SOKO Camping - Der Tod macht niemals Urlaub - Angelika Wesner - E-Book

SOKO Camping - Der Tod macht niemals Urlaub E-Book

Angelika Wesner

0,0

Beschreibung

Der Unternehmensberater Ruediger Molch liegt tot im Badesee des Campingplatzes Swimming Paradise. Bei der Obduktion stellt sich heraus: Molch ist nicht, wie alle glauben, ertrunken. Er wurde durch einen Pfeil getoetet. Seine Plaene, den von Dauercampern dominierten Platz in einen kinderfreundlichen Freizeitpark mit Trainingszentrum fuer Bogenschuetzen zu verwandeln, nimmt er mit ins Grab. Die SOKO Camping stoeßt bei ihren ersten Ermittlungen zunaechst auf eine Mauer des Schweigens. Als Ehepaar getarnt schleusen sich daraufhin Kriminaloberkommissar Rainer Sommer und seine Kollegin Jennifer Reitmann auf dem Campingplatz ein. Von ihrem Mietwohnwagen aus starten sie ihre verdeckten Ermittlungen. Dabei stellen die beiden Undercoverermittler rasch fest: Hinter Gartenzwergkolonien und geranienberankten Veranden verbergen sich menschliche Abgruende. Waehrend sich Jennifer schnell mit dem Campervirus infiziert, ist sich Rainer angesichts der Schwaechen und Marotten der ihn umgebenden Camper sicher: Er hasst Camping aus tiefstem Herzen!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 335

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Angelika Wesner

Erstauflage Taschenbuch: Dezember 2011

Zweite Auflage Taschenbuch: Juli 2012

Dritte Auflage Taschenbuch: Januar 2014

Als ebook erhältlich seit Dezember 2012

Autorin: Angelika Wesner

erschienen im Eigenverlag

Umschlaggestaltung: © Angelika Wesner, Schwäbisch Gmünd

Lektorat: Bettina Labs, Fröndenberg

Kontakt:

[email protected]

www.sokocamping.de

Text und Umschlaggestaltung Copyright © 2011 Angelika Wesner

Alle Rechte vorbehalten

Dieser Krimi ist meinem Mann Andy und meiner Tochter Melanie gewidmet. Danke für Eure großartige Unterstützung!
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Die Autorin

Kapitel 1

Der Tag begann so wie ein lauer Spätfrühlingstag auf einem Campingplatz beginnen sollte. Michael Lehnert kuschelte sich in seinen Schlafsack, blickte zufrieden lächelnd zur himmelblauen Kuppel seines kleinen Igluzeltes hinauf und lauschte einem vielstimmigen Vogelkonzert. Er liebte diesen Augenblick der vollkommenen Ruhe, bevor die Menschen um ihn herum erwachten und mit ihrer trägen Geschäftigkeit den Campingplatz „Swimming Paradise“ erfüllten.

Hätte er allerdings geahnt, welche Turbulenzen dieser Tag mit sich bringen würde – Michael Lehnert hätte sich lieber noch einmal umgedreht. So aber schälte er sich aus seinem Schlafsack, kroch ins Freie und stapfte, nur in Boxershorts und T-Shirt bekleidet, zu seinem Motorrad, um seine Laufschuhe aus dem Koffer zu holen.

Der 32-jährige Michael Lehnert war kein ausgesprochener Morgenmuffel, aber er schätzte es, in diesen ersten Momenten des Tages für sich zu sein. Die einzige willkommene Gesellschaft war sein Harley. Von Frauen hielt er sich lieber fern. Nur die halbnackte Schöne, die ihm ein Freund mit der Airbrushpistole auf den Tank seiner Maschine gesprüht hatte, ließ Michael noch als weibliche Begleitung gelten.

Vor diesem Hintergrund war es kein Wunder, dass ihn die erste Begegnung des Tages einigermaßen entsetzte: Die rundliche Mittfünfzigerin aus dem benachbarten Mobilhome watschelte in einem knallengen, rosafarbenen Morgenmantel und mit einer schrill gemusterten Badetasche unter dem Arm genau in jenem Moment an Michael vorbei, als dieser sich gedankenverloren mit der Linken den Allerwertesten kratzte und mit der rechten Hand zärtlich über die schweigsame Schönheit auf dem Motorradtank strich.

„Gell, des isch heit wieder schee“, flötete ihm die Nachbarin zu. Sie baute sich in ihrem engen Morgenmantel vor seiner Maschine auf und während sie interessiert auf den Tank starrte, wogte ihr übergroßer Busen angsteinflößend auf und ab. „Bleibet Sie noch länger hier“ fragte sie Michael, der sich nun wirklich in höchstem Maße unwohl fühlte.

„Mal schauen“, brummelte er, während er rasch in seine Jogginghose schlüpfte und die Laufschuhe zuband.

Er hatte den Campingplatz erst am Vortag zufällig entdeckt, als er mit seiner Harley über die kurvenreichen Sträßchen der schwäbischen Ostalb gedonnert war. Da sich der Tag langsam dem Ende zuneigte, musste er nicht lange überlegen, als er das blaue Schild mit dem weißen Zelt entdeckte, das ihn geradewegs zum Campingplatz „Swimming Paradise“ führte.

Dieser Platz lag am Ufer eines weiten Badesees. Wälder und Wiesen umrahmten das Gewässer. Michael wählte sich ganz bewusst ein abgelegenes Plätzchen am Rande, denn er wollte in diesem Urlaub seine Ruhe haben. Nur zwei Wohnwagen und ein alter Campingbus standen hier. Die Parzellen waren von niedrigen Hecken eingefasst und einige Obstbäume spendeten angenehmen Schatten. Der Biker war mit sich und der Welt zufrieden, als er Heringe in den brettharten Boden prügelte und sein Igluzelt aufbaute. Die misstrauischen Blicke seiner Nachbarin im bunt gemusterten Flatterkleid mit den Maßen eines Zweimannzeltes – eben jener, die nun im rosaroten Morgenmantel vor ihm stand – ignorierte er dabei.

Michael hatte wirklich keine Lust, sich weiter mit der geschwätzigen Dame zu beschäftigen. Deshalb setzte er sich in Trab, um möglichst schnell wegzukommen.

„Schönen Tag noch“, warf er lässig über die Schulter zurück, während sie ihren Mund zuklappte und ihm mit verkniffenem Gesicht hinterher sah.

Endlich gehörte der Tag wieder ihm allein! Er atmete die laue Frühlingsluft ein, spürte, wie sich seine Lungen mit Sauerstoff füllten und sein Körper in Schwung kam.

Der Boden war noch nass vom Regen, der in der Nacht über das Land gezogen war. Michael hatte schon befürchtet, dass sein Zelt die Regengüsse nicht überstehen würde. Doch diese Sorge war unnötig gewesen. Wenn er von seiner Joggingrunde zurückkehrte, würde die warme Morgensonne die Zelthaut fast getrocknet haben.

