Und Gott schaut zu - Erich Szelersky - E-Book

Und Gott schaut zu E-Book

Erich Szelersky

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Beschreibung

Gustav Szlapszi wird als Sohn eines preußischen Beamten in Krakau geboren. Es herrscht Unruhe in dieser alten polnischen Königsstadt. Als Gustavs Vater ums Leben kommt zieht die Witwe mit Gustav und Martha zu ihrer Cousine nach Schlesien. Dort ist sie nicht willkommen, denn ihre Cousine lebt mit Mann und Sohn als Lohnweber am Rande des Existenzminimums. Gustav muss, obwohl erst acht Jahre alt, auf einem Gut in der Ziegelei schwere Arbeit leisten. Als in der Zeit der großen Hungersnöte seine Mutter stirbt meldet Gustav sich zur preußischen Armee. Bei Königgrätz wird er schwer verwundet. Durch Fleiß und Intelligenz bringt er es zum herrschaftlichen Kutscher auf einem Gut. Seine Ehe mit Henriette, aus der die Kinder Paul, Walter, Willi, Karl und Elisabeth, hervorgehen, zerbricht, weil Gustav sie aufs Spiel setzt. Die Kinder, politisch aktiv in der sich entwickelnden Arbeiterbewegung, fliehen vor dem Hunger und der Verfolgung durch die preußische Polizei ins Ruhrgebiet und nach Amerika, wo sie sich bessere Lebensbedingungen erhoffen. Doch auch dort müssen sie sich in der gnadenlosen Welt prekärer Lebensverhältnisse behaupten. Paul arbeitet als Bergmann in Duisburg, Walter schlägt sich durch die South-Bronx und Karl irrt unstet umher, tief verletzt von seinem Vater, dem er nie verzeiht, dass er ihn im Stich gelassen hat. Willi engagiert sich politisch in der Sozialdemokratischen Partei und kämpft für mehr Rechte der Arbeiter, bis die Nationalsozialisten in Deutschland ihre Schreckensherrschaft errichten. Anlässlich der Heirat von Elisabeth in der Zeit der Weimarer Republik treffen alle noch einmal zusammen. Doch es kommt zum Eklat. Zu groß sind die Unterschiede ihrer Lebensentwürfe.

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Seitenzahl: 742

Veröffentlichungsjahr: 2014

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ERICH SZELERSKY

Und Gott schaut zu 

 Buch

Gustav Szlapszi verliert im Krieg 1866 bei der Schlacht um Königgrätz ein Bein. Als preußischer Veteran kommt er in einer Forstkolonie unter und arbeitet auf einem Gut in Schlesien.

Durch Fleiß und Intelligenz bringt er es zum herrschaftlichen Kutscher. Seine Ehe mit Henriette, aus der die Kinder Paul, Walter, Willi, Karl und Elisabeth, hervorgehen, zerbricht, weil Gustav sie aufs Spiel setzt.

Die Kinder, politisch aktiv in der sich entwickelnden Arbeiterbewegung, fliehen vor dem Hunger und der Verfolgung durch die preußische Polizei ins Ruhrgebiet und nach Amerika, wo sie sich bessere Lebensbedingungen erhoffen. Doch auch dort müssen sie sich in der gnadenlosen Welt prekärer Lebensverhältnisse behaupten.

Manchen gelingt es, doch nicht alle sind stark genug.

Autor

Erich Szelersky begann nach seiner Pensionierung zu schreiben. Nach »Alte Rechnungen« und »Das Quaken der Frösche« ist dies sein dritter Roman, der autobiographische Elemente enthält.

Erich Szelersky lebt mit seiner Familie in Duisburg.

 Erich Szelersky

Und Gott schaut zu

Roman

epubli Verlag

 Impressum

Copyright: © 2014 Erich Szelersky

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de

Umschlaggestaltung und Satz:

Holger Pleus www.re-ality.de

ISBN 978-3-7375-2210-6

Nulla poena sine lege

(keine Strafe ohne Gesetz)

Vorwort

Noch nicht einmal einhundert Jahre sind vergangen, dass unsere Urgroßeltern und mit ihnen das Gros der Menschen in unserer aufgeklärten Gesellschaft abends nicht wussten, ob sie sich am kommenden Tag würden satt essen können; und dies trotz zwölf- und fünfzehnstündiger, harter Arbeitstage. Kinderarbeit war an der Tagesordnung. Abhängigkeit von der Willkür oftmals despotischer Herren und Herrschaften gehörte zum Alltag. In mörderischen Kriegen blieben die Verstümmelten ohne Erwerbsgrundlage zurück, verurteilt zu einem Dasein als Bittsteller.

Wenn man nicht einer privilegierten Oberschicht angehörte lebte man abseits von sozialer Gerechtigkeit, und dies nicht nur im Sinne der sozialen Sicherung. Die bestehenden Klassenstrukturen unterbanden für weite Teile der Bevölkerung Zugang zur Bildung und sozialen Aufstieg. Eine undurchlässige Gesellschaft verhinderte Chancengleichheit und Verbesserung der Lebensperspektiven.

Heute kommen uns die Lebensumstände, die vor nicht einmal einhundert Jahren geherrscht haben, vor, als lägen sie endlos lange zurück, gar in der Steinzeit. Aber lassen wir uns nicht täuschen. Nur weil unsere Generation keinen Hunger erleiden, keine Kriege durchleben, nicht in Unfreiheit leben muss, sollten wir nicht glauben, wir hätten die Zustände der Ungleichgewichte überwunden.

Egoismus und Ignoranz, zwei diabolische Schwestern, prägen die Gesellschaften unserer abendländischen Kultur auch heute noch und wir huldigen ihnen als Antriebsfedern einer, wie wir meinen, modernen Leistungsgesellschaft. Einkommen und Vermögen werden mit persönlicher Leistung gleichgesetzt und unser humanistisches Grundprinzip, auf das wir mit Recht stolz sind, wonach der Stärkere dem Schwächeren helfen soll, verkommt zu Charity-Veranstaltungen, von denen sich einige wenige gesellschaftliches Ansehen und persönliches Wohlgefühl versprechen.

Wir rufen eine Eurokrise aus und schüren die Angst vor sich auftürmenden Schulden und bieten als Lösung billiges EZB-Geld an, das sofort als Spielgeld für die Spekulation mit Rohstoffen eingesetzt wird und einige noch reicher macht, während die Armen in dieser Welt nicht mehr wissen, wie sie die Lebensmittel für ihr tägliches Essen bezahlen sollen.

Und einer sozialverträglichen Lösung dieser Probleme widersetzen sich die Starken in diesem gewaltigen Umverteilungsmechanismus, die in ihrer Gier nach Mehr und in ihrem Egoismus keine Skrupel kennen.

Es hat sich also nichts geändert, außer der Methoden. 

Unsere Altvorderen wurden noch zu Tode geprügelt, wenn sie aufbegehrten, und Bildung wurde ihnen verwehrt, damit sie leichter zu lenken waren. Heute spendieren wir jedem ein Auskommen, und das nennen wir dann sozialen Konsens. Keiner muss verhungern und jeder wird unterhalten. Panem et Circenses. Alles schon einmal dagewesen. In Wirklichkeit ist es aber nur eine subtilere Form der Unterdrückung und intellektuellen Entmündigung. Und bedauerlicherweise gibt es immer noch zu viele, die allzu gerne diese Annehmlichkeiten der staatlichen Fürsorge ohne eigene Gegenleistung annehmen. Wenn aber ernsthafte Maßnahmen in Form von Investitionen in Bildung, Ausbildung, Aufklärung und Sanktionen in konkrete Strukturreformen umgestaltet werden sollen, versagen wir.

Sei‘s drum. Wenn wir wirkliche soziale Gerechtigkeit wollen, müssen die Starken anfangen.

Maria Freifrau von Ebner-Eschenbach hat 1911 gesagt, dass es »keine soziale Frage gäbe, wenn die Reichen von jeher Menschenfreunde gewesen wären«, und Bertold Brecht hat treffend formuliert, dass die Moral warten muss, wenn es an den Trog geht. »Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral«.

Stellen wir uns doch einmal vor, wir wären Probanden einer übergeordneten Instanz und die Erde wäre ein riesiges Versuchslabor, eine Annahme, die gar nicht so weit hergeholt ist, wenn wir uns darauf einlassen, dass unsere Wahrnehmung einen für uns erkennbaren Makrokosmos beschreibt, der seinerseits wiederum im Angesicht der unbegreiflichen Realität der Unendlichkeit des Universums nur ein Mikrokosmos unter vielen ist.

Nehmen wir also an, dass dieses riesige Experiment zum Ziel hätte, festzustellen, ob wir uns diese große Gnade des Lebens in Freiheit und Selbstbestimmung und ohne tägliche Existenzangst verdient haben. Würden wir bestehen? Ich habe da meine Zweifel.

Dieses Buch habe ich geschrieben, um am Beispiel einer armen Familie die Lebensverhältnisses im Verlauf der letzten hundertfünfzig Jahre zu beschreiben.

Dabei verstehe ich unter arm nicht nur die wirtschaftliche Armut. Arm sind alle, die ausgenutzt und missbraucht werden. Missbrauch ist die Herrschaft der Mächtigen über die Schwachen, es ist die Ausnutzung einer überlegenen Position zu Befriedigung persönlicher Egoismen. Eine humane Gesellschaft sollte sich aber gerade durch den Schutz der Schwachen auszeichnen. Stattdessen erleben wir jeden Tag genau das Gegenteil.

