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Alison beginnt ihr letztes Schuljahr mit dem sehnlichsten Wunsch danach, die Leidenschaft ihres Lebens zu finden und ihre Unsicherheiten abzulegen. Amelia kommt neu an die Schule und scheint gezeichnet von den Narben ihrer Vergangenheit zu sein. Die harte Zeit in Pflegefamilien, sowie das Leben in Unwissenheit, was mit der eigenen Familie geschah, ließen sie eine starke Mauer um ihre Persönlichkeit errichten. Fremder könnten die Beiden sich nicht sein, doch sie verbindet dasselbe Geheimnis. Dasselbe Schicksal. Immer mehr verstrickt sich Alison in die Intrigen ihrer Familie und bringt sich damit in unaufhaltsame Schwierigkeiten. Schließlich geht es in diesem Kampf längst nicht mehr um eine einfache Familie, vielmehr um ein Medikament. Dieses soll nicht nur in den Körper, sondern auch in den Verstand eines Menschen eingreifen und damit große Mächten missbrauchen. Alison spürt am eigenen Leib, was geschehen kann, wenn Konflikte über Generationen hinweg ausgetragen und verschwiegen werden. Denn Konflikte werden größer, solange wir schweigen.
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Seitenzahl: 548
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Für meine Familie.
Vorwort
ALISON
LUCY
RILEY
ALISON
LUCY
RILEY
ALISON
RILEY
LUCY
ALISON
RILEY
ALISON
RILEY
Vor 12 Jahren
ALISON
LUCY
ALISON
RILEY
ALISON
RILEY
ALISON
Vor 15 Jahren
ALISON
LUCY
ALISON
RILEY
AMELIA
Vor 15 Jahren
ALISON
RILEY
LUCY
ALISON
LUCY
AMELIA
RILEY
AMELIA
ALISON
LUCY
ALISON
AMELIA
RILEY
LUCY
ALISON – ZUVOR
LUCY
RILEY
ALISON
LUCY
AMELIA
ALISON
Wir Menschen denken an Erfolg und begehren Anerkennung, denn Erfolg ist das Offensichtlichste, was uns auszeichnet. Es ist menschlich, Erfolg zu wollen, doch nur wenn es ein verdienter, hart erarbeiteter Erfolg ist, kann man wirklich langfristig glücklich sein. Erfolg definiert, wie mächtig eine Person zu sein scheint und wie viel Respekt sie von uns verdient hat. Doch würden wir diesen Begriff neu definieren und ihn mit unseren Gefühlen verbinden, wäre die Welt eine andere. Denn welchen Weg würde man gehen, wenn man die Wahl zwischen einem Menschen mit materiellem Erfolg hätte und einem mit unterbewusstem Erfolg?
Natürlich würden die meisten Ersteres wählen, denn sie sind zu geblendet vom täuschenden Licht, als dass sie die andere Wahl überhaupt beachten würden. Dieser unterbewusste Erfolg wird nur auf den zweiten Blick wahrgenommen und genau deshalb missachtet.
Wir haben Angst vor unserem Spiegelbild, welches uns alltäglich zeigt, dass wir nicht wirklich wissen, wer wir sind. Dass wir nicht wissen, was wir auf dieser Welt zu suchen haben und was wir erreichen wollen. Wir haben Angst vor dem Versagen, weshalb wir uns eingrenzen und dabei auch unsere Persönlichkeit gefangen halten.
Wir können tagelang von unseren Ängsten reden und dabei im Dunkeln sitzen, dabei ist das Licht direkt hinter uns. Es ist so greifbar und nah, doch unser Arm zu kurz, um es zu erreichen.
Wir leben in unseren Vorstellungen und glauben, weil wir es müssen.
Wir glauben, weil wir ohne diesen Glauben verloren wären.
Wir glauben, weil kein anderer es für uns tut und weil nur man selbst sich endgültig glücklich machen kann.
Allein deswegen ist Glückseligkeit eine individuelle Definition des Einzelnen.
Doch auf dem Weg zum glücklich sein, kommen wir alleine nicht zurecht.
Wir brauchen diese besonderen Menschen um uns herum, welche das Licht in uns erwecken.
Die uns überhaupt zeigen, wofür wir glücklich sein wollen.
Die uns immer und überall ein breites Lächeln ins Gesicht zaubern können.
Die an uns denken, obwohl wir es manchmal nicht verdient haben. Die uns zuhören, obwohl wir ziemlich oft nur über unsinniges Zeug reden.
Die uns aufbauen, obwohl wir nur das Negative sehen.
Die da sind, obwohl sie manchmal überflüssig zu sein scheinen.
All diese Menschen glauben an uns, wollen uns glücklich sehen und lassen uns die Unzufriedenheit an der eigenen Persönlichkeit vergessen.
Es gibt so viel Positives auf der Welt, das von Pessimisten ignoriert wird. Genauso wie wir Menschen uns oft auch gegenseitig ignorieren.
Wir achten nicht aufeinander. Wir arbeiten gegeneinander, konkurrieren statt zu kooperieren.
Wir schweigen uns an, anstatt diesen unnötigen Konflikt mit kleinen, schmerzlosen Worten zu lösen. Auch davor haben wir ganz einfach nur Angst.
Denn mit Worten kann man einem Menschen die schlimmsten und unheilbarsten Schmerzen zufügen.
Und je länger wir über unsere Konflikte schweigen, desto wichtiger werden sie. Denn solange wir schweigen, raubt jeder Moment des Schweigens Lebenszeit und Glückseligkeit.
Es gibt so viele Realitäten, wie es Menschen auf der Welt gibt.
Jeder nimmt seine Umwelt anders wahr und sieht sie aus seiner Perspektive, weil jeder von seinen eigenen Erfahrungen geprägt ist. Doch was viele von uns nicht wissen ist, dass wir diese Perspektive selbst wählen können, indem wir darauf achten, was wir in unser Unterbewusstsein lassen. Indem wir darauf achten, was für Medien wir konsumieren, mit welchen Menschen oder auch Dingen wir unsere Zeit verbringen und vor allem auch, wie wir unsere Mitmenschen und ihre Perspektive des Lebens verstehen.
Ich würde mich als ein durchschnittliches Mädchen dieser Gesellschaft beschreiben. Ich glaube, wir alle streben danach, etwas Besonderes in dieser Welt zu hinterlassen, doch im Grunde genommen vergleichen wir uns und verstecken unsere Persönlichkeiten voreinander, weil wir von den Zwängen der Gesellschaft unterdrückt werden. Vieles was du tust, was nicht der Norm entspricht, wird nämlich ständig als belustigend dargestellt und somit von Beginn an bereits verurteilt.
Hinzu kommt unsere Selbstwahrnehmung, welche oftmals von fehlender Akzeptanz und der Angst vor Intoleranz anderer Menschen geprägt ist. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum ich mich ziemlich verloren in meinem Leben fühle.
Ich lebe mit meiner alleinerziehenden Mutter und mache dieses Jahr meinen Abschluss am Gymnasium. Trotzdem fühle ich mich nicht bereit dafür, die Schule zu verlassen. Durch die Vielfalt an Wegen, die ich einschlagen kann, empfinde ich Überforderung und Verunsicherung. Schließlich kann mir danach niemand mehr versichern, dass der Weg den ich einschlage, richtig ist. Ich schätze das nennt sich Erwachsen werden und je schwerwiegender die Entscheidungen sind, die ich treffen muss, desto mehr wächst man an ihnen.
Ich bin nicht gemacht für Risiken.
Ich habe keine konkreten Ziele, keine Leidenschaft, für die ich kämpfen möchte und genau das beschäftigt mich so sehr. Mein Kopf ist leer, weil ich keine Inspiration um mich herum finde.
Hier sind jeden Tag dieselben Menschen, die sich nicht voneinander unterscheiden, weil sie nicht ausgegrenzt werden wollen. Genauso auch ich.
Vielleicht wird mir dieses Jahr noch zeigen, wer ich bin und was ich kann, doch an sich bin ich ein recht zweifelnder Mensch, welcher viele Dinge hinterfragt, bevor er sie akzeptieren kann.
Mein letztes Schuljahr beginnt heute und ich fühle mich, als hätten sich alle um mich herum weiterentwickelt - außer mir.
Auf meinem Weg in die Schule recken sich die hohen Altbauhäuser Münchens in den Himmel.
Ich betrete ein gut besuchtes Café am Straßeneck und bestelle mir einen Latte Macchiato, in der Hoffnung, meine Nervosität etwas zu senken.
Für mich waren diese Sommerferien eher ein Schritt zurück, denn mein Freund Charlie hat sich von mir getrennt und war nicht einmal dazu in der Lage, mir einen Grund dafür zu nennen.
Jetzt kommen mir diese zwei Jahre Beziehung wie die schönste und gleichzeitig verschwendetste Zeit in meinem Leben vor.
Heute werde ich ihn sehen und ehrlich gesagt, weiß ich überhaupt nicht, wie ich ihm gegenübertreten soll, ohne unsicher zu wirken. Dass er mir das Herz gebrochen hat ist kein Geheimnis, doch der Gedanke, ihm in aller Öffentlichkeit in die Augen blicken zu müssen, schnürt meine Kehle zu.