Locker trabte er zum Ausgang des Campingplatzes. Seine morgendliche Joggingrunde führte ihn zunächst an einem Feld vorbei und ein Stück weit durch einen lichten Buchenwald. Dann öffnete sich vor ihm der Blick auf den See. Michael joggte am schilfbewachsenen Ufer entlang. Er passierte sonnenbeschienene Wiesenabschnitte und kam in einen dichten Wald. Unter einer Trauerweide entdeckte er eine Badestelle. Ein großer, glatter Stein lag dort halb im seichten Wasser.

Für einen Moment hielt er inne und schaute über den See. Er befand sich ziemlich genau auf der gegenüber liegenden Seite des Campingplatzes. Langsam ließ er seine Augen über das stille Wasser schweifen. Von hier aus konnte er sich einen recht guten Überblick über den Campingplatz verschaffen. Direkt am Ufer hatten sich die Dauercamper in ihren Wohnwagen auf geranienberankten Parzellen heimisch eingerichtet. Dahinter verteilten sich auf leicht ansteigendem Gelände die Caravans und Wohnmobile der Touristen. Vereinzelt entdeckte Michael das eine oder andere Zelt, darunter auch sein himmelblaues Igluzelt, das ganz am Platzrand nahe dem Seeufer unter einem Baum stand.

Michael Lehnert freute sich, dass er diesen Campingplatz entdeckt hatte. Mit vier Sternen ausgezeichnet, versprach er allerlei Komfort – angefangen bei der Sauna bis hin zur Cocktailbar. Das neue Wellnessgebäude und die Bar waren auf einer großen Plattform gebaut worden, die wie ein Floß im See lag und über einen hölzernen Steg zu erreichen war. Diese Bar erklärte auch den für Michael ziemlich abgehoben klingenden Namen „Swimming Paradise“. Zwar gaben sich die Platzbetreiber viel Mühe, den auf den ersten Blick noch etwas angestaubt wirkenden Platz aufzufrischen. Von einem „schwimmenden Paradies“ war er aber noch meilenweit entfernt. Allenfalls die Ruhe war wirklich paradiesisch.

Michael seufzte zufrieden. Er entschied, zurück zu joggen, um im Kiosk des Campingplatzes drei frische Brötchen und eine Zeitung zu kaufen, an seinem Zelt den Kocher anzuwerfen und kurz darauf einen frisch gebrühten Kaffee aus seiner Blechtasse zu trinken. Michael lächelte glücklich bei diesen Gedanken.

Doch es sollte anders kommen: Am Rande des Sees, mitten im Schilf, unweit des Steins im seichten Wasser, dümpelte bäuchlings eine Leiche.

Michael schrie erschrocken auf. Zuerst dachte er, ein Kleidungsstück oder eine Decke hätte sich im bewachsenen Flachwasser verfangen. Doch bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass zu den Stofffetzen auch ein Mensch gehörte.

„Ach du Scheiße“, flüsterte Michael und tastete instinktiv nach seinem Handy, das er stets am Gürtel seiner Lederhose mit sich trug. Dort befand sich das Telefon auch – Michael war ein ordentlicher Mann. Allerdings lag es mitsamt der Hose im Zelt.

Er watete mit Schuhen ins Wasser und stieß den leblosen Körper vorsichtig an.

„He, Sie, aufwachen“, schrie er die Gestalt an, obwohl er wusste, dass dies die denkbar dümmste Bemerkung war, die er machen konnte. Diese Person würde höchstens im Jenseits wieder munter werden. Michael packte den Leichnam am Arm und zog ihn stöhnend an Land. Dort drehte er den Toten auf den Rücken.

„Oh Mann“, traf Michael die tragische Erkenntnis, dass er diesen mit blauen Augen ins Nichts starrenden Kerl durchaus kannte: Rüdiger Molch, 48 Jahre alt, ein gut aussehender, sportlicher Typ, der ein wenig zur Wichtigtuerei neigte. Erst am Abend zuvor hatte Michael Lehnert mit ihm an der Bar des „Swimming Paradise“ ein paar Cocktails gezwitschert, Zigaretten geraucht und sich ausgiebig über Motorräder unterhalten.

Michael schaute sich um. Kein Mensch war zu dieser Morgenstunde schon am Badesee. Die einzigen Frühschwimmer, die mit derselben Zähigkeit aus den warmen Betten sprangen wie der durchtrainierte Michael aus seinem Schlafsack, zogen auf der anderen Seite des Sees ihre Bahnen durch das glatte Wasser. Es half nichts, er würde Rüdiger hier liegen lassen müssen, um von seinem Zelt aus die Polizei zu informieren.

***

Eine Stunde später war es mit der idyllischen Ruhe auf dem Campingplatz vorbei. Drei Polizeiautos und ein Zivilfahrzeug der Kriminalpolizei standen mit blinkendem Blaulicht am Ufer des Badesees. Etwas abseits wartete bereits der Leichenwagen. Vier in weiße Schutzanzüge gekleidete Beamte der Spurensicherung untersuchten den Fundort und den Leichnam von Rüdiger Molch.

Kriminalhauptkommissar Bernd Schätzle, ein gedrungener Mann Anfang fünfzig mit rundem Gesicht und grauen, sehr kurz geschnittenen Haaren, die am Hinterkopf bereits licht wurden, stand mit Michael Lehnert neben einem rot-weißen Absperrband. Der Motorradfahrer vermied den Blick auf den Toten, der auf dem Rücken im Gras lag. Rüdiger Molchs Kleidung klebte nass an seinem Körper. Kleine Tafeln mit Zahlen standen um den Leichnam herum. Sie markierten Spuren, die von den Kriminaltechnikern noch fotografiert und gesichert werden mussten.

„Haben Sie den Toten gefunden?“

Die barsche Stimme von Bernd Schätzle ließ Michael zusammen zucken.

„Ja, vor einer Stunde beim Joggen. Ich habe ihn ’rausgezogen, weil ich nicht sicher war, ob er noch lebte.“

Michael fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er hatte das Gefühl, von diesem Kripomann mit Blicken durchbohrt zu werden.

Dem Motorradfahrer wurde plötzlich bewusst, in welch groteske Situation er da hinein geschlittert war: Die Vögel zwitscherten, ein leiser Wind ließ die Blätter an den Bäumen rascheln, Bienen summten, kleine Wellen plätscherten ans Seeufer. Alles wirkte so friedlich. Bis auf den Toten dort, den er vor einer guten Stunde aus dem Wasser gezerrt hatte.

Der Kriminalbeamte kritzelte einige Stichworte in eine Kladde. Er blickte auf und schaute Michael mürrisch an.

„Und? Lebte er noch?“

„Nein, er war schon tot. Wahrscheinlich ertrunken. Und vorher ziemlich übel zugerichtet, würde ich sagen.“

Bernd Schätzle musterte Michael mit ausdrucksloser Miene.

