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Eine Mordserie beschäftigt die Polizei in Duisburg und die Öffentlichkeit. Innerhalb von zwei Wochen werden führende Vertreter einer rechten Partei umgebracht. Die Morde werden sehr professionell ausgeführt. Das lässt den Verdacht aufkommen, es könnte ein Berufskiller sein, und diese Überlegung ist richtig, denn der Mörder hat in Kampfeinsätzen im Kosovo das Töten gelernt. Seit 2004 war der Mörder mehr als zehn Jahre als Söldner für eine Private Military Company, die im Auftrag der Bundeswehr illegale Operationen, überwiegend vom Bundestag nicht sanktionierte Kampfeinsätze gegen albanische Freischärler, durchführt hat, tätig. Mit den Ermittlungen ist eine Hauptkommissarin mit Migrationshintergrund beauftragt. Özlem Günes wuchs als Kind türkischer Gastarbeiter in Duisburg auf und ermittelt nun in der rechten Ecke der Gesellschaft. Als sich der Ring der Polizei um den Mörder immer mehr schließt, werden einige Leute, die kein Interesse daran haben, dass im Rahmen der Ermittlungen Dinge ihrer illegalen Aktivitäten an die Öffentlichkeit gelangen, nervös. Zuerst behindern sie die Ermittlungen nur, aber als dies erfolglos zu sein scheint engagieren sie Killer. So wird aus dem Mörder ein Gejagter. Kann der Mörder mit seinem Raubtierinstinkt entkommen? Wird einer der Killer ihn erwischen? Oder kann die Polizei ihn verhaften.
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Seitenzahl: 426
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Erich Szelersky
Söhne der Gewalt
Buch
Wir schreiben das Jahr 2017. Die NPD ist verboten worden. Am rechten Rand des Parteienspektrums hat sich eine neue Partei, die Deutsch-Nationale-Volksunion, DNVU, gegründet. An der Spitze der neuen Partei steht der charismatische Landesvorsitzende in NRW Peter Schremczyk. Er hat der neuen Partei ein bürgerliches Gesicht gegeben. Durch bewussten Verzicht auf provozierende neonationalsozialistische Auftritte sowie verbale Distanzierung von der Nazidiktatur zwischen 1933 und 1945 in Deutschland und deren Vertreter hat er es geschafft, dass die DNVU in weiten Kreisen der Bevölkerung als die Partei wahrgenommen wird, die endlich einmal die Probleme direkt anspricht und die Nöte der Bürger versteht. Aus altbekannten Parolen gegen Überfremdung, Ausnutzung der deutschen Sozialsysteme durch Sozialschmarotzer sowie neuen rechten Themen, wie eine überbordende Brüsseler Administration, unnötigen Finanzhilfen für schwache EU-Mitgliedsländer, die Wiedereinführung der D-Mark, hat er ein für viele attraktives Paket geschnürt. Sein größter Verdienst aber ist, dass viele Bürger, die immer schon insgeheim mit rechten Gedanken sympathisierten, nun ihre Meinung und ihre Stimme ohne Sorge vor gesellschaftlicher Ächtung für eine extrem rechtskonservative Partei abgeben können. Dabei bedient sich die DNVU nicht der stupiden Wiederholung rechtsextremer Parolen, sondern setzt auf intellektuelle Begründung der Notwendigkeit eines Politikwechsels mit dem Ziel der gesellschaftlichen Erneuerung im Sinne unveränderlicher kultureller Identitäten. Peter Schremczyk, von Beruf bis zu seiner Freistellung Oberstudienrat an einem Gymnasium in Kleve, zielt damit auch auf Wählerschichten, die für ihren rechtsextremen, ausgrenzenden Nationalismus eine intellektuelle Begründung benötigen. Dies hat das Bild in der Öffentlichkeit wesentlich verändert, da die programmatischen Aussagen akademisch formuliert und nicht mehr dumpf ins Mikrofon gebrüllt werden. Durch Peter Schremczyk hat das Florett den Baseballschläger abgelöst. Der Erfolg gibt ihm Recht, denn seine DNVU hat bei den anstehenden Landtagswahlen in NRW sehr großen Chancen, in den Landtag einzuziehen. Dies wäre sein persönlicher Erfolg.
Der Deutsche Bundestag hat das KFOR-Mandat für die Bundeswehr im Kosovo verlängert. Zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben setzt die Bundesehr eine private Sicherheitsfirma, die Global Security Services & Consulting, ein, die in Deutschland ihren Sitz hat und international operiert. Dieses Unternehmen führt im Kosovo für die Bundeswehr Sicherungsaufgaben im Objekt- und Personenschutz durch, aber auch heikle Kampfeinsätze, die durch das Bundestagsmandat nicht gedeckt sind, und bei denen deutsche Soldaten akut gefährdet wären. Ihr Personal, meistens ehemalige Soldaten, die jetzt als Söldner ihr Leben für sehr viel Geld riskieren, rekrutiert die GSS&C auch in Justizvollzugsanstalten. Bei diesem Verfahren ist der Verein Betreuung Politisch Verfolgter in Deutschland, BPV, aktiv. Der Verein wird von zwei Rechtsanwälten geführt, die rechtsextreme Straftäter bei Gericht vertreten. Der Verein steht unter Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Über diese Verbindung hat es auch den ehemaligen Kameraden und Jugendfreund von Peter Schremczyk als Söldner ins Kosovo verschlagen. Als ehemaliger Anführer einer Kameradschaft hatte er sich alles anders vorgestellt, und als er durch Zufall erfährt, dass sein alter Kumpel politisch Karriere macht hat er nur noch einen Gedanken: Rache.
Erich Szelersky
Söhne der Gewalt
Roman
epubli Verlag
Als ich den Roman 2010 schrieb habe ich mir ein Zukunftsszenario vorgestellt, in dem eine rechtsextreme Partei politisch legitimiert ist und von der Bevölkerung als demokratische »Stimme des Volkes« anerkannt wird. Damals hielt ich einen Stimmenanteil von etwas mehr als 5 % schon für viel. Heute, nach zwei Jahren AfD, muss ich erkennen, dass mehr als 20 % im Bereich des Möglichen liegen.
Mein Szenario hat sich also schneller bewahrheitet, als ich es vor 6 Jahren geglaubt habe.
Es wird abzuwarten sein, wie die weitere Entwicklung aussehen wird.
Duisburg, September 2016
Impressum
Copyright: © 2014 Erich Szelersky
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de
Umschlaggestaltung und Satz:
Holger Pleus www.re-ality.de
Prolog
2001 Wuppertal, Landgericht
Die Zuschauer erhoben sich von ihren Bänken, als die Richter der großen Strafkammer am Landgericht Wuppertal den Gerichtssaal zur Urteilsverkündung betraten. Es herrschte gespannte Aufmerksamkeit. Das Interesse der Medien war riesig. Viele Reporter lokaler und überregionaler Zeitungen waren gekommen, um einem weiteren Akt deutscher Aufarbeitung seiner faschistischen Vergangenheit beizuwohnen. Vor Gericht stand ein Aktivist der neonazistischen Freien Kameradschaften und Mitglied des Kampfbundes Deutscher Sozialisten.
Vor dem Haupteingang des Gebäudes hatte sich eine Gruppe von etwa hundert rechtsradikalen Sympathisanten versammelt, die fahnenschwenkend gegen die in ihren Augen bestehende Unrechtsjustiz der deutschen Demokratie protestierten.
Nur unweit entfernt skandierte eine Gruppe Linksalternativer mit nicht geringerem Aggressionspotential antifaschistische Slogans.
Ein großes Aufgebot an Polizei sorgte so unauffällig wie möglich dafür, dass diese beiden Gruppen sich nicht zu nahe kamen.
Der Vorsitzende Richter begann mit der Urteilsverkündung:
Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil:
Der Angeklagte wird wegen Landfriedensbruch, in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten verurteilt.
Der Haftbefehl des Amtsgericht Wuppertalbleibt aufrechterhalten.
Der Angeklagte hörte mit versteinerter Miene die Worte des Richters. Das Strafmaß übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Er hatte auf eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung gehofft.
In seinem Kopf drehte es sich. Er musste in den Knast. Oberflächlich war bei ihm keine Regung zu erkennen, doch bei genauerem Hinsehen blieben die angespannten Kiefermuskeln, die seinen verbitterten Gesichtszügen eine angsteinflößende Härte gaben, nicht verborgen. Man konnte nur erahnen, wie sein ganzer Körper von einer Welle der Aggression erfasst wurde. Sein Blick wanderte vom Richter zum Oberstaatsanwalt und sog sich an den Mitangeklagten fest.