Dafür habe ich mich viel zu sehr daran gewöhnt, nur mit ihm an meiner Seite diesen tratschenden und gehässigen Pausenhof zu betreten.
Inzwischen laufe ich wieder über die Straße und nippe dabei an dem heißen Kaffeebecher. Erste Sonnenstrahlen lassen sich hinter den Wolken blicken, als ich schließlich den Pausenhof meiner Schule betrete.
Aus Gewohnheiten entrissen zu werden, ist immer schwierig, weshalb man mir meine Nervosität sicherlich schon von Weitem anmerkt. Ich versuche, meine Gedanken an Charlie beiseite zu schieben und schaue mich um, wobei mein Haar im Wind flattern. Die Schüler um mich herum unterhalten sich angeregt in Gruppen, wobei die einen den Schulstart zu genießen scheinen, während die anderen nur müde zu Boden blicken. Die Demotivation in den Gesichtern der einen überwiegt jedoch eindeutig die Begeisterung in den anderen.
Mit einem kurzen Blick auf meine Mitschüler sehe ich, wer die neuesten Sneakers und die wohl teuerste Uhr trägt, wodurch sie sich einen Platz in der Elite unserer Schule erhoffen.
Schließlich hat man nur heute die Möglichkeit, sich in diese Gruppe Abschaum von Leuten einzukaufen. Ich hätte die Mittel dazu auch, doch dafür ist mir der Preis zu hoch.
Der Preis, sich selbst zu verkaufen.
Doch es gibt Menschen, die allein deswegen an diese Schule kommen.
Dadurch kommen sie immerhin auf die angesehensten Partys und an die relevantesten Kontakte der Stadt.
Ich frage mich nur, wie den Menschen ihre Integrität und Authentizität so unwichtig sein kann, weil ich bereits auf die harte Tour lernen musste, wie limitiert und scheinheilig dieser Prunk eigentlich ist. Doch ich halte es den Menschen nicht vor.
Jeder will einen Platz an der Spitze haben und relevant sein.
Plötzlich bleibe ich wie angewurzelt stehen und presse meine Lippen aufeinander. Auf der anderen Seite des Schulhofes sehe ich Charlie mit einer Gruppe von Leuten stehen, welche unfassbar falsche Prinzipien verfolgen. Leute, die dich nur ausnutzen und anlügen, bei denen das Geld und das Ansehen im Vordergrund stehen. Die Elite, wie sie nun mal von vielen hier genannt wird. Wieso steht Charlie bei ihnen?
Ich balle meine Hände zu Fäusten und merke, wie Ärger in mir aufsteigt, weil ich mich beobachtet und den Menschen untergeordnet fühle. Es ist als würden mich ihre Blicke löchern. Als würde jeder diesen Verrat sehen können.
Ich kenne die Taten und Fassaden dieser Menschen. Eine von ihnen viel zu gut, wenn es nach mir geht.
Elena Mancheser.
Auf den ersten Blick das schönste und angesehenste Mädchen der Schule. Auf den zweiten, ein Mensch, der dich nicht akzeptiert und dich mit all deinen Fehlern demütigt, wo immer er kann. Auch ich wollte mir diesen Platz an ihrer Seite bereits erkämpfen. Tatsächlich war ich sogar jahrelang an ihrer Seite und ließ auch die materiellen Dinge mein Leben dominieren.
Irgendwann erkannte sie, wie schwach ich hinter der Fassade meines Geldes bin. Es war ihre Chance mir zu zeigen, dass sie mächtiger ist. Manipulativer.
Sie sucht sich immer die Schwächeren und manipuliert diese, damit sie alles tun, was sie will. Es ist ein krankes System, bei dem ich inzwischen zu den Untergeordneten gehöre. Charlie weiß das genau, aber trotzdem steht er direkt an ihrer Seite und lächelt sie mit seinen großen Augen an.
Jetzt bemerkt Charlie mich und unsere Blicke treffen sich für einen Moment. Seine Augen mustern mich, während ich versuche, seinem Blick standzuhalten. Sofort erinnere ich mich an die kräftige Bernsteinfarbe seiner Augen, welche mir viele Male eine Gänsehaut auf die Haut gezaubert hatte. Für einen kurzen Moment sehe ich Sehnsucht in ihnen aufblitzen, welche jedoch gleich wieder verfliegt, als er plötzlich einen Arm um Elena legt. Ich zucke zusammen und drehe mich weg.
Wieder spüre ich die Blicke der Schüler um mich herum.
Wie kann ein Mensch sich in so kurzer Zeit verändern und man verliert sich trotzdem in seinen Augen, als wären sie dieselben?
Diese doch so unbedeutende Geste von ihm, hat mir nur gezeigt, dass ich am liebsten direkt wieder nach Hause gehen würde. Unruhig zupfe ich an meinem karierten Hemd herum.
Ich versuche mich abzulenken, indem ich meine Haare zusammenbinde, als mich plötzlich jemand von hinten anspringt.
„Denke nicht über ihn nach, er hat es nicht verdient!“, ruft Coco und zwingt mich, sie zu umarmen.
Ich atme ihren vertrauten Duft ein und freue mich einfach nur, endlich meine beste Freundin in den Armen zu halten.
„Erzähl doch, wie geht es dir? Ich habe dich vermisst!“, höre ich meine Stimme schwafeln, während ich mich aus der Umarmung löse.
Coco war über die ganzen Ferien nicht zu Hause, weshalb sie mir in dieser Zeit nicht persönlich beistehen konnte. Sie war mit ihrem Freund Harley verreist. Jetzt sehe ich, wie ihre hellgrünen Augen mich aufgeregt anfunkeln.
„Ganz gut, die Ferien waren wirklich unfassbar! Ich habe nur nicht so wirklich Lust auf Schule. Tut mir leid, dass ich nicht da war.“
Sie drückt mich noch einmal an sich. Coco ist ein ziemlich herzlicher Mensch. Ich kenne niemanden, der so hilfsbereit ist und sich so für andere Menschen einsetzt. Ich sehe nun die braunen Locken von Lucy in der Menge, woraufhin ich sie zu uns winke.
Plötzlich entdecken wir zwei Schüler, die nicht so wirklich in das Schema unserer Schule passen. Den Jungen und das Mädchen haben wir noch nie an unserer Schule gesehen, obwohl sie in unserem Alter zu sein scheinen. Das Mädchen hat lange schwarze Haare und einen blassen Teint, welcher einem sofort ins Auge sticht. Wahrscheinlich vor allem mir, weil ich auch eine sehr bleiche Haut habe. Der Junge hat dunkelbraune Locken und einige Tätowierungen auf seinen Unterarmen.
Beide sind in schwarz gekleidet. Sie reden mit niemandem, flüstern sich nur ab und zu etwas zu und wirken zurückhaltend.
Der Junge ist unauffällig und steht im Schatten des Mädchens, welches wunderschön ist.
Inzwischen hat Lucy unsere Blicke bemerkt.
„Die beiden sind neu. Haben in der 12. Klasse die Schule gewechselt. Sie heißen Amelia und Riley“, meint sie.
Bei ihren Namen läuft mir ein Schauer über den Rücken.
„Wieso sollte man in der 12. Klasse die Schule wechseln?“, gebe ich zweifelnd zu bedenken.
„Sie sind vom Brokenfeld Gymnasium.“
Nach diesen Worten breitet sich Stille zwischen uns aus. Wir alle wissen, dass fast alle, die auf diese Schule gehen, eine schlechte Vergangenheit haben.
„Wer weiß, was sie vorhaben. Lasst sie einfach in Ruhe“, meint Lucy leise.
Die Brokenfeld Schule liegt in der Nähe von unserer, ist jedoch das genaue Gegenteil. Die Asbury ist eine Privatschule mit ziemlich hohem Niveau und eigentlich im Allgemeinen mit anständigen Menschen. An der Brokenfeld geht es jedoch echt gewalttätig und gefährlich zu. Hierbei wird mir klar, dass ich schon Vorurteile gegenüber diesen Menschen habe, weil es mir nun mal so beigebracht wurde. Wir wären viel stärker, wenn wir nicht so gegeneinander arbeiten würden, doch wir denken wohl nicht einmal an diese Möglichkeit. Wir stempeln die Menschen sofort ab, obwohl wir ihre Geschichten nicht kennen und genau das widert mich an den meisten Menschen auf dieser Schule an. Dabei bemerke ich immer wieder, wie auch ich mich so benehme und mich wohl für etwas Besseres halte, was eigentlich überhaupt nicht meine Absicht ist.
Trotzdem stellt sich mir die Frage, wie sie es geschafft haben, in der 12. Klasse die Schule zu wechseln. Etwas an ihnen kommt mir vertraut vor und genau das macht mir Angst. Ich spüre etwas Dunkles an ihnen und vor allem spüre ich, dass sie Veränderungen mitgebracht haben.
Die 12 Klasse. Nach diesem Jahr wird sich mein ganzes Leben verändern. Hoffentlich werde ich Medizin studieren und ein erfolgreiches Leben vor mir haben. Ich bin ein ruhiger, introvertierter Mensch und konzentriere mich eher auf meine Persönlichkeit und meine Entwicklung, als auf die Probleme der Anderen. Alison und Coco haben ziemlich andere Interessen und auch Zielvorstellungen. Deswegen fühle ich mich ihnen auch nicht allzu nah. Trotzdem sind sie meine einzigen Freunde. Ansonsten kann ich niemanden an mich heranlassen und die beiden kenne ich einfach lange genug. Es ist kompliziert, doch ich komme immer wieder auf sie zurück.