„Danke, Sie können gehen. Aber halten Sie sich zur Verfügung, falls wir noch Fragen haben.“

Der Beamte streckte dem Biker die Hand zum Gruß hin. Auf seinem runden Gesicht zeichnete sich ein mechanisches Lächeln ab.

Michael fror auf einmal. War er nun verdächtig, nur weil er den Toten entdeckt hatte?

„Verdammt“, murmelte er und ging langsam zum Campingplatz zurück. Dort wussten bereits alle Urlauber Bescheid. Vor den Zelten, Wohnmobilen und Wohnwagen standen sie in kleinen Grüppchen zusammen und sprachen über den Leichenfund. Alle machten bestürzte Gesichter, niemand lachte. Das sonst so fröhliche Getümmel auf dem Campingplatz war einer bleiernen Atmosphäre gewichen.

„Isch des net furchtbar“, tönte Michael die schrille Stimme einer alten Bekannten entgegen. „Ausgerechnet der Rüdiger. Also, dass so was bei ons bassiera ko. Bei ons! Wo mir doch so friedlich mitnander sen, gell Herr Nachbar?“, wandte sie sich an Michael, während ihr Busen wieder heftig im rosa Bademantel wogte. Vertrauensselig trat sie näher an ihn heran. So nah, dass ihr billig-süßliches Eau de Toilette aufdringlich in seine Nase stieg.

„Isch des wahr, dass Sie den gfonda hennt?“, tuschelte sie verschwörerisch. „Ersoffa soll er sei, stimmt des?“

„Keine Ahnung“, erwiderte Michael, „ich gehe duschen“.

Er kroch in sein Zelt, um ein Handtuch und seinen Waschbeutel herauszuholen. Fürs Erste hatte er genug von Gesprächen dieser Art. Er wollte jetzt allein sein. Länger als sonst ließ er unter der Dusche einen kühlen Wasserstrahl über sich rieseln, bis sein ganzer Körper von Gänsehaut überzogen war.

***

Rüdiger Molch lag nackt auf dem Obduziertisch. Der Präparator, ein massiger Mann, der wenn es sein musste fest zupacken konnte, hatte bereits Molchs Schädel aufgesägt und den Brustkorb geöffnet. Auf Stahltisch zu Füßen des Toten schnitt die Rechtsmedizinerin Dr. Renate Pfäfferle mit einem Messer das Gehirn in Scheiben.

Der Leiter der SOKO Camping, Hauptkommissar Bernd Schätzle, schaute der Medizinerin mit ungerührtem Blick über die Schultern. Sein Magen knurrte. Er sah auf die Uhr: Höchste Zeit fürs Mittagessen, fand er. Unweit des Rechtsmedizinischen Institutes kannte er eine Imbissbude, die für die leckersten Currywürste in der Region bekannt war. Bei diesem Gedanken lief Schätzle das Wasser im Mund zusammen.

Dr. Renate Pfäfferle war mit ihrer Arbeit fertig. Sie zog die Gummihandschuhe aus, warf sie in einen Mülleimer und griff zu einem Diktiergerät. Bernd Schätzle bewunderte die Rechtsmedizinerin. Ohne zu stocken und mit fester Stimme sprach sie ihre Untersuchungsergebnisse aufs Band. Sie wandte sich an den Kriminalbeamten.

„In seiner Lunge war Wasser. Eigentlich ein Zeichen, dass er ertrunken ist. Was mich stutzig macht, ist diese kleine Wunde an seinem Hals. Eine Pfeilspitze hat seine Hauptschlagader durchtrennt und ist zwischen dem zweiten und dritten Halswirbel stecken geblieben. Der Mann hat sehr schnell viel Blut verloren.“

Renate Pfäfferle ging zu einem Waschbecken und schrubbte ihre Hände mit Seife. Dann trat sie an ein Regal, in dem verschiedene Gerätschaften standen, die an Utensilien aus einer Folterkammer erinnerten. Sie reichte Schätzle ein verschlossenes Reagenzglas.

„Was ist das?“ Schätzle runzelte die Stirn und drehte das Glas in seiner Hand.

„Die Pfeilspitze“, antwortete die Rechtsmedizinerin. „Sollte schnellstens auf DNA untersucht werden.“

Der Hauptkommissar betrachtete das graue Eisenstück. Es war etwa zwei Zentimeter lang und lief nach vorne spitz zu.

„Scharf scheint das Ding ja nicht zu sein.“

„So wie es aussieht, ist das eine Pfeilspitze, die im Bogensport verwendet wird“, entgegnete Dr. Pfäfferle.

„Der Täter muss übrigens ein ziemlich kaltblütiger Typ sein. Schauen Sie sich das mal an!“ Die Rechtsmedizinerin deutete auf das hintere Ende der Pfeilspitze im Reagenzglas.

„Ein Gewinde!“

Jetzt war Schätzle doch überrascht. Mit gerunzelter Stirn schaute er Renate Pfäfferle an.

„Sie wollen doch nicht sagen, dass der Täter den Pfeil auf Rüdiger Molch abgeschossen und danach den Stiel seelenruhig herausgedreht hat?“

Pfäfferle zuckte die Schultern.

„Sieht ganz danach aus. Übrigens heißt das ,Schaft‘ im Fachjargon.“

Der Kripobeamte trat an den Tisch heran, auf dem der Leichnam von Rüdiger Molch lag. Der Anblick eines toten Menschen jagte ihm schon lange keinen Schauder mehr über den Rücken. Dafür hatte er schon zu viele Leichenöffnungen miterlebt. Oft sahen die Toten viel schlimmer aus, als dieser hier.

Rüdiger Molch war ein attraktiver Mann gewesen. Sein Körper war sportlich und durchtrainiert, seine Gesichtszüge wirkten auch in der Totenstarre noch markant. Sicherlich hatte er zu Lebzeiten auf Frauen einen starken Reiz ausgeübt.

Bernd Schätzle deutete auf den Brustkorb des Leichnams, den der Präparator wieder verschlossen hatte. Eine lange Naht aus schwarzem Faden verlief quer über die Brust und vom Hals bis unter die Gürtellinie. Die blauen Flecken auf der Brust und den Armen waren ihm offenbar vor seinem Tod zugefügt worden.

„Was hat es mit den Kampfspuren auf sich?“

Dr. Renate Pfäfferle trat neben ihn und deutete mit der Hand auf die Verletzungen.

„Gibt’s jede Menge davon: Hämatome und Quetschungen an den Oberarmen, den Handgelenken und im Brustbereich. Eine Schürfwunde unterhalb des rechten Auges. Kratzspuren an den Unterarmen. Und seine Fingerknöchel sind blutig, vermutlich hat er ordentliche Faustschläge ausgeteilt, bevor ihn der Pfeil erwischt hat. Ob er Alkohol im Blut hatte, muss die toxikologische Untersuchung noch zeigen.“

Die Medizinerin ließ das Diktiergerät in die Tasche ihres Labormantels gleiten. Mit einer routinierten Bewegung breitete sie ein grünes Tuch über den Leichnam. Bernd Schätzle schaute sie erwartungsvoll an.

