Solo für Clara - Claudia Schreiber - E-Book

Solo für Clara E-Book

Claudia Schreiber

4,9

Beschreibung

Mit fünf sitzt Clara zum ersten Mal am Klavier. Eigentlich soll sie nur das Instrument kennenlernen, doch Clara zeigt eine außergewöhnliche musikalische Neugier und Begabung. Bald erhält sie professionellen Musikunterricht und verbringt jede freie Minute am Flügel. Sie weiß, dass sie es mit Fleiß, Disziplin und ihrer großen Liebe zur Musik zur Konzertpianistin schaffen könnte. Doch sie ahnt nicht, wie sehr ihr die vielen Reisen, der Neid und die Intrigen ihrer Konkurrentinnen sowie der Verzicht auf ein normales Leben zu schaffen machen. Dennoch lässt Clara sich nicht entmutigen und kämpft entschlossen für ihre Ziele, bis ihr großer Traum von einer Karriere als Solistin greifbar nahe ist …

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Über das Buch

Ich heiße Clara. Clara van Bergen. Schon mit fünf Jahren wollte ich Klavierspielen lernen. Der Klang eines Flügels und die Stücke, die mein Vater gespielt hat, haben mich von Anfang an fasziniert. Es ist mein großer Traum, Pianistin zu werden. Meine Mitschüler haben wenig Verständnis dafür. Sie sind neidisch, wenn ich frei bekomme, um zu Wettbewerben und Meisterkursen zu fahren. Dabei ist das kein reines Vergnügen! Mein Musikprofessor ist sehr streng und manchmal auch ungerecht. Und meine größte Konkurrentin Beatrice kämpft mit allen Mitteln gegen mich, weil ich genauso gut spiele wie sie. Ihre Mutter will unbedingt, dass sie berühmt wird. Zum Glück sind meine Eltern da ganz anders. Meistens sind sie erstaunt, wie ehrgeizig ich bin. Und sagen mir sogar, ich solle nicht so viel üben. Aber ich will es schaffen!

Dann könnte ich in den großen Konzertsälenspielen und mit meinem Freund Shunichi um die Welt reisen …

Claudia Schreiber

SOLO FÜRCLARA

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-25222-6

Alle Rechte vorbehalten

© Carl Hanser Verlag München 2016

Umschlaggestaltung: Marion Blomeyer, Lowlypaper, München © Zara Picken Illustration

Satz im Verlag

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für Heidi aus Berlin – foräwer

AUFTAKT

Ich fahre gern Bahn, wenn sie rappelvoll ist. Rufe laut durch die Wohnung, wenn ich heimkomme, und erwarte eine Stimme, die mir antwortet. Ich hasse es, allein zu sein. Ich spiele Klavier – so gut, dass ich bald Konzerte geben kann. Dann kommen viele Leute; wunderbar. Ich spiele solo, bin aber nicht allein; vor Publikum ist man nie allein.

ALS ICH ZWÖLF WAR …

… wollte ich unbedingt gewinnen bei einem Wettbewerb in Göttingen. Im Januar, es war eiskalt. Mir selbst war vor Ehrgeiz und Aufregung so heiß, dass ich das Glatteis hätte schmelzen können, über das ich ging, hin zum Konzertsaal. Okay, ich übertreibe gern, daran muss man sich bei mir gewöhnen. Mein Vater begleitete mich diesmal, einer meiner Erwachsenen musste immer mit, wo ich hinwollte. Das taten sie seit Jahren.

Paps bestand darauf, dass wir wenigstens einen Blick auf die Orte warfen, in die wir fuhren, obwohl wenig Zeit dafür blieb. Sonst sahen wir einzig Hotels oder Privatquartiere, den Bahnhof, den Veranstaltungsort, mal ein Restaurant. Aber mit ihm musste ich regelmäßig eine Runde durch die Stadt laufen. Was soll in Göttingen schon zu sehen sein?! Mami hatte diese blöde Sitte übernommen. Sie brauchte zusätzlich immer irgendwo eine Sauna, war süchtig nach 90 Grad Hitze, um danach in Eiswasser einzutauchen. Sie verlangte, dass ich das mitmachte, weil diese Tortur gesund sein soll. Wenn ich bloß den dicken Zeh in kaltes Wasser steckte, starb ich fast, so fies war das!

