Süß wie Schattenmorellen - Claudia Schreiber - E-Book

Süß wie Schattenmorellen E-Book

Claudia Schreiber

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Beschreibung

In Annies Familie waren die Dinge schon immer etwas anders als bei den anderen. Doch als würde es nicht reichen, dass sie ohne leiblichen Vater gezeugt wurde und ihr Großvater mit seiner jungen Geliebten kurzerhand in den Urlaub verschwindet, macht sich zugleich auch noch ihre gestresste Mutter aus dem Staub und lässt die 14-Jährige allein auf der Schattenmorellenplantage der Familie zurück. Als dann die hochschwangere Paula auftaucht, scheint die Katastrophe perfekt, doch wie so oft schafft die unerschrockene Annie, das Schlimmste zu verhindern, und wird fast nebenbei sogar erwachsen. Die Geschichte eines Mädchens auf dem Weg zur jungen Frau - anschaulich, unterhaltsam und ohne jegliche Sentimentalität erzählt.

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Seitenzahl: 317

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Inhaltsverzeichnis

» Dank,Impressum

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

Claudia Schreiber wurde 1958 als das vierte von fünf Kindern geboren, die Eltern waren Landwirte, Obstbauern und später Konservenfabrikanten. Nach dem Studium wurde sie 1985 Redakteurin und Reporterin beim Südwestfunk Baden-Baden, später Redakteurin, Reporterin und Moderatorin beim Zweiten Deutschen Fernsehen Mainz, wo sie die Kinder-Nachrichtensendung logo! realisierte. 1992 begann – in Moskau – ihre Arbeit als Autorin, seit 1998 lebt und arbeitet Claudia Schreiber in Köln.

www.claudiaschreiber.de

ÜBER DAS BUCH

In Annies Leben waren die Dinge schon immer etwas anders als bei den anderen. Doch als würde es nicht reichen, dass sie ohne leiblichen Vater gezeugt wurde und ihr Großvater mit seiner jungen Geliebten kurzerhand in den Urlaub verschwindet, macht sich zugleich auch noch ihre gestresste Mutter aus dem Staub und lässt die 14-Jährige allein auf der Schattenmorellenplantage der Familie zurück. Als dann die hochschwangere Paula auftaucht, scheint die Katastrophe perfekt, doch wie so oft schafft die unerschrockene Annie, das Schlimmste zu verhindern, und wird fast nebenbei sogar erwachsen. Claudia Schreiber ist eine temporeiche Tragikomödie mit einer starken Heldin und jeder Menge skurriler Nebenfiguren mit unterschiedlichsten Lebensentwürfen gelungen. Vor allem aber schildert sie den Weg eines Mädchens zur jungen Frau – anschaulich, unterhaltsam und ohne jeglichen Kitsch oder Sentimentalität.

Für meine Mutter

Katharina Elisabeth Klemme, geb. Zimmermann

Die besten Kirschen fressen die Vögel.

Volksmund

Kinder beruhigen sich niemals bei etwas Unbestimmtem oder Schwebendem, sondern aus instinktmäßigem Selbsterhaltungstrieb fordern sie stets ein reines Ja oder ein reines Nein, ein Für oder Wider, damit sie wissen, welchen Weg sie mit ihrer Liebe und welchen sie mit ihrem Hass einzuschlagen haben.