„Wie sieht‘s aus, gehen wir zusammen Mittagessen?“

Dr. Renate Pfäfferle lachte.

„Ich weiß doch, dass Sie sich den ganzen Vormittag schon auf die Currywurst freuen. Wie sollte ich Ihnen diesen Wunsch abschlagen?“

Ihre Schritte hallten durch den leeren Gang, als Dr. Renate Pfäfferle und Bernd Schätzle das Rechtsmedizinische Institut verließen. Der Präparator schob bedächtig die sterblichen Überreste des Unternehmensberaters in eine Kühlkammer und begab sich ebenfalls in die Mittagspause. Eine Tür fiel ins Schloss. Um Rüdiger Molch wurde es totenstill.

***

Zurück in der Polizeidirektion rief Bernd Schätzle seine Kollegen zusammen. Sie saßen an einem großen Tisch in einem Besprechungsraum im Erdgeschoss. Durch die große Fensterfront war der Hof zu sehen, auf dem verschiedene Streifenwagen, zwei Transporter und einige Zivilfahrzeuge standen.

Bernd Schätzle trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum.

„Mir kommt das Ganze höchst widersprüchlich vor“, erklärte er. „Die Kampfspuren am Körper und am Fundort sind ein Indiz dafür, dass das Opfer mit seinem Mörder direkten Kontakt hatte. Getötet wurde Rüdiger Molch jedoch von einem Pfeil. Die Spitze steckte ihm im Hals. Vom Schaft keine Spur. Den hat der Täter vorsorglich aus dem Mann ‘raus gedreht und sich mitsamt dem Ding aus dem Staub gemacht. Möglicherweise hat das Opfer in diesen Sekunden sogar noch gelebt.“

Grübelnd stand der Soko-Leiter auf und lief von einer Seite des Raumes zur anderen. Die ersten Befragungen der Menschen auf dem Campingplatz hatten keine interessanten Hinweise ergeben. Bernd Schätzle konnte sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass ihm einige Leute dort etwas verschwiegen.

„Die Camper halten zusammen, wie Pech und Schwefel“, grummelte sein Kollege Rainer Sommer vor sich hin. „Wenn die nicht wollen, dass wir was erfahren, dann halten die absolut dicht. Die müsstest du alle in Einzelhaft nehmen.“

Der 44-jährige Kriminaloberkommissar hatte schon einige Morde aufgeklärt. Beruflich war er ein Topmann. Privat schien es eher nicht so gut zu funktionieren: Rainer Sommer hatte gerade erst seine Scheidung hinter sich gebracht.

Schätzle starrte den groß gewachsenen Kollegen an, der entspannt am Tisch saß und mit dem Kugelschreiber kleine Kringel aufs Papier kritzelte.

„Woher kennst du dich so gut mit Campern aus?“

Sommer erwiderte gelangweilt seinen Blick, während er weiter malte.

„Ich musste mit meiner Ex-Frau immer campen. Sie hatte von ihren Eltern so einen alten Wohnwagen mit spätbarockem Ambiente auf einem total ätzenden Campingplatz übernommen.“

Rainer schüttelte sich. Die positiven Erinnerungen an seine erste Ehe hielten sich in Grenzen. Fast jedes Wochenende war er dazu verdonnert gewesen, seine Freizeit im Wohnwagen zu verbringen. Die regelmäßigen Bereitschaftsdienste an Wochenenden hatte er fast als Erholung empfunden, weil er dann zu Hause bleiben konnte, ohne mit seiner Frau über das „Warum“ streiten zu müssen.

Rainers Wunsch, wenigstens den Jahresurlaub auf einer schönen Insel in einem gepflegten Hotel zu verbringen, war immer auf taube Ohren gestoßen. Fünf Jahre lang war der verhasste Wohnwagen sein Zweitwohnsitz. Eines Tages schlug er jedoch energisch mit der Faust auf den wackeligen Klapptisch und stellte seine Frau vor die Wahl: Entweder der Wohnwagen oder er!

Wenigstens verlief die Scheidung einvernehmlich.

„Ich habe den Wohnwagen mit allem Drum und Dran so gehasst, kann ich dir sagen.“

Rainer schaute aus dem Fenster hinaus auf den Parkplatz. Er schauderte unwillkürlich, schüttelte sich und setzte kopfschüttelnd seine Kritzeleien fort.

Bernd Schätzle musterte seinen Kollegen mit zusammengekniffenen Augen.

„Wie wäre es denn“, setzte er mit leiser Stimme an, während sich in seinem Gesicht ein hämisches Grinsen breit machte, „wenn du und die Jenny euch einen Wohnwagen mietet und Undercover ermittelt. Als verheiratetes Ehepaar, das dort seine schönsten Tage im Jahr verbringt! Ihr versteht euch doch gut, oder?“

Schätzle schnippte begeistert mit den Fingern und schlug Rainer kräftig auf die Schulter.

„Genau! Das ist die Idee! Ihr horcht euch unauffällig um und knüpft Freundschaften zu den Campern.“

Sommer starrte entgeistert zu seinem Vorgesetzten hinauf, der nun unmittelbar hinter ihm stand und auf den Kollegen herunter grinste.

„Bist du wahnsinnig, Bernd? Nach der Scheidung habe ich mir geschworen, dass ich nur noch in Fünf-Sterne-Hotels Urlaub mache. Das kannst Du mir nicht antun!“

„Du bist ja schließlich nicht zum Urlaub machen dort, sondern zum Arbeiten“, entgegnete Bernd Schätzle trocken. Entschlossen ging er zur Tür.

„Nein, keine Widerrede. Das machen wir so. Hol Jennifer, wir müssen noch die Details besprechen.“

Im Gegensatz zu Rainer Sommer fand die 28-jährige Jennifer Reitmann die Idee ihres Vorgesetzten durchaus sympathisch. Ein Blick auf die Homepage des Campingplatzes „Swimming Paradise“ zeigte ihr, dass der Ort ihrer Ermittlungen allerlei Komfort zu bieten hatte: Ein Badesee mit Sandstrand, eine Sauna, Außenwhirlpool, Bar. Das klang alles ziemlich viel versprechend, fand sie. Warum also nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden und sich dort unter den Gästen unauffällig umhören?

„Ihr habt aber nicht allzu viel Zeit“, gab Bernd Schätzle zu bedenken, nachdem Jenny neben Rainer am Besprechungstisch Platz genommen hatte. „Auf so einem Campingplatz geht es wie im Taubenschlag zu. Die Leute kommen und gehen wann sie wollen. Nicht dass unser Täter einfach abreist und uns noch durch die Lappen geht.“

Natürlich hatte die Polizei entsprechende Vorsorge getroffen, die Ausweise sämtlicher Gäste kontrolliert und deren Anschriften gespeichert. Trotzdem würden sich Rainer Sommer und Jennifer Reitmann bei ihren verdeckten Ermittlungen auf ihre kriminalistische Spürnase verlassen müssen, um möglichst rasch die eindeutig unverdächtigen Personen von den möglichen Tätern zu trennen.