Göttingen hat tatsächlich einen schönen Marktplatz mit altem Rathaus, und Paps führte mich dort zu einem kleinen Denkmal: ein junges Mädchen aus Bronze oder Messing, keine Ahnung. Im linken Arm hielt sie echte, frisch erfrorene Blumen, gelbe Rosen mit glitzerndem Eis. Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen: gefrorene Blumen im Arm eines Denkmals? Paps konnte mir Auskunft geben, er hatte ein Buch dabei: »Studenten, die in Göttingen ihren Doktor machen, danken diesem Mädchen mit einem Strauß Blumen und einem Kuss. Das ist hier Brauch.«

Das gefiel mir. Nach einem Konzert stand ich ähnlich da, wenn mir als Dankeschön ein Strauß überreicht wurde. Dann war mir kalt vor Erschöpfung. Eiskalt, als stände ich nicht auf der Bühne, sondern im Frost wie diese Statue. Mit Blumen im Arm.

»Das ist das Gänseliesel«, wusste Paps. »Wahrzeichen der Stadt.«

Jetzt erst sah ich die Gänse, die das Mädchen trug: eine im Korb, eine zweite an den Flügeln gepackt.

Ihre Blumen erfroren draußen, meine verwelkten nach einer stundenlangen Fahrt im Zug; wir nennen das abfällig Klatschgemüse: wieder ein Konzert beendet, die Leute haben applaudiert, manche sogar Bravo gerufen oder eine Zugabe erbeten.

Ich liebte donnernden Applaus, ich wollte unbedingt gewinnen in Göttingen! Solistin sein, Blumen im Arm halten. Gänseliesel, bring mir Glück! Aber ich hatte ein komisches Gefühl.

Einen Tag zuvor hatte ich noch eine Stunde bei Eisenstein genommen. Mein Klavierprofessor war sehr alt, hatte eine Glatze, die Haut käsig, er war vermutlich selten an der frischen Luft, immer in der Hochschule, auf Seminaren, Meisterkursen, er war Musikprofessor seit Jahrzehnten. Eisenstein hörte nicht auf zu arbeiten. Musiker und ihre Lehrer gehen selten in Rente, so wie Schriftsteller oder Maler, die hören auch erst auf, wenn sie tot sind. Andere Leute in seinem Alter waren längst im Heim oder zu ihrem Vergnügen auf Kreuzfahrt oder genossen ihr Leben im Tanzcafé, Professor Eisenstein aber arbeitete von früh bis spät, weil das alles war, wofür er lebte: das Klavier und seine Schüler und Schülerinnen. Er reiste sogar durch die ganze Welt, weil er auch in Tokio unterrichtete, tatsächlich! Oder in Seoul. Er war berühmt. Es war eine Ehre, von ihm unterrichtet zu werden, er nahm nur die Besten, um sie perfekt zu machen. Klar war ich stolz dazuzugehören. Ich wollte die Allerbeste der Besten werden. Nicht meine Eltern, die drängten mich nicht, nur ich, ich wollte das unbedingt! Ich spielte ihm ein letztes Mal vor, was ich im Wettbewerb vortragen wollte, ein Prélude von Chopin.1

Es ist ein leises, romantisches Stück, klingt wie Regentropfen, darum nennt man es auch so: Regentropfen-Prélude. Chopin hat es auf Mallorca komponiert. Er war dort, weil es ihm mal wieder schlecht ging, er hatte eine Lungenentzündung, Chopin war ständig krank. So lag er da auf der Insel im Schatten und wartete auf seine Freundin, George Sand, die unterwegs war einkaufen, was weiß ich. Er wünschte sich, dass sie endlich zurückkommt! Dieses Stück erzählt, wie sich das sehnsüchtige Warten anhört. Einzelne Sekunden fallen wie Tropfen. Chopins Lebenssekunden tropften ähnlich wie der Regen. Er ahnte wohl, dass er früh sterben würde, ich wollte das Prélude so herzzerreißend wie nur möglich spielen.