Jens Peter Jacobsen, Niels Lyhne, 1880

INHALTSVERZEICHNIS

Annie

Windbefruchter

Paula

Galle

Schule

Furcht

Nette

Opa

Mann

Allein

Ostwind

Haus und Hütte

Begegnung

Erntehelfer

Halt und Haltlosigkeit

Gäste

Ankunft

Fürsorge

Der Mensch

Polizei

Heim

Frost

Schnitt

Dresden

Blütezeit

ANNIE

Am liebsten stand Annie am höchsten Punkt der Kirschplantage und kletterte noch in einen Baum, um von dort aus alles zu überblicken. Ringsherum wuchs der Wald, ihr Horizont war eine grüne Linie aus Eichen, Buchen und Tannen. Die Felder lagen da wie braune oder gelbe Teppichfliesen, die Decke war blau und weiß. Hecken und Büsche schienen in Form geschnitten zu sein, als wären sie Schränke und Kommoden, das dichte Gras war weich und gemütlich wie ein Polster. Dies war ihr Wohnzimmer, geräumig genug und auf ihre Bedürfnisse abgestimmt, im Sommer hatte sie sogar immer frische Blumen und Obst parat. Annie fand es hier tausendmal gemütlicher, als im muffigen Haus der Familie zu sein.

Die Mutter hatte ihr schon früh eine Trommel um den Bauch gebunden, zwei kurze Stöcke gereicht und sie losgeschickt, damit sie mit ihrem Krach und Gebrüll die Stare aus der Kirschplantage verjagte – so sollten nicht nur die Vögel, sondern vor allem auch das Mädchen, das angeblich an den Nerven ihrer fahrigen Mutter pickte, zumindest den Hochsommer über keinen größeren Schaden anrichten.

Auch in diesem Jahr lief und lärmte Annie in den Feldern herum, obwohl sie inzwischen kein Kind mehr war, dies aber allem Anschein nach niemanden wissen lassen wollte. Ihre kurze sandfarbene Baumwollhose wurde von einem Gummiband gehalten, an der rechten Seite war eine Tasche eingenäht, die mit einem Reißverschluss zugemacht werden konnte; hier verwahrte sie, was ihr wichtig war – eine Handtasche zu tragen, wäre ihr lächerlich vorgekommen. Ihre dunklen Haare waren störrisch dick und von ihr selbst gestutzt. Der lange Pony hing ihr deshalb vor den Augen, die regelrecht schwarz waren, häufig wischte sie sich die Strähnen aus dem Gesicht. Meist hatte sie einen kritischen, wenn nicht gar aufsässigen Gesichtsausdruck, den Mund dabei leicht geöffnet – ein Fremder musste sich fragen, ob das ein Widerwort werden sollte oder ein erschöpftes Ausatmen.

Die Plantage zog sich sanft den Hügel hinauf, reichte auf der anderen Seite runter bis zum Holzschuppen am Bach und dahinter wieder hoch bis zum Waldrand. Annie stellte sich gern vor, diese kleinen Neigungen des Geländes seien große Wellen und sie selbst ein Schiff mit schwarzen Segeln, das im Sturm ganz allein die Wasserwände anging. Und wenn es so brütend heiß war wie im Moment, wenn die Luft sich kaum bewegte, die Hitze über dem Asphalt flimmerte, wenn der Schweiß den Männern von der Stirn über den Hals ins Hemd floss und den Frauen feucht unter den Brüsten stand, wenn die Kuhherden eng gedrängt unter Bäumen einen letzten schattigen Platz fanden und die Hunde verzweifelt schnell hechelten, malte sich Annie aus, eine Beduinin zu sein, die der Hitze trotzte, die auf ihrem Kamel ritt, statt zu rennen, und die hohen Sandberge einer fernen Wüste bezwang, auch wenn es in Wirklichkeit nur erdige, trocken-harte Buckel waren. Oder ihr schien, als spiele sich in der Welt da draußen ein Kriminalfall ab und sie wäre mittendrin, denn Tausende schwarze Verbrecher schlitzten die Früchte auf wie die prallen Bäuche hilfloser Opfer, roter Saft spritzte auf die Blätter und Äste. Die Gier der hungrigen Tiere war sogar zu hören, sie schmatzten, besudelten einander mit Kirschblut und berauschten sich daran. An einem Ende der Plantage schlich Annie sich an die Räuber an, hob langsam beide Arme, schlug endlich auf die Trommel, so fest sie konnte, und schrie, so laut sie es fertigbrachte. Am frühen Morgen scheuchte ihr Krach die Vögel noch hoch, sie brachen ihren Raubzug ab, flogen auf und zerstreuten sich in der Luft, besannen sich dann, vom Hunger getrieben, fanden sich zum Schwarm und kamen am anderen Ende der Plantage wieder herunter, besetzten dort die Bäume und fraßen weiter.