„Parallel wird unsere SOKO Camping weiterarbeiten“, erläuterte Bernd Schätzle. Offiziell solle der Fall jedoch als geklärt gelten: Rüdiger Molch war ertrunken, vermutlich weil er dem Alkohol zu stark zugesprochen und bei einem abendlichen Bad im See das Bewusstsein verloren hatte. Die rätselhafte Stichwunde am Hals, die den Unternehmensberater letztlich getötet hatte, wurde bei der Kriminalpolizei als Täterwissen gehandelt und somit streng geheim gehalten.

„Zwei Tage nach der Trauerfeier werden wir von der Soko aus noch einmal auf dem Platz auftauchen und ein bisschen rumbohren. Vielleicht wird da jemand unruhig. Noch Fragen?“

Bernd Schätzle schaute eindringlich zuerst zu der freudig angespannt wirkenden Jennifer, dann zu Rainer, der mit resignierter Miene noch immer auf einem neuen Stück Papier vor sich hin kritzelte und eisern schwieg.

Der Chef der SOKO Camping schnippte mit den Fingern und strahlte das Ermittlerduo an.

„Na dann ab mit euch. Und schönen Urlaub!“

Kapitel 2

„Dieses Riesending soll mein alter Kombi durch die Gegend zerren?“

Rainer stand vor dem sieben Meter langen Wohnwagen, der in den nächsten Tagen – der Kriminalbeamte hoffte, es würden nicht Wochen werden – seines und Jennifers Zuhause sein würde.

„Ach was, das schafft Ihr Auto schon“, beruhigte der Mitarbeiter der Caravanvermietung. „Sie müssen halt an den Bergen ordentlich Gas geben und vorher ein bisschen Schwung holen.“

Rainer Sommer seufzte. Seit 13 Jahren hegte und pflegte er seinen alten Volvo. Zugegeben, er hätte sich gerne mal einen neuen Wagen geleistet. Aber die Scheidung samt Unterhalt für zwei Kinder ließen sein Beamtengehalt jeden Monat auf ein Minimum schrumpfen.

„Kommen Sie, ich weise Sie in die Technik ein“, forderte ihn der Mitarbeiter auf. Er winkte mit dem Wohnwagenschlüssel, an dem noch ein kleinerer Schlüssel hing.

„Der Große ist klar, damit kommen Sie ‘rein“, erklärte der junge Mann dem Polizeibeamten. „Mit diesem kleinen Schlüssel können Sie das Fach von der WC-Kassette öffnen.“

Rainer winkte ab. Ihm waren diese Einzelheiten noch allzu gut bekannt. Schaudernd erinnerte er sich an die Chemieklo-Entsorgungsstation auf dem Campingplatz seiner Alpträume. Das Entleeren der WC-Kassette war immer sein Job gewesen, obwohl er das Ding selbst nie benutzte. Ihm wurde schon bei dem Gedanken an den undefinierbar verfärbten Wasserschlauch übel, mit dem alle Camper ihre Klokisten ausspülten. Nun also würde er wieder diesen verhassten Job erledigen müssen.

„Lassen Sie’s gut sein, ich kenne mich mit solchen Wohnkisten aus. Bin lange genug damit unterwegs gewesen. Ich hänge ihn mal eben an.“

Entschlossen ging er auf die Wohnwagendeichsel zu. Die angebotene Hilfe des Mitarbeiters lehnte er freundlich ab.

„Okay, rufen Sie mich, wenn Sie noch etwas brauchen“, munterte dieser seinen Kunden auf und trollte sich.

Feindselig betrachtete der Kriminaloberkommissar den Wohnwagen. Wenigstens war das Interieur modern. Mit dem dunklen Holz, den eleganten Leuchten im Schlafraum und im Wohnbereich, einer schicken Küche und dem geräumigen Bad machte das Ganze einen ansprechenden Eindruck. Die beiden Festbetten im Heckbereich wirkten bequem und schienen auch für den 1,85 Meter großen Rainer lang genug zu sein.

Kurz darauf änderte er allerdings seine Meinung.

„Diese verdammte Anhängerkupplung.“

Rainer rieb sich stöhnend den Daumen, den er sich gerade beim Hantieren eingeklemmt hatte. Wütend zerrte er an der Deichsel des Wohnwagens herum. Endlich rastete die Kupplung mit leisem Klicken ein. Rainer atmete auf und entspannte sich.

Jennifer Reitmann saß bereits fröhlich vor sich hin summend auf dem Beifahrersitz seines Kombis und kramte im Handschuhfach nach einer CD für die passende Reisemusik. Kurz darauf ertönte Bob Marley mit „I shot the Sheriff“ und Jenny klopfte begeistert den Rhythmus aufs Armaturenbrett.

Sie fand die Idee klasse, sich unter das Campervolk zu mischen und Undercover auf einem Viersterneplatz zu ermitteln. Dass sie dabei mit dem gut aussehenden Rainer Sommer einen Wohnwagen teilen musste, empörte sie nicht im Geringsten. Lediglich seine Reaktion kam ihr etwas schrullig vor. Vielleicht lag es daran, dass er zum zweiten Mal geschieden war und sich mit dem Gedanken nicht anfreunden konnte, vor ihr den glücklichen Ehegatten zu mimen.

Dabei waren sie ein super Team. Zusammen hatten sie schon manchen Ganoven dingfest gemacht. Auf beruflicher Ebene verstand sich die junge Kommissarin mit den dunkelbraunen Locken und den grünen Augen mit Rainer bestens. Private Ausflüge hatten sich bisher hingegen nie ergeben. Jennifer war neugierig auf ihren Kollegen, den sie in den nächsten Tagen – vielleicht sogar Wochen – Tag und Nacht um sich haben würde.

Rainer setzte sich mit grimmiger Miene ans Steuer.

„Auf in den Kampf“, murmelte er, als sich das Gespann langsam in Bewegung setzte.

Zweieinhalb Stunden später stand der Volvo mit stinkender Kupplung nahe der Schranke des Campingplatzes. Rainers Laune hatte sich im Laufe der Anreise kaum gebessert, drohte doch sein schwach motorisiertes Zugfahrzeug an jedem Hügel den Geist aufzugeben. Lastwagen hatten das Gespann hupend überholt. Die Fahrer hatten Rainer mit eindeutigen Gesten beleidigt, während sie an dem dahin kriechenden Wohnwagen vorbei donnerten.

Rainer lief noch immer der Schweiß übers Gesicht, als er zur Anmeldung stapfte. Ein entspannter Urlauber sollte anders aussehen.

Das darf doch nicht wahr sein, die haben jetzt Mittagspause!“

Der Kriminalbeamte stand vor der geschlossenen Rezeption und sah auf die Uhr.