Sie sind an meiner Seite, wenn ich sie brauche.
Jetzt sehe ich Alisons fragendes Gesicht vor mir. Sie ist wirklich schön, doch viel zu nervös, um es sich zum Vorteil machen zu können. Stattdessen macht sie sich durch diese offene Unsicherheit angreifbar. Angreifbar für jedes noch so hässliche Wesen, mit den egoistischsten Absichten.
Schließlich hat jeder Mensch diese Unsicherheiten, doch jeder hat seine individuelle Art, mit ihnen umzugehen.
Viel zu tief in meinen Gedanken versunken, habe ich nicht bemerkt, wie sie mich etwas gefragt hat. Ich schüttle den Kopf und rücke meine runde Brille zurecht. „Sorry, was hast du gesagt?“, frage ich etwas verwirrt.
Alison verdreht gespielt die Augen.
„Woher weißt du das alles … also über die beiden?“
Sie deutet mit dem Kopf leicht in die Richtung von Amelia und Riley. Erleichtert atme ich aus.
„Ach das. Ihr wisst doch, dass meine Mutter hier Lehrerin ist.
Man kann es kaum glauben, doch das kann auch ein Vorteil sein. Sie hat mir von den beiden Neuen erzählt. Die haben wahrscheinlich Einiges hinter sich. Meine Mutter hat nämlich nicht sehr begeistert gewirkt.“
Nachdem ich die Worte ausgesprochen habe, fällt mir ein, dass sie nie sonderlich begeistert wirkt. Vorsichtig betrachte ich Amelia und Riley wieder. Irgendwas an ihnen kommt mir besonders vor. Natürlich würde ich diesen Gedanken vor Alison und Coco nicht laut aussprechen.
„Was anderes habe ich auch nicht erwartet, sie sind von der Brokenfeld. Auf dieser Schule haben die meisten schon eine komplizierte und kriminelle Vergangenheit“, meint Alison nachdenklich.
Nach dieser Bemerkung schnaubt Coco leicht verärgert und schiebt sich eine ihrer rötlichen Haarsträhnen hinters Ohr. In ihren Augen schimmert die Unsicherheit. Ihr Freund geht auch auf diese Schule, weswegen die Vorurteile für sie nicht stimmen. Außerdem macht sich Coco im Allgemeinen nichts aus der Meinungen Anderer. Sie muss etwas mit eigenen Augen gesehen haben, um darüber urteilen zu können. Das ist nur richtig so, doch schaffen das nur die Wenigsten. Viele behaupten es und belügen sich selbst, aber eigentlich bildet sich jeder Mensch eine Meinung über jemanden, bevor er ihn richtig kennengelernt hat. So sind wir Menschen nun mal.
„Wie auch immer, wir können ihnen ja eine Chance geben.
Lasst uns das Thema wechseln. Alison, wie geht’s dir?“, fragt Coco und schon bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hat, wird die Stimmung angespannter.
Alison tritt unsicher von einem Fuß auf den anderen. Sie schaut zu Boden und ich sehe, wie sie den Kaffeebecher in ihren Händen leicht zusammendrückt.
„Es tut weh“, meint sie nach einer Weile.
Allein in diesen drei Worten kann man so viel Schmerz in ihrer Stimme wahrnehmen.
Liebeskummer zerstört Menschen. Meiner Meinung nach haben Menschen vor allem in unserem Alter das nicht nötig.
Liebe kann ein Mensch auch nach seinem Abschluss finden.
Jetzt sollte man für eine sichere Zukunft sorgen, denn jeder weiß doch, dass die wenigsten Beziehungen aus der Schulzeit für immer halten. Das ist der Grund, warum ich mit meinen 18 Jahren noch keinen Freund hatte. Einige Male war ich sogar kurz davor, doch mein Verstand hat mich davon abgehalten.
Coco versteht es zwar bis heute nicht, doch das ist mir egal.
Mir ist klar, dass meine Einstellung ziemlich untypisch ist.
Allgemein fühle ich mich in vielen Situationen ziemlich unwohl, weil ich oft anders über bestimmte Dinge denke, als andere in meinem Alter. Vielleicht ist das auch der Grund, warum Alison und Coco meine einzigen Freunde sind. Mir persönlich macht das nichts aus, doch meine Mutter denkt oft, dass ich einsam bin. Wahrscheinlich hat sie noch nicht akzeptiert, dass ich etwas reifer bin als andere in meinem Alter.
Mag sein, dass es sich etwas egoistisch anhört, doch das ist einfach eine Tatsache. Ich lerne lieber, als auf irgendwelche Partys zu gehen, Alkohol zu trinken oder irgendwelche Drogen zu nehmen. Für sehr viele klingt das verrückt.
Gerade macht mir Coco ein Kompliment über mein Aussehen.
Wahrscheinlich möchte sie das Gespräch in eine positivere Richtung lenken. Verlegen schaue ich zu Boden. Mein grauer Pullover ist in meinen schwarzen Rock gestopft. Darunter trage ich eine leicht durchsichtige schwarze Strumpfhose und meine schwarzen Doc Martens. Ich greife nach meiner silbernen Kette, die in den Sonnenstrahlen glänzt.
Gedanken können einen verrückt machen. Sie können dich manipulieren und dir die Wahrheit verschweigen, oder sie können direkt und ehrlich zu dir sein. Das schlimmste daran ist:
Du weißt nie, ob deine Gedanken gerade ehrlich zu dir sind, oder sie dich belügen.
Der erste Schultag ist vorbei. Den ganzen Tag über bin ich nicht von Amelias Seite gewichen. Wirklich alle haben uns angestarrt, als wären wir nicht von dieser Welt. Die wenigsten wissen, wer wir sind und keiner weiß, wer wir wirklich sind.
Inzwischen leben wir beide hinter einer Fassade, die all den Schmerz versteckt, der uns ausmacht.
Jetzt schaue ich in Amelias saphirblaue Augen und sehe nichts als Enttäuschung. Warum auch immer sie so sehr auf diese Schule wollte, sie wurde enttäuscht.
Amelia lebt in ihrer eigenen Welt. Sie trifft Entscheidungen, die nicht einmal ich verstehe und dafür liebe ich sie. Jahrelang schon lebe ich in ihrem Schatten. Sie ist meine Prinzessin und ich werde sie bis zu meinem letzten Atemzug beschützen. So kitschig es sich auch anhören mag, so fühle ich mich nun mal in ihrer Nähe.
„Diese Schule ist scheiße“, sind ihre einzigen Worte, die sie mit eiskalter Stimme ausspricht.
In ihrem Gesichtsausdruck spiegelt sich leichter Zorn.
Langsam streiche ich ihr über die Schulter.
„Das war nur der erste Tag. Du wolltest doch so dringend auf diese Schule, trotz der Tatsache, dass es sowieso unser letztes Jahr ist“, sage ich, in der Hoffnung, sie ein wenig trösten zu können.
„Nein, diese Menschen. Ich sah es in ihren verächtlichen Blicken; sie haben nicht mal versucht uns zu akzeptieren.“
Ich seufze. „Beruhige dich, so sind Menschen nun mal. In einigen Wochen werden sie uns überhaupt nicht mehr wahrnehmen und du wolltest doch sowieso keine Freundschaften schließen.“
Amelia schaut zu Boden.
„Du hast recht, nach diesem Jahr sind wir frei.“
Ich drücke sie zärtlich an mich und streiche durch ihr schwarzes Haar. Es fühlt sich an, als würde sie unzählige Dinge vor mir verheimlichen.
„Was hast du vor? Wieso diese Schule?“, hauche ich, weil mir diese Fragen so auf der Zunge brennen.
Natürlich hätte ich sie zuvor bereits fragen sollen. Doch wie sollte ich das, wenn es mir vor der Antwort graute?
Ruckartig löst sich Amelia von mir. „Du wirst das nicht verstehen“, meint sie unsicher.
Ich nehme ihre Hand.
„Bestimmt werde ich das nicht, doch du weißt, dass ich immer bei dir sein werde. Auch deine schlechten Entscheidungen sind deine Entscheidungen.“
Jetzt schauen mich ihre blauen Augen liebevoll an. Ich bin so unfassbar verliebt in dieses Mädchen. Allein ihr Anblick raubt mir den Atem und lässt alles in mir gefrieren. Jede ihrer Berührungen erweckt die Sehnsucht nach mehr von ihr.
Langsam nähert sie sich mir und gibt mir einen zärtlichen Kuss.
Ihr Atem streift meine Lippen und sofort spüre ich mein Verlangen nach dieser Frau. Meine Hände umfassen ihren Körper und ihre zarten Lippen sind das Einzige, worauf ich mich fokussieren kann. Sie kann hinter ihrer kalten Aura so leidenschaftlich sein, doch ich bin der Einzige, der das jemals zu Gesicht bekommen wird.
Nach einer Weile lösen wir uns voneinander. Ich merke, wie sie wieder einmal erfolgreich meine Aufmerksamkeit getrübt und meine Wahrnehmung vom Wesentlichen abgelenkt hat.
