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Unter dem Gipfel des Himmelnuten, tiefe Täler und weite Wiesen überblickend, liegt das Himmelfjell Hotel, seit Generationen geführt von der Familie Berg. Seit die 30-jährige Ingrid die Leitung von ihrer Großmutter übernommen hat, weht frischer Wind durch die alten Mauern. Und jetzt fiebern die Bewohner einem ganz besonderen Mittsommerfest entgegen: Ingrids bester Freund wird hier seine große Liebe heiraten. Blumenkränze, Feuerwerk, Tanz unter dem endlosen Himmel begleitet vom Grillenorchester – ein norwegischer Mittsommertraum! Doch jemand sabotiert ihre Pläne, und als auch noch ungeahnte Familiengeheimnisse zutage treten, steht Ingrids eigenes Glück auf dem Spiel. Kann sie mit Hilfe ihrer Freunde das Fest ihres Lebens feiern?
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Seitenzahl: 453
Veröffentlichungsjahr: 2025
Kjersti Herland Johnsen
Roman
Daniela Stilzebach
Für AR
»Die Berge haben einen seltsamen Einfluss auf all jene, die sie über alles lieben. Alle Bergsteiger, denen ich begegnet bin, haben sich durch Höflichkeit, Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft ausgezeichnet. Mir ist wirklich nicht eine einzige Ausnahme bekannt, Bergsteiger sind ein netter Menschenschlag.«
THERESE BERTHEAU
Über dem Nadelwald im Osten machen sich die ersten Sonnenstrahlen bemerkbar, die Geburt ist schwierig und langwierig. Die ganze Nacht hindurch ist Schwester Lovise mit sauberem Wasser und Lappen die Treppen des großen weißen Hauses hinauf und hinab gelaufen, in dem sie arbeitete, seit die Witwe Hilma Heine in ihrem Testament verfügt hatte, es solle zu einem Geburtshaus für gefallene und unglücklich gestellte Frauen werden.
Die Schreie der werdenden Mutter sind verstummt, eine Stille hat sich herabgesenkt, die nur durch leichtes Wimmern unterbrochen wird, wenn die Wehen sich durch den mageren Körper arbeiten. Jetzt passiert es wieder, allerdings ist es nun offensichtlich schmerzhafter, und das Wimmern geht in eine Art Heulen über.
Das junge Mädchen, das im Bett halb sitzt, halb liegt, heißt Eli und ist sechzehn Jahre alt. Ihre Geschichte kennt Schwester Lovise nicht, an ihrem Tonfall hört sie jedoch, dass Eli aus dem Norden stammt. Das Mädchen ist vor ein paar Wochen ins Heineåsen gekommen – im achten Monat schwanger, wortkarg, blass und viel zu dünn. Eli ist groß, aber immer ging sie gebeugt, als würde sie sich um den schwangeren Bauch herum krümmen. Um ihn zu beschützen gegen – was?
Der Geburtstermin lag eigentlich noch einige Wochen entfernt, gestern Morgen aber war die Fruchtblase geplatzt und alsbald hatten die Wehen eingesetzt. Die waren so heftig, dass sie glaubten, das Ganze würde schnell vonstattengehen. Jetzt aber dauerte es bald einen Tag an. Der Arzt war gestern Abend gekommen und hatte, zusammen mit der Hebamme, die ganze Nacht hindurch gearbeitet. Jetzt liegen Elis Beine auf Bügeln, während sich ihr Kopf ins Kissen presst. Ihre Augen sind geschlossen. Die Haare kleben an der Stirn, feucht von Schweiß. »Jetzt bewegt es sich«, sagt Doktor Hedlund, über die Gebärende gebeugt. Er richtet sich auf und wischt sich mit dem Ärmel des Arztkittels über die Stirn. »Aber es … es ist zu eng. Würden Sie mir die Schere reichen?«, bittet er die Hebamme.
Schwester Lovise hat bereits vielen Geburten beigewohnt, aber selten waren sie so hart wie diese. Sie hat den Arzt und die Hebamme über einen Kaiserschnitt diskutieren hören, aber die Geburt ist bereits zu weit fortgeschritten, als dass sie noch ins Krankenhaus fahren könnten, und im Mütterheim kann ein solcher Eingriff nicht durchgeführt werden.