„Noch eine Dreiviertelstunde zu“, grummelte er. „Das fängt ja toll an.“

Missmutig tappte er zu seinem Wagen zurück, den er mitsamt dem Caravan in der Parkbucht für anreisende Camper abgestellt hatte. Jenny war bereits ausgestiegen, streckte sich und gähnte herzhaft. Neugierig schaute sie sich um. Zwei Frauen standen mit vier Kindern neben ihren beiden Autos. Sie schienen schon länger vor der verschlossenen Schranke zu warten. Jenny schlenderte langsam zu ihnen hinüber und warf einen Blick in die Fahrzeuge. Sie waren bis unters Dach vollgepackt: Schlafsäcke, ein riesiger, hellgrauer Zeltsack, Handtücher, Taschenlampen, Klappstühle – alles lag in wildem Chaos in den Kofferräumen.

„In der Rezeption ist jemand“, sagte die eine Frau zu ihrer Freundin. „Ich frage mal, ob wir vielleicht schon ein Zelt ‘reintragen und aufbauen dürfen. Platz ist ja genug da.“

Jenny spazierte zu Rainer zurück, der resigniert an seinem Volvo lehnte und die Zeit totschlug.

„Geh‘ doch auch mal zur Rezeption. Da ist jetzt jemand drin“, regte die Kommissarin an.

Beide beobachteten die Frau, die gerade freundlich an einem geöffneten Fenster der Anmeldung ihr Ansinnen vortrug.

„Nein, Sie dürfen Ihr Zelt nicht aufbauen“, tönte die strenge Stimme der Rezeptionistin aus dem Gebäude. „Jetzt ist Mittagspause, da darf hier keiner einchecken. Das gilt auch für Sie!“

Die Camperin wich erschrocken zurück.

„Ich wollte ja nur mal fragen“, murmelte sie und ging zu ihrer Freundin und den Kindern.

„Wann gehen wir endlich rein?“, nervten die Kleinen. „Dürfen wir schon zum See gehen?“

Jenny taten die beiden Mütter Leid. Sie war froh, dass sie sich nicht mit dem Aufbau eines Zeltes beschäftigen musste. Rainer stöhnte leise auf.

„Oh Gott, auf was habe ich mich da eingelassen“, jammerte er. „Warum ist das Schicksal so hart zu mir?“

Er hasste diesen Sondereinsatz, bevor er richtig anfing.

„Willkommen auf unserem Viersterneplatz Swimming Paradise“, säuselte die Rezeptionistin. Vom Charme einer Giftspritze, den sie eine halbe Stunde zuvor noch ausgestrahlt hatte, war keine Spur mehr zu erahnen. „Besuchen Sie unbedingt unsere Wellness-Oase mit Sauna, Dampfbad und Whirlpool. Alles im Preis inklusive, versteht sich.“ Der Augenaufschlag der Dame wirkte professionell und mochte manchen männlichen Gast betören. Rainer hingegen ließ ihr Getue kalt. Mit knappem Gruß nahm er die Chipkarte für die Schranke entgegen und marschierte entschlossen zu seinem Auto, hinter dem der Wohnwagen im Sonnenlicht glänzte.

Es sollte allerdings noch eine gute halbe Stunde dauern, bis er endlich in den Platz hineinfahren konnte. Ein besonders cleverer Camper hatte sein Gespann direkt vor der Schranke abgestellt und wartete nun in der Rezeption in der langen Schlange der Neuankömmlinge. Stöhnend ließ Rainer seine Stirn auf das Lenkrad sinken.

„Gibt es eigentlich nur Idioten auf dieser Welt?“, nuschelte er verzagt vor sich hin. Auch die beiden Frauen waren mit den Kindern in ihre Fahrzeuge gestiegen und warteten mit angespannten Gesichtern, dass der Weg frei gemacht wurde. Die Rezeptionistin hatte schließlich ein Einsehen und ließ den Blockierer mit seinem Gespann durchfahren, obwohl er noch nicht eingecheckt hatte. Endlich konnten die wartenden Urlauber die Schranke passieren.

„Das wird aber auch mal Zeit“, seufze Jennifer erleichtert. „Es gibt offensichtlich doch noch Menschen, die ihr Hirn zum Denken einschalten.“

„Nur noch die paar Meter bis zum Stellplatz, dann hast du’s geschafft“, munterte sich Rainer selbst und seinen Volvo auf, während er in den Campingplatz einfuhr. Er war fest entschlossen, nach Abschluss des Falls den Wohnwagen abholen zu lassen. Sein Auto würde sich nie mehr mit diesem Monstrum abmühen müssen! Vorsichtig fuhr er durch die Schranke hindurch auf dem von Hecken gesäumten Hauptweg entlang. Hölzerne Tafeln wiesen zu den Nebenstraßen, die Namen wie „Waldeslust“ oder „Campers Glück“ trugen. Rainer schüttelte den Kopf.

„Meine Fresse, ist das spießig“, schimpfte er leise vor sich hin.

Er fuhr bis zu einer Seitengasse, die rechts vom Weg abzweigte und zu einer mit Apfelbäumen bewachsenen Stelle am Rande des Platzes führte. Zwei Caravans mit Vorzelten, ein altes Wohnmobil und ein himmelblaues Igluzelt standen dort bereits.

Jenny lachte: „Willkommen in der Oase der Ruhe.“Sie deutete auf ein Straßenschild.

Rainer schnaubte verächtlich, während er angewidert den Straßennamen las. Er schüttelte den Kopf.

„Bin ich jetzt im Freiluftaltenheim gelandet, oder was?“

Nein, er konnte und wollte sich nicht vorstellen, hier länger als ein paar Tage zu bleiben. Er hasste das Camperleben aus tiefstem Herzen, das wurde ihm in diesem Augenblick wieder einmal sonnenklar.

„Und ich dachte, ich würde nie wieder auf einem Campingplatz leben müssen“, stöhnte er und schlug mit der Hand auf das Lenkrad.

Seine Kollegin sah das völlig anders. Sie hatte das Fenster an der Beifahrertür herunter gedreht und sog den Duft von frisch gemähtem Gras ein. Mit leuchtenden Augen betrachtete sie die Umgebung. Direkt am Ufer des Badesees erblickte sie die Siedlung der Dauercamper. Akkurat gestutzte Hainbuchenhecken und kleine Zäune säumten die Wohnwagen. Zu jedem Caravan gehörte ein großes Hauszelt. Vor einigen Mobilheimen standen sogar Veranden, die ein Stück weit über das Wasser ragten. An den Brüstungen überwucherten üppige rote Geranien die Blumenkästen. In einigen Vorgärten standen Gartenzwerge.

Rainer stoppte das Gespann, stieg aus und inspizierte die Parzelle, auf der er den Caravan abzustellen gedachte.