Deshalb hebe ich nun meine Augenbrauen und durchbohre sie mit meinem fragenden Blick.
„Es ist das Mädchen“, flüstert sie schließlich mit zitternder Stimme.
Ich seufze etwas genervt. Jetzt wird mir so einiges klar.
„Das Thema hatten wir doch schon, Schatz.“
Eine Zeit lang ist es still. Meine Gedanken schweifen zum letzten Jahr, wo wir noch auf der Brokenfeld waren und Amelia anfing, das Mädchen zu sehen. Sie war verwirrt und fragte in etwa jeden Schüler um sich herum, ob sie auch sehen können, was sie sieht. Von diesem Moment an, wurde sie endgültig als verrückt betitelt und nur noch belächelt. Ich denke an meine Gefühle zurück, welche mich vor Wut benebelten. Keiner soll es nur wagen, einen bösen Blick in die Richtung meines Mädchens zu werfen. Es folgten viele Auseinandersetzungen und schließlich meine Suspension. Um auf diese Privatschule zu kommen, mussten wir unseren Charme monatelang vor der Direktorin zum Einsatz bringen. Ich hatte schließlich aufgehört mitzuzählen, wie oft wir beteuerten, unsere zweite Chance besser zu nutzen. Schließlich willigte sie ein.
„Riley, ich sehe sie. Es ist so echt. In vielerlei Hinsicht kann man mich als verrückt bezeichnen, doch dieses Mädchen redet wirklich mit mir. Sie ist meine einzige Freundin Riley.“
In ihrer Stimme liegt so viel Ehrlichkeit, doch vor allem auch Schmerz, weil ich ihr nicht glaube. Dieses Mädchen in ihren Gedanken, welches meine Amelia zerstört und manipuliert, ist bis heute der einzige wunde Punkt in unserer Beziehung. Sie sieht dieses Mädchen, das kein anderer sehen kann. Ich weiß nicht, warum Amelia sich von ihren Gedanken so führen lässt, doch ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte. Das Mädchen ist überall, doch eigentlich nur in Amelias Kopf.
„Hat sie dir gesagt, dass du auf diese Schule gehen sollst?“, frage ich und versuche dabei meine Stimme ruhig zu halten.
Wieder ist es eine Zeit still. Die Stimmung zwischen uns war lange nicht mehr so angespannt. Eigentlich ergänzen wir beide uns und streiten somit auch nie. Wir wissen, dass wir zusammengehören. In der Vergangenheit haben wir schon so verdammt viel überstanden.
„Ja.“ Amelia holt tief Luft. „Sie hat mich gebeten, mein letztes Jahr auf der Asbury zu machen.“
In diesem Moment könnte ich vor Wut eine Wand einschlagen.
Amelia hat so viele Dinge im Kopf, die sie für sich behält und oft handelt sie deswegen auch enorm egoistisch.
„Du denkst immer nur an dich. Das ist für mich kein Problem, doch du konntest es mir wenigstens sagen. Amelia ich bin nicht so schlau wie du und wir haben es vielleicht mit nicht sehr legalen Mitteln auf die Schule geschafft, doch ich werde dieses Jahr nicht schaffen“, sage ich etwas verbitterter und lauter, als ich es will.
Amelias Augen werden glasig.
„Ich dachte, ich tue das Richtige und ich werde dir auch durch dieses Jahr helfen. Vielleicht beeinflusst sie mich, weil ich mich so sehr nach Antworten zu meiner Familiengeschichte sehne.
Weil ich mich so sehr danach sehne, zu wissen, wer ich bin. Tut mir leid“, murmelt sie und wischt sich eine Träne von der Wange.
Etwas erschrocken starre ich sie an. Amelia entschuldigt sich selten für etwas. Sie steht immer zu allen Dingen, die sie tut. Es muss ihr wirklich ernst sein.
„Hey, ich wollte dich nicht so anfahren. Du weißt, dass ich für dich alles machen würde, doch dieses Mädchen zerstört Tag für Tag dein Leben. Unser Leben ist schon schwer genug und sie macht zudem noch irgendwas mit dir. Du benimmst dich so anders, wenn du von ihr sprichst.“
Ich lege langsam einen Arm um ihre Schulter und drücke sie an mich. Zwar machen mir Amelias Gedanken und Vorhaben oft Angst, doch so ist sie nun mal. Sie will um jeden Preis, allen Sachen auf den Grund gehen. Sie weiß selbst nicht, was es mit diesem Mädchen auf sich hat und das macht sie so unfassbar verrückt. Doch manchmal ist der Preis einfach zu hoch und Amelia zu mutig.
„Ich liebe dich“, flüstere ich seufzend.
„Ich liebe dich mehr“, erwidert sie.
„Es tut mir so leid, dass du mich liebst“, fügt sie nach einer Weile hinzu.
Ich atme die Luft des späten Nachmittags ein und betrachte die Sonne, die allmählich hinter den Bäumen verschwindet. Wir haben uns entschieden, in den Schlosspark zu gehen, um möglicherweise die Stimmung etwas zu heben. Unsere Geschichte fand ihren Ursprung hier, weshalb der Park zu unserem Rückzugsort wurde.
Plötzlich bemerke ich, dass Amelia stehengeblieben ist und nun mit leuchtenden Augen auf eine Wiese starrt. Mir ist direkt bewusst, wen sie dort sieht.
In ihrem Blick liegt Begeisterung.
„Riley, sie ist so schön“, haucht sie fasziniert und drückt meine Hand fester. Sie scheint, wie in einer Vision gefangen zu sein.
„Das glaub ich dir“, sage ich mit überzeugter Stimme, sehe ihr aber nicht in die Augen.
Auf der Wiese steht wie immer kein Mädchen. Trotzdem habe ich keine Lust, mit ihr darüber zu sprechen.
„Beschreibe sie mir.“
Amelia seufzt. „Ich weiß, dass du mir nicht glaubst“, sagt sie traurig, lässt meine Hand jedoch nicht los.
Ihr Gesicht ist wie erstarrt vor Faszination. Man könnte meinen, sie ist auf Drogen oder psychisch labil, wenn man Amelia nicht kennt. So einen skurrilen Eindruck kann sie auf andere Menschen machen, doch nicht auf mich.
Mir ist inzwischen bekannt, dass dieses Mädchen eine Kunst in der Komplexität sieht, wo andere rein gar nichts erkennen können. Sie schafft sich ihre eigenen Erklärungen, um diese Welt zu verstehen. Sie hat Gedankenvorgänge, die andere als absurd bezeichnen würden und ihren eigenen Kopf. Ich streiche eine schwarze Haarsträhne aus ihrem Gesicht und nicke ihr aufmunternd zu.
„Sie ist hübsch, wie schon gesagt. Sie hat langes, dunkles Haar und ein altmodisches Kleid an. Sie ist vielleicht etwas jünger als wir und sie sieht ziemlich wohlhabend und elegant aus“, meint sie.
Etwas an der Beschreibung erinnert mich an Amelia selbst.
„Das Mädchen wirkt glücklich, doch ein langer Schatten verfolgt sie. Ihr Mund lächelt, doch ihre Augen spiegeln Traurigkeit wider“, fügt Amelia hinzu.
Sie beschreibt das Mädchen tatsächlich, als würde sie es wirklich sehen können.
„Ich glaube sie lebt hinter einer Fassade, die ihre ganzen Lügen versteckt. Ja, sie lebt mit vielen Lügen und schweigt über das Schlechte in dieser Welt.“
Ich lege einen Arm um ihre Schulter. „Findest du nicht, dass du vielleicht, wie soll ich sagen, das Mädchen bist?“, frage ich vorsichtig, weil ich etwas Angst vor ihrer Reaktion habe.
Lange Zeit schweigen wir. Bis mich diese Stille erdrückt.
„Ja, sie erinnert mich auch an mich. Doch ich bin nicht sie.
Warum besteht alles nur aus diesen verstrickten Rätseln?“, flüstert sie nachdenklich.
Amelia ist ein Geheimnis, welches ich niemals lüften werde.
Wir liegen nun im Gras und schauen in den Himmel. Ich halte ihre Hand, während sie mir durch meine Haare streicht.
„Wie geht es deiner Mutter? Will sie noch immer nichts von mir hören?“, fragt sie unsicher.
Ich seufze. Darüber möchte ich jetzt am Wenigsten mit ihr reden, selbst wenn sie den Themenwechsel gut meint.
„Deine Haare sind so unfassbar schön“, flüstere ich und küsse ihren Nacken.
„Lenke nicht vom Thema ab“, sagt sie lächelnd.
Dieses Lächeln und diese Grübchen sehe ich viel zu selten. Ich lasse mir lange Zeit für meine Antwort. Ehrlich gesagt weiß ich überhaupt nicht, was ich antworten soll.
„Meiner Mutter geht es den Umständen entsprechend. Wie immer. Wir reden nicht miteinander und schon gar nicht über dich. Sie weiß, dass es dir leidtut.“
Ich streiche über ihre Wange, doch sie weicht meinem Blick nur aus.
„Sie war wie eine Mutter für mich.“
„Ich weiß. Gott sei Dank war sie es nicht wirklich“, meine ich lachend und küsse sie leidenschaftlich.
Wieder lächelt sie.
