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Carly ist ein Workaholic. Leider mit schlimmen Folgen für ihre Ehe: denn ihr Mann hatte irgendwann genug davon, sie nie zu Gesicht zu bekommen und verließ sie. Dabei könnte Carly gerade jetzt jede Unterstützung gebrauchen, denn neuerdings wohnt ihre anstrengende Mutter bei ihr. Als am Flughafen ihr Koffer mit dem einer anderen Frau vertauscht wird, kommt es Carly gerade recht, dass ihre Zufallsbekanntschaft Elizabeth gerade dringend Abstand von ihrem Ehemann braucht. Frei nach dem Motto „Manchmal muss man gehen, um zu bleiben“ hat Elizabeth nämlich kurzerhand ihre Koffer gepackt und ist verreist, um sich in der Ferne über die Gefühle zu ihrem Mann klar zu werden. Ist ihre Ehe Gewohnheit, oder lieben sie sich noch so, dass man auch Fehler verzeihen kann? Mit ihrer warmherzigen und souveränen Art macht Elizabeth sich in Carlys Haushalt schnell unentbehrlich. Die beiden ungleichen Frauen freunden sich an und erkennen: Wer Liebe zulässt, kann auch Liebe geben ...
Ein bewegender Roman über die tiefe Freundschaft zweier Frauen und die Kraft der Liebe.
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Seitenzahl: 391
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Carly ist ein Workaholic. Leider mit schlimmen Folgen für ihre Ehe: denn ihr Mann hatte irgendwann genug davon, sie nie zu Gesicht zu bekommen und verließ sie. Dabei könnte Carly gerade jetzt jede Unterstützung gebrauchen, denn neuerdings wohnt ihre anstrengende Mutter bei ihr.
Als am Flughafen ihr Koffer mit dem einer anderen Frau vertauscht wird, kommt es Carly gerade recht, dass ihre Zufallsbekanntschaft Elizabeth gerade dringend Abstand von ihrem Ehemann braucht. Frei nach dem Motto »Manchmal muss man gehen, um zu bleiben« hat Elizabeth nämlich kurzerhand ihre Koffer gepackt und ist verreist, um sich in der Ferne über die Gefühle zu ihrem Mann klar zu werden. Ist ihre Ehe Gewohnheit, oder lieben sie sich noch so, dass man auch Fehler verzeihen kann?
Mit ihrer warmherzigen und souveränen Art macht Elizabeth sich in Carlys Haushalt schnell unentbehrlich. Die beiden ungleichen Frauen freunden sich an und erkennen: Wer Liebe zulässt, kann auch Liebe geben …
Ein bewegender Roman über die tiefe Freundschaft zweier Frauen und die Kraft der Liebe.
Über Tanya Michna
Tanya Michna hat seit ihrem Studium an der University of Houston, Victoria, geschrieben. »Vergiss mich nicht« war ihr Romandebut. Sie lebt mit ihrem Ehemann und zwei Kindern in der Nähe von Atlanta, wo sie an weiteren Romanen arbeitet.
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Tanya Michna
Solange die Liebe bleibt
Roman
Aus dem Amerikanischen von Annika Tschöpe
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
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Eins: Holprige Landung
Zwei: In dem unwahrscheinlichen Fall
Drei: Getränkeservice
Vier: Turbulenzen
Fünf: Ruhig weiteratmen
Sechs: Die Ausgänge sind deutlich gekennzeichnet
Sieben: Mit Rücksicht auf die anderen Fluggäste
Acht: Umleitung
Neun: Zu Ihrer Linken sehen Sie …
Zehn: Rechnen Sie mit Verspätungen
Elf: Ladung kann verrutschen
Zwölf: Zwischenlandung
Dreizehn: Wieder eine aufrechte Sitzposition einnehmen
Vierzehn: Fertig machen zum Abheben
Impressum
Was mache ich hier eigentlich?
Kaum war Elisabeth Overton aus dem Flugzeug gestiegen, traf sie die Frage wie ein Keulenschlag. Bislang hatte sie noch keine Zeit gefunden, über ihren spontanen Einfall nachzudenken. Gestern Abend war sie viel zu sehr mit den Reisevorbereitungen beschäftigt gewesen und nur einmal kurz stutzig geworden, als ihre Visa-Karte abgelehnt worden war. Das hatte sie dann aber einfach als technisches Problem abgetan und einfach mit American Express gezahlt. Und heute während des Fluges hatte sie ganz andere Sorgen gehabt – lieber Gott, lass uns heil ankommen. Zwar versuchte Allen ihr seit Jahren einzutrichtern, dass Flugreisen statistisch gesehen viel sicherer waren als Autofahrten, doch in der Luft hatte sie sich noch nie richtig wohl gefühlt.
Im Grunde wusste sie selbst, dass ihre Ängste völlig überzogen waren. Schließlich war ihre eigene Mutter vor vielen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, während Allen im Laufe ihrer langen Ehe unzählige Vielflieger-Meilen gesammelt und dabei höchstens ein paar Turbulenzen miterlebt hatte. Beth dagegen war erst ein paar Mal geflogen, die Premiere war damals mit Mitte zwanzig, und Flüge verband sie in erster Linie mit den Geschäftsreisen ihres Mannes, weniger mit exotischen Urlauben oder romantischen Kurztrips.
Bis heute. Denn dieser Ausflug nach Houston fiel eindeutig in die Kategorie romantisches Abenteuer – auch wenn Allen dort gerade bei einer Messe war. Normalerweise neigten sie beide nicht zu spontanen Aktionen, daher war sie gespannt, wie er reagieren würde. Den Flug hatte sie mit reichlich Gottvertrauen, mit zusammengebissenen Zähnen und einer Miniflasche Chardonnay immerhin schon überstanden. Also würde sie sich jetzt auch nicht mehr entmutigen lassen, sondern ihren Plan in die Tat umsetzen. Allerdings erst nach einem kurzen Abstecher zur Damentoilette.
Auf wackligen Beinen betrat Beth den Flughafenterminal. Als ihr Blick durch den Wartebereich schweifte, fühlte sie sich an einen Tag erinnert, der schon viele Jahre zurücklag:
Es war später Abend an einem bitterkalten dreiundzwanzigsten Dezember, damals, als man seine Lieben noch am Flugsteig erwarten durfte. Joy war noch keine vier Jahre alt. Ungeduldig hielten sie nach den aussteigenden Passagieren Ausschau. Wenige Wochen zuvor hatte Allen seine erste Stelle als Verkäufer angetreten und konnte aus seinem Charme endlich auch beruflich Gewinn schlagen. Wegen der Schlechtwetterwarnungen hatte Beth schon befürchtet, er würde nicht rechtzeitig an Weihnachten zu Hause sein – und die Puppe, die der »Weihnachtsmann« für Joy bringen sollte, hätte sicher nicht über das Fehlen des Vater hinweggetröstet. Also hatte Beth ihre Tochter in den kirschroten Secondhand-Mantel gepackt und sich über die Autobahn zum Flughafen Hartsfield gekämpft. Dass Allens Flug doch noch eine Landerlaubnis erhalten hatte, war für ihre Familie das schönste Weihnachtsgeschenk gewesen. Gemeinsam mit Joy sah sie zu, wie die Maschine über die Landebahn rollte. Selbst jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, hörte Beth die Kleine noch freudig nach ihrem »Daddy« rufen. Sie konnte sich genau erinnern, wie Allen strahlend auf sie zugeeilt war. Erst hatte er seine Tochter an sich gedrückt und dann Beth in die Arme geschlossen und innig geküsst.