Nach dem letzten Ton suchte ich stolz den Blick meines Lehrers. Er sprach sehr tief, wäre wohl ein Bass, wenn er singen würde. Er sang aber nicht. Im Unterricht erklärte er mir die Stücke immer ganz genau, aber er spielte sie nie vor. Nicht einen Takt, keinen Ton, nichts. Niemand hatte ihn je spielen hören, und doch war er einer der besten Klavierlehrer. Er wusste alles theoretisch, aber praktisch? Keine Ahnung! Nun sagte er endlich was: »Clara, wenn du das morgen so spielst, wirst du nicht gewinnen.«

Die Temperatur im Raum sank schlagartig unter null, mein Gefühl glich einem Blumenstrauß, der eben in der Eiseskälte erfror. Er sagte nichts Konkretes zum Stück, wie sonst im Unterricht, gab keine Tipps, spendete keinen Trost. Was genau sollte ich denn besser machen? Ich schaukelte nervös auf dem Klavierhocker, rieb meine Hände.

Er schaute gleichgültig an mir vorbei, blätterte in den Noten herum, als sei er auf der Suche nach etwas. Dann sagte er, ohne mich dabei anzusehen: »Sicher spielst du die Noten perfekt, aber mir fehlt da das Quäntchen Genie, du spürst die Not von Chopin nicht, jung und gesund wie du bist.«

Mir stiegen Tränen in die Augen, ich bekam kein Wort heraus. Was redete der für einen Schrott. Ich spürte jede Not, auch die von Chopin. Na gut, mein Lehrer war sehr alt, er wusste vielleicht besser, wie es sich anfühlte, den Tod vor Augen zu haben.

»Ihm tut nicht irgendein Körperteil weh.«

Das weiß ich doch, er wird sterben! Das haben wir schon x-mal besprochen. Der nervt gerade. Beim Klavierunterricht bin ich immer mit ihm allein, total auf ihn angewiesen. Eisenstein diskutiert nicht mit mir, es wird getan, was er sagt. Aber jetzt sagt er gar nichts, ich hänge in der Luft! Mir wird richtig übel davon. Ach Mann, er könnte mich doch anfeuern wie ein Fußballtrainer. Wie toll wäre es, wenn Eisenstein uns so trainieren würde. Und dafür sorgen, dass all seine Schüler und Schülerinnen zusammenhalten wie Sportskameraden und sich gegenseitig unterstützen?! Dann stellen wir uns wie eine Mannschaft im Kreis auf, Arm in Arm umschlungen feuern wir uns gegenseitig an. Ein Schlachtruf in A-Dur!

So war es bei uns leider nicht, jeder stand allein da, wollte den anderen verdrängen. Ich hatte gut gespielt, sehr gut sogar, ich hatte doch Ohren im Kopf! Quäntchen Genie? Verlangte er etwa, dass ich das Stück neu erfinde? Ich war zwölf! Klar war ich zu jung, um die Todesangst des kranken Chopin zu spüren. Aber ich war auch schon mal krank, Lungenentzündung.