„Okay, wir wechseln das Thema“, sagt sie überzeugt und ich atme erleichtert aus. Meine Mutter ist ein schweres Thema bei mir. Vor allem, weil sie nach einem gewissen Vorfall, nichts mehr von Amelia hören will.
Nachdem meine Mutter Amelia aufgenommen hatte, wurde sie wie eine Tochter für sie, die sie schon immer haben wollte.
Soweit lief alles gut in der ersten Zeit. Bis ihr unfähiger Sohn sich in ihre perfekte Tochter verliebte.
Das war der Untergang für sie. Schließlich sind wir in ihren Augen Geschwister.
„Diese Schule sieht genau so aus, wie in meinen Gedanken“, flüstert Amelia jetzt. Um das Thema zu wechseln?
Manchmal sagt Amelia etwas und du weißt, du darfst nicht nachfragen. Oft kann sie das, was sie sagt, selbst nicht erklären.
Sie spricht einfach ihre ersten Gedanken aus. Eigentlich tut sie das auch nur vor mir. Sie spricht allgemein nicht viel mit anderen Menschen, weil sie nun mal anders ist. Weil andere Menschen sie für verrückt halten würden. Amelia lebt viel zu oft in ihrer Traumwelt.
Plötzlich weiten sich Amelias Augen und in ihrem Blick liegt so viel Dankbarkeit und Liebe, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Es ist, als könnte sie meine Gedanken lesen.
„Danke für alles“, flüstert sie und sie ist so nah, dass ich ihren Atem spüre.
„Du weißt, dass ich dich liebe“, erwidere ich und küsse sie.
Dieses Mädchen ist alles für mich. Ich liebe jeden Millimeter ihres Körpers und wie sich ihre Haut anfühlt. Ohne sie an meiner Seite würde ich zusammenbrechen. Sie gibt mir Kraft und das Gefühl, ein guter Mensch zu sein. Sie strahlt eine gewisse Ruhe aus, die sich viele Menschen als Vorbild nehmen sollten.
Nach kurzer Zeit schlafen wir im Gras ein. Man könnte meinen, wir sind irgendwelche Verrückten, weil für die Gesellschaft unser Verhalten nicht als Norm gilt, doch nach all dem was wir durchgemacht haben, ist im Gras einschlafen das Mindeste.
Coco und ich laufen den Flur entlang Richtung Aufenthaltsraum. Ein viel zu langer Schultag liegt hinter uns, welcher meiner Meinung nach möglichst schnell enden soll. Ich betrachte meine beste Freundin von der Seite, während sie strahlend von Harley erzählt. Ich kenne keinen Menschen, der so viel Positives ausstrahlt und so ein breites Lächeln hat. Sie gleicht meinen Pessimismus oft aus und genau das hat mich schon viele Male vor dem Abgrund gerettet. Doch der übertriebene Ausdruck ihrer Gefühle gilt auch in die negative Richtung, wenn sie stark gereizt ist oder jemanden beschützen möchte.
„Hallo, Erde an Alison!“
Meine beste Freundin wedelt mit ihrer Hand vor meinem Gesicht herum. Ehrlich gesagt, sieht das ziemlich albern aus, doch ich bin froh, dass sie meine trüben Gedanken verdrängt.
Blinzelnd greife ich nach ihrem Arm und wir fangen an zu lachen.
„Du kannst auch einfach sagen, dass dich meine Schwärmereien von Harley weder beeindrucken, noch interessieren. Schließlich verstehe ich das, doch es ist äußerst unhöflich, mich nur zu ignorieren“, meint sie mit einer gespielt genervten Stimme und verschränkt die Arme vor der Brust.
Auf ihre Worte lache ich wieder nur prustend los und entschuldige mich für meine geistige Abwesenheit.
„Erzähl ruhig weiter, ich freue mich doch für dich“, sage ich etwas ernster, als wir den Aufenthaltsraum unserer Schule betreten, welcher vom Gemurmel der anderen Schüler umhüllt ist.
Der stechende Geruch von Zitronenreiniger steigt mir sofort in die Nase und die ordentlich aufgereihten Tische und Stühle vermitteln eine viel zu sterile Atmosphäre für einen Aufenthaltsraum. Mich würde nicht wundern, wenn sie mit dieser Einrichtung den Leistungsdruck an unserer Schule unterstreichen wollten.
Wir erblicken Lucy alleine in einer hinteren Ecke des Raumes, wo sie auf uns wartet. Ihre dunklen Haare hat sie jetzt, im Gegensatz zu heute Morgen, zusammengebunden und ihr Gesicht wirkt etwas müde. Als auch sie uns näherkommen sieht, lächelt sie jedoch und schaut von den Papieren vor ihr hoch.
„Und, wie war euer erster Schultag?“, fragt sie, während wir uns neben ihr niederlassen.
„Eigentlich gut, doch ich bin etwas überfordert, weil es jetzt real wird, dass wir dieses Jahr schon unseren Abschluss haben werden“, meine ich und lehne mich seufzend zurück.
„Vorausgesetzt wir schaffen den Abschluss überhaupt“, fügt Coco mit einem ironischen Lächeln hinzu.
Ich verdrehe genervt die Augen und werfe ihr einen zuversichtlichen Blick zu. ich weiß von ihrer Sorge, dieses Jahr durchzufallen, doch eigentlich denkt sie jedes Jahr, dass sie zu schlecht sein wird und im Endeffekt schafft sie es trotzdem irgendwie. Man könnte auch meinen, sie ist selbst schuld, wenn man an unsere Partynächte in der Vergangenheit denkt.
„Aber später treffe ich mich noch mit Harley, somit hat der Tag auch positive Seiten“, meint sie aufgeregt, was mich zum Lächeln bringt. Sie hat ihr Glück wirklich verdient.
„Du wunderst dich, dass du so schlecht in der Schule bist, aber verbringst deine Zeit nur mit diesem Jungen, obwohl er auch noch von der Brokenfeld ist“, sagt Lucy etwas spöttisch, während sie ihre Lippen zusammenpresst.
„Was willst du mir damit sagen?“, meint Coco gekränkt, obwohl ich mir sicher bin, dass sie es weiß.
„Er wird dich in den Dreck ziehen, deinen Ruf zerstören und alles Gute in dir vernichten.“
Ungläubig starren wir Lucy an und versuchen ihre abscheulichen Worte zu verarbeiten. Die angespannte Stimmung ist unangenehm.
„Du kennst ihn nicht einmal und behauptest so etwas Schreckliches von ihm, nur weil er auf eine Schule geht, die nicht so angesehen ist, wie unsere?“
Ich sehe die Wut in Cocos Augen blitzen als sie aufsteht und den Raum verlässt.
„Lucy, das sind selbst für dich harte Worte. Ich weiß nicht, ob dir keiner gesagt hat, dass du mit dieser Einstellung nicht weit im Leben kommst. Musst du immer alles kommentieren, obwohl du genau weißt, dass es die Menschen um dich herum verletzt?“, sage ich enttäuscht und laufe hinter Coco aus dem Raum.
Manchmal ist die rationale und direkte Lucy einfach nur anstrengend.
„Hör nicht auf sie. Sie weiß nichts mit diesen Gefühlen anzufangen“, sage ich leise und drücke Coco an mich.
Kurz denke ich dabei an meine noch immer vorhandenen Gefühle für Charlie.
„Alison, du bist das Einzige, was unsere Freundschaft überhaupt zusammenhält. Wir haben nichts gemeinsam und ich habe diese kleinen Diskussionen und ihre herzlosen Kommentare so satt“, erwidert sie mit Tränen in den Augen und verschränkt die Arme vor der Brust.
„Ich weiß nicht. Sie bedeutet mir ja trotzdem viel und deswegen tun ihre Worte so weh.“
Sie wischt sich ihre Augen trocken und holt tief Luft.
„Schrecklich süß seid ihr zwei, das muss man euch lassen“, hören wir plötzlich eine arrogante Stimme hinter uns sagen.
Langsam drehe ich mich zu ihr, während Coco neben mir unmerklich zusammenzuckt. In diesem Moment möchte ich einfach nur schreien. All meine Gefühle verdrängen. Diesem Mädchen vor mir nicht in die Augen sehen.
Doch ich tue es.
Langsam hebe ich meinen Kopf und sehe ihr direkt in ihre funkelnden blauen Augen. So viel Verachtung liegt in ihrem Blick. Alle Stimmen in meinem Kopf schreien, ich soll stark sein und mich nicht von so einem Menschen fertigmachen lassen. Doch die Tränen, die sich in meinen Augen sammeln, sprechen eine andere Sprache.
„Was willst du von uns, Elena?“, fragt Coco mit fester Stimme.
Sie kann nie verstehen, warum ich mich von solchen Menschen einschüchtern lasse. Coco macht sich nichts aus dem Status anderer Menschen und sie hasst es, wenn ich fertiggemacht werde, wofür ich ihr dankbar bin. Außerdem ist sie natürlich viel selbstbewusster, als ich. Elena lächelt und wirft ihr langes blondes Haar zur Seite. Ihr glitzerndes, freizügiges Top, welches viel von ihrer Oberweite preisgibt, funkelt im Licht.
Selbstsicher zupft sie es zurecht, während sie mit ihren perfekt getuschten Wimpern unschuldig blinzelt.