Merkwürdig – so viele Ereignisse aus Joys Kindheit kamen ihr vor, als wären sie erst gestern gewesen. Kaum zu glauben, dass meine Kleine nun selbst ein Kind bekommt! Aber was diesen leidenschaftlichen Kuss von Allen betraf, der schien schon eine Ewigkeit zurückzuliegen.
Wie hatte Beth sich gefreut, als das junge Paar ihr gestern eröffnet hatte, dass ein Baby unterwegs war! Zugleich hatte ihr die Nachricht einen Stich versetzt. Ich werde Großmutter? Ihr fünfundvierzigster Geburtstag stand kurz bevor. In diesem Alter bekamen andere Frauen selbst noch Kinder! Mit fünfundvierzig gehörte man noch lange nicht zum alten Eisen. Fünfundvierzig war noch nicht zu alt für Leidenschaft.
Oder etwa doch? Nachdenklich fuhr sie mit dem Daumen über ihren Ring.
Allen war so viel unterwegs, dass sie sich leicht vormachen konnte, in ihrer Ehe wäre alles in Ordnung. Doch seitdem Joy vor zwei Jahren zu Hause ausgezogen war, spürte Beth immer deutlicher, dass ihr etwas fehlte. Sie engagierte sich in der Gemeinde – leitete einen wöchentlichen Gebetskreis für Frauen, stellte den monatlichen Rundbrief zusammen und war als Seelsorgerin tätig. Neben der ehrenamtlichen Arbeit in einem Alphabetisierungsprogramm für Erwachsene werkelte sie gern im Garten, veranstaltete Bastelabende und war Mitglied in einem Lesekreis. Und dennoch gab es in ihrem Leben eine Leere, die sich nicht verleugnen ließ.
Ihr verstorbener Vater, Reverend Howard, hatte sie zur Demut erzogen. Sie sollte dankbar sein für das, was ihr gegeben war, selbstlos an andere und nicht immer nur an sich denken – und Beth war wirklich glücklich darüber, dass ihre Ehe schon so lange hielt. Etliche Paare in ihrem Bekanntenkreis waren längst wieder geschieden, obwohl sie weitaus weniger Anfangsschwierigkeiten gehabt hatten als Allen und sie. Beth bemühte sich Tag für Tag um Dankbarkeit für das Glück, mit dem sie gesegnet war. Dass ihr dies nicht immer gelang, bereitete ihr ein schlechtes Gewissen. Im Stillen hoffte sie, dass diese Reise daran etwas ändern würde.
In Gedanken vertieft bog sie nach links zu den Toiletten ab und stieß fast mit einer großen Blondine zusammen.
»Oh, Entschuldigung«, stammelte Beth.
Die jüngere Frau nickte nur knapp und ging eilig weiter. Sie hatte sicher noch nie im Leben einen peinlichen Moment erlebt.
Beth war sonst eigentlich auch nicht so ungeschickt, doch im Augenblick schwirrte ihr der Kopf. Die lange unterdrückten Gedanken und der ungewohnte Alkohol hatten sie ziemlich aus der Spur gebracht. Sie trank so gut wie nie, und nach dem Fläschchen Wein während des Flugs war ihr etwas schwindelig.
Eine weitere Erinnerung kam ihr in den Sinn: Allen, der sich bei einem Empfang zu Ehren eines neuen Geschäftsführers von Virtu-Tronix über sie lustig machte. Im Vorbeigehen hatte ein Kellner Beth eine Champagnerflöte gereicht, und Allen hatte sich über ihre tief verwurzelte Abneigung gegen alkoholische Getränke amüsiert. Schließlich hatte Beths Vater seine Gemeinde immer zur Enthaltsamkeit angehalten.
Jesus hat doch höchstpersönlich Wasser in Wein verwandelt, hatte Allen sie aufgezogen, ein belustigtes Funkeln in den grauen Augen. Das ist doch geradezu eine Aufforderung.
Zu Beths Freude hatte Joy die ausdrucksvollen, hell schimmernden Augen von Allen geerbt und nicht das langweilige Braun ihrer Mutter. Aber wann hatte Beth zuletzt dieses Funkeln in Allens Blick gesehen? Würde sie es heute sehen, wenn sie ihn mit der frohen Botschaft überraschte? Vielleicht konnten sie die Neuigkeit hier in Texas feiern, fernab vom Alltag zu Hause in Alpharetta. Die schönsten romantischen Momente hatte sie immer im Urlaub erlebt – zwei herrliche Nächte auf Hilton Head, die seine Firma spendiert hatte, die Kreuzfahrt, mit der er sie zum fünfzehnten Hochzeitstag verwöhnt hatte, oder damals, als er erst keine Zeit für gemeinsame Frühjahrsferien in Beths Heimatort gehabt hatte und dann in letzter Minute alle Termine verschieben konnte, um seine Familie zu begleiten.
Nein, sie bereute es nicht, dass sie hergekommen war. Allen hatte zwar berufliche Verpflichtungen, aber er würde sich sicher freuen, sie zu sehen. Sie an seiner Stelle wäre jedenfalls sehr gerührt, wenn er sie so überraschen würde.
Vielleicht war diese ganz spontane Reise genau das, was sie brauchten.
Dr. Carlotta Frazer brauchte diese Reise, um sich abzulenken und auf andere Gedanken zu kommen. Vor lauter Ungeduld war sie in den zehn Minuten am Flughafen von Houston schon dreimal nur knapp an einer Kollision vorbeigeschrammt. Da sie in der letzten Zeit kaum geschlafen hatte, war es eigentlich erstaunlich, dass sie noch so schnell reagieren konnte. Doch wenn sie so weiterhetzte, würde es noch Verletzte geben. Zudem war ihre Hektik vollkommen sinnlos, denn selbst wenn sie die Gepäckausgabe in Rekordzeit erreichte, wäre ihr Koffer höchstwahrscheinlich noch gar nicht da.
Also drosselte sie das Tempo und bemühte sich um die Gelassenheit, für die sie sonst bekannt war. Übermäßige Gefühlsausbrüche waren nicht ihre Art – selbst die Beerdigung hatte sie, ohne sich viel anmerken zu lassen, überstanden.
»Überleg es dir doch lieber nochmal, ob du wirklich zu dieser Konferenz fahren willst«, hatte Beverley Murrin bei der Trauerfeier gesagt. Hatte in dem Blick der Dekanin hinter der Gleitsichtbrille bei allem Mitgefühl nicht auch etwas Missbilligung gelegen? »Das würde dir niemand übelnehmen.«
Ganz im Gegenteil. Es hätte sicher einen besseren Eindruck gemacht, wenn Carly während der Zeremonie schluchzend zusammengebrochen wäre, die Präsentation bei der Konferenz abgesagt hätte und zu Hause bei ihrer Mutter geblieben wäre, statt Helene in fremder Obhut zu lassen. Dr. Samuel Frazer wäre wohl der Einzige gewesen, der ihre unsentimentale Flucht in die Arbeit voll und ganz verstanden hätte – doch über die Gemeinsamkeiten mit ihrem verstorbenen Vater wollte Carly lieber nicht genauer nachdenken.
Schon vor langer Zeit hatte sie sich angewöhnt, alle Kommentare über ihre angebliche Ähnlichkeit zu ignorieren. Solche Bemerkungen waren durchaus schmeichelhaft gemeint: Samuel Frazer hatte an der Emory-Universität Organische Chemie gelehrt und galt gemeinhin als Genie.