Lass Dich durch nichts erschrecken und verliere nie den Mut;denn ich, Gott, bin bei Dir, wohin Du auch gehst!

(Josua 1,9)

Sehnsucht ist der Wunsch weiterzugehen,
die Grenzen des Hier und Jetzt zu überwinden

Prolog

Ein gerade leer geräumtes Haus hat etwas Trauriges. In gewisser Weise kann man es mit jemandem vergleichen, der gerade beraubt worden ist.

Ich ging wortlos durch die leeren Räume meines Elternhauses. Ein wenig hilflos hielt ich die hölzerne Kassette, die mir einer der Möbelpacker mit der Frage, ob ich sie an mich nehmen möchte, in meinen Händen. »Brauchen Sie die noch?«, hatte er mich gefragt. Ich hatte die Kassette noch nie gesehen und da er wohl meine Überraschung bemerkte, fügte er erklärend hinzu:

»Sie war noch im Schreibtisch. Wäre uns bald auf die Straße gefallen.«

Ich nickte geistesabwesend. Der Mann stand vor mir und wartete, was er denn nun mit der Kassette machen sollte.

»Wenn Sie das Kästchen nicht wollen können wir es auch mitnehmen und wegwerfen.«

»Nein, nein. Geben Sie her.«

Ich nahm die Kassette an mich. Nun trug ich sie mit mir herum, ohne genau zu wissen, was ich mit ihr tun sollte.

In diesem Haus, das jetzt so unverhüllt vor mir stand, hatte ich einmal gelebt. Hier war ich groß geworden. Es war einmal mein Zuhause gewesen. Viele, im Laufe der Jahre längst vergessene, Erinnerungen kamen mir wieder ins Bewusstsein. Ereignisse aus der Zeit, als ich noch ein Junge war, verbanden sich mit den Räumen. Sie waren ein Teil meiner Lebensgeschichte. Mein erster Schultag, als ich von meinem Vater zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben den Hintern verhauen bekommen habe, weil ich aus dem Unterricht geflohen bin und von meiner Mutter auf dem Schulhof eingefangen werden musste. Mein Schulabschluss, als mein Vater mir voller Stolz die Armbanduhr, die ich mir schon lange gewünscht hatte, geschenkt hat.

Mein Gott, wie lange war das schon her?

Ich hatte eine schöne Kindheit. Meine Eltern waren immer für mich da. Jetzt waren sie beide gegangen. Zuerst der Vater und kurz darauf die Mutter, und mit ihnen waren nun auch die Möbel gegangen, die zu ihnen gehört hatten, und die Ausdruck ihrer Persönlichkeit gewesen waren.

Die Möbelpacker hatten sie hinausgeschleppt, denn mit dem Tod ihrer Eigentümer waren sie unwiderruflich deren individueller Zuneigung beraubt worden.

Nachdem die Arbeiter gegangen waren entstand eine gespenstische Ruhe in dem Haus. Auf dem Parkettboden hallten meine Schritte, obwohl ich mich bemühte, leise aufzutreten.

Warum eigentlich? Warum trat ich leise auf?

Ich erwischte mich bei dem Gedanken, und, obwohl ich nach einer Antwort suchte, fand ich keine. Mein Weg führte mich in das frühere Arbeitszimmer meines Vaters. Ein Stuhl stand mitten in dem Zimmer. Die Armlehne aus schwarz gebeiztem Holz fühlte sich warm an. Wie oft hatte ich auf der ledernen Sitzfläche gesessen und Vater schweigend zugeschaut, wenn er an seinem Schreibtisch saß. Die Möbelpacker müssen ihn vergessen haben. Ich setzte mich. Mein Blick fiel auf die auf meinem Schoß liegende Kassette. Sollte ich sie jetzt öffnen oder später, um nach dem Inhalt zu sehen? Ein bisschen kam es mir vor, als würde ich in die Privatsphäre meiner Eltern eindringen. Doch dann verwarf ich diesen Gedanken, denn sicher war es ja im Sinne meiner verstorbenen Eltern, wenn ich die Kassette öffnete.

Vorsichtig hob ich den Deckel an und schaute hinein. Oben auf lag ein Kuvert, das nicht zugeklebt war, und darin war ein Brief. Als ich den Umschlag aufklappte fand ich einen Brief, der in Sütterlin geschrieben war. Das war meine Mutter. Sie schrieb in dieser, inzwischen aus der Mode gekommenen Schrift.

Lieber Hans,

vielleicht hätte ich Dir Vaters Brief und die Kladden schon früher geben sollen, doch ich wusste nicht, ob Vater es gewollt hätte. Alles Gute für Dich und die Kinder. Deine Mutter

Die wenigen Zeilen überraschten mich, denn meine Mutter hatte schon vor Jahren aufgehört zu schreiben. Früher, als ich noch ein Kind war, hat sie viele Briefe geschrieben. Sie hatte mir erklärt, die Briefe wären für ihre Mutter und ihre Schwester bestimmt, die nach dem verlorenen Weltkrieg noch in Oberschlesien lebten und nicht ausreisen durften, weil dies die polnischen Behörden nach dem Krieg verboten hatten. Neugierig wie ich war wollte ich damals lesen, was meine Mutter geschrieben hatte, doch meine Enttäuschung war groß, als ich erkennen musste, dass ich die Schrift nicht entziffern konnte. Wie Hieroglyphen kamen mir die Sütterlin-Buchstaben vor und mir wurde klar, dass meine Mutter dies genau gewusst hat und deshalb den Brief nicht verschlossen hatte. Als ich sie darauf ansprach hat sie mich Sütterlin gelehrt und auch die Briefe durfte ich lesen, denn sie enthielten keine Geheimnisse, die vor mir verborgen werden mussten. Ich kann Sütterlin heute noch lesen und schreiben, obwohl ich es nie gebraucht habe. Aber meine Mutter meinte eben, dass es nicht Schaden kann, wenn ich etwas nur um es zu können kann und obwohl ich es eigentlich nicht bräuchte.

In einem weiteren Umschlag war ein zweiter Brief. Die für meinen Vater typische, etwas eckige, Schrift kam zum Vorschein. Ich war gespannt. Mein Vater hatte viel geschrieben. Seine Gedichte trug er zu besonderen Gelegenheiten gerne vor. Insofern überraschte mich ein Brief meines Vaters nicht sonderlich, doch posthum einen Brief, quasi als letzten Gruß kurz vor seinem Tod verfasst, in Händen zu halten, erfüllte mich spontan wieder mit Trauer. Der Brief war an meine Mutter gerichtet.

Zögernd begann ich zu lesen.

Liebe Hanni,

ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt; aber es ist nicht mehr viel. Das ist ein Augenblick, in dem keine Zeit mehr für Beschönigungen bleibt. Alles reduziert sich auf das Einzige. Du weißt, ich war nie sehr gläubig, und ich bin es auch jetzt im Angesicht des nahenden Endes nicht. Die Menschen, die eine konkrete Vorstellung vom Jenseits zu haben glauben, sind zu beneiden um den Trost, den ihnen dieser Glaube gibt, doch ich kann nicht. Ich habe es versucht, immer und immer wieder, denn der Gedanke an das baldige Ende macht mich so traurig. Man hängt so an dem bisschen, und dabei ist es nicht einmal das eigene Leben, nein, das ist es gar nicht. Man hängt so an den Kindern und Enkeln. Ich bin so traurig, dass ich nicht mehr erleben darf, wie unsere Enkel ihr Leben gestalten, was sie studieren und ob sie glücklich werden. Wenn es doch nur so wäre, dass ich sie weiter beobachten dürfte, einfach nur ab und zu zusehen und manchmal die Daumen drücken.

Wir haben viel zusammen erlebt. Es war Krieg, als wir uns kennengelernt haben und es war immer noch Krieg, als wir geheiratet haben. Heute denke ich mir, wie viel unerschöpflichen Optimismus wir gehabt haben müssen, 1944 zu heiraten. Wir hatten nicht einmal eine ganze Woche, dann musste ich schon wieder an die Front nach Russland. Wir hatten Glück und überlebten die Zeit, und haben zusammen neu begonnen. Die Zeit war schlecht, es war alles grau in grau. Dann kam unser Sohn, ich weiß es noch als wäre es heute gewesen. Wir zogen ihn groß. Trotz mancher Fehler glaube ich haben wir es ganz gut gemacht. Er steht im Leben und ist ein ganzer Mann. Es erfüllt mich mit Stolz, wenn ich ihn sehe. Durch seine Heirat haben wir eine Tochter bekommen. Und dann die beiden Mädchen. Leider werde ich deren Kinder, unsere Urenkel, nicht mehr kennenlernen.

Ich habe in den vergangenen Wochen sehr gelitten. Nun ist es vorbei, meine Augen sind zu. Ihr habt mit mir gehofft. Danke.

Nun noch ein Wort an Dich, meine Liebe. Sei nicht traurig.

Wir hatten doch ein schönes Leben zusammen. Ich habe noch eine letzte Bitte an Dich und einen Wunsch. Meine Bitte ist, verschließ Dich nicht. Du bist noch jung. Erfülle Dir noch die Dinge, die Dir Spaß machen, denn Du siehst, wie schnell es zu Ende ist. Und dann erfülle mir bitte einen letzten Wunsch. Begrabe mich bescheiden. So wie ich gelebt habe. Nicht traurig sein. Alles Liebe und Gute.

Artur.