Sechs Monate Gefängnis mit Bewährung auf zwei Jahre für seinen besten Kumpel.
Dieser Arsch hat sich kaufen lassen, fuhr es ihm durch seinen Kopf.
Auch die weiteren Angeklagten kamen mit Bewährungsstrafen davon.
In seinem Kopf drehte sich alles. Er hatte es geahnt. Sie hatten ihn mit ihren Aussagen ans Messer geliefert.
Die Urteilsbegründung hörte er nicht mehr. Er wollte es nicht, und er konnte es auch nicht. Sein Hirn ließ nichts mehr an ihn heran. Wie an einem Faradayschen Käfig prallte alles von ihm ab. In seinem Kopf kreiste alles um einen einzigen Gedanken: Verrat.
1
2016 Duisburg
»Wer ist da?«
»Der Pizzaservice. Sie haben eine Pizza bestellt.«
»Kommen Sie rauf.«
Der Summer ging und öffnete die Haustüre des Mehrfamilienhauses in Homberg. Von der zwölften Etage hatte man einen sehr schönen Blick auf den Rhein und den Stadtteil Ruhrort mit seinen restaurierten Häusern aus der Gründerzeit. Ludger Möhlendieck wohnte alleine in dem Appartement mit der herrlichen Aussicht.
Vor fünf Jahren war seine Frau ausgezogen. Kurz darauf erhielt er das Schreiben eines Anwalts, in dem ihm in knappen Sätzen mitgeteilt wurde, dass seine Frau die Scheidung wünsche. Es hatte ihn nicht sonderlich überrascht, litt die Ehe doch schon seit einigen Jahren unter dem ständigen Streit zwischen ihm und seiner Frau. Nach dem von Amts wegen angesetzten Versöhnungstermin, der jedoch eher das Gegenteil bewirkte, hatte er einen letzten Versuch unternommen und sie gefragt, warum sie ihn verlassen wolle. Sie hatte mit üblen Beschimpfungen geantwortet und ihn einen unverbesserlichen Neonazi genannt, mit dem sie nicht länger zusammenleben wolle. Daraufhin hatte er sich wortlos umgedreht und in seiner Stammkneipe betrunken.
Ludger Möhlendieck hörte das Rumpeln des Aufzuges und kurz darauf öffnete sich der Aufzug mit dem typischen Schleifgeräusch. Heraus kam mit schlurfendem Schritt ein Mann in abgerissenen Jeans mit Baseballmütze und Dreitagebart. Vor sich trug er den Pappkarton mit der Pizza.
»Ihre Pizza.«
»Was bekommen Sie?«
»Neunfünfzig.«
»Ja. Warten Sie einen Augenblick.«
Möhlendieck drehte sich um und ging ins Wohnzimmer. Er entnahm seinem Portemonnaie einen Zehneuroschein. Als er zur Wohnungstür zurückkehrte war sie verschlossen. Etwas überrascht, dass der Pizzabote sie offenbar von außen zugeschlagen hatte, bevor er ihm das Geld geben konnte, griff er zur Türklinke, um sie zu öffnen. Er kam nicht dazu, denn ein brutaler Schlag gegen seinen Hals nahm ihm die Luft. Ludger Möhlendieck röchelte und schnappte krampfhaft nach Luft, doch es kam ihm vor, als ob seine Lunge zugesperrt wäre. Der Pizzabote schlug erneut zu und die Dielendecke begann sich in wilden Kapriolen um Möhlendieck zu drehen. Seine weit aufgerissenen Augen nahmen ungläubig staunend wahr, was mit ihm geschah, doch sein Hirn registrierte es nicht. Er wurde hochgewirbelt und durch seine Wohnung geschleppt.
Plötzlich bekam er wieder Luft. Er öffnete seine Augen und sah, dass er sich auf dem Balkon befand. Was geschah mit ihm? Wollte der Pizzafahrer ihn an die frische Luft bringen, damit er wieder zu sich kam? Ludger Möhlendieck kam nicht dazu, diesen Gedanken weiter zu führen, denn mit einem wuchtigen Schwung schleuderte der Eindringling ihn über das Balkongeländer. Möhlendieck riss seine Augen ungläubig auf. Der Kerl wollte ihn in die Tiefe stürzen. Alles ging so schnell, dass er sich nicht einmal mehr wehren konnte.
Mit letzter Anstrengung konnten seine Hände das Balkongeländer greifen und sich festhalten. Der Fremde fasste seine Hand und wollte den Griff lösen, doch Möhlendieck war kräftig und gab nicht nach. In Todesangst klammerte er sich an dem Geländer fest. Unter ihm lagen elf Etagen, zu hoch, um einen Absturz zu überleben. Allmählich fand er zu sich zurück. Er war kräftig und athletisch, nicht so leicht kleinzukriegen und suchte nach Halt für seine Füße, um sich abzustützen und zurück auf den Balkon zu ziehen. Da ließ der Griff des Pizzaboten nach. Schon glaubte er, es geschafft zu haben und der Eindringling hätte aufgegeben, da erschien die schäbige Gestalt wieder über ihm. In seinen Händen hielt er eine Marmorkugel von der Größe eines Fußballs, ein Dekorationsgegenstand, den seine Frau ihm bei ihrem Auszug gelassen hatte. Die Kugel krachte auf seine rechte Hand nieder und es knirschte, als die Finger zerschmettert wurden. Er hing nur noch an seiner linken Hand. Durch sein Gehirn zuckte ein Gedanke: Er wird doch nicht. Und tatsächlich. Der Fremde zögerte einen kleinen Moment in dem sicheren Gefühl seines Triumpfes. Er zog seine Baseballkappe ab und beugte sich nah zu Möhlendieck herab, sodass er ihn erkennen konnte.
»Du?«, stammelte Ludger Möhlendieck ungläubig.
Dann krachte die Kugel auf seine linke Hand nieder.
2
2016 Duisburg
Am Schalter der Sparkassenfiliale in Neumühl herrschte reger Andrang. Es war der erste eines Monats und die Rentner holten ihre Rente ab. In der Schlange, die sich gebildet hatte, stand eine alte Frau. Ihr Kreuz war gebeugt, das, was man landläufig einen Witwenbuckel nannte, und eine Folge von Osteoporose war. Der Kassierer kannte sie und begrüßte sie freundlich:
»Guten Morgen Frau Georgie.«
Sie nickte nur.
»Heute ist´s ein bisschen weniger. Er zahlte ihr fünfhundert Euro aus. Ohne sich ihre Enttäuschung anmerken zu lassen bedankte sich die Frau, nahm das Geld in Empfang und ging.
Ihr Mann war früh gestorben und sie hatte nur eine kleine Witwenrente; zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben. Doch vor ein paar Jahren hatte sich ihre Lage schlagartig geändert. Mit einem Mal waren tausend Euro mehr auf dem Konto. Sie konnte es kaum glauben, doch der Kassierer der Sparkasse versicherte ihr, dass alles mit rechten Dingen zuginge.
»Hier sehen Sie, Frau Georgie. Es ist eine Überweisung von der Mauritius Commercial Bank auf Mauritius.«
Als sie ihn verständnislos ansah klärte er sie auf.
»Das ist eine Insel im Indischen Ozean.«
Die alte Frau nickte nur und nahm statt der üblichen fünfhundert Euro eintausendfünfhundert mit. Von nun an waren Monat für Monat tausend Euro zusätzlich zu ihrer Rente auf dem Konto.
Anfangs hatte sie jeden Monat erwartet, dass der unverhoffte Geldsegen wieder versiegen würde, doch als dies nicht eintrat, gewöhnte sie sich mit der Zeit an das zusätzliche Geld. Nicht dass sie es gebraucht hätte. Das meiste war in einer Teekanne in ihrem Küchenschrank gelandet, wo es still vor sich hin schlummerte. Ein bisschen hatte sie für sich genommen, hatte sich für den Winter ein Paar dicke Hausschuhe gekauft und einen ordentlichen Wintermantel, denn der alte war inzwischen schon zwanzig Jahre alt und verschlissen.