Carly selbst hatte sich für die Geisteswissenschaften entschieden; seit über sechs Jahren war sie Dozentin für Geschichte am Ramson Neil, einer kleinen, aber prestigeträchtigen Privathochschule in Georgia. Zu Beginn ihrer Tätigkeit hatte sie noch an ihrer Doktorarbeit geschrieben, jetzt lagen einer Festanstellung als Professorin nur noch wenige Formalitäten im Weg – und das mit zweiunddreißig Jahren. Damit wäre sie die jüngste Person, die am Ramson Neil je eine Festanstellung bekommen hatte. Auf dieses Ziel hatte sie, wenn auch unbewusst, seit der Highschool hingearbeitet. Statt ihre Energie für Sportveranstaltungen oder den Abschlussball zu vergeuden, hatte sie in weiterführenden Kursen gepaukt, sodass sie nach dem Schulabschluss – natürlich als Jahrgangsbeste – direkt ins zweite Studienjahr mit dem Hauptfach Frauenforschung einsteigen konnte. Auf den Bachelor-Abschluss folgten ein Master-Studiengang in Vergleichender Geschichte und schließlich die Promotion. Aus ihrer Doktorarbeit mit dem Titel Weiblicher Einfluss auf die männliche Vorherrschaft in der europäischen Politik von der Renaissance bis zur Aufklärung waren verschiedene Artikel für renommierte Zeitschriften hervorgegangen. Ihr neuestes Buch beschäftigte sich mit der Frage, ob politisch einflussreiche Frauen in den vergangenen Jahrhunderten tatsächlich Vorkämpferinnen für den Feminismus gewesen waren oder ob sie vielmehr ihre männlichen Vorgänger nachgeahmt und somit den Status Quo unterstützt hatten.
Diese Erfolge gaben ihr Halt, sie klammerte sich daran wie ein Schlafloser an einen Becher warme Milch. Wie ein Alkoholiker an die Whiskyflasche, kommentierte ihr Unterbewusstsein zynisch. Carly verdrängte den Gedanken; ihre beruflichen Leistungen waren schließlich keine selbstzerstörerische Sucht. Sondern … eine Bestätigung.
Du bist einfach dämlich, hatte er gebrüllt und der Viertklässlerin den Sachkundetest unter die Nase gehalten, als sei die Drei ein unverzeihliches Kriegsverbrechen. Genau wie die verzogene Debütantin, die dich zur Welt gebracht hat!
Carly erschauderte und blieb abrupt stehen, ohne sich um die Unmutsbekundungen der Fußgänger hinter sich zu scheren. Sie hatte doch mit eigenen Augen gesehen, wie man den Sarg mit ihrem Vater ins Grab gesenkt hatte. Wieso fühlte sie sich trotzdem so, als sei der furchteinflößende Mann von beeindruckender Größe nicht wirklich tot? Andererseits stand sie gerade unmittelbar vor einem großen akademischen Erfolg, und es sah Samuel wirklich ähnlich, dass er lieber starb als zugab, dass er sich in ihr geirrt hatte.
Welche Ironie des Schicksals, dass ihr Vater ausgerechnet am Steuer eines Wagens ums Leben gekommen war! Als er ihr das Autofahren beibrachte, hatte er sie bei der kleinsten Unaufmerksamkeit immer sofort angeschnauzt. Nun hatte er selbst eine rote Ampel überfahren, weil er sich zu seiner Frau auf der Rückbank umgedreht hatte. Die Familie in dem am Unfall beteiligten Minivan war mit kleineren, wenn auch schmerzhaften Prellungen davongekommen. Weil der Beifahrersitz umgeklappt war, um Platz für einen Mahagonischreibtisch zu schaffen, hatte Helene Frazer den Unfall im Fonds überlebt und sich lediglich eine Gehirnerschütterung und eine schwere Bänderverletzung im rechten Bein zugezogen. Der Seitenbandriss hatte zwar nicht operiert werden müssen, Carlys Mutter würde jedoch eine umfangreiche Physiotherapie benötigen, die angesichts ihres Alters und ihrer emotionalen Verfassung mehrere Wochen oder gar Monate dauern konnte. Samuel war nur gestorben, weil er den Kopf nach hinten gewandt hatte; bei dem Aufprall war sein Genick gebrochen.
Er ist tot. Carly versuchte, die Worte in Gedanken auszusprechen. Was würde sie dabei empfinden? Vielleicht sogar Erleichterung?
Der Empfehlungsbericht der Kommission, die ihre Festanstellung am Ramson Neil prüfte, beschäftigte sie weitaus mehr als der Verlust ihres Vaters. Man hatte ihr eine Kopie dieses Berichts zukommen lassen. Namen wurden nicht genannt, doch zwei der Kommissionsmitglieder beurteilten sie als »geeignet«, während die dritte Person »Vorbehalte« hatte.
Sie war weit mehr als nur »geeignet«. Sie war schließlich Carlotta Frazer, verdammt nochmal, und die Missbilligungen, die ihr Vater ihr als wehrloses Kind an den Kopf geworfen hatte, waren allesamt falsch gewesen. Wenn der Kanzler und das Kuratorium ihr nun die Festanstellung an einer der besten Privathochschulen im Südosten gewährten, dann hatte sie den endgültigen Beweis; Samuel Frazer war nämlich erst mit sechsunddreißig Professor geworden. Immerhin sprach der Kommissionsbericht zwei zu eins für sie, und Carlys eindrucksvolle Laufbahn und ihre Veröffentlichungen waren der Dekanin bestens bekannt.
Langsam entspannte sie sich. Sie würde wie geplant an der Internationalen Konferenz zum feministischen Historismus teilnehmen und dort über die Schriftstellerin Christine de Pizan aus dem 14. Jahrhundert sprechen. Dann würde sie nach Hause zurückkehren, für Helenes physiotherapeutische Behandlung sorgen und sich wieder in die Arbeit stürzen. Sie würde Sommerkurse unterrichten, den Entwurf zu ihrem Buch ausarbeiten und weitere Quellen sichten – alles war genau geplant.
Irgendwann musst du aber auch mal schlafen, meldete sich spöttisch ihre innere Stimme zu Wort.
Sofort wurden ihre Schritte länger, als wollte sie den Albträumen entkommen, die wie hungrige Geier auf sie lauerten.
Sie eilte über zwei Rolltreppen, ohne jemanden über den Haufen zu rennen, und erreichte schließlich die Gepäckausgabe. Ihr dunkelblauer Koffer purzelte als eines der ersten Stücke vom Transportband, und Carly war sich sicher, dass sie ihn durch bloße Willenskraft herbeigezaubert hatte. Mit ihrem Gepäck stürmte sie hinaus, wo ihr Glück weiter anhielt und sie sofort ein Taxi erwischte.
Im Taxi dann drohte sie die Müdigkeit zu übermannen. Das stetige Rauschen des Windes (natürlich funktionierte die Klimaanlage trotz der dreißig Grad Außentemperatur nicht) lullte sie ein. Wie verlockend schien es, die müden Augen zu schließen; aber es kam auf keinen Fall infrage, in einem fremden Taxi einzuschlafen oder ganz benommen und orientierungslos im Konferenzhotel anzukommen.
Carly fiel wieder ein, dass sie versprochen hatte, Helene nach ihrer Ankunft anzurufen. Mit dem Handy wählte sie ihre eigene Nummer, und Daniel Cross hob so prompt ab, als würde er noch immer dort wohnen. »Hier bei Frazer.«
Die vertraute Stimme ihres Exmannes versetzte Carly einen heftigen Stich. »Das klingt ja richtig professionell«, entgegnete sie nach einem fast unmerklichen Zögern. »Du würdest eine erstklassige Empfangsdame abgeben.«
»Carly. Du bist also in Houston angekommen.«
»Gerade eben. Der Flug hatte etwas Verspätung.« Vor ihr erhob sich die Skyline wie eine Oase aus einer Betonwüste. »Ich wollte mich nur vergewissern, dass Helene sich keine Sorgen macht.«
»Sie schläft gerade. Ich kann sie wecken, wenn du möchtest«, bot er etwas zögerlich an.