Annie verfolgte die Horde, bis sie genau unter den Schädlingen war. Sie sah und hörte, wie die Stare mit scharfen Schnäbeln zupickten, das Fruchtfleisch an sich rissen, schlürften, schluckten. Kirschsaft tropfte auf Annie herab, dazu rieselten die Exkremente der Blattläuse auf sie nieder – ausgerechnet Honigtau wurde das genannt. All das sammelte sich den Tag über auf ihrer Haut wie Zuckerguss, klebte ihr im Nacken, im Haar, juckte ihr im Gesicht und unter den Achseln. Sie schlug zu, wenn es den Viechern am besten schmeckte, lärmte mit ihrer Trommel, brüllte wie eine Furie, die Meute schreckte hoch, Annie keuchte hinterher, zum anderen Ende der Plantage. Äste schlugen ihr bei diesen Wettläufen ins Gesicht, kratzten ihr die Wangen auf, mit bloßem Unterarm wischte Annie sich Schweiß, Tränen und Schmutz ab. Runter und rauf, immer den Vögeln nach, die schon vorausgeflogen waren, aussichtslos, wieder und immer wieder, ein andauerndes Hin und Her.

Doch die Stare gewöhnten sich an den Lärm, und Annie musste fester schlagen und schriller schreien, damit die Fresser sich überhaupt noch stören ließen. In der Mittagshitze zogen sie allerdings wie auf Kommando ab, verdauten in den Wipfeln des kühleren Waldes. Annie wusch sich im Bach, ruhte dann erschöpft im Schatten des Holzschuppens und hatte endlich eine Pause. An diesem Tag war sie bereits sechs Stunden unterwegs.

An der Außenwand des Schuppens stand ein altes Metallbett mit Sprungfedern, es war mit einer Schaumstoffmatte und viel frischem Heu gepolstert; dort lag sie nun, aß ihre mitgebrachten Wurststullen, las wenige Minuten in ihrer Zeitung und schlief ein.

Beinahe jeder Mensch kennt den Geruch seiner Kindheit, vielleicht ist es der von frischen Brötchen, die es immer zum Frühstück gab, oder vom rostigen Metall der maroden Schaukeln auf dem Spielplatz, je nachdem. Oder der von frischem Teer auf Straßen, wenn man in Gegenden aufwuchs, in denen die Straßen oft ausgebessert werden mussten; von mit Essigwasser geputzten Treppenhäusern oder muffigen Dachböden, wo sich alte Schätze finden ließen oder man die Tauben des Großvaters füttern durfte. Annies Erinnerung an ihre Heimat, ihr Lieblingsgeruch wird immer dieses würzige Heu sein, eben von der Sonne verbrannt, jene Mischung aus Gras, Klee, Sauerampfer, Kamille und etwas Minze. Hier schien die Sonne beständig, wie es sich Städter in ihren teuren Urlauben wünschen, Annie dagegen bekam das kostenlos. Weiße Wolken zogen über den hellblauen Himmel; dazu konnte sie den kühlen Bach jederzeit genießen, mit den nackten Füßen den glitschig-zarten Grund des Ufers spüren. Wenn die Schwärme zurückkehrten, arbeitete sie weiter, bis sich die Stare zur Abendruhe sammelten und abzogen.