PS. Danke für Alles

Unter dem Brief lagen einige Kladden, alle sorgfältig beschriftet. Ich öffnete die Kladde mit der Aufschrift 1. Ein vergilbtes Foto fiel heraus. Vorsichtig, in Sorge, es könnte zerbrechen, hob ich es auf und betrachtete es. Ich hatte es zuvor noch nie gesehen. Dann las ich die Zeilen, die mein Vater geschrieben hatte.

Mein lieber Sohn,

auf der Fotografie ist Dein Großvater Willi Szlapszi, mein Vater, zu sehen. Du wirst Dich sicher noch erinnern. Er starb 1964 an einem Herzinfarkt.

Von den Jahren im KZ hat er sich nie mehr richtig erholt. Auf dem Foto ist er noch ein kleiner Junge. Daneben sind seine Brüder Paul, Walter und Karl und seine kleine Schwester Elisabeth. Die Frau mit dem ausladenden Hut; das ist Deine Urgroßmutter Henriette, und der Mann mit der Melone ist Dein Ur-Großvater, Gustav Szlapszi. Ich habe versucht, im Laufe der Jahre etwas über unsere Familie herauszufinden. Es war nicht leicht, denn vieles ist im Krieg verloren gegangen, doch das, was ich finden konnte, habe ich aufgeschrieben. So bekommt der Nebel der Vergangenheit Konturen und die Zukunft erhält ein Gesicht. Mit jedem Blick in die Vergangenheit sehen wir uns selbst mit den Augen derer, die damals gelebt haben, denn wir waren deren Zukunft so wie unsere Kinder und Enkel unsere Zukunft sind.

Einen Moment zögerte ich und überlegte, ob dies der geeignete Augenblick sei, zu lesen, was Vater mir zu sagen hatte. Dann lehnte ich mich zurück und begann zu lesen:

Vorgeschichte

Deine Ur-Ur-Großeltern

Krakau 1848

Ich beginne mit meinen Aufzeichnungen in Krakau. Dort hat unsere Familie einmal gelebt.

Das war in der Zeit der nationalen Bewegungen. Auch die Polen strebten nach einem geeinten Vaterland.

»Jeszcze Polska nie zgineta.«

»Noch ist Polen nicht verloren.«

Überall in den Straßen von Krakau war das von Jozef Wybicki ein paar Jahrzehnte zuvor nach der dritten polnischen Teilung komponierte patriotische Kampflied, in dem zum bewaffneten Widerstand gegen die Besatzungsmächte aufgerufen wird, zu hören. Polnische Nationalisten zogen fahnenschwenkend durch die Straßen und forderten die Wiederherstellung des polnischen Nationalstaates.

Die alte polnische Königsstadt Krakau war ein Hexenkessel. In dieser Zeit, etwa zwischen 1830 und 1850, lebte hier unsere Familie, Dein Ur-Urgroßvater Gregor Slapszi, seine Frau Maria, seine Tochter Martha und Gustav, Dein Urgroßvater.

Ich weiß nicht, ob und wie lange wir schon vorher in Krakau ansässig waren, das ließ sich nicht mehr feststellen, aber sicher belegt ist, dass Dein Ur-Ur-Großvater, Gregor Szlapszi bis zu seinem Tod im Jahr 1849 als preußischer Beamter in der Verwaltung in Krakau gearbeitet hat.

Die alte polnische Königsstadt hatte damals schon eine wechselvolle Geschichte hinter sich, doch seit dem Wiener Kongress 1815 waren die Verhältnisse besonders verworren. Russland hatte ein Königreich Polen proklamiert, das weite Teile des polnischen Territoriums umfasste und zu dessen König sich der Zar selbst ernannt hatte. Österreich und Preußen konnten diesen Machtzuwachs des Zarenreiches nicht verhindern. Als es um Krakau ging waren sie jedoch unnachgiebig. Da alle drei Staaten gleichermaßen Anspruch auf die zweitälteste Universitätsstadt Mitteleuropas erhoben, kam als Kompromiss ein sehr künstliches Gebilde, die Republik Krakau zustande, die in den darauffolgenden Jahren immer wieder Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen wurde.

Krakau wurde unter das Protektorat Österreichs, Russlands und Preußens gestellt. Die Betroffenen wurden nicht gefragt. Achtundachtzigtausend Menschen lebten damals in der Stadt, fast ausschließlich Polen. Die Amtssprache war polnisch, man dachte polnisch, fühlte sich polnisch und sehnte sich nach der Wiederherstellung des polnischen Nationalstaates, den die Großmächte mit seiner Zerschlagung zwischen 1772 und 1795 vernichtet hatten.

In dieser Zeit zunehmender patriotischer Gesinnung entwickelte sich Krakau zu dem maßgeblichen Zentrum des polnischen nationalen Widerstandes.

Gregor Szlapszi war einer der Beamten in preußischen Diensten.

Die politische Lage in den 1840-er Jahren war eine hochexplosive Mischung und so war es auch nicht verwunderlich, dass es immer wieder zu Aufständen kam. Um der Revolten Herr zu werden, wurde die Polizei unter österreichische Leitung gestellt. Als das auch nichts half besetzten russische, österreichische und preußische Truppen Krakau. Die Soldaten befanden sich in einer Art Kriegszustand. Überall in der Stadt wurde patroulliert und kontrolliert, und wer sich verdächtig machte wurde verhaftet. Die Lebensverhältnisse waren sehr schwierig und sie wurden noch schwieriger.

Im Februar 1846 konnte ein Volksaufstand nur von zusätzlich herbeieilenden österreichischen Truppen niedergeschlagen werden. Daraufhin lösten die drei Besatzungsmächte die Republik Krakau kurzerhand auf.

In der Hoffnung, die Ruhe auf diesem Wege besser sicherstellen zu können, annektierte das Kaiserreich Österreich Krakau und gliederte die Stadt in das Kronland Galizien ein. Anfangs beruhigte sich die Lage, doch als die Österreicher 1849 die Burganlagen auf dem Wawel in eine Festung zum Schutz gegen die panslawischen Pläne der Russen, zu deren Grenze es nur ein paar Kilometer waren, umbauten, kam es erneut zu Unruhen.

Auf dem Wawelhügel, einem Ausläufer des Tschenstochauer Juragebirges, hatte der polnische König residiert. Dort jetzt die verhassten Besatzungssoldaten zu sehen war eine Provokation für jeden patriotischen Polen. Täglich gab es Anschläge. Besonders die neu errichteten Kasernenmauern waren immer wieder Ziel von Aktionen.

Die Auseinandersetzungen mit den polnischen Nationalisten und die Bedrohung durch die Russen in Verbindung mit der Sorge um einen Krieg, der in dieser Lage durchaus hätte ausbrechen können, machte unserer Familie das Leben noch schwerer. Sie lebten in ständiger Sorge um ihr Leben und ihre und ihrer Kinder Zukunft. So hatten sie noch ein Jahr zuvor als bekennende Katholiken völlig ungehindert die Kirche besuchen können, um gemeinsam mit den polnischen katholischen Gläubigen die Messe zu feiern. Dies war anders geworden. Man verwehrte ihnen als Glaubensbrüder den Eintritt zwar nicht, doch von einem freundlichen Miteinander konnte selbst in der Kirche keine Rede mehr sein, im Gegenteil, Hass schlug ihnen ständig, und sogar in der Kirche, entgegen.

Gregor Szlapszi und seine Familie waren preußisch, sprachen deutsch und legten Wert auf ihre preußische Staatszugehörigkeit. Für die Polen gehörten sie der verhassten Minderheit einer Besatzungsmacht an. Was aber für Gregor Szlapszi und seine Familie noch schlimmer war; ihnen fehlte als Preußen auch der Rückhalt der österreichischen Behörden, die zuerst an die Sicherheit ihrer Landsleute dachten und die im Sinne ihrer Regierung handelten, wenn sie die Lebensverhältnisse preußischer Beamten nicht erleichterten, sondern eher noch erschwerten. Nachdem man Schlesien im Siebenjährigen Krieg vor nicht einmal hundert Jahren an Preußen verloren hatte, war man in Wien fest entschlossen, Galizien und Krakau, das seit der ersten Teilung Polens 1772 zu Österreich gehörte, der Habsburger Krone zu erhalten. Und wenn die preußischen Beamten weggingen, würden immer mehr Verwaltungsaufgaben österreichischen Staatsbediensteten zufallen. Etwaige Ansprüche aus Potsdam würden somit immer unwahrscheinlicher.

Gregor Szlapszi verließ die Wohnung nur noch wenn es absolut notwendig war. Seiner Frau und den Kindern verbot er, die Wohnung zu verlassen. Morgens ging er, für eine Droschke fehlte ihm das Geld, aufmerksam seine Umgebung beobachtend, in die Gewerbekammer, wo er in der Abteilung für die Genehmigung und Überwachung gefährlicher Anlagen, wozu damals auch der Betrieb der Eisenbahn gehörte, tätig war.

Gregor Szlapszi befand sich mit seiner Familie zwischen den Fronten. Trotzdem erfüllte er seinen Dienst mit preußischer Gründlichkeit. Im Herbst 1851 wurde er jedoch Opfer eines Anschlages, bei dem er ums Leben kam. Er selbst war gar nicht das eigentliche Ziel der Attentäter, die eine selbstgebaute Bombe in das Gebäude der Gewerbekammer warfen. Er war nur ein Opfer des Anschlags auf eine Einrichtung der preußischen Besatzer. Daraufhin entschloss sich Maria Szlapszi, mit den Kindern von Krakau wegzuziehen.