Große Ansprüche hatte Frau Georgie ihr Leben lang nicht gehabt, und wenn das so ist findet man sich damit ab. Der unverhoffte Geldsegen hatte ihr aber etwas mehr Lebensqualität gegeben, auch wenn sie den größten Teil des Geldes gar nicht ausgab. Das Geld vermittelte ihr den Anschein, nicht arm zu sein, etwas zu haben, sich etwas leisten zu können, wenn sie es nur wolle. Und etwas zurücklegen war auch schön, denn vielleicht würde ihr Sohn ja irgendwann einmal zu ihr zurückkehren und dann würde sie etwas Geld für ihn haben.
So landete das Geld in der Teekanne.
Eines ließ ihr jedoch keine Ruhe. Immer und immer wieder hatte sie sich das Gehirn zermartert, wer wohl der unbekannte Spender sein könnte, aber es fiel ihr niemand anderes ein als Karl-Heinz. Es konnte eigentlich nur ihr Sohn sein, dem sie den Geldsegen zu verdanken hatte, doch woher sollte er so viel Geld haben.
Karl-Heinz hatte schon für sie gesorgt als er erst fünfzehn war. Ihr Mann war Hüttenarbeiter gewesen und früh gestorben. Nicht mal sechzig war er geworden. Lungenkrebs, inoperabel, hatten die Ärzte diagnostiziert. Zuerst Chemo, dann Bestrahlungen. Alles ohne Erfolg. Sechs Monate später war er tot. Plötzlich war sie mittellos, musste Sozialhilfe beantragen, und als sie das Alter hatte, erhielt sie eine kleine Rente.
Karl-Heinz war ihr einziger Sohn. Sie hatte ihn groß gezogen und an ihr hing er auch. Seinen Vater dagegen hatte er nicht vermisst. Das war auch nicht verwunderlich, denn manchmal hatten die beiden sich eine ganze Woche nicht gesehen. Hatte sein Vater Frühschicht, war er schon zur Arbeit gegangen, wenn Karl-Heinz aufstand. Nachmittags schlief sein Vater. Bei Nachtschicht schlief er sowieso den ganzen Tag, und in der Woche, in der er Mittagschicht hatte, war er auf der Arbeit wenn Karl-Heinz zu Hause war.
Als kleiner Junge litt Karl-Heinz darunter, dass er keinen Vater hatte, der ihm beistand, wenn er Hilfe brauchte. Später genoss er die Freiheiten, die sich ihm durch die Lebensumstände und die Gleichgültigkeit seines Vaters boten.
Er verbrachte seine Zeit auf der Straße und lernte, sich nach den dort herrschenden Gesetzen durchzusetzen. Seine Mutter gab sich zwar alle Mühe und war um Karl-Heinz und seine jüngere Schwester besorgt, doch es fiel ihr alleine schwer. Als Karl-Heinz älter war empfand er Mitleid mit ihr und aus dieser Haltung heraus handelte er manchmal in dem Bestreben, ihr keine Sorgen zu machen. Deshalb kam es schon mal vor, dass er einer Schlägerei aus dem Weg ging; aber das war nur selten der Fall. Sein Lebensumfeld hatte ihn geprägt und ihn gelehrt, dass Gewaltanwendung ein probates Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen war und da er über ein solides Aggressionspotential und wenig Angst verfügte, war er bald einer der Anführer der Straßenkinder. Seine Mutter wusste, dass Karl-Heinz als ein gefürchteter Schläger galt, ihr gegenüber war er aber immer fürsorglich gewesen. Auch für seine kleine Schwester übernahm Karl-Heinz Georgie Verantwortung. Er hatte zwei Gesichter. Unerbittlich und brutal gegenüber Menschen, die ihm nicht viel bedeuteten und voller Hilfsbereitschaft für diejenigen, denen er nahestand.
Nun war die Überweisung ausgeblieben. Was mag der Grund dafür sein? Hoffentlich war Karl-Heinz nichts passiert.
3
2016 Duisburg, Diskothek ´Taff´
Aus den Lautsprechern dröhnte die Musik von Frei Wild:
Das ist das Land der Vollidioten
die denken, Heimatliebe ist gleich Staatsverrat.
Wir sind keine Neonazis und keine Anarchisten,
wir sind einfach gleich wie Ihr, von hier.
Das ist Land der Vollidioten,
Das ist Land der Vollidioten,
Das ist Land der Vollidioten,
Das ist das Land der Vollidioten
Das Land der Vollidioten…
An einer der Säulen, die die Tanzfläche des ´Taff´ umsäumten, standen zwei junge Männer und beobachteten die junge Frau auf der Tanzfläche, die sich mit geschlossenen Augen ekstatisch zu den einpeitschenden Rhythmen bewegte. Sie tanzte allein, wie alle anderen auch. Jeder suchte seine eigene Interpretation des Songs in tänzerischer Bewegung auszudrücken. Die Schwüle der rauchgeschwängerten Luft ließ die Akteure auf der Tanzfläche schwitzen.
Die beiden jungen Männer, die sich betont lässig gaben, hielten jeder ein Glas Bier in ihren Händen. In ihrem Outfit unterschieden sie sich nicht von den anderen. Sie gehörten dazu und dies brachten sie durch ihr Äußeres auch zum Ausdruck. Das Dröhnen hörte abrupt auf und ein langsameres Stück begann. Die junge Frau erwachte aus ihrer Versunkenheit und machte sich auf den Weg zu dem Tisch, auf dem sie ihre Cola abgestellt hatte. Sie war gerade ein paar Schritte gegangen, als einer ihrer beiden Beobachter auf sie zu kam und an ihre Schultern fasste.
»Tanzen wir Steffi?«
Sie drehte sich um und blickte in das Gesicht des Mannes mit den schon etwas vom Alkohol getrübten Augen. Er griff um ihre Hüften und begann mit ihr zu tanzen. Widerwillig drückte sie ihn von sich weg und ging weiter in Richtung ihres Tisches. Der junge Mann hielt sie mit einer Hand an der Schulter fest.
»Nun komm. Hab Dich nicht so. Nur diesen Tanz.«
Er verstärkte seinen Griff. Steffi wirkte unschlüssig. Sie kannte Thorsten. Er gehörte wie sie zu derselben Kameradschaft. Schließlich legte sie ihre Arme auf seine Schulter, tunlichst darauf bedacht, genügend Abstand zu ihm zu halten.
»Aber nur diesen Tanz. Ich muss nämlich gleich nach Hause«, gab sie ihm unmissverständlich zu verstehen.
Er grinste zustimmend und versuchte Ihren Widerstand, sie an sich zu ziehen, zu überwinden. Der Zweite beobachtete misstrauisch die Tanzenden. Thorsten sah die argwöhnischen Blicke seines Kumpels und beugte sich vor, um bei der lauten Musik direkt in Steffis Ohr hineinreden zu können.
»Lass uns gehen, Steffi. Ich bring Dich nach Hause.«
Steffi schüttelte den Kopf.
»Brauchst Du nicht. Ich hab mein Auto draußen.«
Sie schrie fast, damit ihre Worte durch die immer noch laute Musik zu ihm durchdringen konnten.
»Ich muss Dir aber etwas ganz wichtiges sagen«, fuhr er unbeirrt fort, und schaute sie aus seinen trüben Augen an; aber Steffi war unbeeindruckt. Sie stieß ihn von sich und drehte sich von ihm weg.
»Ich muss jetzt nach Haus, Thorsten. Muss morgen früh arbeiten.«
Steffi verließ die Tanzfläche, doch Thorsten folgte ihr.
»Du bist eine Superfrau. Ich liebe Dich; schon seit langem, Steffi.«
Sie überhörte sein Geschwätz und trank den Rest ihrer Cola. Dann drehte sie sich zu ihm um.
»Bleib hier. Ich fahr jetzt nach Hause. Und zwar allein.«
Thorsten rückte näher an sie heran und versuchte, sie zu küssen.
»Was meinst Du, was passiert, wenn ich Peter erzähle, wie Du Dich aufführst.«
Thorsten Wegener wich für einen Moment zurück. Er wusste, dass Stefanie Bisalke die Freundin von Peter Schremczyk war.
Als sie die Türe aufstieß schlug ihr kalte Luft entgegen. Es regnete diesen Nieselregen, den es im November oft gibt, wenn das Wetter sich nicht zwischen Nebel und Regen entscheiden kann. Sie schüttelte sich. Alle Konturen verschwammen in dem Grau in Grau des trostlosen Häusermeers und sie fühlte sich einsam in dieser Einöde. Einen Moment zögerte sie, ob sie durch den Regen laufen sollte; aber als sie Thorsten hinter sich auftauchen sah, lief sie los. Mit schnellen Schritten, fast wie eine Gejagte, hetzte sie zum Parkplatz. Thorsten ließ sich nicht abschütteln. Mit ein paar ausgreifenden Schritten holte er sie ein.