Die Plantage lag drei Kilometer vom Haus der Familie entfernt, Annie wohnte mit ihrer Mutter und ihrem Großvater an der für Touristen eingerichteten Märchenstraße in einem der renovierten Fachwerkhäuser. Zur Zerstreuung gab es im Ort bloß eine Feuerwehr, die nie einen Brand, sondern maßgeblich den Durst der Herren löschte, und eine stocksteife Damenturntruppe, die jährlich eine Kirmes vorbereitete, den festlich-läppischen Höhepunkt des Jahres. Sowohl hier als auch in den benachbarten Ortschaften standen mittelalterliche Häuser, das Fachwerk in Schwarz-Weiß gehalten, die Straßen mit Basalt gepflastert, hübsche schmale Gefängnistürme wie aus einer Filmkulisse zu Rapunzel, oder im nahen Wald ein verwunschenes kleineres Schloss, in dem Dornröschen vor langer Zeit gelebt und geschlafen haben soll.

Das nordhessische Dorf wurde schon im neunten Jahrhundert nach Christi Geburt in Urkunden eines Klosters erwähnt, und Annie fragte sich, weshalb ausgerechnet aus ihrem Nest in all der Zeit nichts geworden war. Berlin war viel später entstanden und hatte es zur Hauptstadt gebracht.

Unter dem Papiercontainer an der Kreuzung zum Feldweg lag geschützt vor Regen regelmäßig die Süddeutsche Zeitung vom Vortag, ordentlich gefaltet, die Seiten in der richtigen Reihenfolge. Der Apotheker des Ortes überließ Annie auf diese Art regelmäßig seine Lektüre. Zur Plantage führte ein ungewöhnlich breit geteerter Luxus-Feldweg, der das Gewerbegebiet erschloss, auf dem sich abgesehen von ein paar Füchsen niemand sonst angesiedelt hatte, schon gar kein Gewerbe. Teure solarbetriebene Straßenlaternen standen dort neben nicht genutzten Grundstücken, von denen Annies Großvater bitter behauptete, er habe für sie mit seinen Steuergeldern persönlich aufkommen müssen, für nichts und wieder nichts.

»Weißt du, was ich bin?«, schimpfte er und nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche. »Sponsor dieser Bundesrepublik bin ich, so siehts aus, ohne dass mich einer fragt, was ich alles löhnen will.«

»Zahlen wir denn noch Steuern?«, fragte Annie, die genau wusste, wie es um die Einkommensverhältnisse der Familie stand. Er blieb ihr die Antwort schuldig.

Die Dinge standen nicht zum Besten, entweder fiel die Ernte schlecht aus, oder die Obstpreise waren im Keller. Bereits seit Jahren ließen viele Bauern die Früchte an den Bäumen hängen und verderben, weil es sich nicht mehr lohnte, sie für teures Geld pflücken zu lassen. Die Schattenmorellen aus dem Osten waren allesamt billiger, heimische Plantagen wurden abgeholzt, das eigene Land gewöhnte sich den Obstbau ab. Das hatte der Familie zugesetzt, Annies Mutter war inzwischen sichtlich eine verzagte Frau geworden.

Die Aufregung über deren Namen ging los, sobald man ihn nannte: Nette-Marie.

»Die nette Marie?«, zweifelten die neu Hinzugezogenen.

»Nein!«, giftete die keineswegs immer nette Nette, weil sie es satthatte, das beinahe täglich klarstellen zu müssen. Sie machte ihrem Vater Vorwürfe deswegen: »Weshalb hast du mir diesen Namen gegeben?«

Opa seufzte: »Weil es in Norwegen damals so schön war«, und fügte bitter hinzu: »Hat ja keiner ahnen können, dass das Gegenteil von dem herauskommt, wenn’s älter wird.«

Die vielen Sticheleien ihrer beiden Erzieher verdarben dem Mädchen die Stimmung nicht, für Annie fing das gute Leben mit der Kirschblüte an und hörte mit den Herbstfeuern auf. In dieser Zeit erwachte sie frühmorgens und dachte nur ein einziges Wort: Sommer. Sie zog sich in Windeseile Unterhose, Shorts, Hemd und Sandalen an und war schon draußen. Noch immer lief sie manchmal mit freiem Oberkörper in der Plantage herum, weil es schlicht nichts zu verdecken gab, allenfalls warf sie sich ein verwaschenes T-Shirt über, wenn ein wenig Wind ging.