Viele Möglichkeiten eines Umzuges gab es für sie nicht. Nur eines war für sie klar. Sie wollte ins preußische Hoheitsgebiet, und da bot sich Schlesien an. In Langenbielau lebte eine Cousine und so fiel ihre Entscheidung schnell. Sie verkaufte Möbel und Hausrat an Mendel Seligmann, einen jüdischen Händler, der im Krakauer Judenviertel lebte. Es spricht für die liberale Haltung der Krakauer Bevölkerung zu dieser Zeit, dass die jüdische Gemeinde eine eigene Synagoge und einen eigenen Friedhof hatte, die weder von der österreichischen noch von der napoleonischen Besatzungsmacht fünfzig Jahre zuvor angerührt worden waren. Mendel Seligmann war Kaufmann und hatte nichts zu verschenken, doch er erkannte die Not der Witwe mit ihren minderjährigen Kindern und zahlte etwas mehr als andere. Am Abreisetag packte Maria vier Koffer und ein paar Säcke zusammen und verließ das Haus mit Ziel Poststation, wo sie die Kutsche in die neue Heimat nehmen wollte. Die beschwerliche Reise auf den nur teilweise gepflasterten Straßen dauerte vier Tage.

In Langenbielau wurden sie erwartet, denn Maria hatte ihre Ankunft in einem Brief angekündigt. Ihre Cousine stand an der Station als die Kutsche ihr Ziel erreichte. Ihre Begrüßung war herzlich und Maria glaubte sich in Geborgenheit. Endlich wieder, denn seit Gregors Tod hatte sie nur in Sorge gelebt, wie sie sich und ihre Kinder durchbringen sollte. Sie bekam eine Rente von der preußischen Regierung, aber die würde auf Dauer nicht reichen, um sich und die Kinder zu versorgen.

Nach der Begrüßung nahm ihre Cousine ihr zwei Koffer ab und führte sie zu einem kleinen Gasthof.

»Hier kannst Du wohnen. Ich habe Dir ein Zimmer bestellt.«

Maria verschlug es die Sprache. Sie hatte erwartet, dass sie bei ihrer Cousine für eine kurze Zeit unterkommen würde, nicht lange, aber eben so lange, bis sie eine Lösung für sich und die Kinder gefunden hatte. Wortlos folgte sie in den Gasthof und betrat ihr Zimmer.

»Macht fünf Silbergroschen in der Woche, im Voraus zu zahlen.«

Übertölpelt entnahm Maria ihrem Portemonnaie fünf Groschen und zahlte den Mann aus. Dann verabschiedeten sich die Cousinen. Alleine mit den Kindern auf dem Zimmer kamen ihr die Tränen. Hier konnte sie nicht bleiben. Sie musste schnell eine Lösung finden.

Am Tag darauf ging sie zum Haus ihrer Cousine. Auf ihr Klopfen öffnete ein kleines Mädchen von höchstens fünf Jahren die Türe. Maria erschrak. Dem Körper des Kindes konnte man ansehen, dass es schon länger nichts Ordentliches mehr gegessen hatte. Das Gesicht war ausgezehrt, die Augen lagen in tiefen, dunkel umränderten Höhlen und der Blick des Kindes zeugte von der großen Not, die es litt, ohne zu wissen, wie ihm eigentlich geschah. Es hielt seine Mutter ängstlich an der Hand und blickte sie wortlos an, und seine Blicke durchdrangen die Mutter bis in ihre Seele.

Maria trat ein. Der Raum war dunkel. An der Wand stand ein Schrank und in einer Ecke war eine offene Feuerstelle, in der kein Feuer brannte, obwohl es schon Herbst und kalt war. Der Mann ihrer Cousine und ein kleiner Junge arbeiteten an den Webstühlen. Für einen Moment blickte der Mann hoch und betrachtete argwöhnisch den Gast, ohne ihm jedoch weitere Aufmerksamkeit zu schenken. Aus der Dunkelheit der Stube löste sich die Gestalt des Jungen. Marias Cousine fasste auch ihn an die Hand. Dann gab sie Maria ein Zeichen, ihr in den hinteren Raum des Hauses zu folgen. Das kleine Mädchen und der Junge blieben ängstlich zurück. Durch die geschlossene Tür hörte Mariaden eintönigen Takt der Handwebstühle. Nachdem die beiden Frauen sich gesetzt hatten schauten sie sich wortlos an. Maria kam es vor, als würde sich das gesamte Elend dieser Welt in dem Blick ihrer Cousine konzentrieren. Sie wagte nicht, etwas zu sagen oder gar zu fragen, doch ihre Blicke waren Fragen genug.

»Das hast Du nicht erwartet«, begann die Cousine, die sich von den fragenden Blicken aufgefordert fühlte, etwas erklären zu müssen.

»Du musst nichts erklären.«

Maria legte die Hand auf die Schulter ihrer Cousine.

»Doch, Maria; wir sind arm. Das war nicht immer so. Sicher, wir hatten nie viel, aber wir konnten uns immer sattessen. Seit ein paar Jahren wird es immer schlechter. Wir arbeiten und arbeiten. Fritz ist neun und arbeitet wie ein Mann, zehn Stunden und mehr am Tag. Selbst Elisabeth hilft schon, obwohl sie erst fünf ist. Es bricht mir das Herz. Aber wie sollen wir sonst die Mengen schaffen, die Herr Dierig von uns verlangt.«

Sie hielt inne, denn sie sah Marias fragenden Blick.

»Die Firma Dierig gibt uns das Garn und die Wolle, und wir weben daraus Leinen und Wollstoffe. So war es immer schon, soweit ich zurückdenken kann. Vor ein paar Jahren aber wurden uns die Löhne gekürzt. Auf einmal bekamen wir nur noch die Hälfte von dem, was wir früher bekommen hatten. Sie sagten, dass sie auf die modernen Maschinen umstellen würden und die würden schneller und besser weben als wir. Wir haben uns zuerst geweigert, für diese Löhne zu weben, doch dann hatten wir gar nichts mehr. Du hast vielleicht das große Gebäude am Ortsrand gesehen. Das ist die Fabrik, die Dierig gebaut hat. Darin stehen Maschinenwebstühle. Ich habe gehört, da gibt es keinen Menschen mehr drin. Wie das funktionieren soll weiß ich nicht; so ganz ohne einen Menschen. Wir versuchen jetzt, genauso schnell zu sein wie die Maschinen. Wenn wir überleben wollen müssen wir doppelt so viel Stoff weben wie früher. Das ist aber nicht zu schaffen, auch wenn wir Tag und Nacht weben, und die Kinder auch. Maria; wir verhungern, obwohl wir fleißig sind. Glaub mir, ich war immer fleißig; der Herr soll‘s bezeugen, aber mehr können wir nicht.«

Sie weinte. Maria nahm sie in den Arm und tröstete sie, obwohl sie selbst nicht wusste, was aus ihr und ihren Kindern werden würde.

»Wir können Dich nicht aufnehmen. Es reicht nicht einmal für uns. Kannst Du mich verstehen?«

Maria nickte.

»Vor ein paar Jahren«, ihre Cousine schluchzte und die Worte kamen nur zögernd aus ihrem Mund, »haben die Männer sich gewehrt. Sie sind nach Peterswaldau zu der Fabrik von der Firma Zwanziger gezogen, weil der die Weber noch mehr ausbeutet und dazu noch lügt. Er sagte, dass er für unsere Stoffe nichts bekommt und uns deshalb auch nicht richtigen Lohn geben kann. Aber das stimmt nicht. Der Pfarrer hat gesagt, dass Zwanziger sich gebrüstet hätte, noch immer mit unseren Stoffen gut gegen die Maschinenware aus England bestehen zu können, weil wir bessere Qualität hätten. Da sind die Männer los und haben vor der Fabrik vom Zwanziger gestanden und gefordert, bessere Löhne zu bekommen. Wir sind hinterher und haben unseren Männern beigestanden. Auch Fritz war dabei; wie viele Kinder. Der Zwanziger hat aber nur die Polizei gerufen und die hat Soldaten geholt. Und die haben geschossen. Stell Dir vor, auf Kinder auch. Elf von uns sind tot geblieben, viele verletzt. Den Alois, das ist mein Mann, haben sie nach Breslau gebracht und zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Wie einen Schwerverbrecher. Nach einem halben Jahr haben sie ihn raus gelassen gegen hundert Peitschenhiebe. Man kann heute noch die Narben auf seinem Rücken sehen.«

Sie begann erneut zu weinen.

Maria wollte sie trösten, doch ihre Cousine wandte sich ab.

»Geh jetzt Maria, wir haben schon zu lange gesprochen. Ich muss wieder an die Arbeit.«

Sie machte eine ungelenke Bewegung in Richtung der Stube, wo ein Webstuhl auf sie wartete.

Maria stand auf und ging. Als sie die Stube zur Türe der kleinen Kate durchquerte spürte sie die Blicke, die sie verfolgten. Draußen vor dem Haus rang sie nach Luft. Es kam ihr vor, als müsste sie ersticken. Die Sorge um ihre Kinder machte sie halb wahnsinnig. Wohin? Was soll werden?