Eine weitere Wehe, ein leises Heulen des Mädchens.
»Die Zange, bitte«, sagt der Arzt entschlossen und greift nach dem Instrument, das die Hebamme ihm reicht. Und dann, endlich: Ein paar Sekunden später ist das Ganze überstanden.
»Es ist ein Mädchen«, sagt Doktor Hedlund und reicht der Hebamme das blutige Bündel. »Es ist am Leben. Aber Sie, Schwester Lovise, sollten dennoch umgehend den Pfarrer rufen.«
Mit einem Satz stürzt sich Ingrid in den See und keucht, als sie nach dem Schock des eisigen Wassers wieder Luft bekommt.
Das Herz pumpt, und in den ersten Sekunden befindet sich der Körper in Alarmbereitschaft, bevor er sich anpasst, zulässt, dass sie sich bewegt und die Lunge Sauerstoff aufnimmt.
»Es war deine Idee zu baden!«, lacht Tor. Er dreht sich um und schwimmt ein paar Züge in Rückenlage, wirkt vollkommen unbeschwert. »Ich dachte, du seist das gewohnt?«, fährt er fort. »Du als Kind der Berge!«
Tor macht ein paar schnelle Züge, und Ingrid schwimmt ihm hinterher. Es stimmt, was er sagt, sie hatte vorgeschlagen, die morgendliche Tour mit einem Bad im See zu kombinieren. Sie vergisst jedes Mal, wie schmerzhaft das ist.
»Dieser See wird immer eiskalt sein, auch wenn ich hier schon tausendmal gebadet habe«, sagt sie. Sie erhöht das Tempo, holt Tor ein und gibt ihm einen Kuss. »Aber jetzt müssen wir wieder raus, bevor wir erfrieren!«
Sie machen kehrt und kommen auf sandigem Untergrund an Land. Spüren die Morgenluft auf der Haut. Es sind nur wenige Grad über null, aber im Vergleich zum Wasser ist die Luft warm. Sie nimmt die Handtücher aus dem Rucksack, reicht Tor eins und rubbelt sich selbst kräftig ab, spürt, wie die Haut kribbelt, als die Wärme schrittweise in den Körper zurückkehrt. Sie hat auch eine Wolldecke dabei, die sie ausbreitet, sobald sie sich wieder angezogen hat. Sie legt sie über das Heidekraut und setzt sich hin. Tor nimmt neben ihr Platz. Er legt den Arm um ihre Schulter, und sie lehnt sich an ihn. Alles fühlt sich so lebendig an, die Haut, der Atem, das Wasser, die Natur. Er zieht sie näher zu sich heran und legt seinen Kopf auf ihre Haare.
Direkt neben ihnen, halb im Gebüsch versteckt, liegt ein kleines Boot. Seit sie sich erinnern kann, liegt das alte Ruderboot am Seeufer. Sie wickelt eine Hand aus der Decke und streckt sie zum Holz hin aus. Es ist feucht. Hat das Boot jemand benutzt? Wer könnte das sein?
Der Gedanke verschwindet, ohne sich zu verfestigen. Sie lehnt sich wieder gegen Tors Schulter und genießt seine Wärme.
»Ich liebe dich«, sagt sie.
»Ich liebe dich auch«, entgegnet er. Dann ist es, als wolle er noch etwas sagen, entscheidet sich jedoch dagegen. Stattdessen küsst er sie. Erst vorsichtig, dann intensiver und fordernder.
Tor hat heute Nacht bei ihr geschlafen. Nun, nicht nur geschlafen. Die Erinnerung an warme Hände, Küsse, Zärtlichkeiten, aber auch etwas anderes – etwas Forderndes, Verlangendes, Heftiges – lässt ihren Körper weich werden. Warm und zufrieden war sie in seinen Armen aufgewacht. Nun lehnt sie sich an ihn, sie sinken zusammen auf die Decke. Begierig nimmt Ingrid seinen Geruch wahr, will ihn erneut haben.
Jetzt ist die schönste Zeit des Jahres, diese hellen Wochen, wenn der Sommer noch ganz jung ist. Hier oben im Gebirge dauert der Winter so lange an. Der Schnee bedeckt die Hochebenen auch dann noch, wenn die Menschen unten in der Stadt bereits ihre Sommersachen angezogen und Badestrände und Biergärten in Beschlag genommen haben. Aber jetzt ist Juni, und es ist ein heller, schöner Morgen im Himmelfjell.