»Komm, wir gehen noch zu mir«, bedrängte er die junge Frau und versuchte, sie in den Arm zu nehmen. Steffi entwand sich jedoch seiner Umklammerung. Sie beschleunigte ihre Schritte.
»Lass mich, Thorsten.«
»Wo ist Dein Auto? Ich bring Dich dahin.«
»Das brauchst Du nicht. Ich finde den Weg auch alleine.«
Sie gingen in die kleine Nebenstraße zu dem Parkplatz, auf dem Steffi ihr Auto abgestellt hatte. Dass Lucky ihnen in einigem Abstand folgte bemerkten sie zuerst nicht. Dann plötzlich hörten sie Lucky, als er ihnen hinterher rief.
»Heh, Ihr Beiden, wo wollt Ihr denn hin?«
Thorsten und Steffi kümmerten sich nicht weiter um Lucky. Nach ein paar Minuten erreichten sie Steffis Auto. Noch gab Thorsten nicht auf.
»Soll ich Dich nicht doch nach Hause fahren? Mein Auto steht da drüben.«
Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm zu einem nicht weit entfernt auf dem Hof hinter dem Taff abgestellten Fahrzeug. Steffi schüttelte den Kopf und holte den Schlüssel aus ihrer Handtasche, um die Autotüre zu öffnen.
»Du solltest besser ein Taxi nehmen. So voll wie Du bist kannst Du doch nicht mehr Auto fahren.«
Thorsten war wütend. Es ärgerte ihn, dass Stefanie Bisalke ihn abblitzen ließ. In seiner Kameradschaft hatte er großes Ansehen. Er galt als ein Vertrauter von Peter Schremczyk, ihrem Anführer.
»Stell Dich nicht so an, Du kleine Schlampe«, hörte sie ihn schreien, als er versuchte, mit seiner Hand unter ihren Rock zu gelangen.
Steffi schlug ihm mit ihrer Handtasche auf den Kopf. Das machte Thorsten jedoch noch wütender. Als sie die Türe des Autos aufziehen wollte drehte Thorsten ihren Kopf zu sich und versuchte, sie zu küssen. Steffi drehte ihren Kopf weg und schlug um sich. Thorsten hielt das nicht ab. Er wurde immer aufdringlicher. Lucky sah dem Spiel einen Augenblick zu. Dann kam er hinzu, und die beiden Männer zerrten Steffi in den dunklen Hinterhof zu Thorstens Auto. Mit vereinten Kräften hoben sie die Frau mit einem Ruck auf die Motorhaube des Autos und während Lucky ihre Arme festhielt, versuchte Thorsten ihr trotz der Tritte, die er von Steffi abbekam, den Rock hoch zu ziehen. Steffi schrie und wehrte sich, doch auf dem Hinterhof hörte sie keiner.
Der Innenhof war auf zwei Seiten von Miets- und Geschäftshäusern umgeben, die sich keine Mühe gaben, ihre verkommenen Rückfronten zu verstecken. Die Stadt hatte diese Ecke in den vergangenen dreißig Jahren vergessen. Käuferströme verliefen woanders, und die Nähe zum Rotlichtviertel der Stadt und zu dem riesigen Kraftwerk der Stadtwerke machte die Gegend für neue Bewohner auch nicht besonders attraktiv. Der Hinterhof lag an einer schmalen Straße, die tagsüber als Ausfahrt eines Parkplatzes diente, den man auf einem unbefestigten freien Platz angelegt hatte. Fußgänger fanden sich dort kaum ein. In dieser Ecke konnte man mitten in der Stadt verrecken und keiner bemerkte es.
Steffi wehrte sich aus Leibeskräften. Sie trat, schrie und versuchte, ihre Hände aus der Umklammerung ihrer Peiniger zu lösen. Vergebens. Thorsten machte sich über sie her.
Stefanie weinte und hoffte, der Albtraum würde schnell vorübergehen. Bilder zogen durch ihren Kopf. Sie dachte an Peter, mit dem sie seit einigen Jahren zusammenlebte, und der sie gerne heiraten wollte.
Angeekelt von dem Kopf, der sie vergewaltigte, und tief in ihrer Seele ob der ihr angetanen Gewalt schloss sie in ihrer Hilflosigkeit ihre Augen.
Dann ging alles ganz schnell. Völlig unvermittelt strich ein Luftzug über sie hinweg, und sie vernahm ein Knacken, ähnlich wie das Geräusch, das entsteht, wenn man ein Hühnerbein durchbricht. Nur einen Wimpernschlag später röchelte jemand, der in Todesangst bemüht war, nach Luft zu schnappen.
Unmittelbar darauf war der Spuk vorüber. Sie bekam ihre Hände frei und ihre Vergewaltiger ließen von ihr ab. Panisch vor Angst unter dem Eindruck des gerade Erlebten brach sie in Tränen aus. Ihre Augen durchsuchten die Dunkelheit. Neben dem Auto lag Lucky auf dem Boden und schemenhaft glaubte sie zu erkennen, dass Thorsten von ihr wegtaumelte. Sie kniff ihre Augen in der Dunkelheit zusammen, um auf dem Hof mehr sehen zu können, doch die schwarze Nacht verschluckte ihre Umgebung.
Erstarrt stand sie neben dem Auto, unschlüssig, was sie tun sollte. Alles lief wie in Zeitlupe vor ihr ab, unwirklich wie in einem Horrortrip. Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, da gab es einen dumpfen Knall und Thorsten schrie kurz auf. Das Geräusch des auf den Asphalt aufschlagenden Körpers wurde von Thorstens Stöhnen übertönt.
Sie wollte weglaufen, doch ihre Beine machten nicht mit. Wie angewurzelt lehnte sich an dem Auto, vor Angst orientierungslos, obwohl sie den Hof kannte.
Thorstens schmerzerfülltes Stöhnen hing in ihren Ohren. Sie glaubte, sie müsste sich die Ohren zu halten, um nicht noch länger sein Jammern hören zu müssen.
Dann riss eine Stimme aus der Dunkelheit sie aus ihrer Lethargie. Halb hingeflüstert, mehr gezischt, vernahm sie eine Stimme.
»Hau ab!«
Als Steffi nicht sofort reagierte wiederholte sich die Stimme.
»Hau ab!«
Sie schaute in die Richtung der Stimme. Schemenhaft erkannte sie den Schatten eines Mannes. Erneut überkam sie Panik. Sie rannte los. Nach ein paar Schritten wandte sie sich ungläubig noch einmal der Stimme zu. In dem bizarren Licht, das eine Laterne von der Straße in den Hof warf, erschienen die unscharfen Konturen ihres Retters. Sie kniff die Augen zusammen, um besser erkennen zu können, doch die Stimme wurde drohend.
»Hau ab, sag ich! Mach, dass Du weg kommst!«
Sie lief zu ihrem Auto, zog die Türe des kleinen Corsa auf und fuhr so schnell sie konnte weg. Ihre Knie zitterten und ihre Gedanken überschlugen sich. Wer hatte sie befreit? Hatte sie wirklich dieses Gesicht gesehen? Oder war es nur ein Trugbild gewesen?
4
2016 Duisburg, Mordkommission
Özlem Günes war es schon einmal besser gegangen. Sie hatte nie unter Schlafstörungen gelitten. Seit einer Woche jedoch schreckte sie regelmäßig zwischen zwei und drei Uhr nachts aus dem Schlaf auf und lag dann ein, zwei Stunden wach im Bett. Die Ursache für ihre Schlaflosigkeit war ihr bewusst, denn es geisterte immer nur ein und dieselbe Frage durch ihren Kopf: Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Morden? Ist es vielleicht sogar ein und derselbe Täter?
Özlem Günes war Hauptkommissarin im KK11 der Duisburger Polizei. Bescheiden wie sie war, würde sie, wenn man fragte, erklären, dass sie eine akzeptable Aufklärungsquote hätte, doch das war untertrieben. Die Hauptkommissarin mit türkischer Herkunft hatte eine außerordentlich gute Erfolgsbilanz aufzuweisen. Nicht zuletzt auch deshalb war sie schon mit dreiunddreißig Jahren zur Hauptkommissarin befördert worden. Eigentlich gab es also gar keinen Grund für sie, nachts sorgengeplagt aufzuwachen und sich das Hirn über ihren aktuellen Fall zu zermartern. Wenn sie trotzdem jede Nacht gegen drei schweißgebadet aufwachte, lag das an der besonderen Brisanz der aktuellen Mordserie, die vor knapp zwei Wochen begann.