„Erstmal sollst du nicht so mit mir reden“, meint sie und leckt sich mit ihrer Zunge über die Lippen.
Provozierend und hinterhältig.
„Und wer bist du, dass du mir es verbieten kannst?“, erwidert Coco in einem gelangweilten Tonfall.
Elena zuckt nur mit den Schultern. „Eigentlich wollte ich mit Alison reden, der es aber anscheinend die Sprache verschlagen hat.“
Sie weiß immer genau, was sie sagen muss, um mich zu treffen.
„Ehm … doch klar. Was willst du?“, sage ich etwas verunsichert.
Eigentlich will ich gar nicht wissen, warum sie mit mir reden will, doch vor ihr wegrennen ist auch keine Lösung.
Vor meinen Augen blitzen die Bilder auf, welche mir nur zeigen, wie sie sich ständig über mich lustig gemacht hat.
Mein Blick wandert zu ihrem Minirock und ihren langen Beinen, während sie sich ziemlich lange Zeit für ihre Antwort lässt. Warum sieht sie bei den kälter werdenden Temperaturen und nach dem langen Tag noch so gut aus? Ich verschränke die Arme vor der Brust und versuche meinen Körper zu verstecken.
„Ich will, dass du dich von Charlie fernhältst. Sprich nicht mit ihm, schreib ihm nicht, am besten du gehst ihm aus dem Weg.“
In ihrer Stimme schwingt unterdrückte Wut mit.
„Du … du drohst mir?“, frage ich ungläubig.
Ich fühle mich wie in einem schlechten Film.
Auch Coco wird neben mir langsam wütend. „Was willst du eigentlich die ganze Zeit von Alison? Ich weiß nicht, wer dir erzählt hat, du seist etwas Besseres, als der Rest der Welt nur weil du Geld hast, aber du solltest diese Einbildung lieber schnell vergessen“, sagt sie laut, wobei ich wieder dieses Funkeln in ihren Augen wahrnehme.
Erschrocken nehme ich ihre Hand. Coco steigert sich immer in Dinge hinein, die sie überhaupt nicht zu interessieren brauchen.
Elena tritt noch einen Schritt näher an uns heran.
„Charlie gehört jetzt mir und ja, meine Liebe, ich drohe dir. Es geht nicht nur um Geld, sondern um Ansehen, welches euch fehlt. Ihr unterschätzt meine Waffe, eine große Masse von Menschen einschüchtern und manipulieren zu können.“
Jedes ihrer Worte bohrt sich wie ein Messer in mein Herz.
Wenigstes scheint ihr bewusst zu sein, was sie mit den Menschen um sich herum macht.
Schlagartig wird mir die Bedeutung ihrer Worte klar, denn das heißt, ich darf nie wieder mit Charlie reden.
In naher Zukunft hatte ich das sowieso nicht vor, doch er bleibt noch immer mein bester Freund, dessen Hilfe ich brauchen werde. Genau wie nach der Trennung, bricht für einen Moment alles zusammen. Ich fühle mich so unfassbar hilflos.
Wieso gibt es Menschen, die so eine Macht über dich haben?
Diese Menschen, die meinen, die Welt würde sich nur um sie drehen. Diese Menschen, die meinen, sie wären etwas Besseres.
Das Schlimmste ist, dass sie sich ihre Macht nicht nur einbilden.
„Ich hoffe, du hast mich verstanden.“
Und mit diesen Worten stolziert sie davon.
Jetzt spüre ich, wie mir eine Träne über die Wange läuft und meine Unsicherheit ihren Höhepunkt erreicht. Coco nimmt mich sofort in die Arme.
„Was ist das denn nur für ein scheiß Tag“, murmelt sie verbittert.
„Aber ich hoffe du hast gesehen, dass ich mich diesmal zusammengerissen habe“, fügt sie hinzu.
„Alles wird gut. Beruhige dich. Dieses Mädchen scheint einfach jegliche Grenzen aus den Augen verloren zu haben.“
„Wie auch immer. Genug negative Energie für einen Tag.“
Sie holt ihr Handy heraus und schreibt eine Nachricht an Harley.
„Kommst du allein klar?“, fragt sie mich.
„Klar, geh nur! Viel Spaß euch.“
Das erste Mal seit Stunden kann ich wieder etwas für mich sein.
Dieser Tag war ereignisreicher, als ich erwartet habe.
Mir wird wieder einmal bewusst, wie schwach und unsicher ich bin. Immer lasse ich mich von anderen führen und manipulieren, anstatt Dinge zu riskieren und zu mir zu stehen.
Doch ich sehe kein Licht vor mir, welches mir die nötige Kraft gibt, mein Verhalten zu ändern.
Plötzlich bekomme ich stechende Kopfschmerzen. Alles verschwimmt in meiner Umgebung. Von einem Moment auf den nächsten sehe ich ein Mädchen direkt vor mir im Schulflur stehen.
Ihr Aussehen ist ziemlich besonders. Sie wirkt so fremd und verloren. Bevor ich mich wundern kann, wer sie ist, oder ihr eine Frage stellen kann, ist sie auch schon wieder verschwunden, doch ihr Anblick und die Art, wie sie mich angesehen hat, berührte mich zutiefst.
Am nächsten Morgen fühle ich mich total ausgelaugt. Ich bin müde und steige mit starken Kopfschmerzen aus dem Bett. Die letzte Nacht war schrecklich. Etwas benommen stolpere ich und stoße meinen Zeh an der Bettkante. Der Schmerz fährt ruckartig durch meinen ganzen Körper. Ich schreie erschrocken auf.
Was ist gestern noch passiert verdammt?
Erschrocken stelle ich fest, dass ich mich an nicht mehr viel erinnern kann. Die Drohung von Elena gestern hat mich wohl doch härter getroffen, als ich dachte. Mit ihr ist nämlich auch mein letzter Funken Hoffnung gestorben, dass Charlie je wieder in mein Leben treten wird.
Ich stelle die nur noch halbvolle Flasche auf den Boden und schwanke leicht. Lachend sinke ich zu Boden und ziehe mein Handy aus der Hosentasche. Wie betäubt wähle ich seine Nummer. Wie betäubt warte ich bis er abnimmt.
Verwirrt schüttle ich den Kopf und schiebe diese seltsame Erinnerung beiseite. Hoffentlich war es nur eine Erinnerung an einen Traum. Jetzt komme ich an meinem Spiegel vorbei. Mein Make-up vom gestrigen Tag ist ziemlich verschmiert und meine Augen sind geschwollen. Meine Haut wirkt blasser, als sie es normalerweise schon ist. Ich lasse meinen Blick an meinem Spiegelbild herunter wandern, worauf purer Hass in mir aufsteigt. Schon mein Leben lang versetzt es mich in eine Schockstarre, wenn ich in den Spiegel blicke oder meinen Körper auf Bildern zu Gesicht bekomme.
Seine Stimme hört sich müde an. Trotzdem löst sie in meinem etwas betrunkenem Zustand so viel aus.
„Hey, ich weiß, dass es schon spät ist.“
„Bist du betrunken?“
„Nein! Vielleicht nur angetrunken.“
Alles in mir sagt, dass ich einfach auflegen soll, doch schon sage ich Dinge, die ich auf keinen Fall sagen sollte.
Inzwischen habe ich mich fertig gemacht und gehe etwas verspätet frühstücken. Ich lasse den Blick über die große Fensterfront des Wohnzimmers schweifen, welche aus unserer offenen Küche zu sehen ist. Das Haus ist viel zu groß für meine Mutter und mich. Während ich anfange meinen Tee zu trinken, höre ich diese in die Küche kommen.
„Hey Süße, tut mir leid, ich muss schon los. Habe gerade einen wichtigen Fall. Natürlich ist das keine Ausrede dafür, dass ich im Moment nicht für dich da bin.“
Beinahe schießen mir wieder die Tränen in meine Augen.
Meine Mutter ist eine sehr erfolgreiche Anwältin. Wie immer ist sie gestresst und stürzt sich viel zu tief in einen Fall hinein.
So kommt sie mit ihrer Einsamkeit zurecht.
„Übrigens, ich hoffe dein erster Schultag war gut gestern.
Zumindest siehst du wirklich gut aus“, sagt sie im Vorbeigehen und ich höre einen Moment danach die Tür hinter ihr zufallen.
Ich spüre meinen verzweifelten Versuch, diese verdammten Tränen zu unterdrücken. Meine Mutter liebt mich, doch sie behandelt mich oft wie Luft. Wir reden nicht oft miteinander.
Sie hat mir gerade gesagt, dass ich hübsch aussehe, obwohl ich am Boden zerstört bin. Meine Mutter blickte mir nicht einmal ins Gesicht. Das Schlimmste daran ist, dass sie sich nicht einmal schämt und sie es nicht einmal versucht, wieder gutzumachen.
An dieses Verhalten habe ich mich längst gewöhnt und ich akzeptiere es, weil ich weiß, wie sehr sie in ihrem Leben bereits verletzt wurde.
„Warum machst du das? Verdammte Scheiße, was ist nur los mit dir und wie bist du nur so ein egoistischer Mensch geworden? Wir haben nie darüber geredet und genau das war unser größter Fehler, denn ich habe keine Ahnung, was passiert ist“, sage ich und werde bei diesen Worten immer lauter.