Wenn man nach Dalen, dem kleinen, an einem reißenden, grünen Fluss gelegenen Ort, fährt, an der Kirche rechts abbiegt und der kurvenreichen Gebirgsstraße bis hinauf zur Baumgrenze folgt, gelangt man zum Himmelfjell. Dort, am Ende der Straße, befindet sich das Himmelfjell Hotel. Das prächtige, große, braun gebeizte Gebäude mit weißen Fensterrahmen und Schnitzereien im Drachenstil wird seit der Zeit, als Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Touristen die Gebirgswelt für sich entdeckten, von Ingrids Familie betrieben. Ingrid ist hier aufgewachsen. Und nach vielen Jahren ist sie zurückgekehrt. Nach Hause.
Das Hochgebirge ist die Landschaft ihrer Kindheit, die sie nunmehr mit Tor teilt. An diesem Morgen gehen sie hier zusammen entlang, über Gestein und Heidekraut, zwischen Wacholderwurzeln und Weidenbüschen. Der Mond präsentiert sich am Himmel als Sichel, sie aber recken die Köpfe zur Sonne. Obwohl Tor und Ingrid früh auf den Beinen waren, hatte die Sonne sich bereits vor ihnen rausgetraut. So richtig Nacht wird es zu dieser Zeit des Jahres sowieso nicht. Die Sonne hatte für ein paar Stunden im Schatten der Berge geschlummert, nunmehr liegen Nebelschwaden in den Talsenken und sorgen dafür, dass die Feuchtigkeit der Nacht noch ein wenig anhält. Aber richtig dunkel wird es im Sommer nicht, und um sieben Uhr, als sie zu ihrer morgendlichen Tour aufgebrochen waren, hatte die Sonne bereits mehrere Stunden durch die Gardinen gelugt und sie gelockt, hinaus in die Berge zu kommen. Dort hat sich die Landschaft bereits ein wenig erwärmt, sodass Moos und Heidekraut förmlich dampfen.
Jetzt, da die Sonne immer länger wärmt, sind die Heiden weitestgehend schneefrei. Lediglich auf schattigen Hängen finden sich noch ein paar gefrorene Schneewehen, die schmelzen werden, bevor der Sommer vorüber ist. Einzig auf den höchsten Gipfeln bleibt der Schnee liegen; funkelnd weiß ragt der Himmelnuten das ganze Jahr über ihnen auf.
Heidekraut und Büsche sorgen für einen frischen Geruch. Die Weiden sind graugrün; die Gebirgsbuchen haben kleine, dicke Blätter bekommen. Von einem Stein aus beäugt sie ein Wiesenpieper. Klein und braun sitzt er eine Weile dort, bevor er sich mit seinem charakteristischen Piep-piep! Piep-piep! in die Lüfte erhebt. Sicher eine Warnung an die anderen Vögel: Da kommt wer, da kommt wer!
In der Ferne ist ein Kuckuck zu hören. Ku-ku! Ku-ku! Dem Volksglauben nach soll es Glück bringen, unter dem Baum zu sitzen, von dem aus der Kuckuck ruft. Allerdings ist es zu weit, um dorthin zu laufen.
Aus der Schlucht weht ihnen ein kalter Lufthauch entgegen. Tor trägt eine Windjacke, während Ingrid mit einem der Wollpullover aus dem großen Vorrat bekleidet ist, den Mutter Borghild für sie gestrickt hat. Ingrid bewegt sich mit großen Schritten, schlenkert mit den Armen, lockert die Schultern. Der Körper ist noch immer nicht ganz wach. Die langen, lockigen Haare trägt sie offen; nach dem Bad im See sind die Spitzen feucht.
»Du siehst aus wie diese Waldelfe, wie eine Huldra«, merkt Tor an.
»Wirklich? Ich habe aber keinen Schweif«, entgegnet Ingrid und bleibt stehen.
»Hmm«, lautet seine Antwort. Er legt die Arme um sie. »Bist du dir sicher? Vielleicht sollte ich mal nachsehen.«
Als sie den Kopf von seiner Schulter nimmt, sieht sie, wie ein Raubvogel gen Boden stürzt.