»Nein, sie kann etwas Ruhe gut gebrauchen.« Carly wusste, dass es Helene in Daniels fürsorglicher Obhut weit besser ging als bei ihrer eigenen Tochter. Auch wenn Helene nie offen darüber sprach – in ihrer eigenen langen Ehe hatte sie sich angewöhnt, ihre Meinung für sich zu behalten –, mochte sie ihren ehemaligen Schwiegersohn sehr und ließ Carly deutlich spüren, wie enttäuscht sie wegen der Scheidung war.
Carlys Schwiegereltern dagegen hatten wahrscheinlich einen Freudentanz aufgeführt. Sie waren nie richtig warm mit ihr geworden. Bereits am Verlobungsabend hatte Carly unfreiwillig mit anhören müssen, wie Mrs Cross sie als »kalten Fisch« bezeichnete. Bei der Scheidung hatte Daniel ihr das Haus überlassen, und sie war Familie Cross ein für alle Mal los. Jeder Anwalt hätte ihr zu diesem Geschäft gratuliert.
Carly schämte sich ein wenig für diesen schäbigen Gedanken, denn schließlich hatte Daniel ihr selbstlos die Teilnahme an dieser Konferenz ermöglicht. Sie sollte ihm wirklich dankbar sein. »Bei euch ist also alles in Ordnung?«
»Ich glaube, sie steht noch unter Schock, aber wir kommen zurecht. Die Nachbarn haben für uns gekocht, wir sind also nicht auf meine Kochkünste angewiesen. Vielleicht kannst du später nochmal anrufen, das würde sie bestimmt freuen. Ansonsten wünsche ich dir eine gute Reise.«
»Nachdem du mir das letzte Mal eine gute Reise gewünscht hast, hast du dir hinter meinem Rücken einen Anwalt genommen.« Mist. So viel zum Thema Dankbarkeit.
»Carly.« Daniel hatte den schrecklich mitfühlenden Tonfall angeschlagen, den sie so verabscheute. »Ich …«
»Bitte entschuldige.« Auf sein Mitleid konnte sie verzichten. Darum war sie auch allen Gesprächen ausgewichen, die er nach der Trennung mit ihr hatte führen wollen. »Das war fies von mir. Zu meiner Entschuldigung kann ich nur sagen, dass ich wenig geschlafen habe und mit den Gedanken ganz woanders bin.«
»Ich richte Helene aus, dass du angerufen hast.«
»Danke. Tschüss, Daniel.«
Sie klappte das Telefon zu und dachte zurück an die Studienreise, die sie vor anderthalb Jahren nach Europa geführt hatte. Daniel hatte sie zum Flughafen gebracht. Ihre Beziehung hatte damals in einer schwierigen Phase gesteckt – das war selbst ihr klar gewesen, obwohl sie bis über beide Ohren in ihrer Forschungsarbeit gesteckt hatte. Doch als er ihr eine gute Reise gewünscht hatte, war der Kuss so gewesen wie immer. Ihr Kuss. Der Kuss, mit dem er sie bei ihrem ersten gemeinsamen Abend überrascht hatte, der Kuss, der den Heiratsantrag besiegelte. Sie hatte niemals ernsthaft geglaubt …
Ja, die Ehe war gescheitert, aber es war Daniel, der sie verlassen hatte. Ihr zuverlässiger, mitfühlender Mann hatte sich als Drückeberger entpuppt. Aber sie war Dr. Carly Frazer, und sie war ein Siegertyp.
* * *
Beth wippte ungeduldig auf den Zehen und hielt auf dem Gepäckförderband nach Allens blauem Koffer Ausschau.
Joy und Peter wollten das Wochenende bei seiner Familie verbringen und hatten Beth erlaubt, Allen von dem Baby zu berichten. Nach ihrem Entschluss, dies persönlich zu tun, hatte sie das Gepäckset herausgesucht, mit dem ihn die Firma einst für rekordverdächtige Verkaufszahlen belohnt hatte. Zu Beginn ihrer Ehe waren sie nur dank eines großzügigen Darlehens von Allens Eltern über die Runden gekommen, doch mittlerweile verdiente er sehr ordentlich. Seit vielen Jahren war er bei Virtu-Tronix beschäftigt, wo man ihn vor kurzem zum Vertriebsleiter befördert hatte. Sicher hatte er eine anstrengende Woche hier bei der Messe, auf der Software-Anbieter wie seine Firma potenzielle Kunden umwarben.
Ich werde ihn auf keinen Fall bei der Arbeit stören. Nein, sie würde ihn im Hotel überraschen. In fremder Umgebung war es sicher leichter, das alte Feuer neu zu entfachen. Wenn sie nicht ständig an ihre alltäglichen Pflichten als Ehefrau, Mutter und Herausgeberin des Kirchenblättchens erinnert wurde, war Beth immer ein bisschen abenteuerlustiger. Während der Karibik-Kreuzfahrt hatte sie ihren Mann eines Abends regelrecht verführt – das war er von ihr sonst wirklich nicht gewöhnt.
Mit der Sinnlichkeit hatte Beth so ihre Schwierigkeiten. Schon ihr Vater hatte in seinen Predigten stets vor den Versuchungen des Fleisches gewarnt. Und als sie dann mit neunzehn Jahren auf dem College trotz aller Warnungen doch Allens Charme erlegen war, hatte das natürlich prompt die prophezeiten Folgen gehabt. Sie würde wohl nie vergessen, wie außer sich vor Zorn Allen gewesen war, als sie ihm von der Schwangerschaft erzählte. Er hatte wahrlich andere Pläne gehabt, als wenige Monate vor dem College-Abschluss zu heiraten. Dennoch war er ein vorbildlicher Ehemann und Vater geworden, der seine Tochter über alles liebte. Wenn er nicht beruflich unterwegs war, spielte er gern mit Freunden Poker, leistete Beth bei der Gartenarbeit Gesellschaft und konnte seinen väterlichen Stolz nicht verbergen, sobald Joy das Zimmer betrat.
An diesem Wochenende wollte Beth etwas von dem nachholen, was sie damals versäumt hatten. Ihre eigene Schwangerschaft hatte sie nicht genießen können, doch jetzt wollte sie sich gemeinsam mit Allen auf den Familienzuwachs freuen und stolz auf ihre Tochter sein.
Da ist er ja! Beth murmelte eine Entschuldigung und drängte sich lächelnd an zwei Leuten vorbei zu ihrem Koffer. Einer der Männer lächelte zurück und hob das Gepäck für sie vom Band.
»Bitte sehr, Miss.«
»Vielen Dank.« Ihr Gesicht erhellte sich noch mehr. Wie würde Allen wohl auf die fliederfarbenen Seidendessous in diesem Koffer reagieren?
Vor dem Flughafen warteten Taxis in einer langen Reihe. Beth fischte einen Zettel aus der Tasche. Für gewöhnlich rief sie Allen zwar nicht im Hotel, sondern auf dem Handy an, doch seit Joys Kindertagen bestand sie darauf, für Notfälle immer seinen genauen Aufenthaltsort zu kennen. Der Taxifahrer nickte mehrmals bestätigend, als Beth ihm die Adresse vorlas.