Es hatte sich in dem Dorf schon herumgesprochen, dass eine Neue angekommen war. Die Leute tuschelten, denn die Gerüchte nahmen kein Ende. »Zwei Kinder hat sie, eins von einem Russen und eins von einem Polen, die katholische Hure.«

Aus Krakau war sie geflohen, weil sie einer deutschen Minderheit angehörte. Nun war sie als Katholikin in einer protestantischen Gegend. Die gegenseitige Abneigung der beiden Religionsgruppen war ein Problem wie überall; schwerwiegender waren allerdings die sozialen Verhältnisse. Jeder Neue wurde zuerst einmal als ein Wettbewerber um einen der begehrten Arbeitsplätze angesehen, denn davon gab es nicht genug, um allen Einwohnern einen halbwegs ausreichenden Broterwerb zu sichern. Und so wurden Gerüchte in die Welt gesetzt, um Maria möglichst auszugrenzen. Jeder zeigte ihr seine Abneigung. Doch selbst wenn sie gewollt hätten; keiner der Heimarbeiter konnte sich eine Frau mit zwei Kinder leisten. Sie hätte bei den Löhnen, die gezahlt wurden, nicht den Lebensunterhalt für sich und die Kinder verdienen können.

Maria erkannte sehr schnell, dass sie eine andere Lösung finden musste. Am nächsten Morgen machte sie sich auf die Suche nach Arbeit. Sie zog ihre besten Sachen an und fragte in den umliegenden Gütern nach Arbeit. Überall bekam sie Absagen. Jetzt war nur noch eines geblieben. Voller Sorge weil dies vielleicht ihre letzte Chance war, klopfte sie an die schwere Türe aus schlesischer Eiche. Eine freundliche Frau ließ sie herein, und es dauerte auch nicht lange bis sie zu dem Verwalter des Gutes geführt wurde. Sie erklärte ihm, dass sie Arbeit suche, und dass sie nicht mehr weiter wisse. Der Verwalter, ein untersetzter, schon etwas älterer Mann mit einer Halbglatze, die er mit ein paar grauen Haaren zu kaschieren versuchte, hörte sich an, was sie zu sagen hatte. Dann straffte er seinen Rücken, zwirbelte seinen Bart und sah sie an.

»Du kannst in der Ziegelei arbeiten. Zehn Taler im Monat, Kost und Logis frei. Morgen meldest Du Dich beim Ziegler

Lanzkus. Der zeigt Dir, was Du zu tun hast und wo Du schlafen kannst.«

Dann drehte er sich um. Es war alles gesagt. Maria ging.

»Danke.«

In einer Ziegelei. Was würde auf sie zu kommen? Doch der erste Schritt war getan. Sie war erst einmal untergekommen und hatte eine Chance, den Winter zu überleben.

Tags drauf, als sie sah, wo sie zukünftig würde leben müssen, war sie erschüttert. Sie hatte eine Kammer in einem der Nebengebäude des Gutes. In der Kammer standen ein Ofen und ein Bett. Auf ihren Wunsch hin war ein zweites Bett für Gustav und Martha aufgestellt worden. Als der Vorarbeiter wieder gegangen war sah sie sich um. Es war traurig, doch irgendwie war sie froh, dass sie erst einmal eine Bleibe hatte.

Zehn Taler im Monat waren nicht viel, doch wenn man bedachte, dass eine Weberfamilie trotz aller Mühe auch nicht mehr als höchstens zweihundert Taler im Jahr verdiente, ging es ihr bei freier Kost und Logis erst einmal nicht so schlecht. Hinzu kam die Pension ihres Mannes. Wenn sie sparsam wäre könnte sie vielleicht etwas zurücklegen.

Fürs erste würde sie mit den Kindern hier bleiben, wenn es auch noch so schrecklich war.

Es ist in jedem Anbeginn

Das Ende nicht mehr weit.

Wir kommen her und gehen hin

Und mit uns geht die Zeit.

Gustav

1852 bis 1866

Kindheit und Jugend inLangenbielau, Schlesien

Gustav Szlapszi war sieben Jahre alt, als er mit seiner Mutter und seiner Schwester auf dem Gut ankam. Die schwierigen Lebensverhältnisse nahm er noch nicht wahr. Dazu war er noch zu klein. Er lebte auf dem Gut und spielte mit seinen Gleichaltrigen. Die Gutsbesitzer waren ebenso wie alle anderen Gewerbetreibenden per Gesetz verpflichtet, von Kinderarbeit abzusehen. Das schützte Gustav aber nur bis zu seinem sechsten Lebensjahr. Im Sommer des Jahres 1853 wurde er zum ersten Mal zur Mithilfe bei der Ernte eingeteilt. Zusammen mit den anderen Kindern, die auf dem Hof aufwuchsen, musste er auf den Feldern helfen. Morgens ging er schon früh mit den Erwachsenen auf die Felder, und erst am Abend, wenn es dunkel wurde, kam er zusammen mit seiner Schwester nach Hause. Er empfand nichts Außergewöhnliches dabei. Alle machten es so. Es war Bestandteil ihres Lebens, doch Maria hatte in Krakau erlebt, dass Kinder anders aufwachsen konnten.

Es gab in Langenbielau keine katholische Schule, die wurde erst 1859 gegründet, und deshalb erhielt sie keine Information darüber, dass Gustav mit sieben Jahren schulpflichtig wurde. Die protestantische Gemeinde in Langenbielau sah keine Veranlassung, Katholiken darüber zu informieren, und die Gutsbesitzer freuten sich über jedes Kind, das trotz der Schulpflicht, die in Preußen schon gesetzlich geregelt war, nicht zur Schule ging und somit als Arbeitskraft zur Verfügung stand.

Durch Zufall erfuhr Maria, dass Martha und Gustav zur Schule gehen konnten. Friedrich I. hatte bereits 1717 die Schulpflicht in Preußen eingeführt, in dem er erließ, dass die Eltern überall dort, wo es eine Schule gab, ihre Kinder in dieselbe zu schicken hätten. Es gab allerdings nur wenige Schulen. Und dort, wo es Schulen gab, gingen auch viele Kinder nicht hinein, denn die meisten Familien waren darauf angewiesen, dass ihr Kind beim Broterwerb mitarbeitete. So blieben die meisten der Schule fern und damit Analphabeten. Durch den Schock der verheerenden militärischen Niederlage 1806 gegen Napoleon und der in deren Folge politischen Bankrotterklärung Preußens erkannte man die Notwendigkeit von Reformen, die auch das Schulwesen umfasste. Enorme Anstrengungen wurden unternommen, flächendeckend Schulen zu bauen und ausgebildete Lehrer einzustellen. 1840 führte Preußen die allgemeine Schulpflicht ein und verpflichtete die Eltern. Trotz der angedrohten Sanktionen im Falle des Nichterscheinens wurde das Gesetz jedoch oft genug unterlaufen. Die Kinder wurden weiterhin als billige Arbeitskräfte missbraucht, und die am Existenzminimum lebenden Familien wehrten sich nicht dagegen, da sie zum Überleben jeden Groschen brauchten. Hinzu kam, dass es den einfachen Menschen häufig auch an der Einsicht fehlte, dass eine bessere Bildung die Lebensperspektiven ihrer Kinder verbesserte. Die meisten der Lohnarbeiter waren selbst Analphabeten, und von den Kanzeln wurde ihnen erklärt, dass dies Gottes Wille sei und sie sich in ihr Schicksal, in einer ständisch strukturierten Gesellschaft am unteren Ende zu leben, zu fügen hätten. Kaum einer stellte sich die Frage, warum ihnen Hunger als Prüfung Gottes auferlegt würde und warum Gott anderen diese Prüfung ersparte.

Auch Maria war gottesfürchtig und fügte sich soweit es sie selbst betraf. Für ihre Kinder erhoffte sie sich jedoch eine bessere Zukunft. Gregors Eltern waren in seiner Kindheit zum katholischen Glauben konvertiert, damit er auf die Klosterschule gehen und preußischer Beamter werden konnte. Jetzt war Gregor tot und sie lebten in einem Dorf, in der es nicht einmal eine katholische Schule gab. Ihre Kinder mussten auf die Schule, und wenn es die evangelische war, auch gut. Sie setzte alle Hebel in Bewegung, dass Gustav und Martha auf die Schule konnten. Sie erwog sogar, mit ihren Kindern erneut zu konvertieren und protestantisch zu werden, was die Aufnahme in die Schule sehr erleichtert hätte, doch sie zögerte. Was würde Gregor sagen? Es ist schwer, sich zu emanzipieren, wenn man jahrhundertelang eingetrichtert bekommen hat, wie man zu leben und zu denken hätte. Natürlich nur, um Gott zu gefallen und die ewige Seligkeit zu erlangen. In Wahrheit dienten all diese Aussagen und Maßnahmen nur einem Ziel: der Bewahrung bestehender Strukturen durch Unterdrückung. Und dies zur Bevorzugung der Unterdrücker.

Martia brauchte eine Lösung zum Wohle ihrer Kinder. In ihrer Not wandte sie sich an den Gutsverwalter. Sie hoffte, er würde ihr helfen können. Einmal im Monat durfte das Gesinde um ein Gespräch beim Gutsverwalter nachfragen. Als sie bei ihm vorsprach hörte er sich ihr Anliegen an. Nach einer Weile nickte er zustimmend mit dem Kopf.

»Komm heute Abend gegen acht Uhr zu mir. Ich werde schauen, ob ich etwas für Dich tun kann.«

Am Abend klopfte Maria an die Tür des Gutsverwalters. Er öffnete persönlich die Tür und bat sie herein. Diese Freundlichkeit hatte Maria nicht erwartet. Sein Salon war geschmackvoll eingerichtet. Er bot Maria einen Platz an. Unsicher strich sie sich den Rock gerade und setzte sich.