„Kann ich helfen?“

Die näselnde Stimme des älteren Herrn im Feinripp-Unterhemd und mit ausgebeulten kurzen Hosen riss Rainer aus seinen Gedanken.

„Stell’n se den Wagen mal da rüber, nä“, befahl der ungebetene Gast mit einer Stimme, die trotz aller Freundlichkeit keinen Widerspruch duldete.

„Do drüb’n is das Gelände viel zu schräg, nä.“

Das rollende „R“ identifizierte den Mann unverkennbar als Franken.

Rainers Magen krampfte sich zusammen. Die Erinnerungen an sein Schicksal als Camper wider Willen überrollten ihn mit aller Macht. Wenigstens hat Jennifer nicht mal ansatzweise Ähnlichkeiten mit meiner Exfrau, versuchte er sich – allerdings nur mit mäßigem Erfolg – in Selbstmotivation.

„Schon gut, ich komme allein zurecht, vielen Dank“, gab er dem Herrn im Unterhemd zurück.

„Neei, nur keine falsche Bescheidenheit, nä. Ich helf‘ Ihnen schon.“

Entschlossen löste der Mann den Wohnwagen von der Anhängerkupplung. Dann winkte er einem anderen Mann zu, der sich langsam den Neuankömmlingen näherte.

„Albert, komm mol her, nä. Schieb’ mal mit an.“

Albert ließ sich das nicht zweimal sagen. Ehe Rainer sich’s versah, schoben schon zwei ältere Männer – beide im Unterhemd, Albert wenigstens mit einer Jeans bekleidet, über deren Gürtel sich sein gewaltiger Bauch wölbte – den Wohnwagen an das andere Ende der Parzelle. Viel zu nah an den Wohnwagen des Nachbarn, wie Rainer fand.

Durch die Kunststofffenster des Vorzeltes erspähte er einen Tisch mit gelber Plastikdecke und weißen Fransen, darauf ein Aschenbecher sowie ein Blumengesteck – ebenfalls aus Kunststoff. Rainer verdrehte die Augen. Wie konnten Menschen nur so ihren Urlaub genießen?

Lächelnd wandte er sich seinen Helfern zu.

„Vielen Dank, das war wirklich nett von Ihnen.“

Jetzt mischte sich auch noch Jennifer ein.

„Kommen Sie doch mal auf ein Glas Bier vorbei“, flötete sie den beiden Männern entgegen. Rainer hätte ihr am liebsten eine schallende Ohrfeige verpasst.

„Mann, hier trinkt man nicht aus Gläsern, nur aus Flaschen“, raunte er seine Kollegin an.

„Okay, okay“, wisperte Jennifer zurück. „Mach dich nur mal nicht so wichtig, ja?“

„Jo nä, da kommen wir gerne vorbei! Bis später dann, nä“, fiel ihnen der Franke ins Wort und zog bis auf weiteres mit seinem Freund davon.

„Puh, die wären wir erst mal los“, atmete Rainer auf. „Ich glaube, ich brauche jetzt wirklich ein Bier.“

***

„Das ist doch herrlich hier!“

Jennifer strahlte. Sie hatte die Markise des Wohnwagens ausgefahren, die Klappstühle aufgestellt und eine grüne Tischdecke mit gelben Blumen auf den Campingtisch gelegt. Nun saß sie zufrieden im Grünen und zündete sich eine Zigarette an.

Rainer rümpfte die Nase.

„Musst du immer qualmen“, blaffte er.

Die Kollegin schaute ihn überrascht an.

„He, du alter Brummbär, sei zu deinem Eheweib mal ein bisschen netter, sonst glaubt uns das hier keiner.“

Rainer grummelte ein paar unverständliche Worte vor sich hin.

„Ich gehe mal zum Klohaus“, erklärte er dann und verschwand in Richtung Dauercampersiedlung, wo er aus der Ferne bereits das Sanitärgebäude ausgemacht hatte. Das Haus hatte offenbar schon bessere Zeiten gesehen. An manchen Stellen bröckelte der Putz und auch die Fenster könnten einen neuen Anstrich vertragen.

„Von einem Viersterneplatz sollte man eigentlich Besseres erwarten“, murmelte er, als er die abgegriffene Türklinke herunterdrückte und im selben Augenblick zurück prallte. Die Tür blieb verschlossen, so sehr Rainer auch daran rüttelte.

„Das ist nur für die Dauercamper reserviert.“

Michael Lehnert schlenderte zu Rainer heran.

„Die haben es hier ganz wichtig mit ihrem exklusiven Scheißhaus“

Rainer runzelte die Stirn. Diese Art von Fäkalsprache war ihm so zuwider, wie der ganze Typ, der da in schicker Lederhose vor ihm stand. Ein durchtrainierter Sixpack-Bauch zeichnete sich unter seinem hautengen, weißen T-Shirt ab. Rainer verspürte einen Hauch von Neid. Gut, er war ein paar Jahre älter als dieser Kerl, der Anfang 30 sein mochte. Die vergangenen Jahre waren an Rainer eben nicht ganz spurlos vorbei gegangen. Unweigerlich schaute er an sich herunter. Seinen leichten Bauchansatz kaschierte er immer geschickt durch sportlich geschnittene Hemden.

„Vielleicht sollte ich doch mal wieder ins Sportstudio gehen“, grübelte er einen Augenblick.

Als frisch geschiedener Neuling auf dem freien Markt der einsamen Herzen war dieser Schnösel für ihn ein Konkurrent, dem er nicht viel entgegenzusetzen hatte.

„Ich bin der Michael“, sagte der Sixpacktyp und streckte Rainer die Rechte entgegen.

„Tag, Michael, in welcher Parzelle wohnen Sie denn?“

Rainer beschloss, sich nicht mehr so kratzbürstig zu verhalten. Schließlich lautete sein Dienstauftrag, mit den Campern Freundschaften zu schließen. Warum also nicht bei diesem da gleich anfangen? Immerhin schien er nicht zu den Dauercampern zu gehören.

Michael deutete zu dem kleinen Igluzelt, das wenige Meter von Rainers Wohnwagen entfernt unter einem Apfelbaum stand.

„Wenn Sie sich hier einen erholsamen Urlaub erhoffen, muss ich Sie warnen“, sagte der Kerl in der Lederhose. „Ich habe hier erst vor vier Tagen eine Leiche aus dem See gefischt.“

Rainer war auf einmal hellwach. Der wichtigste Zeuge war sein Nachbar, das traf sich gut!

„Was, eine Leiche?“ mimte er den Unwissenden. „Ein Tier oder was?“

„Nein, eine menschliche Leiche“, antwortete Michael.

„Wahrscheinlich ertrunken. So stand‘s zumindest in der Zeitung. Wollen Sie den Artikel mal lesen?“

Bevor Rainer etwas erwidern konnte, hatte der Motorradfahrer auch schon einen ausgeschnittenen Zeitungsartikel aus der Gesäßtasche gezogen. Er stammte offenbar aus der Fürstentaler Tagespost. Michael musste ihn schon oft herum gezeigt haben, denn der Ausschnitt sah bereits ziemlich zerfleddert aus.