Fünfzehnhundert Bäume standen in dreizehn langen Reihen, ein hoher Maschendraht zäunte sie ein. Hier schuftete Annie im Sommer, im Winter ruhte sie wie die Bäume – die draußen im Frost, sie drinnen in eine Wolldecke gehüllt flach auf der Couch, genau wie ihr Opa in seinem Liegesessel. Der schimpfte weiter, als gehöre sein Meckern zum Lebensrhythmus wie Zähneputzen: »Ein Scheißleben haben wir auf dem Land.«

Mindestens einmal die Woche sagte er das. Dann schaute Annie ihn an, hob die Hände, wollte ihn besänftigen: »Wir können doch zufrieden sein.«

Er schüttelte den Kopf: »Ein Bauer ist nie zufrieden, auch wenn er’s ist. Schreib dir das endlich hinter die Ohren.«

»Ich bin kein Bauer, ich bin Schülerin.«

Er winkte ab, wollte von ihr keine Einwände hören: »Du arbeitest mehr im Feld als in der Schule. Meckern ist bei unsereins eine Umgangsform, die sich geradezu gehört. Das Ringen um eine gute Ernte ist ein Streit des Menschen mit der Natur«, sagte er gestelzt, »wie die Bäume und die Erde brauchen wir eine lange Winterruhe.«

»Ich streite nicht mit der Natur.«

Er grinste ihr zu: »Wie oft soll ich dir das noch sagen? Leg die Füße hoch, so oft du kannst, Hauptsache, du findest eine komplizierte Begründung dafür.«

Seit einem Jahr schoss Annie die Vögel auch mit einem Luftgewehr ab und hängte die Leichen in die Äste, um die anderen Fresser zu warnen. Doch die machten sich genau so wenig daraus wie aus dem Getrommel und Geschrei. Annies Mutter hatte kürzlich weiter aufgerüstet und eine regelrechte Knarre gegen die Stare angeschafft, eine Browning mit dickem Lauf, die so echt aussah, dass man damit eine Bank hätte ausrauben können.

Nette warnte ihre Tochter: »Du musst sie hochhalten und die Signalraketen in den Himmel schießen, kapiert?«

»Logisch.«

Zu Anfang schoss sie tatsächlich noch vorschriftsmäßig in die Luft, aber die frechen Stare hopsten bloß kurz auf und fraßen gleich danach weiter. Als Annie es daraufhin mal waagerecht versuchte und die Raketen im Zickzack über die Baumspitzen zischten, machten sie grausige, heulende Geräusche und scheuchten wahrhaftig ein paar sensible Vögel auf. Leider ging ausgerechnet während dieser Schießübungen ihr Opa zwischen den Baumreihen spazieren, gemeinsam mit dem uralten Bürgermeister und dem Großvater des Bäckers. Opa blieb erstaunt stehen wie ein Kugelfänger, die beiden Greise jedoch duckten sich unter Annies Beschuss flach ins Unkraut, legten die Arme über die Köpfe und zitterten noch Tage später, weil sie auch Jahrzehnte zuvor oft in Deckung hatten gehen müssen. Verflucht haben sie das Kind, ihm Schläge angedroht, gestorben seien sie fast, und kreuzten doch nie wieder in der Plantage auf, ohne vorher Bescheid zu geben.

Opa erklärte Annie, in den Ohren seiner beiden alten Stammtischbrüder hätten diese Schüsse gepfiffen und gezischt wie die Artilleriegeschosse. Seitdem wusste Annie, wie der Zweite Weltkrieg geklungen haben muss, und versprach, in Zukunft auf ausgediente Soldaten Rücksicht zu nehmen.