Ihr Herz klopfte heftig. Jetzt wurde es ernst! Beth strich ihren Rock glatt; so jung und hübsch hatte sie sich seit Jahren nicht mehr gefühlt. Der Rock hatte zwar einen Stretchbund – schließlich war sie nicht mehr neunzehn! –, doch das bunte, feminine Muster stand ihr gut und erinnerte sie an die impressionistischen Bilder, deren weiche Konturen sie im High Museum so bewundert hatte.
In ihrem Überschwang bedachte sie den Taxifahrer mit einem großzügigen Trinkgeld und betrat dann samt Koffer das Hotel. Dort erwartete sie kein prachtvolles Foyer, sondern eine Atmosphäre wie in einer Bankfiliale: Die Kunden warten in einer Reihe zwischen Absperrpfosten und gelegentlich ertönt die Frage »Wer ist der Nächste?«. Guten Tag, ich möchte gerne in meine Zukunft investieren.
Doch Beth war heute so gut aufgelegt, dass nichts ihre Laune trüben konnte.
»Guten Tag.« Ein Hotelmitarbeiter im grünen Jackett begrüßte sie. »Haben Sie bei uns reserviert?«
»Nicht direkt. Mein Mann hat eine Reservierung.«
»Dann finde ich Ihr Zimmer also unter seinem Namen?« Der junge Mann wirkte sichtlich verwirrt. Er erinnerte Beth an den Cockerspaniel, der ihnen zugelaufen war und den Joy unbedingt behalten wollte, bis sich die Besitzer bei ihnen meldeten.
»Mein Mann ist schon Anfang der Woche angereist. Ich brauche nur einen Schlüssel, denn ich möchte ihn überraschen. Er heißt Allen Overton«, sagte sie. »O-v-e-r-t-o-n.«
Der Mann gab den Namen in den Computer ein. »Ah, ja. Er ist vor ein paar Tagen angekommen. Aber in seiner Reservierung ist kein zweiter Gast aufgeführt.«
»Es soll ja auch eine Überraschung sein«, erklärte sie fröhlich.
Der Hotelangestellte musterte sie misstrauisch. »Es tut mir leid, aber ich darf keine Hotelschlüssel an irgendjemanden ausgeben, der unangemeldet und ohne Reservierung auftaucht.«
»Ich bin nicht irgendjemand, ich bin seine Ehefrau!« Beth zog ihren Ausweis hervor. »Hier, Elisabeth Overton.«
Er verzog das Gesicht. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber die Tatsache, dass Sie den gleichen Nachnamen haben, beweist doch gar nichts. Die Privatsphäre unserer Gäste ist uns sehr wichtig. Wer sagt mir denn, dass Sie keine verrückte Ex sind, die sich irgendwie rächen will?«
So eine lächerliche Unterstellung war ihr wirklich noch nie zu Ohren gekommen. »Sehe ich etwa verrückt aus?«
»Ich rufe jetzt mal in seinem Zimmer an, dann können Sie selbst mit ihm sprechen.« Er griff nach dem dunkelgrünen Haustelefon.
Du ruinierst meinen ganzen Plan. Mit vorwurfsvoller Miene nahm sie den Hörer entgegen. Es klingelte ein paar Mal, dann verkündete eine Stimme vom Band, der gewünschte Hotelgast sei im Augenblick nicht im Zimmer. Und jetzt?
»Können Sie mir sagen, wo hier die DDS-Messe stattfindet?« fragte sie.
»DDS – sind das die Zahnärzte?«
»Nein, das ist eine Software-Veranstaltung.«
»Also, bei uns im Haus jedenfalls nicht.« Er konsultierte wieder den Computer und schüttelte dann bestimmt den Kopf. »Nein.«
Sie hatte gehofft, die Veranstaltung sei direkt im Hotel, aber manchmal musste die Firma aus Platzgründen auf andere Räumlichkeiten ausweichen. Und hin und wieder wurden die Mitarbeiter nicht in den teuren Messehotels, sondern in günstigeren Quartieren untergebracht. Dieses Haus sah in der Tat ziemlich nach Sparkurs aus.
»Könnte ich bitte mit Ihrem Vorgesetzten sprechen?«, bat Beth. Sie wollte keine Schwierigkeiten machen, aber irgendjemand musste ihr doch weiterhelfen können. Es war zwar erst früher Nachmittag, aber sie hatte schon einen langen Tag hinter sich. Jedenfalls hatte sie nicht die Absicht, mehrere Stunden in der Lobby herumzusitzen und an ihren Plänen zu zweifeln.
»Ähm, der ist noch beim Mittagessen. Aber da drüben hinter den Aufzügen haben wir ein nettes Restaurant. Vielleicht möchten Sie dort warten.«
»Gut. Danke.« Ein kleiner Imbiss würde ihr gut tun. Bis auf eine Minipackung Brezeln während des Flugs hatte sie noch nichts gegessen, und normalerweise legte sie Wert auf regelmäßige Malzeiten.
Also begab sich Beth mit ihrem Koffer in Richtung Restaurant. Nachdem sie eine Weile vergeblich darauf gewartet hatte, dass ihr jemand einen Platz zuwies, betrat sie zögernd den Speisesaal und sah sich nach einer Bedienung um. Plötzlich blieb ihr Blick hängen. Er fiel auf einen ihr wohlbekannten blonden Haarschopf mit Silbersträhnen. Allen! Was für ein glücklicher Zufall!
Er saß mit dem Rücken zu ihr über den kleinen Tisch gebeugt, in eine angeregte Diskussion mit einer aparten Rothaarigen vertieft. Vielleicht eine Kollegin von Virtu-Tronix? Doch Beth kannte die Frau weder von der letzten Weihnachtsfeier noch von Betriebsausflügen. Als sie näher herankam, bemerkte sie, dass Allen und die Unbekannte heftig stritten.
Beths Begrüßung fiel reichlich unsicher aus. »Allen?«
Er wirbelte herum. »Elisabeth!« Die Farbe wich ihm aus dem Gesicht. Sofort fuhr sein Blick zu der Rothaarigen, dann zurück zu seiner Frau. Dann war die kurze Verunsicherung vorüber, und seine Miene wurde zornig. »Was zum Teufel machst du denn hier?«
Beths Vorfreude auf ihr Treffen mit Allen war schlagartig vorbei. »Ich … ich wollte dich besuchen«, stammelte sie und rang dabei um Fassung. Eine derartig feindselige Reaktion hätte sie nun wirklich nicht erwartet. »Ich dachte … wir könnten …«
Erst jetzt bemerkte sie die herablassend mitleidige Miene der Rothaarigen; offenbar war diese fest davon überzeugt, dass sie selbst nie in eine derart peinliche Lage geraten könnte.
Beth holte tief Luft. »Ich habe Neuigkeiten für dich, die wir lieber unter vier Augen besprechen sollten.«
Allen warf der anderen einen Blick zu und nickte knapp. »Dann gehen wir am besten in mein Zimmer. Bitte entschuldige mich, Jessica.«
»Natürlich. Ich sage dem Kellner einfach, dass er das Essen auf deine Rechnung setzen soll.« Jessica klang ein wenig belustigt. Beth konnte sich nicht erklären, was sie so amüsierte. Die Frau war ihr auf Anhieb unsympathisch.
Du kennst sie doch gar nicht. Nur weil sie gertenschlank war und mit ihrem Ehemann zu Mittag aß?
Beth versuchte, nicht auf ihre Intuition zu hören.
Sie folgte Allen durch die Lobby und versuchte sich tapfer einzureden, dass ihre Befürchtungen keinerlei Grundlage hatten, und dass sie schlicht Gespenster sah. Sie hatte die beiden ja nun nicht gerade in flagranti erwischt, sondern am helllichten Tag in einem öffentlichen Lokal. Vielleicht war Jessica sogar eine wichtige Kundin!