Ein Seufzen am anderen Ende der Leitung. Danach Stille.
„Das wirst du nicht verstehen, auch wenn ich es dir erklären würde.
Vergiss mich einfach und ruf mich nicht mehr an“, sagt er ruhig aber bestimmt.
Jetzt legt er auf und ich schmeiße mein Handy wütend gegen die Wand.
„Fahr zur Hölle!“, schreie ich, obwohl er mich nicht mehr hören kann und breche zusammen.
Plötzlich kommt all die Wut von letzter Nacht wieder hoch.
Wie konnte ich ihn einfach gehen lassen? Ich hätte kämpfen müssen. Für all das, was wir hatten.
Meine Fäuste … die Wand … alles wird schwarz.
Erschrocken betrachte ich meine Hände. Jetzt fährt Schmerz durch meine Fingerknöchel, welche völlig zerschrammt sind.
So bin ich nachts also eingeschlafen. Ich habe meine Faust gegen die Wand geschlagen, bis ich ohnmächtig geworden bin.
Jetzt rollen mir Tränen über die Wangen. Mir ist egal, dass ich schon viel zu spät zur Schule komme. Ich spüre erneut, wie etwas in mir zusammenbricht. Wie ich am Ende meiner Kräfte bin. Ich sinke zu Boden und streiche über meine verwundeten Fingerknöchel.
Es ist, als würde ich diese Trennung erst heute realisieren. Das schlimmste Gefühl ist, jemanden zu vermissen, der dich nicht vermisst. Jemanden zu lieben, der dich behandelt, als würdest du nicht mehr existieren. Wie kann ein einziger Mensch mich nur so kaputt machen?
Ich fühle mich so unfassbar verloren und unverstanden. Es ist schließlich nur eine Trennung, was auch Gutes bedeuten kann.
Viele Paare trennen sich, obwohl viele von ihnen viel länger zusammen waren als zwei Jahre.
Es ist nur eine Trennung, aber wieso fühle ich mich, als hätte ich alles verloren, was mir je wichtig war?
Wieso gibt es plötzlich nichts mehr in meinem Leben, bei dem ich sicher sein kann, dass es bleibt? Dass es mich nicht einfach fallen lässt?
Sie blickt mir so intensiv in die Augen, wie ich es nur von Charlie kenne. Ich halte den Atem an und versuche meinen zitternden Körper unter Kontrolle zu bringen.
Jetzt beugt sie sich ein wenig zu mir vor, was mich zusammenzucken lässt. Ich verspüre Angst. Dabei gibt es nichts an diesem Mädchen, welches mir bereits gestern erschien, das mir gefährlich vorkommt. Eigentlich sieht sie sogar ziemlich harmlos aus. Doch ihr altmodisches Aussehen und der Gedanke, dass sie eigentlich nicht real ist, machen mich verrückt. Ihr Auftreten schüchtert mich ein. Alles an ihr. Ich würde sie mit Fragen überhäufen, doch auf dem Pausenhof stehen schon einige Menschen, weshalb ich lieber schweige.
Ich starre sie nur an, während sie sich aufgeregt umsieht. Sie wirkt selbst sehr nervös in dieser Umgebung.
Warum sehe ich Geister? Bin ich verrückt geworden? Was will dieses Mädchen in meinen Gedanken und wie kann ich sie loswerden? Ich schüttle genervt den Kopf, als würde ich somit auch meine Gedanken abschütteln können. Das letzte Mal ist das Mädchen schnell wieder verschwunden und ich frage mich, warum sie sich jetzt so viel Zeit damit lässt.
Plötzlich dreht sie sich um und läuft auf das Kunstgebäude zu.
Verwirrt beginne ich ihr zu folgen, wobei ich selbst nicht verstehe wieso. Meine Neugier scheint größer als meine Verwirrung zu sein.
Das Gebäude ist das einzige, welches nie renoviert wurde. Ich persönlich finde es abscheulich und hässlich, aber wichtigere Menschen waren der Meinung, etwas von der Geschichte dieser Schule bewahren zu müssen. Früher war unsere Schule nämlich ein religiöses Mädcheninternat, was zum Teil auch für unseren guten Ruf verantwortlich ist.
Seufzend folge ich dem Mädchen ins Gebäude, woraufhin mir ein muffiger Geruch entgegenweht. Hier findet nur noch wenig Unterricht statt, weshalb der Flur leer ist und ich somit allein mit dem Mädchen bin.
„Was willst du von mir?“, frage ich endlich mit zitternder Stimme und hasse es, dass ich meine Angst nicht verbergen kann.
Wieder einmal nagt meine Unsicherheit an mir. Langsam dreht sie sich wieder zu mir und ich verliere mich kurz in ihren funkelnden Augen.
Jetzt deutet sie auf einen Spind neben ihr und fängt langsam an zu verblassen. Etwas panisch versuche ich nach ihr zu greifen, doch ehe ich mich versehe, gibt es vor mir nichts mehr, wonach ich greifen könnte.
Ich lasse meine Hand sinken und betrachte den Spind neben mir, dessen Tür nur angelehnt ist. Das Quietschen der Scharniere schallt im leeren Flur erschreckend laut, während ich sie öffne. Der Spind wirkt, als hätte ihn jahrelang niemand geöffnet und darin liegt nichts, als ein einfaches Buch.
Nachdem ich es rausgeholt und den Staub etwas weggewischt habe, versuche ich die alte Schrift darauf zu entziffern.
„Was machst du denn hier?“, höre ich Cocos Stimme hinter mir, woraufhin ich zusammenfahre und unauffällig das Buch in meine Tasche stecke.
Ich schließe den Spind und drehe mich zu Coco, die mich nur verwundert anstarrt.
„Ich habe nur, eigentlich habe ich nach dir gesucht“, sage ich lächelnd und presse meine Lippen nervös zusammen.
„Das kannst du mir ja ein anderes Mal erklären, du hast doch keinen Literaturkurs und ich bin auch viel zu früh da. Wie auch immer. Ich wollte dir sowieso erzählen, wie mein Treffen gestern verlief.“
Eine Weile lausche ich noch ihren Erzählungen. Schließlich mache ich mich jedoch auf den Weg zu meinem Unterricht, der in einem anderen Gebäude stattfindet.
Die Klingel läutet und im Klassenzimmer wird es lauter. Kurz darauf stehen Alison und Coco neben mir. Seit unserem gestrigen Gespräch ist die Stimmung zwischen uns noch immer angespannt, doch wir stehen trotzdem in unserer Runde und unterhalten uns über alltägliche Dinge. Die beiden kennen mich und obwohl sie meine Art oft schwierig finden, halten sie zu mir. Ich denke, sowas findet man nicht oft im Leben. Ich bin sogar zu stur, um mich wegen gestern ehrlich entschuldigen zu können, wofür ich mich innerlich schäme.
Mir fällt an Alisons Auftreten auf, wie schlecht es ihr geht, während wir über den vorherigen Unterricht reden. Sie scheint sehr abgelenkt zu sein und wenn mich nicht alles täuscht, nehme ich einen leichten, alkoholischen Geruch an ihr wahr.
Ich möchte das Thema gerade ansprechen, als plötzlich Amelia und Riley an uns vorbeigehen und meine Blicke auf sich ziehen.
„Hey, wartet kurz“, meint Coco lächelnd, woraufhin ich ihr einen alarmierten Blick zuwerfe.
Die beiden drehen sich langsam zu uns und ihren Blicken nach zu urteilen, scheinen sie genauso verwundert, wie ich.
Coco reicht ihnen selbstsicher die Hand.
„Ich bin Coco und das sind Alison und Lucy. Wir freuen uns, euch kennenzulernen und willkommen an unserer Schule.“
Ich werfe Coco einen verärgerten Blick zu. Ich muss jedoch zugeben, dass ich sie für ihre Offenheit beneide. Amelia und Riley werfen sich Blicke zu, aus denen ich nicht deuten kann, ob sie erfreut oder angewidert sind, von Cocos Versuch freundlich zu sein.
Jetzt setzt Riley ein eindeutig falsches Lächeln auf und gibt Coco die Hand.
„Schön! Also wenn ihr Fragen oder Ähnliches habt, könnt ihr immer zu uns kommen“, sagt Coco herzlich.
Amelia schnaubt leicht, doch ich denke, das hat außer mir keiner wahrgenommen. Ich nehme Rileys Blick wahr, welcher mich etwas zu lange mit seinen tiefen dunkelbraunen Augen mustert. Er wirkt wirklich sympathisch, wenn ich ehrlich bin und mich macht es neugierig, was er bei einem Menschen wie Amelia sucht. Schließlich nickt Riley nur und die beiden gehen aus dem Raum.
Jetzt ist Coco diejenige, die schnaubt.
„Was war das denn? Wie kann man sich denn so respektlos verhalten? Sie hätten wenigstens ein Wort sagen können! Wieso benehmen sich Menschen so? Ob Elena, Charlie oder die zwei, was ist so schwierig daran, ein wenig freundlich zu sein?“
Am Abend sitze ich in meinem Zimmer und lese ein bisschen.
Schnell werde ich jedoch von meinen Gedanken abgelenkt. Ich frage mich, wie ich wäre, wenn ich mich den Menschen um mich herum anpassen würde und nicht wegen meiner Ausdruckslosigkeit so auffallen würde.
