wie sich herausstellte, war Ayisha Lewis nicht nur das hübscheste Mädchen in ihrer Stufe, sie war auch daran gewöhnt, die Schlauste zu sein.

Bis ich kam. Plötzlich hatte sie bei allem echte Konkurrenz, von Englisch über Mathe bis Geschichte. In Kunst hat sie mich allerdings geschlagen. Ganz im Gegensatz zu Ayisha könnte ich selbst dann nicht zeichnen oder töpfern oder irgendwas aus Pappmaschee basteln, wenn mein Leben davon abhinge. Ihre leichte Gereiztheit über mich als akademische Herausforderin hatte sich langsam, aber sicher in eine tiefere Abneigung verwandelt, die ich früher nie verstanden hatte.

Jetzt tat ich es.

Sechs Monate an der Barrington, in denen ich praktisch von allen vorgeführt worden war, hatten mir die Augen geöffnet, um es milde auszudrücken. Und vielleicht hätte ich die ganze Sache Ayisha gegenüber irgendwann auch mal angesprochen, aber es war gar nicht die schulische Rivalität, die unsere ohnehin nicht sonderlich gefestigte Beziehung torpediert hatte. Das hatte ein gewisser Brody Tuck erledigt. Derselbe Brody Tuck, der nun mit meiner ehemals besten Freundin Mia zusammen war.

Waren alle Kleinstadthighschools ein so toxischer Cocktail?

Und wie von einer unsichtbaren kosmischen Macht heraufbeschworen, die stets die Person herbeirief, mit der man am allerwenigsten reden wollte, vibrierte mein Handy in meiner Hosentasche.

Auf dem Bildschirm sah ich den Namen und das Profilfoto keiner Geringeren als Mia Gurdowitz. Das Foto, auf dem wir beide lächelten, unsere Gesichter eng aneinandergeschmiegt, stammte vom letzten Memorial-Day-Wochenende, von meiner Abschiedsparty, bevor ich an die Barrington gewechselt hatte. Ich fragte mich, ob sie schon damals vorgehabt hatte, sich an Brody ranzumachen, oder ob ihr die Idee erst später gekommen war.

»Mutig von ihr«, bemerkte Ayisha.

Sie sah mit scheinbarem Desinteresse auf mein Handy, bevor sie sich doch noch rührte, um den Wasserkessel vom Herd zu nehmen. Das hieß vermutlich, sie wusste über die Mia-Brody-Situation Bescheid.

Wem machte ich was vor? In einer Stadt dieser Größe war sowieso klar, dass alle über die Mia-Brody-Situation Bescheid wussten, auch wenn keiner der beiden irgendwo irgendwelche gemeinsamen Fotos in romantischen Posen gepostet hatte. Glaubt mir, ich hab’s gecheckt. Rückblickend war dieses gewisse Etwas zwischen ihnen auf den Bildern zu erkennen, auch wenn sie es clever versteckt hatten.

Ich drückte auf Ablehnen und steckte das Handy wieder weg. Dann stellte ich einen sauberen Topf beiseite. Schnappte mir eine Bratpfanne. Begann die Schrubberei von vorne.

»Vielleicht gibt’s doch so was wie ausgleichende Gerechtigkeit?«, bemerkte Ayisha.

Ich war froh, dass sie mein wutrotes Gesicht nicht sehen konnte. Es war ein altes, schmerzvolles Thema. Aber ich konnte ihr nicht zeigen, dass sie mich damit getroffen hatte. Deshalb erwiderte ich in so ruhigem, vernünftigem Tonfall, dass ich mir beinahe selbst glaubte: »Brody und ich sind nicht mehr zusammen. Wenn zwei Personen nicht mehr zusammen sind, hat keine der beiden das Recht, der anderen vorzuschreiben, mit wem sie zusammen sein darf. Richtig?«

Ich blickte mich um und sah ein genervtes Funkeln in Ayishas Augen aufblitzen. Aber nur für eine Sekunde. Dann nahm sie das Holztablett mit den Tassen und der Weihnachtssternkanne und verließ den Raum.

Also, ja. Ayisha war mit Brody zusammen gewesen, kurz bevor er und ich zusammengekommen waren.

Es gab keine Überlappung, nur um das klarzustellen. Aber auch das konnte den Tsunami von Ayishas Groll nicht aufhalten, der mir von dem Moment an entgegenschlug, als Brody und ich unsere Beziehung öffentlich machten. Es entbehrte jeder Logik, aber inzwischen war mir klar, dass Gefühle nur selten logisch waren.