Da besann sich Opa plötzlich: »Nein, tu das nicht, wer weiß, was die beiden bei der Wehrmacht angestellt haben. Da schadet ein später Schrecken nicht.« Er hielt kurz inne: »Auch denen vom TÜV, wenn sie hier rumlaufen. Aber nicht treffen, nur verscheuchen«, warnte er. »Und vergiss die vom Finanzamt nicht, falls die überhaupt durch Plantagen gehen, diese asthmatischen Stubenhocker.«

Die Alten hatten Früchte probiert, sie durften das, weil es Opas Freunde waren und es sich dabei um wenige Kirschen handelte. Wenn weder er noch Nette das Ernten gestattete, war es natürlich verboten. Im Sommer hatte Annie deshalb in der Plantage nicht nur die Stare zum Feind, sondern zusätzlich die Diebe. Spaziergänger durften ruhig mal die Hand über den Zaun strecken und einzelne Kirschen kosten, dagegen hatte niemand etwas. Doch es gab fremde Leute, die kamen mit Eimern oder großen Körben, stiegen über den Zaun, pflückten die Früchte und wollten sie wegschleppen, ohne zu bezahlen.

Sie schlich sich leise an, duckte sich, atmete so leise wie möglich und ließ die Leute gewähren. In der Zwischenzeit fraßen die Stare wie verrückt, aber was sollte sie machen? Man konnte ja schließlich nicht laut und leise zugleich sein. Ihr Versteck verließ Annie erst, wenn die Fremden gehen wollten, dann rannte sie los und brüllte mal wieder. Immer brüllen, nie sprechen, das war ihre Methode bei Erwachsenen.

Die Ertappten bekamen einen Riesenschreck, wenn sie so plötzlich auftauchte – ein Mädchen, das offensichtlich am halb nackten Körper mit Blut bespritzt war. Verdattert liefen sie davon und ließen ihre Ernte zurück. Diese lieferte Annie daheim ab und behauptete, die Früchte selbst gepflückt zu haben. Dafür bekam sie von Nette einen Extralohn, das nannte sie Business.

Es gab andere Diebe, die stehen blieben, sich schämten und entschuldigten. Wenn Annie dann kein Wort sagte, sondern nur dastand und die flache Brust rausstreckte, um sich auf diese Art wichtig zu machen, fragten die Fremden verschämt, ob sie die Kirschen bezahlen durften. Das war der Moment, in dem sie einfach nur zu nicken brauchte, sie bekam ihr Geld bar auf die dargebotene Hand und verschwieg die Sache daheim, das nannte sie Stil.

In diesem Sommer nun, kurz vor Annies vierzehntem Geburtstag, kam unerwartet eine Gruppe Jugendlicher nicht vom Dorf, sondern von der anderen Seite her, mit Mopeds durch die Kornfelder; sie hatten keine Gefäße dabei. Es sind Bekloppte, die sich benehmen werden wie Affen, wenn sie erst einmal in die Plantage eindringen, das war Annie klar. Mittendrin erkannte sie Fritzi, ihre im Grunde einzige Freundin, die jeden Unsinn mitmachte und immer von einer Meute umgeben war. Sie stürmten tatsächlich den Zaun, rissen die halb reifen Früchte von den Bäumen und warfen sie auf den Erdboden, grölten dummes Zeug, kletterten schließlich auf die dürren Äste und sprangen heftig darauf herum, bis sie brachen.