Angefangen hatte es ganz harmlos. Ein Mann war von dem Balkon seiner Wohnung in der zwölften Etage gestürzt. Was unten von ihm übriggeblieben war erregte zuerst nicht den Verdacht, es könne sich um einen unnatürlichen Tod gehandelt haben. Erst als bei der routinemäßigen kriminaltechnischen Untersuchung festgestellt wurde, dass bei der Leiche die Finger beider Hände zerschmettert waren, und dies nicht eine Folge des Aufpralls auf dem Betonboden der Garageneinfahrt zu dem Wohnhaus gewesen sein konnte, wurde Özlem informiert.
Dr. Harald Schmüller, der Rechtsmediziner am Tatort, hatte ihr erklärt, dass der Tote sich heftig gewehrt haben musste, bevor er hinuntergestürzt ist.
»Der Täter hat ihm mit einem schweren Gegenstand die Finger seiner Hände mit äußerster Brutalität zertrümmert, damit er das Balkongeländer loslässt, an das er sich in seiner Todesangst offenbar krampfhaft geklammert hatte.«
All dies war für Özlem nichts Ungewöhnliches. Als Kriminalkommissarin im Morddezernat gehörten solche Erlebnisse zu ihrem Alltag. Schließlich war sie ja dafür da und konnte sich ihre Leichen nicht aussuchen. Sogar die Erkenntnis, dass es sich bei dem Toten um ein führendes Mitglied der Deutsch Nationalen Volks Union, die sich nach dem Verbot der rechtsradikaler Parteien durch das Bundesverfassungsgericht gegründet hatte, handelte, versetzte sie nicht besonders in Aufregung. Mord kam in den besten Familien vor. Warum nicht auch im rechtsradikalen Milieu.
Özlem betrachtete den Mord daher zuerst einmal als einen Einzelfall ohne politischen Hintergrund und maß dem Umstand, dass der Tote ein bekannter Neonazi war, keine besondere Bedeutung bei.
Eine erste Wendung bekam der Fall allerdings, als zwei Tage später ein zweiter Mord geschah, der mit dem ersten im Zusammenhang zu stehen schien, denn auch der zweite Tote gehörte der rechtsradikalen Szene an. Dies und die Tatsache, dass die Morde innerhalb von nur zwei Tagen geschehen waren, wies stark darauf hin, dass sie aus einem gemeinsamen Motiv heraus verübt worden sein könnten. Auch die Tatausübung legte die Vermutung nahe, dass derselbe Täter am Werk gewesen war, denn auch das zweite Opfer war von seinem Mörder sehr brutal vom Leben zum Tod befördert worden.
Hinzu kam, dass die beiden Ermordeten politisch sehr aktiv in der DNVU gewesen waren.
Der zweite Tote, ein gewisser Thomas Bellmann, war ebenso wie Ludger Möhlendieck ein Mitglied des Vorstandes der nordrhein-westfälischen DNVU gewesen, und zwei Tote innerhalb von nur zwei Tagen aus derselben Partei konnten eigentlich kein Zufall sein.
Auch die Tatsache, dass bald Landtagswahlen sein würden und die beiden Mordopfer Kandidaten der DNVU waren, gab dem Ganzen eine besondere Facette.
Özlem Günes erste Ermittlungen hatten ergeben, dass die beiden Ermordeten enge Vertraute des Landesvorsitzenden der DNVU waren und derselben Kameradschaft angehört hatten. Alle kannten sich, wie die Ermittlungen inzwischen ergeben hatten, schon seit zwanzig Jahren. Da die beiden Ermordeten etwa vierzig Jahre alt waren, hatten sie sich demnach schon als Jugendliche kennengelernt.
Die Medien nahmen vom ersten Mord kaum Notiz. Im lokalen Teil der WAZ war über ihn eher als Randnotiz berichtet worden. Fast jeden Tag gab es irgendwo im Ruhrgebiet eine Gewalttat, über die man routinemäßig mit ein paar Zeilen berichtete.
Nach dem zweiten Mord hatte sich die Zurückhaltung der Presse schlagartig ins Gegenteil verkehrt. In der Boulevardpresse wurde reißerisch von Nazimorden gesprochen, und in großen Lettern verkündeten diese Zeitungen ihr vermeintliches Wissen, wonach die Auseinandersetzungen um den zukünftigen Kurs der NPD-Nachfolgepartei noch nicht ausgestanden seien und nun mit anderen Mitteln fortgeführt würden.
»Schau Dir das an, Özlem.« Der sie so ansprach war Oberkommissar Karl Tillmann. Er hielt ihr die Bildzeitung vor die Nase.
»Jetzt haben sogar die den Fall aufgegriffen.«
Er schüttelte angewidert den Kopf.
»Woher die das alles wissen.”
»Naja, so kurz vor den Wahlen in Nordrhein Westfalen; da ist so ein Thema sehr willkommen, Karl.«
In der Tat bestand durchaus eine reelle Chance für die DNVU, ins Landesparlament einzuziehen. Ob ihr allerdings die Morde dafür letztendlich dienlich sein würden oder eher den gegenteiligen Effekt erzielen würden, war strittig.
Die Staatsanwaltschaft war bis unter die Haut sensibilisiert, und Oberstaatsanwalt Dr. Robert Müller-Fredestein, in dessen Händen die Ermittlungen bei der Staatsanwaltschaft lagen, ging Özlem Günes inzwischen mächtig auf die Nerven. Alle Augenblicke wollte er von ihr die neuesten Ermittlungsergebnisse haben. Er hatte sie unmissverständlich darauf hingewiesen, dass sie ihm jede Neuigkeit, und schien sie ihr noch so unbedeutend zu sein, mitzuteilen hätte, und zwar zu jeder Zeit. Özlem hatte ihn gefragt, ob er auch nachts geweckt werden möchte, und er hatte mit einem abschätzigen Blick, der seine ganze Arroganz zum Ausdruck brachte, die Frage bejaht.
»Als wenn wir hexen könnten. Der soll mal halb lang machen.«
Özlem war wütend.
»Dem guckt in seiner Angst um seine Karriere der Köttel zehn Zentimeter aus dem Hintern«, war Karls kurzer wie treffender Kommentar.
Özlem steckte sich eine Zigarette an. Sie brauchte langsam mal einen Erfolg in diesem Fall; zumindest einen Lichtblick in dem Nebel, in dem sie herumstocherte.
5
2004 Prizren, Kosovo
Die Frühlingssonne war schon warm, und die ersten Menschen saßen auf Stühlen und Bänken am Ufer der Bistrica e Prizenit und genossen die ersten Strahlen. Oberhalb der historischen Altstadt erstrahlte die schöne Festung Kalaya.
Sie, auf einem steilen Hügel gelegen, und der fast kerzengerade Fluss Bistrica e Prizenit dominierten die traditionsreiche Stadt Prizren, die bereits im siebten Jahrhundert von slawischen Stämmen besiedelt wurde. Die Serben bestimmten die Geschicke der Stadt, die sogar einmal Hauptstadt des Königreiches der Serben war. Dies änderte sich im Jahre 1389, diesem denkwürdigen Ereignis, als die Serben die Schlacht auf dem nahe gelegenen Kosovo Polje, dem Amselfeld, verloren. Es begann eine lange osmanische Fremdherrschaft. Auch wenn dies heute die vom Nationalstolz erfüllten Serben niemals zugeben würden war diese Zeit im Grunde gar keine schlechte. Prizren erblühte unter der Fremdherrschaft und die große Festung mit der Altstadt drum herum entstand.
Zur Ruhe kam die Stadt allerdings nie. Immer wieder war sie Streitobjekt, doch erst 1912 konnten die Serben die Stadt dem dahinsiechenden und die vielfältigen separatistischen Bewegungen in seinem Großreich nicht mehr beherrschenden osmanischen Staat entreißen.
Viel Blut hat diese Region getränkt. Als die Türken zurückgeschlagen waren richtete sich der Zorn der Serben auf die albanische Bevölkerung. Es gab grausame Massaker und der Stachel für den Hass, der den Krieg 1998 auslöste, war gesetzt.
Das war noch nicht lange her und jedem noch in guter Erinnerung. Auch an diesem schönen Frühlingsmorgen wirkte die entspannte Atmosphäre eher unnatürlich. Überall im Land kam es zu Übergriffen unter den ethnischen Gruppen und den zwanghaften Racheakten, einer Eskalation von Gewalt, von der später keiner mehr wusste, wie sie eigentlich entstanden war. Das interessierte auch niemanden, denn beide Seiten waren in ihrem tradierten Denken verstrickt.