Ich sagte trotzig: »Ich mache damit den ersten Preis.«

»Du darfst nicht enttäuscht sein, wenn das nicht klappt.«

Atme mal durch, beruhige dich, denk nach. Ich bin gut genug, um zu gewinnen. Basta! Wenn er sagt, das klappt nicht, dann steht er nicht zu mir. Dann hält er zu jemand anderem. Ich kann mir schon denken, um wen es geht. Moment mal! Vielleicht sind ja die Wettbewerbe tatsächlich abgesprochen?! Nicht die Beste gewinnt, sondern die- oder derjenige, der einen Preis bekommen soll. Ich soll verlieren, weil ein anderer gewinnen soll. Ist es Beatrice?! Kann Eisenstein das manipulieren? Macht er die zur Siegerin, bevor der Wettbewerb überhaupt losgeht? Ich traue diesen Leuten zu, dass sie betrügen, so nach dem Motto: Mal gewinnt dein Schüler, mal meiner. Andere Möglichkeit: Beatrice’ Eltern bestechen die Jury. Aber womit? Sie haben ja gar kein Geld dafür. Sie wollen aber welches. Beatrice’ Eltern träumen davon, dass ihre Tochter so berühmt wird wie Lang Lang, dann wird die Familie reich.

Mein Professor schaute mich freundlich an: »Vom Grübeln wird es nicht besser. Willst du es noch mal versuchen?«

Ich schwieg bockig. Er räusperte sich.

Vielleicht will er mich heute verunsichern, damit ich morgen ängstlich spiele und Beatrice auf diese Art den ersten Preis holt! Die steckt nämlich tatsächlich in einer Krise! Sie hat mir erzählt, dass sie keinen Bock mehr hat auf Klavier. Klar reagieren ihre Eltern da panisch! Da kommt so ein Preis gerade recht, das wird Beatrice aufheitern.

Wir sind wie Feuer und Wasser. Sie rothaarig, ich blond. Sie groß, ich klein, ich finde sie überheblich, sie findet mich egoistisch. Sie ist ein Modepüppchen, ich der burschikose Typ. Beatrice wird gewinnen, das weiß Eisenstein jetzt schon, so sieht das also aus! Womit hat sie ihn dazu gebracht?

Ich schaute Eisenstein fragend an, direkt in die Augen, traurig, so lange ich konnte. Er wich meinem Blick aus, schien nicht zu verstehen, was in mir vorging. Dann konnte ich ja gleich gehen. Ich stand tatsächlich auf, ohne dass er die Stunde beendet hatte. Er schaute mich groß an. Was tat ich da?! Einen Tag vor dem Wettbewerb brach ich den Unterricht ab. Das darf niemand tun. Er hätte mich in diesem Moment ganz aus seinem Unterricht werfen können, dann wäre sowieso alles vorbei gewesen; hat er aber nicht getan.

Am nächsten Tag ging ich mit Paps zum Wettbewerb, Leute aus der Stadt und der Umgebung waren gekommen, um zuzuhören. Dazu die Eltern der jungen Musiker, Omas und Opas auch. Die Jury, wenige Journalisten. Natürlich meine Konkurrenten – sie schienen mir alle wie eine einzige Masse, ich sah keine Gesichter, ich sah bloß alles grau in grau. Ein Punkt aber in dem großen Saal leuchtete pink, dahin ging mein Blick, zu Beatrice. Unübersehbar.

Sie sah toll aus, hatte ein herrliches Kleid an. Sie plapperte mit sonst wem, Küsschen hier, Küsschen da. Mich würdigte sie keines Blickes. Aber ich musste ständig zu ihr hinsehen, ich dumme Kuh.

Dann wurde es ernst: Ich verneigte mich vor der Jury und dem Publikum. Spielte, so gut ich konnte, aber in mir zitterte alles. Es waren keine Regentropfen, die da fielen, sondern Steine, die aufschlugen. Klar hatte ich keine Fehler gemacht, doch fehlte das Wichtigste: die Leichtigkeit. Ich war innerlich nicht der Musik nah, sondern dachte an Eisenstein, an Beatrice, an Siegen und Verlieren, und nicht mehr an Chopin. Nicht Mallorca, keine Zeit, die abläuft, die Angst vor dem Tod. Die Liebe. Das ist aber das Wichtigste – es so zu spielen, wie der Komponist es sich gedacht hat, mit aller Kraft. Ich aber dachte nur an mich.