Zugegeben, ich war schon immer ein Einzelgänger, was ich wohl von meiner Mutter habe. Ihre Erziehung sorgt dafür, dass ich für andere in meinem Alter sehr befremdlich wirke.
Sie möchte nämlich ständig die Kontrolle haben über all das, was ich tue und sie zeigt mir, welches Verhalten sie an mir nicht sehen will, was mich mit der Zeit erdrückt hat. Diese Zeit machte mich zu einer krankhaften Perfektionistin, welche sich durchgehend und mit jeder Aufgabe enorm unter Druck setzt.
Irgendwann wird es schließlich dunkel in einem.
Kurz vergleiche ich mich mit Amelia und Riley, weil auch sie diese Dunkelheit umfassen zu scheint. Ich kenne sie nicht und eigentlich will ich sie auch nicht kennenlernen, doch meine Neugier ist größer. Mein Drang danach, sie zu verstehen, herauszufinden, was ihre Absichten sind, lässt mich nicht los.
Jeder hat seine eigenen Theorien, warum alles so passiert, wie es passiert und ich möchte ihre kennenlernen.
Mir wird bewusst, dass ich die beiden treffen will. Ich muss versuchen, mich mit ihnen anzufreunden und Coco zeigen, dass es mir leidtut, dass ich auch aufrichtig und offen fremden Menschen gegenüber sein kann.
Das alles muss ich ihr zeigen, wenn ich nicht alleine und an meine Vorurteile gebunden sterben möchte.
Einige Tage später im Unterricht kann ich meine Augen wieder nicht von Amelias harten Blick und Rileys Tätowierungen lenken. Amelia strahlt Kälte aus, doch etwas an ihr erinnert mich sehr an mich selbst. Vielleicht ist das der Grund für Rileys zu langen Blicken auf mir, wenn er denkt, ich würde es nicht bemerken. Man merkt ihnen an, dass sie kein Vertrauen zu anderen Menschen aufbringen können. Dass sie in ihrer Blase leben und es sich dort bequem gemacht haben. Alles Unbekannte ist schlecht für sie. Wieder erkenne ich mich selbst in diesem Verhalten. Oft unterhalten sie sich nur mit Gesten.
Außerdem glaube ich spüren zu können, wie stark ihre Zuneigung zueinander ist. Auch wenn ich es nicht verstehen kann. Eigentlich sollte ich sie seltsam oder sogar gefährlich finden, doch etwas an ihnen wirkt so interessant für mich. Vor allem Riley und die Art, wie er durch seine Locken fährt. Ich glaube er wäre ein anderer Mensch, wenn Amelia nicht dauerhaft an seiner Seite wäre.
Etwas an ihm fasziniert und beeindruckt mich. Mein Verlangen, ihn wiederzusehen und mit ihm zu sprechen … Ich schüttle verärgert den Kopf. Meine Gedanken wandern in eine unverständliche Richtung.
Es ist nur die Neugier in mir. Nichts weiter.
Jetzt schaue ich zu ihm und lächle ihn unsicher an. Er lächelt zurück und seine Augen funkeln dabei. Sein Lächeln ist so schön. Schade nur, dass er es so selten zeigt. Schnell schaue ich wieder weg. Erschrocken über meine eigenen Gedanken konzentriere ich mich wieder auf den Unterricht. Nach einer Weile bemerke ich, wie Amelias Augen mich anfunkeln. Würde sie mich besser kennen, wüsste sie, dass sowieso nichts zwischen Riley und mir passieren wird. In den letzten Tagen habe ich bereits versucht, einige Gespräche mit ihnen zu führen. Dabei konnte ich jedoch nichts über die beiden in Erfahrung bringen.
Nach der Stunde bleibe ich auf meinem Platz sitzen und starre ins Leere. Mir wird bewusst, dass ich, wie so oft, alleine bin.
Liegt das an der Art, die ich von meiner Mutter habe? Ich schlucke traurig. Viele Menschen waren nie in meinem Leben, doch diese Wenigen sind mir fremd geworden.
Plötzlich höre ich Schritte, die sich mir nähern. „Lucy?“, sagt eine mir bekannte Stimme leise.
Ich zucke etwas erschrocken zusammen.
„Ich wollte dich nicht erschrecken, entschuldige. Ist alles in Ordnung?“, fragt Frau Tureno und setzt sich auf den Platz neben mir.
Wäre es jemand anders, hätte ich sofort mit einem „Ja“ das Gespräch beendet. Bei ihr schaffe ich es nicht. Sie ist eine Vertrauenslehrerin und ahnt es sowieso sofort, wenn jemand sie anlügt. Deswegen sage ich einfach nichts zu ihrer Frage.
„Wenn du mit jemandem reden willst, dann stehe ich zur Verfügung. Hör zu … ich weiß nicht, ob sie etwas mit deinem Problem zu tun hat, aber ich kenne deine Mutter. Sie ist als Kollegin schon kompliziert, also ahne ich, wie es bei euch zuhause zugeht. Eigentlich weiß ich es sogar. Meine Mutter hatte einen ähnlichen Charakter.“
Ich starre sie sprachlos an.
„Ich wollte dich jetzt nicht mit der Thematik überfallen, aber es war mir wichtig, den Kontakt zu dir zu suchen. Du musst wissen, dass du nicht alleine bist. Du musst nur dir selber helfen. Wie du siehst, habe ich es geschafft, mich nicht von ihr beeinflussen zu lassen und das schaffst du auch. Du denkst wahrscheinlich, dass du wie sie wirst … bei mir war das auch der Fall. Aber das stimmt nicht.“
Ihre Stimme gleicht nur noch einem Flüstern. Natürlich, wie denn auch nicht, sie spricht über eine Mutter, wie meine.
„Meine Schwester und mein Vater haben sich schon lange von ihr abgewandt und ohne mich hätte sie niemanden mehr“, sage ich und spüre schon die Tränen in meinen Augen.
„Ich kann deine Schuldgefühle nachvollziehen, doch manche Menschen lernen nur so deine Nähe zu schätzen“, meint Frau Tureno.
„Mir kommt es so vor, als hätte ich Angst davor, mit anderen Menschen befreundet zu sein. Immer mehr wende ich mich von meinen Freunden ab. Ich liebe meine Mutter, doch ich habe Angst davor, nach Hause zu gehen.“
Meine Lehrerin weicht meinem Blick aus, nimmt jedoch meine Hand in ihre. Noch nie hatte ich solch eine persönliche Unterhaltung mit einer Lehrerin, weshalb ich Dankbarkeit empfinde. Schließlich ist es nicht ihre Pflicht, sich zu öffnen.
„Mir ging es genauso“, flüstert sie kaum hörbar.
„Ich glaube, meine Mutter hat sich mit ihrer Art das Leben selber schwer gemacht. Sie hatte eine tolle Familie und ein normales Leben. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was passiert ist.
Keiner hat es mir gesagt.“ Meine Stimme bricht und ich spüre einen Kloß im Hals. „Dankeschön, dass Sie so offen mit mir reden.“
Meine Lehrerin nickt. „Danke für deine Zeit. Bleib stark.“
Ich nicke und verlasse das Zimmer. Etwas mitgenommen von unserem Gespräch stütze ich mich an der Wand im Schulflur ab. Es klingelt bereits zur nächsten Stunde, doch das spielt im Moment keine Rolle für mich.
Plötzlich spüre ich eine warme Hand auf meiner Schulter.
Wieder fahre ich erschrocken zusammen und blicke schließlich direkt in seine Augen. Riley. Ohne Amelia. Alles an diesem Moment scheint magisch. Kurz darauf wird es jedoch unangenehm.
Riley zögert. „Ich habe zugehört … tut mir leid“, stammelt er.
Jetzt weiß er von meiner größten Schwachstelle.
Meiner Mutter.
„Komm zu mir, wenn du reden willst“, fügt er mit einem Lächeln hinzu.
Er gibt sich Mühe, obwohl er das nicht muss. Er will mir helfen. Sofort kommen all meine unterdrückten Gefühle hoch und ich schlucke.
„Ohne Amelia, wenn du magst“, fügt er hinzu.
Man sieht ihm sein schlechtes Gewissen an. Er belügt sie für mich. Auch ihre Beziehung ist nicht perfekt.
Zumindest bin ich der Grund, warum sie zu brechen beginnt.
„Danke, dass du da bist, obwohl wir uns noch so fremd sind“, höre ich meine zitternde Stimme flüstern.
Ich strenge mich an, um nicht weinen zu müssen.
Riley tritt unvorbereitet näher und nimmt mich in seine Arme, was es mir schwerer macht, nicht weinen zu müssen. Am liebsten würde ich so für immer stehen bleiben und meinen Kopf an seiner Brust vergraben. Es ist erschreckend, weil er ein Fremder für mich ist, doch seine Wärme an meinem Körper beruhigt mich zu sehr. Ich genieße mit geschlossenen Augen sein gutes Parfüm und seine breiten Oberarme. Sein Atem so nah an meinem lässt eine Gänsehaut auf meiner Haut entstehen. Meine Gefühle für ihn kann ich nun nicht mehr leugnen. Noch nie wurde ich von jemandem so angezogen.