»Es tut mir leid, dass ich euch gestört habe«, sagte Beth, als sich die Fahrstuhltüren hinter ihnen geschlossen hatten.
Allen funkelte sie zornig an. Schlimmer hätte ihre romantische Überraschung nicht danebengehen können. »Ich kann einfach nicht begreifen, was du hier willst. Ist etwas passiert? Etwas mit Joy? Warum rufst du mich nicht an, wenn es einen Notfall gibt, statt herzukommen und –«
»Nein, es ist kein Notfall.« Sie schluckte. Ihr ganzer Plan wirkte plötzlich so lächerlich. »Ich wollte dich sehen. Ich dachte, es wäre schön, wenn wir etwas Zeit für uns hätten.« Der Augenblick war alles andere als geeignet, Joys frohe Botschaft zu verkünden. Vielleicht würde sich später die Gelegenheit ergeben, gemeinsam auf ihre wundervolle Tochter anzustoßen. Später, wenn Allen ihr unangemeldetes Auftauchen verdaut hatte …
Er fuhr sich durchs Haar, ohne die sorgfältig gestylte Frisur zu zerstören. »So kenne ich dich gar nicht.« Das klang so vorwurfsvoll, dass sie die Antwort, die ihr auf der Zunge lang, lieber herunterschluckte. Darum geht es ja gerade.
»Keine Sorge, ich werde dich bei der Messe nicht stören.«
»Bei der Messe?« Er wurde blass, versuchte seine plötzliche Nervosität jedoch zu überspielen. »Elisabeth, spionierst du mir etwa nach?«
»Natürlich nicht.« Wieder schrillten bei ihr unüberhörbar sämtliche Alarmglocken. »Hätte ich denn Grund dazu?«
»Sag mir die Wahrheit«, entfuhr es ihm – so laut, dass er die Stimme senkten musste, als der Fahrstuhl anhielt und sie in den Gang traten. »Sag mir die Wahrheit – hat Ev dich angerufen?«
Everett Palmer, der Kundendienstleiter von Virtu-Tronix, arbeitete seit Jahren mit Allen zusammen. Als Ev noch verheiratet gewesen war, hatten die beiden Paare häufiger etwas gemeinsam unternommen. Nach seiner Scheidung hatte er dann eine Frau kennengelernt, die kaum älter als Joy war. Mit seiner neuen Flamme lag Beth ganz und gar nicht auf einer Wellenlänge, und obwohl sie Everetts Privatleben natürlich nichts anging, war ihr Verhältnis seitdem kühler geworden.
»Wieso sollte er mich angerufen haben? Allen, was soll der Unsinn?« Die Rothaarige fiel ihr wieder ein, und ihr drehte sich der Magen um.
»Das sagt ja die Richtige!« Wütend schob er die Keycard in ein Türschloss, und Beth folgte ihm in ein tristes Hotelzimmer. Das rote Blumenmuster der Tagesdecke passte zu den Vorhängen, ein hässliches Bild von einem Kalb, das seine Mutter anblökte, hing schief an der Wand. »Schließlich hattest du die Schnapsidee, in ein Flugzeug zu steigen und herzukommen. Was hat mich das Last-Minute-Ticket eigentlich gekostet?«
Beth verschlug es die Sprache. War das sein Ernst? Sie verreisten fast nie – mit Ausnahme seiner Geschäftsreisen –, und sie interessierte sich weder für italienische Designerschuhe noch verlangte sie nach teuren Geburtstagsgeschenken. Nur für Joys Studium und ihre Hochzeit hatten sie einiges investiert. Aber Allen verdiente schließlich auch recht gut. Und trotzdem klang er jetzt so vorwurfsvoll wie ganz zu Anfang ihrer Ehe, als sie chronisch knapp bei Kasse gewesen waren. Beth hatte ihre Tochter nicht stillen können, und Allen hatte ihr wieder und wieder vorgehalten, dass sie sich die teure Flaschennahrung sparen könnten, wenn Beth das Baby »auf natürliche Weise« ernähren würde. Allerdings hatte er damals rund um die Uhr gearbeitet und war von der ungewohnten Vaterrolle überfordert gewesen – jetzt dagegen gab es keine Entschuldigung.
»Diesen Ton lasse ich mir nicht bieten«, erwiderte Beth ruhig. »Ich bin die weite Strecke geflogen, weil ich fand, unsere Ehe könnte neuen Schwung vertragen. Und ich war wohl so dumm zu glauben, du würdest dich freuen, deine Ehefrau zu sehen. Stattdessen vergnügst du dich mit einer jungen Schönheit und wirfst mir die absurdesten Fragen an den Kopf. Ich glaube fast …«
Bittere Enttäuschung ließ sie heftig schlucken. Wäre sie doch zu Hause geblieben – dann wäre ihre Welt noch in Ordnung, und sie könnte ahnungslos einen Riesenteddy für Joys Nachwuchs aussuchen. »Es wäre wohl eher angebracht, dass ich hier die Fragen stelle.«
Allen kam zu ihr und ergriff ihre Hand. Vermutlich hatte er bei einer Fortbildung gelernt, dass in manchen Fällen Schadensbegrenzung angesagt war. »Bitte verzeih mir. Ich wollte dich nicht so anfahren, Beth. Ich habe in letzter Zeit nur sehr viel Stress.«
Diese Entschuldigung hatte sie im Laufe der Jahre schon in vielen Varianten gehört. Offenbar meinte er, sie als Hausfrau könne sich die Strapazen in der »Welt da draußen« gar nicht vorstellen. Wie oft klagte er darüber, wie schwer er es hatte – der Berufsverkehr, die Intrigen im Büro, die einsamen Nächte in schäbigen Motels. Lange Zeit hatte Beth sich ein schlechtes Gewissen einreden lassen. Ja, er musste hart arbeiten, um seine Familie zu versorgen. Aber einen ordentlichen Haushalt zu führen und dazu noch ein Kind großzuziehen, verlangte ihr auch einiges ab.
»Dann sprich doch mit mir darüber!«, sagte sie, als sie kurz darauf stocksteif im Hotelzimmer auf der Bettkante saß. Offenbar hatte das Zimmermädchen das Bett gemacht, denn von sich aus würde Allen so etwas niemals tun. »Erklär mir, wieso du so … aufgebracht bist. Wieso hast du Angst, dass Ev mir etwas erzählt hat?«
»Ich habe überhaupt keine Angst.«
»Am besten frage ich ihn selbst. Irgendwann läuft er mir hier sicher über den Weg.« Bislang waren Allens Kollegen bei jeder Firmenveranstaltung irgendwann in der Hotelbar aufgetaucht. Oft trafen sie sich auch zum Mittag- oder Abendessen. An den Hemden mit dem Firmenlogo und den Namensschildern konnte man sie immer leicht erkennen … da fiel ihr auf, dass Allen heute weder das eine noch das andere trug.
Verlegen scharrte er mit dem Fuß. »Ev ist diesmal nicht mit dabei.«
»Wer ist denn noch hier?«, fragte sie. Schon wieder meldete sich ihre Intuition. »Wo sind deine Kollegen? Wann musst du zurück an den Stand oder zum nächsten Termin?«
»Verdammt nochmal, Elisabeth, frag mich nicht so aus. Ich kann das nicht ausstehen.« Er sah sie so feindselig an, dass er ihr richtig fremd vorkam.
Er ist aber kein Fremder. Er ist dein Mann, derjenige, den du liebst. Auf der Kreuzfahrt hat er sogar dafür gesorgt, dass die Band dein Lieblingslied spielt. Und beim Tod ihres Vaters war Allen ihr eine ungeheure Stütze gewesen.