Mein schwacher Auftritt hatte Beatrice regelrecht beflügelt, sie wusste genau, sie brauchte ihr Stück nur noch fehlerfrei abzuliefern. Das Publikum hatte sie mit stürmischem Applaus belohnt und so im Grunde als Siegerin gekürt, bevor die Jury das Ergebnis bekannt geben konnte. Es gab in Göttingen zwei erste Preise, keine Ahnung weshalb. Einen würde ich sicher bekommen für mein Prélude, bläute ich mir immer noch ein, sollte Beatrice den anderen haben – eine faire Lösung. Doch bei der Bekanntgabe der Gewinner bekam ich die Quittung. Zweiter Preis, also gänzlich verloren. Der zweite Preis war das Allerletzte, es war schlimmer, als erst gar nicht anzutreten. Ich war vor den Kopf gestoßen, atmete kaum mehr.

Dann kam auch noch die Mutter von Beatrice auf mich zu, ein Mutant ihrer Tochter in alt, knochig dünn wie Victoria Beckham, klopfte mir schadenfroh auf die Schulter: »Gratuliere zum zweiten Preis, großartige Leistung.«

Ich hätte ihr am liebsten eine gepfeffert, fühlte mich von Monstern umgeben und rannte fassungslos hinaus. Paps wollte mich trösten, er stand mit ausgebreiteten Armen da am Ausgang, aber ich war so außer mir, dass ich ihn wegstieß. Weg, nur fort von hier.

Im Freien traf mich die Kälte wie ein Schlag, ich hatte nicht mal eine Jacke übergezogen. Mein Konzertkleid war aus Polyester, es kühlte mich zusätzlich aus. Mein ganzer Körper war eine einzige Gänsehaut.

Gänseliesel. Warum bin ich hier? Warum spiele ich Klavier? Wer drängt mich, dass ich mir das antue? Ich kann noch so gut spielen, es nutzt gar nichts! Beatrice wird von Eisenstein vorgezogen, bekommt die tollsten Stücke, kann damit angeben. Das ist so ungerecht!

Mir kam schlotternd ein herrlicher, ein undenkbarer Gedanke:

Ich wische denen allen eins aus! Ich lasse mich nicht mehr demütigen. Ich höre auf!

Paps und Mama zwingen mich zu gar nichts! Beatrice hat keine Wahl, muss weitermachen, elterngesteuert. Soll eine Weltkarriere machen, um jeden Preis, aber ich bin frei. Das haben meine Eltern immer klargestellt: Ich muss nicht Klavier spielen! Ich höre auf, das ist der Wahnsinn! Muss nicht mehr jeden Tag üben, keine Kurse und kein Unterricht. Auch keine stressigen Konzerte mehr, keine ätzenden Wettbewerbe wie der hier, zweiter Platz – ph! Endlich Zeit für mich. Ich höre auf!

Ich probierte die Worte, flüsterte sie vor mich hin. Was für eine Entscheidung! Ich machte seit sechs Jahren Musik, viele Stunden jeden Tag. Ich wurde dafür oft vom Unterricht befreit, meine Mitschüler kannten mich kaum, nun war Schluss damit.

Wenn ich das Eisenstein sagte?! Der würde Augen machen! Er dachte, er müsse Beatrice motivieren, um sie zu halten, dabei war ich in Gefahr abzuspringen. Doch nun war es zu spät.

Ich werfe hin. Das hat er sich selber eingebrockt!

Dieser Wahnsinnsgedanke gehörte in dem Moment noch mir allein, ich würde keinem was sagen, noch nicht.

Ich ging wieder zurück in den Konzertsaal, zog mich um, packte tapfer meine Sachen zusammen, verabschiedete mich von allen, als sei nichts gewesen. Nur um Beatrice machte ich einen Bogen, der zu gratulieren, das schaffte ich nicht.