Von der Festung Kalaya und dem Viertel um sie herum, das nach ihr Podkalaya hieß, konnte man die Ausfallstraße, die in den Norden in Richtung Pristina führte, sehen. Auf ihr näherte sich gegen Mittag ein Lieferwagen, der aufgrund seiner Beschriftung Lebensmittel transportierte. Er fuhr, was auf den schlechten Straßen niemanden verwunderte, langsam. In geringer Geschwindigkeit rollte er auf den Kontrollposten, den serbische Bewohner am Orteingang aufgestellt hatten, zu. Durch die Aufschrift in kyrillischen Buchstaben erweckte der Lastwagen kein besonderes Misstrauen, denn die Händler in ihren Geschäften im Viertel wurden täglich mit Lebensmitteln versorgt. Keiner der serbischen Bewohner verließ das Viertel, weil sich jeder fürchtete, Opfer albanischer Milizen, die sich im Umland des kleinen, traditionsreichen Städtchens herumtrieben, zu werden. Das deutsche Einsatzkommando patrouillierte zwar auf allen Hauptverkehrsstraßen; aber die Soldaten, die die strikte Anweisung hatten, zu schlichten und von der Waffe nur zum Selbstschutz und bei äußerster Gefahr für das eigene Leben Gebrauch zu machen, konnten nicht überall sein.
Auf ein Handzeichen eines der serbischen Posten hielt der Lastwagen an. Der Fahrer kurbelte langsam die Scheibe herunter.
»Was gibt´s?«, rief er in seinem breiten, eher schleppenden Dialekt, der ihn als einen Kosovaren albanischer Herkunft auswies, dem serbischen Milizionär zu. Der Angerufene reagierte nicht. Er bewegte sich, die Kalaschnikow hatte er über die Schulter gehängt, auf den Lieferwagen zu. Alles schien Routine zu sein. Die täglichen Fahrzeuge mit ihren Waren gehörten für die Bewohner von Podkalaya zum gewohnten Bild. Der Serbe machte einen Bogen, weil der Fahrer inzwischen seine Türe geöffnet hatte. Aufmerksam betrachtete er den Fahrer, von dem er erwartete, dass er oder einer seiner beiden Beifahrer wie sonst auch immer herausspringen würde, um die hintere Türe des LKWs zu öffnen und ihm einen Blick auf die Ladung zu gewähren.
In dem Moment jedoch, in dem er um die Fahrertür herumgekommen war, hob der Fahrer seine rechte Hand, in der eine tschechische 9mm CZ75D, die Standardpistole der Soldaten des ehemaligen Warschauer Paktes, darauf wartete, abgefeuert zu werden. Der Serbe riss vor Schreck oder Angst, die ihn für einen Sekundenbruchteil überkam, die Augen auf, und dann war es schon zu spät. Ohne jegliche Vorwahrnung schoss ihm der Fahrer in den Kopf. Nicht einmal ein Knall war zu hören, nur das dumpfe `Plopp` des Schalldämpfers, das die Szenerie noch bizarrer machte. Der Serbe fiel lautlos um. Sofort sprang der Fahrer heraus und schleifte sein Opfer hinter den Lieferwagen. Gleichzeitig waren die Beifahrer aus dem Wagen herausgesprungen, und ehe die beiden anderen Wächter richtig wahrgenommen hatten, was passiert war, waren sie auch schon tot, niedergestreckt von den automatischen Waffen der Beifahrer.
Während die beiden ihre Opfer von der Straße in den Graben zerrten, gab der Fahrer Gas. Der Motor des schon betagten Toyota-Vans heulte auf, als der Fahrer mit ihm auf Podkalaya zuraste. Es dauerte höchstens eine Minute, da hatte er die ersten Häuser des historischen Viertels von Prizren erreicht und jagte durch die enge Gasse auf den Marktplatz zu, wo die Händler wie an jedem Mittwoch ihre Stände aufgeschlagen hatten. Der LKW machte den Versuch einer Rechtskurve und stürzte um. Dabei überrollte er die Stände, die sich ihm in den Weg stellten, und begrub die Menschen, die in seiner Nähe standen, unter sich.
Angst- und schreckerfüllt rannten die Menschen auseinander. Schreie erfüllten den Marktplatz, doch alles wurde von dem infernalischen Knall übertönt, der entsteht, wenn eine Tonne Sprengstoff detoniert. Die Attentäter hatte die im Laderaum des Vans deponierte Bombe gezündet. Die Bombe tat, was man von ihr erwartet hatte. Alles im Umkreis von zehn Metern fing sofort Feuer. Menschen mit brennenden Kleidern liefern schreiend vor Schmerz umher und versuchten, sich ihrer Kleider zu entledigen. Ihre Haut hing in Fetzen vom Körper. Sie litten sehr, doch andere hatte es noch schlimmer getroffen. Einige der Besucher des Marktes, in deren unmittelbarer Nähe der LKW explodiert war, waren von einigen der Millionen Nägel, die von den Attentätern um den Sprengstoff herum als todbringende Splitter platziert worden waren, getroffen und zerfetzt worden waren.
Trümmerteile des Lastwagens und die von der Detonation zerfetzten Marktstände wirbelten durch die Luft. Menschen wurden wie Laub im Wind durch die Luft geschleudert. Von den umliegenden Häusern flogen die Dachziegel wie fliegende Untertassen in die Menge und erschlugen jeden, der in ihrem Weg stand. Die Attentäter hatten Tod und Zerstörung über Podkalaya und die in ihr lebenden Menschen gebracht. Wer die ersten Sekunden überlebt hatte, versuchte sich zu retten und in eines der nicht zerstörten Häuser zu flüchten.
Nach ein paar Minuten war der Spuk vorüber. Der Marktplatz war übersät mit Leichen, teilweise grausam verstümmelt. Flammen schlugen aus den Fensterhöhlen, Dachstühle stürzten ein. Die inzwischen anrückenden Feuerwehrleute versuchten, die Feuer zu löschen. Mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpften sie das Feuer, doch bald schon mussten sie resigniert feststellen, dass sie diesem flammenden Inferno nicht gewachsen waren.
Als die deutsche Einsatzleitung die Nachricht von dem Selbstmordanschlag in Podkalaya erhielt, rückten die deutschen Einsatzkräfte aus, um erste Hilfe zu leisten. Den Soldaten bot sich ein Bild des Grauens. Einige der noch jungen Soldaten mussten sich bei dem Anblick und dem ekelerregenden, süßlichen Geruch verkohlender Menschenleichen übergeben. Ein Teil der Deutschen richtete ein Lazarett ein und versorgte die Verletzten, die anderen sicherten die Zufahrtsstraßen und legten ihr Augenmerk darauf, einen möglichen zweiten Anschlag, wenn er geplant sein sollte, zu verhindern.
»Ihr gewünschtes Gespräch, Herr Generalmajor.« Die Stimme des Soldaten in der Telefonvermittlung riss Gerd Sänger aus seinen Gedanken.
»Stellen Sie durch.«
Im Telefon hörte der Chef des Stabes des Kontingentführers deutsches Einsatzkontingent KFOR die ihm vertraute Stimme von Gordon Dreher.
»Guten Tag Herr Dreher. Wissen Sie schon von dem Anschlag in Podkalaya?«
»Ja, Herr Generalmajor. Schöne Scheiße. Kann die ganze Region hier zu einem Pulverfass machen.«
»Sehe ich genauso. Ich muss mit Ihnen sprechen. Können Sie heute Abend?«
»Ich richte es ein. Wo?«
»Am besten bei mir hier im Hauptquartier.«
»Wann?«
»Um acht. Ist Ihnen das recht? Ich lass uns was zu essen bringen.«
»Ist gut. Bin ich da.«
Generalmajor Sänger war der Stabschef des Deutschen KFOR-Kontingents, das in Prizren stationiert war und für Ruhe und Ordnung im Kosovo sorgen sollte. Er besaß die Fähigkeit, in sehr komplexen und von vielen Einflussfaktoren abhängigen Situationen sehr rational zu denken und zu handeln. Derartige Übergriffe hatte es seit drei Jahren nicht mehr gegeben. Dies war jetzt eine neue Lage, und es war ihm völlig klar, dass seine Leute nun richtig gefordert würden.
Dabei konnte ihm Gordon Dreher helfen, wie schon so oft.