»Du bist neu in der Gegend, nicht wahr?«

Er grinste jovial

»Ja, mein Herr.«

Du willst also, dass Deine Kinder in die Schule gehen?«

»Ja. Ich möchte, dass die Kinder etwas lernen.«

Maria entwickelte ihren Kampfgeist.

»Und es ist Gesetz.«

»Gesetz? Was heißt das schon? Wir brauchen hier jede Hand. Das weißt Du doch?«

»Ja, schon. Aber meinen Kindern soll es einmal besser gehen als mir.«

Der Gutsverwalter grinste und schob sich etwas näher an sie heran.

»Für uns ist eine Arbeitskraft sehr wertvoll. Sie zu verlieren kostet seinen Preis. Wer soll die Garben binden und beim Verladen helfen? Wir müssten einen anderen einstellen.«

»Was kann ein Kind von sieben Jahren schon leisten?«

»Immerhin bittest Du um zwei Arbeitskräfte.«

Maria stutzte. Er bemerkte den ungläubigen Blick in ihren Augen und setzte sich neben sie. Dabei lächelte er sie an.

»Es gibt aber immer einen Weg.«

Dann ging alles sehr schnell. Ohne ihr einen Augenblick Zeit zu lassen umarmte er sie und küsste ihren Mund. Sie drehte sich um und versuchte aufzustehen. Er hielt sie zurück und presste sie in die Polster des Sofas. Maria wehrte sich und als er immer zudringlicher wurde schlug sie ihm ins Gesicht. Der Gutsverwalter zuckte zurück. Er sprang auf und richtete seine Krawatte. Maria rannte aus dem Haus. Draußen brach sie in Tränen aus. Was nun? Nach einigen schlaflosen Nächten fasste Maria einen Entschluss. Sie blieb im Bett liegen und schickte Gustav zu Lanzkus. Er sollte ihm sagen, dass sie krank sei und nicht zur Arbeit kommen könne. Als Gustav weg war machte sie sich auf den Weg nach Reichenbach. In Reichenbach gab es eine katholische Gemeinde und eine katholische Schule. Martha hatte sie eingeschärft, keinem ein Wort zu erzählen, ganz gleich, was passieren würde.

Reichenbach war weit, und sie musste anfangs sehr aufmerksam sein, denn sie wollte nicht von anderen Bediensteten des Gutes bemerkt werden. Als sie die Dächer der Häuser und den alles überragenden Turm der Kirche der alten Stadt erkennen konnte beschleunigte sie ihre Schritte. Außer Atem kam sie in der Stadt an und ging sofort zu der katholischen Kirche.

In der Kirche war es menschenleer. Am Altar brannte das ewige Licht. Sie kniete nieder und bekreuzigte sich. Langsam ging sie im Mittelschiff auf den Altar zu. In der ersten Bankreihe kniete sie nieder und betete. Sie erhoffte sich Hilfe für ihr Problem. Die Kinder mussten in die Schule. Das war ihr sehnlichster Wunsch. Maria hatte nicht wahrgenommen, dass jemand in der Bank hinter ihr Platz zum Beten genommen hatte. Erst durch ein leichtes Räuspern wurde sie aufmerksam und drehte sich um.

»Du bist fremd hier. Ich habe Dich noch nie gesehen.« Pfarrer Broszka duzte sie, ohne zu fragen ob er es durfte und empfand darin auch nichts Ungewöhnliches. Maria schaute ihn an und stand auf. Sie trat in den Gang und wandte sich dem Pfarrer, wegen dem sie ja auch hier war, zu.

»Ich möchte, dass meine Kinder in die katholische Schule hier in Reichenbach gehen.«

»Und warum gehen sie noch nicht hier in die Schule?«

»Ich wohne in Langenbielau und dort gibt es keine katholische Schule. Und die evangelische nimmt sie nicht auf.«

»Du wolltest sie auf eine evangelische Schule schicken?« Pfarrer Broszka verfinsterte sein Gesicht zu einer vorwurfsvollen Miene.

»Ich wusste mir keinen Rat. Sie sollen zur Schule gehen und Schreiben und Lesen lernen. Können Sie nicht hier in Reichenbach in die Schule gehen?«

»Es ist ein weiter Weg von Langenbielau hierher.«

Maria schwieg devot. Pfarrer Broszka schaute sie an. Als ihm bewusst wurde wie ernst es Maria war wurde er etwas versöhnlicher.

»Nun, Deine Kinder wären nicht die Einzigen aus Lanenbielau. Ich muss einen Antrag stellen. Komm in einer Woche wieder.«

Er hielt ihr seine rechte Hand hin. Sie kniete nieder und küsste sie. Damit war das Gespräch beendet.

Als der Gutsverwalter von Marias Ausflug nach Reichenbach erfuhr zitierte er sie zu sich und stellte sie zur Rede. Maria erklärte erneut ihr Anliegen und dass sie im Sinne ihrer Kinde so handeln musste.

»Geh ins Kontor. Dort bekommst Du ein Zeugnis. Dann kannst Du mit Deinen Kindern gehen. So eine wie Dich können wir hier nicht brauchen.«

Maria erschrak. Tränen schossen ihr aus den Augen.

»Wo soll ich denn hin?«

»Das hättest Du Dir vorher überlegen sollen. Geh jetzt.« Maria verließ das Büro des Gutsverwalters. In ihrem Zimmer packte sie ihre Sachen und half den Kindern beim Anziehen. Dann verließen die drei das Gut. Gustav war für sein Alter schon groß und trug seinen Rucksack alleine. Er wurde ihm auf dem langen Weg immer schwerer, doch er ließ sich nichts anmerken. Völlig erschöpft erreichten sie die katholische Kirche in Reichenbach. Sie setzten sich in die letzte Bank. Himmlische Ruhe umgab sie, bis der Pfarrer eintrat.

»Was wollt Ihr hier?«

»Ich war gestern schon mal da. Das sind meine Kinder.«

»Geh jetzt. Hier kannst Du nicht bleiben.«

»Ich dachte, in der Kirche wäre Platz für jeden, der Hilfe sucht.«

»Das Haus Gottes ist aber kein Gasthof. Da müsst Ihr hingehen.«

Er wies ihnen den Weg zum Portal.

Maria und die Kinder gingen. Im Gasthof fanden sie ein Zimmer für eine Nacht. Zum Glück hatte Maria jeden Monat etwas Geld von der Pension ihres Mannes zurückgelegt, so dass sie den Silbergroschen, den der Wirt für das Zimmer und eine Nacht haben wollte, zahlen konnten. Sonst wären sie alle im Schuldturm gelandet. Die Lage war aussichtslos. Keiner wollte sie. Gustav verstand die Situation nicht ganz. Er bemerkte aber, dass seine Mutter traurig war und das machte ihn unglücklich.

»Warum bist Du traurig?«, flüsterte er ihr zu, als sie im Bett lagen. Maria wusste nicht, was sie einem kleinen, siebenjährigen Jungen sagen sollte. Nach einer Weile strich sie ihm über seinen Kopf.

»Weil uns Unrecht geschieht, Gustav.«

»Was ist Unrecht?«

Maria stockte. Was ist Unrecht. Dann sagte sie ihrem Sohn: »Weißt Du Gustav, Unrecht ist alles, was Menschen unglücklich macht.«

Gustav weinte in sein Kopfkissen hinein. Er würde immer gegen Unrecht kämpfen. Was er jedoch nicht wusste; er würde auch Unrecht begehen.

Nach einer unruhigen Nacht gingen die beiden Kinder mit ihrer Mutter erneut ins Pfarrhaus. Pfarrer Broszka machte es kurz. Wahrscheinlich würden die beiden Kinder in der katholischen Schule einen Platz bekommen, so meinte er. Natürlich nur, damit sie nicht bei den Protestanten im falschen Glauben erzogen würden, wie er ausdrücklich betonte. Als Maria nicht locker ließ und wissen wollte, wann die Kinder denn in die katholische Schule in Reichenbach aufgenommen würden, gab ihr der Pfarrer die ersehnte Antwort: »Also gut. Sie sollen am Montag kommen.«

Maria war erleichtert. Der Weg zurück nach Langenbielau fiel ihnen leicht, doch als Maria in der hereinbrechenden Nacht das Gutshaus sah bekam sie Angst. Wo konnte sie wohnen? Bald würde der Winter kommen, und die Winter im Riesengebirge waren lang und hart.

Sie müsste bei der Gutsverwaltung bitten, wieder angestellt zu werden. Schon der Gedanke daran lastete wie ein schwerer Stein auf ihrem Herzen. Es wurde auch nicht einfach. Sie klopften an die Türe der Küche, die einen Ausgang zum Hof hatte, um die Abfälle leichter entsorgen zu können. Die Köchin öffnete. Sie kannte Maria, und es hatte sich natürlich auf dem Hof herumgesprochen, dass Maria entlassen worden war.

»Darf ich reinkommen?«

Die Köchin nickte, obwohl es ein großes Risiko für sie war. Sie hielt den Finger auf ihren Mund als Zeichen, nicht zu sprechen. Als alle drin waren schloss die Köchin die Türe zum Flur.