Paps hatte Mama angerufen und ihr alles erzählt, wir fuhren zurück nach Köln, ich sprach kein Wort und blieb auch die nächsten Tage still. Normalerweise quatschte ich wie ein Wasserfall, nun war Ruhe. Ich spielte auch kein Klavier wie sonst, meine Leute waren alarmiert: »Nun sag doch, was ist los? Wir machen uns Sorgen!«

Ich verriet ihnen noch nichts. Die waren sowieso der Meinung, dass ich zu viel machte. Wenn ich aufhörte, würde es ihnen nur recht sein. Einer von ihnen musste immer mit, wenn ich zu Meisterkursen fuhr oder zu Wettbewerben – das nervte meine Eltern gewaltig, das taten sie nur mir zum Gefallen. Ich habe keine Geschwister, sie kümmerten sich nur um mich und ihre Arbeit, mehr war nicht drin, kaum Zeit für sie selbst.

Bald werden sie erlöst sein, ich höre auf.

Es war meine Entscheidung, ich sagte immer noch nichts, musste das neue Gefühl erst einmal auskosten. Ging wie gewohnt in die Schule und hätte meinen Mitschülern die Neuigkeit mitteilen können: »Ich höre auf mit Klavier!«

Die Mädels würden sich freuen: »Jetzt kannst du endlich mal leben, mit uns chillen, shoppen gehen!« Niemand würde mich mehr blöd anschauen, weil ich nie Zeit hatte.

»Schon gehört? Clara hat aufgehört mit dem Geklimper, krass.«

Ich werde es Eisenstein sagen. Ob der ausflippt? Oder zieht er seine Schultern hoch, schaut mich nicht mal an, blättert ungerührt in den Noten und raunt: »Alle Arbeit umsonst!« Er wird mich nie wieder sehen wollen, weil er es verabscheut, wenn sich Schüler feige verdrücken. Das hindert ihn aber nicht daran, einen Schüler zu entlassen, wenn er zu faul ist. Wenn ich mich von meinem Meisterkurs verabschiede, sind bestimmt einige traurig, die mich mochten, aber die werden auch erleichtert sein: eine Konkurrentin weniger. Wär ich auch.

Noch hatte ich es keinem erzählt, noch spazierte ich weiter mit diesem Ich höre auf-Gedanken schweigend durch die Gegend. Stellte mir vor, ich erzählte es meiner tollen Schulleiterin, die mich für alle auswärtigen Kurse und Konzerte seit Jahren freigestellt hatte: »Oh, wie schade, du hast doch so viel Talent!«

Oder ich sagte es meiner Lieblingstante am Telefon. Die würde das gut finden: »Du kannst ja später noch Klavierlehrerin werden. Damit verdienst du gutes Geld. Das ist allemal sicherer, als Konzertpianistin zu werden!« Ich sagte es Oma, ihr fehlten beinahe die Worte vor Schreck: »Warum denn, Kind!?« Ich rief es in Gedanken der Nachbarin über die Hecke, die sich nie über mein Geklimper beschwert hatte, sondern sich freute, jeden Tag stundenlang Musik zu hören: »Ja, bist du sicher, du bist doch so gut!«

Je öfter ich es dachte, vor mich hin murmelte, umso weniger glaubte ich mir selbst. Was wollte ich denn nun? Mama und Paps saßen am Küchentisch und tuschelten. Ich ging ins Wohnzimmer, sah meinen wunderschönen Flügel mitten im Zimmer stehen – und spürte ganz deutlich: Mit meiner Entscheidung tat ich mir selber weh. Ich konnte doch nicht einfach so aufhören, das fühlte sich schrecklich an!

Ich setzte mich auf den schwarzen Hocker, öffnete den Deckel, schob das Tuch aus rotem Samt beiseite, das die Tasten vor Staub schützte, legte meine Finger sanft darauf. Ich streichelte die weißen, dann die schwarzen. Sie vertrugen sich gut, waren mir so vertraut, ich konnte sie zum Leben erwecken. Wenn ich loslegte, erklangen Melodien, die sich anfühlten wie Sommerregen, Wolken oder Donnerschlag – je nachdem, was ich aus dem Instrument herausholte. Meine Töne kitzelten oder drohten, schrien oder flüsterten, rasten dahin wie ein Rennwagen oder fanden langsam ihren Weg wie fallende Federn. Wenn ich wollte, klang mein Flügel so gewaltig wie ein ganzes Orchester.