Was auch der Grund dafür war, dass ich jeden von Mias Versuchen, Kontakt zu mir aufzunehmen, abgeschmettert hatte, seit ich vor sieben Tagen vor dem Sonic aufgeschlagen war und auf einen Hamburger und einen Kirsch-Limetten-Slushy gehofft hatte. Stattdessen hatte ich den Anblick von ihr und Brody in dem gegenüber vom Jeep meines Dads parkenden Truck serviert bekommen. In dem die beiden rumgemacht hatten, als wäre es eine olympische Disziplin.

Widerlich.

Mir war sofort der Appetit vergangen.

Glücklicherweise hatte Dad nicht weiter nachgebohrt, als ich wieder gehen wollte, obwohl wir gerade erst angekommen waren. Vielleicht hatte er den Ausdruck auf meinem Gesicht gesehen – oder sogar Brody und Mia – und beschlossen, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Was auch immer, ich war dankbar dafür gewesen.

Trotzdem hatte ich es geschafft, bevor wir wieder wegfuhren, ein Foto von Brody und Mia zu schießen, das ich ihr kommentarlos schickte. Ja, es war passiv-aggressiv und zickig, aber ich hatte erst am Tag vorher von Moms und Dads Problemen erfahren und war sowieso schon am Limit.

Aber hatte ich wirklich das Recht, wütend auf Mia und Brody zu sein?

Das war die Frage, die unter der Oberfläche brodelte. Schließlich hatte ich mit Brody Schluss gemacht. Ich wollte Oklahoma verlassen und nach Connecticut ziehen, um die kommenden beiden Jahre weit weg von Brody Tuck zu verbringen – dem Jungen mit dem wundervollen fluffigen Haar und den leuchtend blauen Augen –, was mir ihm gegenüber einfach nicht fair erschienen war. Damals war ich mir richtig nobel dabei vorgekommen. Reif. Selbst als er weinte und ich weinte und wir uns beide wünschten, es könnte anders sein.

Mia hatte mich so verständnisvoll getröstet damals.

Sie hatte mich in den Arm genommen, als wir in meinem Zimmer auf dem Bett gesessen hatten, und mir versichert, ich würde das Richtige tun, weil ich ihm »seine Freiheit gab«. Dass ich auf seine Nachrichten oder Anrufe nicht reagieren sollte, solange ich weg war. »Um euch beiden Zeit zu geben, zu heilen.«

Was für ein Bullshit.

Eine Bewegung vor dem Fenster über dem Spülbecken erregte meine Aufmerksamkeit. Ich hob den Blick und sah, wie die Hintertür zur Veranda aufschwang.

Heraus trat Arthurs Tante Esha, gefolgt von meiner Grandma Jo, angeregt plaudernd, während sie zwischen den gusseisernen Tischen und Stühlen durch den Garten spazierten.

Ihre Unterhaltung schien ziemlich erfreulich zu sein, dem Lächeln auf Grandmas Gesicht nach zu urteilen. Wenigstens ließ Arthurs Tante ihre Wut nicht an meiner Großmutter aus wie ihr Neffe an mir. Überhaupt wirkte sie viel netter. Irgendwo in den Vierzigern, mit kurzem dunklem Haar, wobei ihr kantiges Gesicht verriet, dass Arthur einen Großteil seines Aussehens von der Chakrabarti-Seite der Familie geerbt hatte.

Ich war zwar alles andere als eine Modeexpertin, aber der in ihrem aufgestellten Kaschmirmantelkragen steckende Schal trug das typische Burberry-Muster. Sie hatte diese korrekte, zurückhaltende Ausstrahlung, die einen vermuten ließ, dass sie woanders aufgewachsen war, noch bevor ihr englischer Akzent das bestätigte. Zarte Falten umspielten die Winkel ihrer dunkelbraunen Augen, die sich sofort vertieften, wenn sie lächelte. Ich hatte den Eindruck, das tat sie oft.

Doch es war der Ausdruck meiner Großmutter, an dem ich hängen blieb. Grandma Jo hatte seit langer Zeit nicht mehr so strahlend und glücklich ausgesehen, auch wenn mir das erst in diesem Moment bewusst wurde. In den letzten Jahren schien sie eine unausgesprochene, unsichtbare Last mit sich herumzutragen. Ich fragte mich, was der Grund dafür war, bezweifelte jedoch, dass ich es jemals herausfinden würde. Wie gesagt: So gut wir in meiner Familie auch darin waren, einander zu lieben – wir waren genauso gut darin, die wirklich schwierigen Gespräche zu vermeiden.

Mich beschlich der Verdacht, dass mir in den kommenden Tagen eine Menge davon bevorstanden – und das würde diese Weihnachtsferien besonders interessant machen.

Drei

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