»Was willst Du?«

Maria erzählte, was passiert war und dass sie über Nacht einen Schlafplatz brauchte. Morgen wollte sie direkt in der Frühe um Wiedereinstellung nachsuchen. Die Köchin sah, dass alle todmüde waren. Sie ging zum Ofen und gab allen von der Suppe, die vom Abendessen übrig geblieben war. Dazu erhielten sie ein Stück Brot. Das war das erste Essen seit fast zwei Tagen. Als sie satt waren gab ihnen die Köchin den Schlüssel zu ihrer Kammer. Es war ein Privileg, das Köchinnen und Köche auf den Gutshöfen oftmals hatten, während die Dienstmägdeund Küchenhilfen irgendwo unterm Dach oder im Keller in Mehrbettzimmern, oftmals ohne Fenster, untergebracht waren. Maria schlich mit den Kindern aus der Küche in das Zimmer der Köchin. Es war sehr klein, hatte ein Bett und einen Schrank. Die drei legten sich auf den Boden. Der war hart, doch das merkten sie nicht. Als sie am nächsten Morgen aufwachten war das Bett der Köchin schon leer. Sie wussten nicht, wie spät es war, doch es war schon Tag.

»Bleibt hier und rührt Euch nicht. Ich bin gleich wieder da.«

Maria trat auf den Flur des Nebengebäudes, in dem auch der Gutsverwalter mit seiner Familie wohnte. Langsam ging sie hinunter, in Sorge, jeden Augenblick entdeckt zu werden. Unten angekommen trat sie schnell auf den Hof. Sie wollte gerade die Treppenstufen hinab treten als sie aufgehalten wurde.

»Was machst Du denn hier? Habe ich Dir nicht gesagt, Du sollst verschwinden.«

Maria war entsetzt. Sie war entdeckt. Verwirrt schaute sie umher.

»Wo kommst Du her?«

Maria hatte sich wieder gefasst.

»Ich habe Sie gesucht.«

»Hier?«

Maria überhörte das.

»Ich wollte Sie bitten, mich wieder einzustellen. Ich weiß nicht wohin.«

»Ich habe Dir schon gesagt, wie ich darüber denke.«

Maria versuchte alles, doch der Gutsverwalter blieb hart. Sie flehte, bettelte, doch es war vergebens. Der in seiner Ehre gekränkte Gutsverwalter ließ sich nicht erweichen. Zu sehr hatte sie ihn verletzt, als sie ihn zurückstieß. Er hatte auch Sorge, dass sie vielleicht einmal über seinen Annäherungsversuch reden könnte, und das konnte er gar nicht gebrauchen. Ihm waren die Mädchen lieber, die für ein paar Vergünstigungen großzügig seine Wünsche erfüllten. Maria gehörte nicht dazu.

»Geh. Ich sage es nicht noch einmal.«

Deprimiert verließ sie mit ihren Kindern den Hof.

Ihre Cousine war nicht erfreut, als sie wieder vor ihrer Tür standen.

»Kein Essen, nur etwas Wasser und ein Dach überm Kopf. Für eine Nacht. Ist das zu viel verlangt, liebe Cousine?« Sie ließ sie hinein.

Am Abend saßen sie beisammen und teilten das wenige Brot, das sie hatten. Es herrschte Stille. Keiner sagte ein Wort, bis Maria, deren Gehirn fieberhaft nach einem Ausweg suchte, einen letzten Versuch unternahm.

»Kann ich nicht vielleicht doch ein paar Tage bei Euch bleiben?«

Sie bemerkte, dass Ihre Cousine erschrak und fügte hastig hinzu:

»Ich habe eine kleine Pension als Witwe. Jeden Monat fünfzehn Taler. Die gebe ich Euch. Ich arbeite auch dafür. Nur so lange, bis ich etwas gefunden habe.«

»Fünfzehn Taler, das ist mehr als wir verdienen. Ist das wirklich wahr?«

»Ich sag‘s Euch doch.«

»Gut, aber nur bis Du etwas gefunden hast.«

Noch am Abend zog Maria mit den Kindern und den wenigen Habseligkeiten, die sie noch hatte, in das Haus ihrer Cousine ein.

Prügeln ist keine Sünde

Unrecht erleben, gar erleiden, ist für einen kleinen Jungen eine bittere Erfahrung.

Für Gustav begann nun in der Schule in Reichenbach eine Zeit, in der er mit Unrecht ständig konfrontiert wurde. Er war inzwischen neun Jahre alt und ging in die Schule. Jeden Morgen machte er sich zusammen mit seiner Schwester auf den sechs Kilometer langen Weg. Im Sommer war dies nicht weiter schlimm, doch wenn im Winter Regen und Schnee den Feldweg aufgeweicht hatten, war es sehr beschwerlich. Hinzukam, dass ihr Lehrer ihnen eingebläut hatte, nicht durch den Dreck zu laufen, da sie das Schulgebäude und den Klassenraum sonst nur verdrecken würden. Gustav hatte das am eigenen Leibe zu spüren bekommen, als er mit vom Schlamm des Feldweges verschmutzten Schuhen in seiner Schulbank saß. Sein Lehrer hatte die Fußspur, die nicht zu übersehen war, verfolgt und Gustav aufgefordert, aus der Bank zu treten. Dann musste Gustav ihm sein Lineal geben und die rechte Hand mit der Handfläche nach oben ausstrecken. Gustav war zuerst nicht bewusst, was geschehen würde, doch nur nach ein paar Sekunden der Unsicherheit spürte er es. Der Lehrer schlug ihm mit dem Holzlineal auf die Fingerspitzen. Gustav zog die Hand weg. Dies machte seinen Lehrer aber nur noch wütender. Er musste die Hand wieder ausstrecken und erhielt zehn Schläge auf die Finger. Der Schmerz war fast unerträglich für ihn. Er war von seiner Mutter nie verprügelt worden. Insofern war diese Erfahrung neu für ihn. Aus den Erzählungen einiger seiner Schulkameraden wusste er, dass sie von ihren Eltern häufig heftige Prügel bezogen; und dies sogar auch für Kleinigkeiten. Gustav versuchte, trotz des höllischen Schmerzes keine Miene zu verziehen. Am Ende der Schulstunde beschloss er, seiner Mutter nichts von dem Vorfall zu erzählen. Was würde dies schon helfen? Auf dem Heimweg weinte er; aber nicht die schmerzenden Finger waren die Ursache hierfür. Vielmehr weinte er aus Wut. Die Schläge auf seine Finger hatten ihm seine Ohnmacht gezeigt. Er war bestraft worden, obwohl es für die Strafe keinen Grund gegeben hatte. Wie sollte man auf einem vom Regen aufgeweichten und von den Gespannen zerfurchten Feldweg laufen, ohne seine Schuhe zu verdrecken. Ihm war reine Willkür widerfahren.

Ein Haus in Duisburg

Heute

Ich legte die Kladde für einen Moment zur Seite. Mein Vater hatte mich nie geschlagen. Er hatte viel über Gewalt erzählt. Insbesondere im Krieg muss er wohl viel Gewalt erlebt haben. Aber er versuchte auch immer, mir zu erklären, dass es auch psychische Gewalt gab. Er erzählte mir von Einschüchterungen durch seelische Repressalien. Wie musste mein Großvater gelitten haben? Grundlose Prügel und seelischer Druck wegen der ständigen Drohungen, nicht das Seelenheil zu erlangen, wenn er nicht dem gottgewollten Wort der Obrigkeit folgte.

Ich las weiter, was Vater geschrieben hatte.

*

In der damaligen Zeit machten die Menschen diese Erfahrung täglich. Da ist es nicht verwunderlich, dass man seine eigenen Probleme auch mit Gewalt löst. Gewalt gehörte zum Alltag. Kinder wurden von ihren Eltern verprügelt, Schüler von ihren Lehrern, Messdiener und Katechismusschüler von den Priestern und Landarbeiter von ihren Dienstherren. Obwohl offiziell verboten wurde natürlich auch beim Militär geprügelt. Dienstherren beriefen sich auf die Gesindeordnung von 1810 und ließen prügeln, wenn sie dies zur Aufrechterhaltung ihres Disziplinverständnisses für gegeben hielten. In Schulen war die Prügelstrafe erlaubt und selbst die christliche Kirche sah kein Vergehen darin, ihre Schutzbefohlenen mittels Schlagstock und Faust vom rechten Glauben zu überzeugen. Wie dies zuging erlebte Gustav beim Kommunionunterricht.

In der Vorbereitung auf die erste heilige Kommunion gingen alle katholischen Kinder an jedem Nachmittag in den Kommunionunterricht. Der fand in der Sakristei der Kirche in Reichenbach statt. Es bestand Teilnahmepflicht. An jenem denkwürdigen Tag, der sich in Gustavs Gedächtnis einbrannte und ihn nie wieder frei lassen sollte saßen sie auch wieder in der Sakristei. Es kam schon einmal vor, dass ein Weberkind fehlte, und auch die, die schon in der Glashütte arbeiteten, konnten nicht immer pünktlich erscheinen, denn die Familien brauchten jeden Groschen Lohn zum Überleben. Das war allgemein bekannt. Jeder im Dorf wusste das.

Als an diesem bewussten Tag im Frühjahr 1856 der Kommunionunterricht begann fehlte Anton Mischkowitz. Etwas verspätet kam er angehetzt, öffnete so leise er konnte, um nicht zu stören, die Türe und trat in die Sakristei. Sofort traf ihn der Bannstrahl von Pfarrer Broszka. Anton senkte den Kopf und schlich verängstigt zu seinem Stuhl. Er kam nicht dazu, sich zu setzen, denn Pfarrer Broszka wollte von ihm wissen, wo er gewesen ist.