Ich brauche doch keinen Preis, der mir beweist, was ich draufhab. Ich bin gut, und ich muss noch so viel lernen, mehrere Stunden jeden Tag. Ich will das ja. Es ist nicht so, dass ich zum Klavier gehe und mich schinden muss, wenn ich übe. Das ist für mich keine Pflicht, kein Muss. Für mich ist das Klavier …? Wie soll ich das erklären? Das Üben ist keine Arbeit, sondern das Klavier bin sozusagen ich! Ja, so ungefähr kann man das sagen. Wenn ich ganz bei mir sein will, dann spiele ich, dann lebe ich durch das Instrument. Deswegen kann ich auch nie und nimmer mit Klavier aufhören. Es ist nicht bloß ein schwarz lackierter Kasten, der im Wohnzimmer steht, für mich ist das mein Leben.

Und ich kann schon verdammt gut spielen, lobe ich mich selbst.

Angeberin, mahne ich schüchtern.

Also gut, bläue ich mir ein: Wenn ich jemals mit Klavier aufhöre, dann nur, weil ich nicht mehr spielen will. Oder nicht mehr kann – sei es, dass meine Finger kaputt sind oder ein Handgelenk nicht mehr will. Aber nicht wegen anderer Leute, die mir das Leben schwer machen, wegen Eisenstein oder Beatrice gebe ich doch nicht auf!

Damit das ein für alle Mal klar war, haute ich mit vollem Karacho einige Takte in die Tasten, in der Küche zuckten meine Erwachsenen vor Schreck zusammen! Ich stand auf und stürmte zu ihnen: »Gibt’s was zu essen? Ich sterbe vor Hunger!« Sie grinsten breit. Ihrer Tochter ging’s augenscheinlich besser.

Bei Tisch versuchten wir gemeinsam, diesen Wettbewerb zu verstehen. Paps sagte: »Beatrice hat ein virtuoseres Stück gespielt als du, spektakulär im Tempo. Vielleicht hat sie deshalb gewonnen!«

Wenn das der Grund war, dachte ich, dann würde ich von nun die schwierigsten Stücke der Welt spielen, und zwar mit einer Geschwindigkeit, dass mich niemand mehr schlagen konnte. Aber überhaupt keiner mehr! Meine Mama umarmte mich herzlich, mein Paps drückte mich noch fester, und ich atmete tief durch. So, und nun? Ich wollte mal wieder einen Wettbewerb gewinnen. Es war lange her, dass ich gesiegt hatte. Peinlich lang.

ALS ICH ACHT WAR …

… habe ich mal gewonnen. In Düsseldorf war ein Wettbewerb für Kinder ausgeschrieben, meine Klavierlehrerin Frau Bette hatte mich dort angemeldet – meine Eltern und ich kannten solche Vorspiele bis dahin nicht. Ich hatte ja einfach nur Klavier spielen wollen, wie viele Kinder das machen: Sie klimpern los und üben kaum, müssen aber an Weihnachten ein Liedchen spielen, damit die Familie sich freut.

Bei mir aber lief das anders. Ich hatte mit fünf angefangen und sehr schnell gelernt, es war für mich ganz leicht. Wir sind keine Musiker, keiner unserer Verwandten oder Bekannten spielt professionell Klavier, bloß mein Vater probierte nach Feierabend leichtere Stücke, ich wollte das auch. Nun also ein kleiner Wettbewerb. Meine Eltern stellten sich vor: Da sind Kinder unter zehn, die niedlich was vorspielen, was soll schon dabei sein? Meine Lehrerin Frau Bette und Paps begleiteten mich zur Vorauswahl.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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