Rainer winkte ab. Er wusste genau, was diese Zeitungsschreiberlinge ihren Lesern als Wahrheit verkauften. Schließlich hatte ihnen sein Kollege von der Pressestelle der Polizei ein entsprechendes Ermittlungsergebnis verkündet, das die Zeitungsvertreter ohne weitere Nachfragen veröffentlicht hatten.

„Ich bin im Urlaub. Solche Schauergeschichten will ich jetzt lieber nicht hören“, versicherte er seinem Nachbarn und hob die Hand zum Gruß.

„Jetzt muss ich zurück zu meiner Holden“, zwinkerte er Michael zu. „Sonst beschimpft sie mich wieder als Rumtreiber.“

„Oh, rumtreiben kann man sich hier schon sehr gut“, entgegnete Michael grinsend, während er den Artikel wieder zusammenfaltete und in seine Hosentasche steckte. „Die Bar ist einmalig. Mitten auf dem See auf einer schwimmenden Plattform. Die Cocktails können Sie auch im Whirlpool genießen. Ich sag’ Ihnen, das hat was.“

Rainers Mundwinkel zuckten.

„Wenn man auch mit einem Bier im Pool rumliegen kann, soll’s mir recht sein“, lachte er und fühlte sich fast ein wenig mit seinem Schicksal versöhnt.

Bevor er zum Wohnwagen zurückkehrte, unternahm er noch eine erste Inspektion des Platzes. Die Anlage versprach vor allem für Familien mit Kindern jede Menge Urlaubsfreuden. Entsprechend viele junge Gäste tummelten sich auf den schmalen Fahrwegen, die nur im Schritttempo befahren werden durften. Die sonderbaren Straßennamen schienen ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten zu sein. Ein paar Tafeln waren bereits erneuert worden. Bunte Tierbildchen erleichterten hier auch kleinen Kindern die Orientierung.

Rainer beobachtete die beiden Frauen, die sie beim Einchecken an der Schranke getroffen hatten. Sie standen mit verzweifelten Gesichtern schweißgebadet inmitten von Zeltbahnen, Campingstühlen und Schlafsäcken.

„Das kommt davon, wenn man sich immer auf den Ehemann verlässt und sich nie selbst mit dem Zeltaufbau beschäftigt“, schimpfte die eine. Sie studierte eine Aufbauanleitung.

„Schieben Sie das Gestänge durch die Laschen und befestigen Sie die Enden an den vorgesehenen Haken.“

Zögernd klappte sie die Einzelteile einer Zeltstange zusammen und begann diese durch eine Schlaufe zu ziehen.

„Keine Ahnung, ob das jetzt die richtige Stange ist“, murmelte sie.

„Dürfen wir jetzt an den See-hee?“, quakte ein kleines, blondes Mädchen dazwischen. Die beiden größeren Kinder hockten gelangweilt in den Campingstühlen herum und wirkten genervt. So hatten sie sich das Campen offenbar nicht vorgestellt.

„Nein, wir müssen erst das Zelt aufbauen, dann können wir gehen“, antwortete die andere Mama und Rainer bewunderte die Geduld, mit der die beiden Frauen ihre Sprösslinge vertrösteten. Inzwischen hatten sie alle Gestänge in die Laschen geschoben und das Zelt aufgestellt.

„Soll ich Ihnen vielleicht helfen?“

Der Kriminalbeamte konnte das verzweifelte Gewurstel der beiden Frauen nicht mehr länger tatenlos mit ansehen. Sie lächelten ihn fröhlich an und schüttelten die Köpfe.

„Vielen Dank, das müssen wir heute einfach mal ohne männliche Hilfe schaffen“, erklärte die eine. „Außerdem sind wir jetzt gleich fertig.“

Mit dieser Einschätzung täuschte sie sich allerdings gewaltig. Bis die beiden männerlosen Familien einziehen konnten, sollten noch fast zwei Stunden vergehen. Der Kriminalbeamte beschloss, die Zeltcamperinnen ihrem Schicksal zu überlassen und ging weiter.

Ein Paar Mitte 40 passierte gerade mit seinem Kastenwagen die Schranke und fuhr nun langsam in das Camperareal hinein. Die beiden strahlten hinter der Windschutzscheibe ihres Campingbusses, während sie sich nach einem Stellplatz umsahen.

„Die können wir schon mal als Tatverdächtige ausschließen“, registrierte Rainer Sommer, schlenderte weiter und checkte in Gedanken die einzelnen Parzellen ab: Ein holländisches Ehepaar trank Tee vor seinem winzigen Wohnwagen, der bestimmt schon 20 Jahre auf dem Buckel hatte. Rainer nickte den beiden im Vorbeigehen zu.

Gleich daneben hatte sich ein Paar mit drei heranwachsenden Jungs vor seinem älteren Campingbus niedergelassen. Mit den verblassten Plastikblumen, die zwischen Armaturenbrett und Windschutzscheibe steckten, wirkte der LT wie ein Relikt aus der Flowerpowerzeit. Der wuschelköpfige Mann bastelte einem uralten Transistorradio herum, das plötzlich rauschte und knackte.

„Guck, es läuft wieder“, freute er sich und hob das Radio in die Höhe.

„Haben wir Deutschlandfunk?“

Seine Frau, die auf einem Liegestuhl die Sonne genoss, öffnete kurz die Augen und sah ihn fragend an. Der Wuschelkopf drehte am Sender, bis Schlagermusik ertönte und nickte zufrieden.

„Jetzt können wir unter der italienischen Sonne wieder den deutschen Wetterbericht hören und uns freuen, wenn’s zu Hause regnet“, strahlte er.

„Super, dann können wir ja morgen weiterfahren“, entgegnete seine Frau.

Das Paar, das gerade auf dem Platz angekommen war, stoppte seinen Kastenwagen in unmittelbarer Nähe der Familie. Kaum krachte die Schiebetür in ihre Angeln, sprang auch schon ein kleiner, pummeliger Hund aus dem Wohnmobil heraus und raste zu der Frau im Liegestuhl. Das Freudengeschrei, das darauf folgte, ließ Rainer zusammenzucken. Offenbar schienen sich die beiden Familien samt Hund zu kennen.

„Warum müssen Frauen eigentlich immer so kreischen, wenn sie sich wiedersehen“, dachte Rainer, der sich trotzdem ein leises Schmunzeln nicht verkneifen konnte.

Kurze Zeit später, er hatte noch einen Abstecher zu dem für die Touristen geöffneten Waschhaus unternommen, kehrte er zum Wohnwagen zurück.

„Wo warst Du denn so lange?“ Jennifer saß im Liegestuhl, eine Kaffeetasse in der einen, eine Zigarette in der anderen Hand.

„Wie ich’s vorhin gesagt habe“, murmelte Rainer und seufzte.