»Du bist zu spät. Wo hast Du Dich rumgetrieben?«

»Ich hab noch bis gerade in der Fabrik gearbeitet. Die Kühlfässer für die nächste Schicht mussten noch mit frischem Wasser aufgefüllt werden.«

»Das ist kein Grund, nicht da zu sein, wenn Ihr den Katechismus zu lernen habt. Ist das klar?«

»Ja, aber ich musste da bleiben. Vater hat gesagt, ich soll...«

»Was? Dein Vater hat gesagt! Dein Vater hat nichts zu sagen.«

Pfarrer Broszkas Gesicht lief rot vor Zorn an.

»Ich habe Euch etwas zu sagen, und zwar Gottes Wort. Und dann hast Du pünktlich zu sein. Sag mir das Glaubensbekenntnis auf. Aber sofort!«

Anton schaute eingeschüchtert zum Pater auf.

»Ich ... Ich glaube an Gott den allmächtigen Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde und an Jesus, seinen Sohn, unseren ...«

»Jesus?« brüllte Pfarrer Broszka, »Jesus? Jesus Christus heißt das! Hast Du das verstanden? Jesus Christus! Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria.«

Er stockte und griff nach seinem Stock, der immer griffbereit auf seinem Pult lag. Er holte aus und schlug zu. Der Stock traf Anton auf dem Kopf. Er zuckte zusammen und wandte sich ab, die Hände über seinem Kopf zum Schutz verschränkend. Doch Pfarrer Broszka war gerade so richtig in Fahrt gekommen und schlug auf Anton ein. Immer und immer wieder.

Dabei brüllte er: »Euch will ich lehren, die Worte Gottes und die Lehren der heiligen katholischen Kirche zu ehren!«

Anton wich immer weiter zurück. Gustav und die anderen Kommunionkinder blickten verstört. Der Pfarrer fand oft Gründe zum Prügeln. Zehn Schläge auf das Hinterteil, wenn der Bleistift nicht angespitzt oder ein Fleck im Heft war. Zwanzig wenn man beim Singen den Text einer Strophe vergessen hatte und dreißig Schläge gab es für das Schlimmste, was man begehen konnte, wenn man nämlich versäumt hatte, zum Gottesdienst zu gehen. Schlimm waren auch die Schläge auf die Hände. Wer sie vorzeitig zurückzog erhielt noch einmal zehn Hiebe extra. Manchmal konnte Gustav nach solch einer Strafe tagelang seinen Becher nicht halten.

Anton rannte zur Tür. Der Pfarrer hinter ihm her, blind auf ihn einprügelnd. Anton riss die Tür auf. Der Seelenhirte stellte einen Fuß davor, doch er konnte nicht verhindern, dass Anton die Tür einen Spalt gerade so weit öffnete, dass er hindurch schlüpfen konnte. Mit einem lauten Krachen schlug die Tür zu. Der Pfarrer wandte sich den in der Klasse verbliebenen zu.

»Wer sagt jetzt das Glaubensbekenntnis auf?« Keiner meldete sich. Allen steckte der Schreck des Erlebten noch in den Gliedern.

»Fritz! Sag Du uns das Glaubensbekenntnis auf!«

Fritz stand auf. Er war schon zehn und etwas größer als die anderen. Mit vor Angst bleichem Gesicht begann er, das Glaubensbekenntnis aufzusagen.

»Ich glaube an Gott den Allmächtigen, Schöpfer des.«

»Was?« brüllte Broszka. »Den Allmächtigen!« Er schlug sofort mit dem Stock zu.

»Den allmächtigen Vater, verstehst Du, den allmächtigen Vater!« Dabei schlug er auf Fritz ein. Fritz drehte sich um und rannte ein paar Schritte weg. Der Pfarrer blieb stehen, mit hochrotem Kopf nach Luft ringend.

»Wer von Euch kann das Glaubensbekenntnis richtig aufsagen?« Gottfried hob die Hand.

»Gottfried! Willst Du das Glaubensbekenntnis aufsagen? Du kennst das doch, da bin ich mir sicher.« Gottfried von Severin war der Sohn einer angesehenen Industriellenfamilie und besaß so etwas wie Artenschutz. Der cholerische Priester verschonte ihn immer, wenn er in seinem Jähzorn auf die seine übrigen Schüler eindrosch. Die anderen Jungen in der Klasse wussten, dass Gottfried einen besonderen Schutz genoss. Seine Familie war wohlwollender Spender für die Kirche und Gemeinde des Pfarrers; das war das eine. Sie war aber auch einflussreich und Pfarrer Broszka wollte sich nicht mit den von Severins anlegen.

»Herr Pfarrer, der Vespergottesdienst beginnt gleich.« Pfarrer Broszka zog seine Taschenuhr aus der Westentasche seines schwarzen Anzugs, sah darauf und nickte.

»Ja, es ist Zeit. Morgen zum Kommunionunterricht könnt Ihr alle das Glaubensbekenntnis! Und wehe nicht!«

Damit war der Kommunionunterricht an diesem Tag beendet. Als Pfarrer Broszka gegangen war ging Gustav zu Anton.

»Tut‘s weh?« Anton nickte wortlos. Gustav hätte ihm gerne geholfen, doch er wusste nicht, was er sagen sollte. Die anderen Kinder saßen ebenso schweigend auf ihren Stühlen. Sie kannten die Wutausbrüche des Pfarrers und fürchteten sich vor ihnen.

»Muss ein Pfarrer eigentlich auch beichten?«

Die anderen schauten auf, als Gustav diese Frage stellte. Keiner wusste die Antwort. Bis zur ersten Kommunion waren es nur noch ein paar Wochen und Pfarrer Broszka hatte ihnen die Bedeutung der Beichte in den vergangenen Wochen eindringlich erklärt. Gustav gab sich die Antwort selbst.

»Sicher nicht, denn Prügeln ist ja keine Sünde.«

Die ewige Verdammnis

Die Hölle muss etwas ganz Schlimmes sein. Dies jedenfalls hörten die achtjährigen Jungen und Mädchen an jedem Tag im Kommunionunterricht. Und sie hörten auch, wie sie verhindern konnten, dort einmal zu enden. Für Gustav war es eine furchterregende Vorstellung, in der Hölle sein zu müssen und es kam immer wieder vor, dass er nachts, von Albträumen geplagt, aufwachte und schweißgebadet im Bett lag. Pfarrer Broszka hatte ihnen erklärt, dass sie bald an der Eucharistiefeier teilnehmen würden und sich durch die vorangehende Beichte von aller Sündenlast befreien könnten. Gustav wollte dies ja gerne tun, nur wusste er nicht so recht, was er beichten sollte. Wirkliche Sünden hatte er nicht begangen. Er hatte auch nicht das geringste Empfinden von Schuld.

Am Freitag vor dem weißen Sonntag, an dem er mit den anderen seiner Klasse zum ersten Mal zur Kommunion gehen würde, ging er mit gemischten Gefühlen in die Kirche, um zu beichten. In der Kirche herrschte reger Betrieb. Vier Beichtstühle waren besetzt, und vor jedem knieten die Gläubigen und warteten darauf, die Beichte ablegen zu dürfen. In den Bänken vor dem Beichtstuhl von Pfarrer Broszka knieten die Kommunionkinder. Vorsichtig zog Gustav einen Zettel aus seiner Hosentasche. Er hatte sich aufgeschrieben, was er sagen wollte, doch es war nicht viel dabei herausgekommen, so sehr er sich auch mühte. Schließlich hatte er die zehn Gebote aufgeschrieben und neben ein jedes Nein geschrieben. Als er den Zettel ansah kamen ihm Zweifel. Hast Du wirklich nicht gesündigt? Irgendeine Sünde musste er doch gemacht haben. Und wie sah das denn aus, wenn er ohne Sünde in den Beichtstuhl ging. Er hatte auch ein wenig Angst, Pfarrer Broszka könne ihn der Lüge bezichtigen und vielleicht aus dem Beichtstuhl prügeln.

Gustav konnte an nichts anderes mehr denken. Er zermarterte sich das Hirn, und schließlich schrieb er hinter ‚Du sollst den Feiertag heiligen‘ eine eins und ebenso hinter ‚Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen‘. Einmal nicht in den sonntäglichen Gottesdienst gegangen zu sein und einmal gelogen zu haben wollte er als Sünde angeben.

Nach und nach verschwand ein Kinder im Beichtstuhl, um nach ein paar Minuten mit gefalteten Händen wieder herauszukommen und in einer Bank zur Buße zu verschwinden. Endlich war Gustav dran. Er ging in den Beichtstuhl und kniete nieder. Vor Aufregung vergaß er, sich zu bekreuzigen. Erst als er ein ungeduldiges »Und« hörte machte er das Kreuzzeichen.

»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen«.

Mit den Wortes »Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke Dir wahre Erkenntnis Deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit«, forderte Pfarrer Broszka Gustav auf, ihm seine Sünden zu nennen. Das Rascheln des Zettels in Gustavs Hand war nicht zu überhören. Gustav musste genau hinschauen, denn im Beichtstuhl war es ziemlich dunkel. Die schwarzen Vorhänge verhinderten nicht nur, dass jemand von draußen den Beichtenden sehen konnte; sie ließen auch kein Licht durch.

Gustav spulte Gebot für Gebot herunter, um jeweils, bis auf die beiden, die er ausgewählt hatte, Nein zu sagen. Pfarrer Broszka hörte sich das an, bis Gustav mit einem »Dies sind meine Sünden. Ich bereue sie von Herzen«, geendet hatte.

»Sonst hast Du keine Sünden begangen, mein Sohn?«

»Nein, keine«, war Gustavs Antwort.

»Nichts gestohlen?« Es kam häufiger vor, dass die Kinder schon mal einen Apfel von einem Marktstand mitgehen ließen.