6
2016 Duisburg
Nilgün weinte.
»Ich kann nicht mehr nach Hause. Ich kann nicht mal mehr auf die Straße. Hamit und Kazim bringen mich um.«
Özlem bot ihr eine Zigarette an.
»Ich weiß. Du kannst erst einmal bei mir bleiben. Morgen werde ich mit dem Frauenhaus in Duisburg Kontakt aufnehmen. Ich kenne die Leiterin und werde mich darum kümmern, dass Du einen Platz bekommst, Nilgün.«
Die beiden Frauen waren in der Wohnung von Özlem Günes. Nilgün hatte vor ihrer Wohnungstür gestanden, und Özlem hatte sie eingelassen, weil sie die Verzweiflung, in der Nilgün sich befand, sofort erkannte. Nilgün war Türkin, ebenso wie sie selbst, und hatte sie um Schutz gebeten. Ihr Mann, mit dem sie vor zehn Jahren verheiratet worden war, befand sich für ein paar Tage in der Türkei. Diese Gelegenheit hatte sie ausgenutzt, um aus der Wohnung und der Tyrannei der Ehe mit einem ungeliebten Mann zu entfliehen.
Anfangs hatte sie noch geglaubt, ihr Mann, der ebenso wie sie schon in Deutschland geboren war, würde akzeptieren, dass sie nicht in der traditionellen Rolle türkischer Frauen leben wollte, doch schon nach kurzer Zeit wurde ihr bewusst, dass dies ein Trugschluss war. Mit der Hochzeit fand in ihrem Mann eine wundersame Wandlung statt. Er verbot ihr den Kontakt zu ihren deutschen Freundinnen, mit denen sie sogar auf die Schule gegangen war. Sie durfte nicht mehr ohne Begleitung ausgehen; selbst beim Einkaufen war jetzt ihre Schwiegermutter dabei, und sogar gemeinsame Besuche von Restaurants oder Kinos unterband er.
Im Laufe der Zeit wurde ihr Lebensumfeld auf die Wohnung reduziert. Er schloss sie nicht in der Wohnung ein, doch erwartete er von ihr, dass sie die Wohnung nicht ohne seine Mutter, eine ihrer Schwestern oder seinem Bruder verließ, und da sie alle nah bei einander wohnten, war es für sie völlig unmöglich, das Haus unbeobachtet zu verlassen.
Anfangs nahm sie das in dem Vertrauen darauf, ihr Mann würde sich noch ändern, hin, doch als er keinerlei Anstalten machte, sich zu besinnen, wurde ihr klar, dass ihr Mann sie immer unterdrücken würde. Sie war allerdings auch bewusst darüber, dass sie in einer Welt, in der sie zu nur gehorchen hatte, nicht leben wollte.
Als es ihr dann auch noch versagt blieb, ein Kind zu bekommen, wurde ihr Mann immer abweisender. Er ließ sie bei jeder Gelegenheit spüren, dass sie versagt hatte, obwohl gar nicht sicher war, dass die Kinderlosigkeit an ihr lag. Seit fast einem Jahr wartete sie auf die passende Gelegenheit für ihre Flucht. Als sie sich ihr jetzt durch die Reise ihres Mannes bot, zögerte sie nicht, zu Özlem zu gehen und sie um Hilfe zu bitten. Außer einem kleinen Koffer, in dem sie ein paar Habseligkeiten mit sich trug, hatte sie nichts dabei. Sie kannte Özlem vorher nicht. Von Cemre, einer Freundin, der sie sich in ihrer Verzweiflung anvertraut hatte, hatte sie die Adresse von Özlem erhalten und erfahren, dass Özlem sich für die türkischen Frauen in Deutschland einsetzte.
Özlem Günes befand sich früher einmal in einer vergleichbaren Situation. Als Kind türkischer Eltern der ersten Gastarbeitergeneration war sie in Duisburg geboren und groß geworden. Ihre Eltern gehörten mit ihrer Lebenseinstellung eher zu einer Minderheit. Sie waren ihr gegenüber großzügig und für Menschen aus dem eher ländlich, traditionell-islamisch geprägten Lebensraum der Osttürkei sogar außergewöhnlich tolerant. Aber auch Özlem´s Eltern wollten zuerst nicht, dass sie aufs Gymnasium ging. Die Lehrer hatten es den Eltern dringend empfohlen, aber die Eltern hatten kein Gespür für die Bildungswünsche ihrer Tochter.
»Was soll Özlem dort. Was kann sie dort lernen? Sie soll sich viel mehr damit beschäftigen, wie man den Haushalt führt!” pflegte ihr Vater zu sagen. Aber Özlem ließ nicht locker. Nesrullah, mit der Özlem in den Häuserfluchten Hochfelds, eines Stadtteils mit überwiegend türkischer Bevölkerung in Duisburg, im Grunde genommen einem Türkenviertel, groß geworden war, durfte auch aufs Gymnasium, und so gaben die Eltern dem Drängen ihrer Tochter schließlich nach, und Özlem ging auf das Mercator Gymnasium in Duisburg.
Sie fand schnell Kontakt zu den anderen, und insbesondere mit Andrea verstand sie sich sehr gut. Die Mädchen unternahmen viel zusammen, gingen gemeinsam ins Kino oder in den ´Steinbruch´, wo man sich abends traf und etwas trank, herumklönte und Musik hörte. Özlem hatte Andrea auch schon des Öfteren besucht. Auch Özlem´s Vater kannte Andrea. Sie war ein paar Mal bei ihnen gewesen, um sie abzuholen; aber viel gesprochen hatte er mit Andrea nicht. Worüber sollte er sich auch mit einem fremden, und noch dazu deutschen, Mädchen unterhalten.
Özlem´s Mutter hätte schon mal gerne mit ihr gesprochen. Dazu fehlten ihr jedoch die Deutschkenntnisse. Im Supermarkt war zu sehen, was man kaufte und Fernsehen gab es via Satellit TRT1 oder Cine5. Da lernt man eben kein deutsch. Auch die Nachbarn waren alle Türken, denn sie wohnten alle zusammen in Hochfeld, umgeben von türkischen Nachbarn, türkischen Geschäften und türkischen Lokalen. Deutsche wohnten hier nur noch, wenn sie zu wenig Geld hatten, um wegzuziehen oder wenn sie zu alt und zu verwurzelt mit diesem Arbeiterstadtteil waren.
Als Özlem sechzehn war, sollte sie das Gymnasium verlassen. Insbesondere Bülent, der Bruder ihres Vaters, setzte ihre Eltern unter Druck und vertrat die Auffassung, dass ein junges türkisches Mädchen nichts an einem deutschen Gymnasium und vielleicht sogar an einer Universität verloren hätte. Die Eltern sträubten sich lange, hatten sie doch Özlem´s Wünschen aufmerksam zugehört; doch als der Druck, das Kind könne Schande über die Familie bringen, zu groß wurde, entschlossen sie sich, ihre Zustimmung zu einer Heirat mit dem Sohn des Eigentümers der größten und einzigen Autowerkstatt ihres Heimatortes zu geben.
Özlem entzog sich der Verlobung mit einem jungen Mann, der in der Türkei lebte, und der ihrer Familie auf Druck der Verwandtschaft zugestimmt hatte, durch Flucht zu einer Tante, die in Frankfurt lebte. Gerade noch rechtzeitig konnte sie so ihre Verlobung verhindern. Sie rechnete es ihren Eltern hoch an, dass sie nicht weiter auf sie einwirkten und nicht versuchten, sie nach Duisburg zurück zu holen. Es gab wohl eine stillschweigende Übereinkunft mit der Tante, dass sie in Frankfurt bleiben und dort das Gymnasium bis zum Abitur besuchen durfte, und wahrscheinlich war es ihren Eltern auch ganz recht so, denn durch die räumliche Entfernung geriet die Diskussion um Özlems Zukunft allmählich aus dem Bewusstsein der Familie.
Nach dem Abitur studierte sie Pädagogik in Essen. Sie war ins Ruhrgebiet zurückgekehrt. Ihre Eltern besuchte sie von Zeit zu Zeit. Mit der übrigen Familie, und insbesondere ihrem Onkel, brach sie den Kontakt ab. Während ihrer Referendarzeit geriet der Beruf der Polizistin in ihren Fokus. Das Land Nordrhein-Westfalen suchte Bewerber mit türkischem Hintergrund für den Polizeidienst. Özlem bewarb sich. Schon nach kurzer Zeit zeigte es sich, dass sowohl Özlem als auch ihr Dienstherr keine bessere Entscheidung hätten treffen können.