Annie brüllte vor Zorn, hätte die Eindringlinge liebend gern von den Bäumen geschossen, sie rannte unüberlegt eine kleine Erhebung hinauf, wo sie sonst nie lief, blindwütig den Feinden entgegen, brüllend natürlich. Da brach eine dünne Kruste, Annies Füße tauchten in einen zähen Brei, sie kippte nach vorn und versank. Seit Jahren war hier am Rand der Plantage zähflüssiger Dünger gelagert, ein riesiger Haufen Hühnerkot, den sie komplett vergessen hatte und der längst mit Unkraut überwachsen war. Annie rappelte sich auf, schimpfte verzweifelt vor sich hin, am ganzen Körper mit Scheiße bekleckert. Ihr war sofort klar: Diese Menschen werden noch dreißig Jahre später grölen, weil sie sonst nichts weiter erleben in ihren armseligen Leben mit ihren billigen Berufen. In ihren popligen Discos werden sie es verbreiten, werden weiterlachen in den Festzelten ihrer faden Viehmärkte. Sogar am Spielfeldrand des erfolglosen FC Wolke Null Sechs werden sie wieder und wieder erzählen, was passiert ist. All das sah Annie auf sich zukommen, ewig würde der Tratsch währen, erbärmlich war ihr bei diesem Gedanken zumute. Sie werden sich nicht mal scheuen, in goldenen Buchstaben Hühnerkacke auf ihren Grabstein zu meißeln, fürchtete sie, als sie versuchte, aus dem Schlamassel zu kommen, alles stank höllisch und war klebrig zäh. Sie atmete durch den Mund und hoffte, dass ihr so besser würde, doch der Ekel ließ sie würgen, beinahe zusammenbrechen.

Schließlich sprach Fritzi ein kurzes Machtwort, und schon machten sich alle davon, Motoren heulten, Stille. Nur ein Typ mit Moped blieb in respektvoller Entfernung stehen, auf dem Rücksitz lag ein zweiter Helm. Fritzi hob ihre Hand zur Beruhigung: »scheis kacke«, stellte sie fest. Sie sagte es nicht höhnisch, es klang eher mitleidig.

»Lachst du mich aus?«

»nee.«

»Du lachst doch?!«

»nee, escht net.«

Annie hasste es, ausgelacht zu werden: »Ich sehe deine Zähne, du lachst!«

»zähne eh, die tu ich trocknen!«

»Deine Zähne sind nass?«

»hab wasser im zahn.«

Ihre verlotterten Kumpel kamen einige Hundert Meter weiter an einer Abzweigung zum Dorf zum Stehen, sie warteten auf ihre Freundin, ließen die Motoren aufheulen und riefen sie damit.

Annie litt nicht nur unter dem Dreck, der an ihr hing, sondern auch daran, dass sie meist nur in Gesellschaft von Bäumen und Staren war und keinen Motor zum Mitheulen besaß.

Fritzi wies auf den triefenden Hühnerdünger: »un sons?«

»Hau bloß ab.«

Da setzte Fritzi ihren Helm auf, sprang zu dem Jungen aufs Moped und machte sich davon.

Annie riss sich auf der Stelle die stinkende Shorts vom Leib, Unterhose und Hemd ebenfalls, ließ alles auf der Erde liegen und lief nackt durch die Plantage, allein die Sandalen hatte sie anbehalten, da der Boden mit Disteln übersät war. Ihre Füße schmatzten bei jedem Schritt im Hühnerkot, es war widerlich. Der Gestank machte aus der Isolierten eine Aussätzige, mit der nun erst recht keiner zu tun haben wollte. Sie erreichte den Bach und wusch sich, bis sie ganz wund war, fluchte und jammerte weiter vor sich hin. Sie legte ihre gewaschenen Sandalen in die Sonne und fiel zu guter Letzt erschöpft auf das Metallbett, atmete durch, beruhigte sich, wühlte ihren nackten Körper ins Heu, weinte leise und schlief endlich erschöpft ein.

WINDBEFRUCHTER

Das Haus, in dem die drei wohnten, gehrte der Familie schon seit Generationen. Im Erdgeschoss waren die Kche und ein grozgiges Wohnzimmer mit Kachelofen. Im ersten Stock hatte jeder ein Zimmer mit Holzdielen. Vorn an der wenig befahrenen Strae lag der Gemsegarten, hinter dem Haus ein Hof mit Moos zwischen den Steinen, und neben dem Kchenfenster wuchsen gelbe Rosen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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