Dieses Gespräch führte zu nichts – offenbar wollte er lieber mit ihr streiten als eine offene Antwort geben. Aber musste sie ihm nicht vertrauen können? Schließlich waren sie schon ein Vierteljahrhundert verheiratet.
Beth stand auf. »Sagst du mir jetzt endlich die Wahrheit, oder soll ich am Flughafen anrufen und einen Rückflug organisieren?« Sie hatte nur den Hinflug gebucht – in der Hoffnung, sie könnten gemeinsam nach Hause fliegen oder vielleicht nach Allens beruflichen Verpflichtungen noch einen Verlängerungstag in Texas anhängen.
Mit gequälter Miene erwiderte er: »Wie teuer war der Flug denn nun?«
Seine Stimme klang so verzweifelt, dass die Frage offenbar kein bloßes Ablenkungsmanöver war. Beth fiel wieder ein, dass bei der Onlinereservierung ihre Kreditkarte abgelehnt worden war. »Allen, dieser Stress, von dem du gesprochen hast … ist mit deinem Job alles in Ordnung? Und mit unseren Finanzen?«
Sein Gesicht verriet ihr, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
Beths Herz hämmerte wie verrückt. Zu Hause in Atlanta war ihr alles so einfach vorgekommen: Nach Houston fliegen, Allens Zimmer aufsuchen, etwas Nettes anziehen, was sie seit Jahren nicht getan hatte, und ihrem Mann so eine freudige Überraschung bereiten. Wie naiv sie doch gewesen war! Ihre Enttäuschung war grenzenlos.
»Allen, was ist los?«
Vergeblich bemühte er sich um Fassung. »Zugegeben, wir haben ein kleines Finanzproblem – aber ich werde das regeln. Du musst dir keine Sorgen machen.«
»Ich könnte doch helfen«, wandte sie zögernd ein.
Konnte sie das wirklich? Wenn sie es sich recht überlegte, hatte jeder von ihnen seine festen Aufgabenbereiche. Lange Jahre war sie Vorsitzende des Elternbeirats und jetzt war sie Sekretärin für den Hausbesitzerverein. Ging es darum, Spenden für die Kirche zu organisieren, den Gärtner zu bestellen oder Formulare auszufüllen, dann war Elisabeth zuständig. Ging es dagegen um Versicherungen, Steuern oder ihre Finanzen, dann war Allen gefragt. Es hatte sie nie gestört, dass Besuche beim Kinderarzt und Elternsprechtage immer ganz allein ihre Sache gewesen waren – in ihren Augen bildeten sie und Allen ein Team, in dem jeder auf einer bestimmten Position spielte. Doch jetzt wurde ihr klar, dass diese Rollenverteilung auch ihre Nachteile hatte. Hätte sie ihn mehr in die alltäglichen Aufgaben und die Erziehung ihrer Tochter einbinden sollen?
»Ich habe alles unter Kontrolle«, erwiderte er ablehnend.
»Allen, unsere Visa-Karte wurde nicht akzeptiert. Bist du dir sicher …«
»Halt doch endlich mal den Mund!«
Erschrocken wich sie zurück. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie sich gefürchtet. Vor ihrem eigenen Mann. »Ich verstehe zwar nicht, was hier los ist, aber ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe.«
Da klopfte es an der Tür. Die Störung kam wie gerufen – im Moment hätte Beth selbst die Rothaarige herzlich willkommen geheißen, wenn sie nur eine Erklärung für die ganze Situation geliefert hätte. Allen sah von der Tür zu Beth; offenbar überlegte er, was er tun sollte, und konnte sich weder mit der einen noch mit der anderen Alternative anfreunden.
»Willst du nicht aufmachen?«, fragte sie.
Er fuhr sich durchs Haar. »Wir unterhalten uns doch gerade.«
»Ich würde mich tatsächlich gern unterhalten«, wandte sie ein, »aber von dir kommen leider keine Antworten.«
»Al, bist du da?« Das war eindeutig nicht die zierliche Rothaarige von vorhin, sondern eine ziemlich gereizte Männerstimme.
Seufzend ging Allen zur Tür. Sollte sie um die Ecke spähen, um zu sehen, wer es war?
»Es ist …«, raunte ihr Mann, wurde jedoch von dem anderen unterbrochen:
»Ich hab besorgt, was ich konnte, aber …« Die Stimme verstummte, dann fiel die Tür ins Schloss.
Die beiden waren auf den Flur hinausgegangen.
Ratlos ging Beth auf und ab. Allens Laptop war ausgeschaltet, daher kam sie nicht in Versuchung, seine Dateien oder vielleicht sogar seine E-Mails zu durchforsten. Im Zimmer selbst fand sich nichts Aufschlussreiches – nur die kleinere Tasche aus dem dunkelblauen Set, zu dem auch ihr Koffer gehörte, und auf dem Nachttisch einige Bücher über Pokerstrategien. Keine Hemden mit Lippenstiftspuren, keine verräterischen Hinweise auf dem Hotelnotizblock, nichts, was ihr verriet, was er vor seiner Frau verheimlichen wollte. Vor seiner Ehefrau. Sie waren schließlich gleichberechtigte Partner – wieso hatte er da Geheimnisse vor ihr?
Vor lauter Verzweiflung griff Beth zum Telefon, wählte die Rezeption an und bat, mit dem Zimmer von Everett Palmer verbunden zu werden.
»Tut mir leid, wir haben im Moment keinen Gast mit diesem Namen.«
Also hatte Allen in dieser Hinsicht die Wahrheit gesagt. Beth versuchte es mit einem anderen Kollegen, obwohl sie nicht wusste, was sie ihm sagen sollte, wenn er tatsächlich abhob. Auch er war nicht im Haus, ebenso wenig wie zwei weitere Mitarbeiter, die ihr noch einfielen. Die Dame von der Rezeption wurde allmählich misstrauisch.
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte Beth, die sich zusehends schlechter fühlte. »Offenbar habe ich mich mit den Ankunftsterminen geirrt.«
»Kein Problem«, kam die Antwort, der Tonfall verriet jedoch das Gegenteil.
Die Tür öffnete sich, und Beth legte eilig auf. Sie fühlte sich ertappt, als hätte sie in der Kirche Münzen aus dem Klingelbeutel gefischt. Allens Frage von vorhin kam ihr wieder in den Sinn: Spionierst du mir etwa nach? Genau das hatte sie mit diesem Anruf bei der Rezeption getan. Und leider waren nur neue Fragen aufgetaucht, keine Antworten.
Sie wischte sich die feuchten Hände am Rock ab. »Du wirst mir vermutlich nicht verraten, wer da an der Tür war?«
»Nur ein Kollege.«
»Ist der auch wegen der Messe hier?«, bohrte sie nach. »Allen, ich liebe dich. Das weißt du. Wir sind verheiratet, da sollten wir einander eigentlich vertrauen. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass du mich anlügst.«
Er sah sie lange an. »Okay. Du hast Recht. Ich war nicht ganz ehrlich. Ursprünglich war die Messe wirklich für diese Woche angesetzt, aber dann wurde sie um einige Monate verschoben. Ich habe Freunde in der Branche, Leute, die ich nur einmal im Jahr bei dieser Veranstaltung treffe. Ein paar von uns haben beschlossen, trotzdem herzukommen. Wir wollten ein bisschen fachsimpeln, etwas pokern. Ich hätte es dir sagen sollen, aber ich habe mich nicht getraut.«
»Weil du dir ein paar schöne Tage machen wolltest?« Sie runzelte die Stirn. »Ich hätte doch nichts dagegen gehabt. Wieso hast du mir nicht einfach die …« Sagte er denn jetzt die Wahrheit? Wenn Jessica nur eine Bekannte von einer Schwestergesellschaft war, wieso hatten sie dann im Restaurant gestritten? Beth musterte die Bücher auf dem Tisch, Ratgeber mit Pokertricks. Wenn sie finanzielle Schwierigkeiten hatten, wieso spielte er dann Poker? »Du machst mir Vorwürfe wegen der Flugkosten und bist selber nur zum Vergnügen hier. Das Hotel zahlt doch sicher nicht die Firma, oder?«
»Elisabeth, seit über zwanzig Jahren kümmere ich mich um unsere Finanzen, und es hat dir nie an etwas gefehlt, also …«
»Nie an etwas gefehlt? Mir fehlt Ehrlichkeit. Mein eigener Mann lügt mich an und macht hinter meinem Rücken Urlaub, den wir uns offenbar nicht leisten können!« Mittlerweile kochte sie vor Wut. Dramatische Szenen waren nicht ihre Art, sonst hätte sie wohl mit Sachen um sich geworfen.