Özlem war emotionslos analytisch, mutig, unkonventionell und kreativ in der Vorgehensweise. Als sie vor fünf Jahren auf ihren Wunsch hin zur Mordkommission versetzt wurde, traf sie in Karl Tillmann auf einen kongenialen Partner, mit dem sie exzellent zusammenarbeitete. Ihr Verhältnis wurde nur einmal kurz, aber heftig erschüttert, als Özlem zur Hauptkommissarin befördert und statt ihm mit der Leitung einer Mordkommission im Kriminalkommissariat 11 beauftragt wurde. Für Karl war dies anfangs nicht einfach, doch schon nach kurzer Zeit lernte er, dass Özlem völlig sachbezogen und zielorientiert arbeitete und sich ebenso in den Dienst des Teams stellte, wie sie es von ihren Mitarbeitern erwartete.
Nilgün nahm die Zigarette, die Özlem ihr angeboten hatte, und rauchte.
»Es macht Dir doch nichts aus, wenn ich ein paar Tage hier bleibe, oder?«
»Nein, Nilgün, wir müssen immer mehr werden, die sich aus den archaischen Strukturen dieser Männergesellschaften befreien. Ich werde Dir helfen, aber Du wirst noch sehr viel Kraft brauchen, um den Weg, den du gewählt hast, zu Ende zu gehen.«
Nilgün nickte wortlos.
Die Stille, die zwischen den beiden Frauen plötzlich eingekehrt war, wurde durch das Klingeln des Telefons unterbrochen. Özlem hörte aufmerksam zu, und als sie aufgelegt hatte, sagte sie zu Nilgün: »Ich muss noch mal weg. Du kannst im Gästezimmer schlafen.« Sie zeigte mit einer Geste auf eine Türe. »Komm, ich zeig Dir, wo das ist.« Nilgün nahm ihre Sachen und verschwand in dem Zimmer.
»Wann kommst Du wieder zurück?« fragte Nilgün.
»Es wird nicht lange dauern. Vielleicht zwei, drei Stunden. Du brauchst keine Angst zu haben.«
Sie nahm ihren Mantel und zog die Wohnungstüre von außen ins Schloss. Als sie in ihrem A4 Quattro saß, griff sie zum Telefon.
»Tillmann.« Sie hörte, dass Karl schwer atmete.
»Hallo Karl, hab ich Dich gestört? Ich bin’s, Özlem.«
»Heute ist Donnerstag, Özlem. Hast Du meinen Sportabend vergessen?«
»Tut mir leid Karl. Wir haben eine Leiche. Hinterm ´Taff´.«
»OK. Ich mach mich auf den Weg.«
Karl Tillmann saß neben seiner Sporttasche auf der Bank neben dem Squash-Court und wischte sich den Schweiß mit dem Handtuch von der Stirn. Er steckte sein Handy in die Tasche und zuckte die Schultern.
»Was passiert?«, fragte sein Spielpartner, mit dem er jeden Donnerstagabend eine Stunde Squash spielte und anschließend in die Sauna ging. Jeden Donnerstag, wenn nicht so etwas wie heute dazwischenkam; aber daran war Gregor Westphal, sein Squashpartner, schon gewöhnt.
Karl fuhr seinen Wagen ins Zentrum der Stadt. Schon von weitem konnte er an dem Stakkato des pulsierenden Blaulichts der Polizei- und Rettungsfahrzeuge die Stelle erkennen, wo die Leiche gefunden worden war.
Er kannte die Stelle. Als junger Mann war er des Öfteren in der Diskothek gewesen, neben der die Einfahrt zu dem Hinterhof, wo der Tote lag, war. Damals hieß die Diskothek noch nicht ´Taff´ und auch das Publikum war ein anderes. Inzwischen hatte die rechte Szene das ´Taff´ erobert, und es waren immer Neonazis einige von ihnen dort anzutreffen.
Er parkte vor dem Cordon, den die Polizei weitflächig um den Fundort angelegt hatte, und stieg aus. Der Polizist ließ ihn passieren, denn er kannte ihn. Mit gezielten Schritten strebte er der Gruppe emsig beschäftigter Polizisten zu. Dort vermutete er den Fundort der Leichen.
Nach ein paar Schritten erblickte er Özlem Günes, die ihm entgegenkam.
»Gut, dass Du so schnell kommen konntest«, rief sie ihm zu, als er sich mit einer sportlichen Bewegung unter dem rot-weißen Absperrband hindurch schwang.
»Konntest ist gut. Weißt Du, dass Du mich an meinem Donnerstag gestört hast? Einmal in der Woche erlaube ich mir den Luxus, ein bisschen Sport zu treiben, und was machst Du?«
»Ich weiß Karl; aber ich habe es mir auch nicht ausgesucht.«
Sie ging in den dunklen Hinterhof. Er folgte ihr.
»Spurensicherung schon da?«
»Ja. Alles geregelt.«
Neben einem Golf älteren Baujahrs lag in einer seltsam verkrampften Haltung die Leiche eines jungen Mannes. Sein Gesicht war blau wie eine reife Pflaume. Die Augen waren zugeschwollen. Blut war aus ihnen ausgetreten, ebenso wie aus seinem Mund und seiner Nase. Alles war wie unter einem roten Vorhang.
»Sonst keine Spuren weiterer Gewaltanwendung?«
Der Gerichtsmediziner kam auf sie zu.
»Schon was zu sagen?«
Dr. Schmüller wog langsam seinen Kopf.
»Genaues weiß ich erst nach der Obduktion. Ich muss mir das in der Gerichtsmedizin genauer anschauen. Aber offensichtlich erschlagen.
Özlem war inzwischen aufgestanden und ein paar Schritte von der Leiche weg getreten.
»Was mag diese Haltung bedeuten? Die ist doch nicht durch die Wirkung des Schlages entstanden. Der Mörder muss sein Opfer so platziert haben.«
»Ich hab mich das auch schon gefragt. Sieht aus, als wollte der Täter damit etwas ausdrücken.«
Der Tote kniete und sein Oberkörper war so weit vorgebeugt, dass sein Gesicht auf den Boden schaute. Die Hände waren flach auf dem Boden, so als wolle er sich vom Boden abstützen.
»Sieht aus wie eine Gebetshaltung in unserer Moschee.«
Özlem drehte sich Karl zu.
»Oder vielleicht eine Huldigung, wie früher vor einem Pharao oder einem persischen Kaiser.«
»In jedem Fall hat der Mörder sich nicht damit zufrieden gegeben, sein Opfer nur umzubringen. Scheint mir fast so, als ob er von seinem Opfer eine Ehrerbietung verlangen wollte, und zwar auch jetzt noch, nach seinem Tod.«
Schmüller schüttelte sich.
»Kalt heute Abend hier. Also, soweit ich das hier an dieser Stelle schon beurteilen kann, muss der Mörder wie eine Furie über seine Opfer gekommen sein.«
Karl wurde stutzig.
»Die Opfer?« wollte er wissen. Dr. Schmüller hob erstaunt den Kopf. Özlem wandte sich Tillmann zu.
»Ja, das weißt Du noch nicht. Wir haben zwei Leichen.«
»Und wo ist das zweite Opfer?«
Karl wurde unruhig.
»Komm mit!«
Özlem gab ihrem Kollegen ein Zeichen. Sie folgten dem Arzt zu dem zweiten Mann.
»Die Spurensicherung hat ihn zuerst sogar übersehen, weil er hinter dieser Aschentonne liegt.«
Den Dreien bot sich ein Bild des Grauens. Die Leiche kniete in derselben Haltung wie die andere. Um sie herum war der Boden von Blut getränkt.
»Und, Harald, was sagst Du?«
»Ich muss mir das wirklich erst in der KTU genauer anschauen. Er hat eine Schusswunde. Ich kann aber noch nicht sagen, ob der Schuss tödlich war.«
»Wie lange sind die zwei tot?«
»Mindestens schon fünfzehn Stunden.«
»Dann haben die einen ganzen Tag hier gelegen?«
»So sieht es aus.«
»Wer hat sie denn gefunden?«
»Eine Anwohnerin, ältere Frau, die ihren Müll wegbringen wollte. Das war um halb sechs. Da es schon dunkel war, hat sie nur den einen hier hinter der Mülltonne gesehen.«
Özlem drehte sich um und sah Dr. Schmüller an.
»Wann krieg ich den Bericht, Harald?«