Doch sie war nun man eine ruhige, pflichtbewusste Person, der man von klein auf eingebläut hatte, niemals die Beherrschung zu verlieren. »Ich gehe.« Kein sehr effektvoller Abgang, aber etwas Besseres fiel ihr auf die Schnelle nicht ein.
»Zurück nach Atlanta?«
»In ein anderes Zimmer.« Noch einen Flug konnte sie heute nicht verkraften, sie war mit den Nerven völlig am Ende. »In einem anderen Hotel. Hier bei dir bleibe ich keine Minute länger.«
»Beth, du …«
»Halt die Klappe.« Das hatte sie noch nie zu irgendjemandem gesagt. Es war befreiend und fürchterlich zugleich. »Wir können uns zu Hause aussprechen.«
»Aber wo …«
»Ich weiß nicht. Ich muss einfach …«
Da kam er auf sie zu und versuchte, sie in die Arme zu schließen. Fast hätte sie der Versuchung nachgegeben und sich an ihn geschmiegt. Aber nein, auf keinen Fall würde sie sich jetzt von ihm trösten lassen, nachdem er sie so belogen und verletzt hatte.
Sie machte sich los. »Ruf mich morgen an. Auf meinem Handy. Vielleicht können wir dann über alles reden.«
»Bitte bleib heute Nacht hier«, versuchte er sie zu überreden.
Wieso – weil er das Geld für ein zweites Zimmer sparen wollte? Zum Glück hatte sie auf Reisen immer genügend Bargeld dabei. Im Nachhinein bereute sie, dass sie dem Taxifahrer so ein hohes Trinkgeld gegeben hatte. Aber so schlimm konnten ihre Geldprobleme nun auch wieder nicht sein, wenn Allen sich eine Woche lang in Houston vergnügte und mit seinen Kumpels Karten spielte.
»Nein.« Sie ging zur Tür, und zu ihrer Überraschung versuchte er nicht, sie aufzuhalten.
Draußen im Flur atmete Beth tief durch. Für einen einzigen Nachmittag waren das reichlich viele Überraschungen gewesen.
* * *
Beth Overton erkannte sich selbst kaum wieder: Sie machte ihre Ankündigung wahr und nahm sich ein Zimmer in einem anderen Hotel, das viel netter – und viel teurer – als Allens Unterkunft war. Sie ließ sich auf die weiße Daunendecke sinken und überlegte kurz, ob sie sich wider jede Vernunft beim Zimmerservice einen Hamburger für zwanzig Dollar gönnen sollte. Stärker als diese Versuchung war nur der Wunsch, unter die Decke zu schlüpfen und die nächsten zwölf Stunden durchzuschlafen.
Verlockend, aber das würde ihr Problem nicht lösen. Sie griff zu ihrem Handy, das sie vor dem Flug heute Morgen ausgeschaltet hatte … vor einer halben Ewigkeit. Sicher hatte Allen schon etliche Nachrichten hinterlassen, um sich für sein unerklärliches Verhalten zu entschuldigen oder ihr Vorwürfe zu machen.
Nichts. Ungläubig starrte sie auf das Display, dann wählte sie die Büronummer, die sie auswendig kannte. Eine Stimme vom Band begrüßte sie, und sie ließ sich mit Ev verbinden.
»Everett Palmer«, meldete er sich.
Sie holte tief Luft. »Ev? Hier ist Beth Overton.«
»Beth«, wiederholte er argwöhnisch. »Was kann ich für dich tun, Süße?«
Mich nicht »Süße« nennen. Aber bislang hatte sie sich diese Bezeichnung immer gefallen lassen – sie lebten schließlich in den Südstaaten. »Ev, ich möchte mit dir über Allen reden.« Sie machte eine Pause, in der Hoffnung, er würde den Anfang machen.
Allen hatte geglaubt, sein ältester Freund hätte ihn verraten. Wieso bloß? Nur, weil er sich privat in Houston aufhielt? Das konnte sie nicht glauben. Es musste noch mehr dahinterstecken.
Ev seufzte. »Also, meiner Meinung nach braucht er dringend Hilfe.«
Weswegen? »Ich glaube, da hast du Recht«, erwiderte sie zögernd.
»Ich habe ihm abgeraten, an diesem Turnier teilzunehmen …«
Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. »Das Pokerturnier.« Sie hatte sich zwar gewundert, dass er Poker spielte, obwohl sie angeblich finanzielle Schwierigkeiten hatten, aber nach der Ursache für diese unerwarteten Probleme hatte sie nicht gefragt.
Beth ließ sich rücklings in die Kissen sinken. Ihr Vater hatte die Spielsucht immer als schlimme Sünde bezeichnet – aber das hatte er mit vielen Dingen getan. »Allen hat unser Geld verspielt. Beim Pokern.«
»Soll ich vorbeikommen, wenn er aus Texas zurück ist, damit wir beide mit ihm reden können? Ich habe mal gehört, dass in solchen Sachen eine direkte Konfrontation ratsam ist, aber ich bin mir nicht sicher, wie man am besten vorgeht«, sagte Ev. »Ich habe ihm schon gesagt, dass er es lassen soll. Seit ein paar höheren Einsätzen hat er Schulden bei mir. Natürlich ist er sich ganz sicher, dass er alles wieder zurückgewinnt, aber im Augenblick hat er eine ziemliche Pechsträhne.«
Und du unterstützt ihn noch, indem du ihm Geld leihst. Aber es war ungerecht, wenn sie Everett dafür Vorwürfe machte. Sie hatte schon gewusst, dass Allen gerne spielte, wenn er beruflich in Reno oder Las Vegas war – während ihrer Kreuzfahrt hatte er beim Roulette und Blackjack richtig abgeräumt –, und dass er mit seinen Freunden gerne pokerte, aber … Ev hatte von »hohen Einsätzen« gesprochen. Wie hoch denn nur?
Offenbar so hoch, dass sich diejenigen, die davon wussten, allmählich Sorgen machten. Hätte Beth als Ehefrau nicht vor allen anderen Bescheid wissen müssen? Ohne diesen spontanen Überraschungstrip hätte sie noch immer nicht den leisesten Schimmer. Allen hatte sie vollkommen zum Narren gehalten.
»Ich … werde es mir überlegen«, erwiderte Beth. »Bitte entschuldige die Störung.«
»Ich helfe gerne.« Ev klang ehrlich besorgt. »Du und Allen, ihr ward mir bei meiner Scheidung eine große Hilfe.«
Schlagartig bereute sie, dass sie so abschätzig über seine junge neue Freundin geurteilt hatte. »Vielen Dank, Everett.«