»Sieh nur! Ein Raufußbussard!« Sie zeigt auf ihn; Tor nickt und schaut dem Vogel hinterher.
Sie hatte gedacht, dass sie nach dem Bad direkt zum Hotel zurückgehen würden, schließlich hatten sie beide viel zu tun. Als sie jedoch am Trollstein vorbeikommen, dem riesigen Felsblock, der hochkant in dem moosgrünen Terrain steht, überkommt sie der heftige Drang hinaufzuklettern. Sie setzt an, mittlerweile ist es einfacher als damals, als sie klein war; noch immer erinnert sie sich an den Triumph, als sie zum ersten Mal ganz oben gestanden hat. Jetzt winkt sie Tor zu, der ihr ohne große Mühe nach oben folgt. Sie setzen sich auf den Rand und lassen die Beine baumeln. Dem Volksglauben nach hat einst ein Riese den Stein hierher geworfen. Ungestört hatte der Riese über Jahrhunderte hinweg geschlafen, weshalb es nicht unwahrscheinlich ist, dass er wütend wurde, als die Menschen ins Gebirge hinaufkamen, Bäume schlugen und Gestein wegsprengten, um Häuser zu errichten.
Tor pult einen Kieselstein aus einer Felsspalte und wirft ihn ins Gelände. »Ich frage mich, was aus dem Riesen geworden ist«, sagt er. »Hat er einfach aufgegeben und ist seiner Wege gezogen?«
»Er ist zu Stein geworden«, sagt Ingrid. »Bei all dem Spektakel hat er die Zeit vergessen und es verpasst, sich vor Sonnenaufgang zurückzuziehen. Und dann – boom! Jetzt ist er nur noch ein moosbewachsener Hügel irgendwo.«
»Vielleicht wacht er eines Tages wieder auf«, wirft Tor ein.
»Wer weiß«, entgegnet Ingrid. »Vielleicht hat er ein Auge bereits einen Spaltbreit geöffnet?«
Sie greift nach Tors Hand, sie ist warm.
»Ich hätte früher kommen sollen«, sagt sie.
»Was?« Tor dreht sich zu ihr um.
»Nach Hause. Ich hätte früher nach Hause kommen sollen. Mutter Borghild ablösen. Sie ist so offenkundig froh und erleichtert, jetzt, da sie den Staffelstab hat weiterreichen können, dass der Gedanke daran beinahe wehtut.«
Tor nickt. »Nun ja, sie ist über achtzig und hat das Hotel mehrere Jahrzehnte lang alleine geführt. Ist doch klar, dass sie sich über die Ablösung freut.«
»Ja«, bestätigt Ingrid. »Aber … sie hat alles immer so gut gemeistert, und das Hotel war bei ihr in den besten Händen.« Sie zögert ein wenig. »Das hatte ich zumindest geglaubt. Oder beschlossen zu glauben.«
Im Laufe der Monate, die nach ihrer Rückkehr vergangen waren, hatte sie verstanden, dass Mutter Borghild sich wohl mehr Sorgen gemacht hatte und die Herausforderungen für das Hotel größer waren, als Ingrid es in all den Jahren, in denen Bergsteigen und Expeditionen ganz oben auf ihrer Agenda gestanden hatten, begriffen hatte.
»Sie hat mich geschont«, sagt sie zu Tor. »Wollte mir nichts kaputtmachen oder mich zwingen zurückzukehren.«
»Hättest du es denn getan?«, fragt Tor. »Das Bergsteigen war schließlich dein Leben. Und dein Beruf. Du warst – nein, bist – schließlich Weltspitze.«
»Das bin ich nun nicht mehr«, entgegnet sie. »Und das ist in Ordnung. Ich habe genug erreicht. Auch wenn ich mir ein anderes Ende gewünscht hätte.«
Das Lawinenunglück im Himalaya, als Ingrid und ihr damaliger Freund, Preben Wexelsen, sich inmitten eines Seven-Summits-Rekordversuchs befanden, hatte einen katastrophalen Schlusspunkt hinter ihre Bergsteigerkarriere gesetzt. Es hatte von einer Sekunde auf die andere das ihr bekannte Leben verändert und sie zur Rückkehr nach Hause gezwungen.
»Aber jetzt bin ich hier«, sagt sie.
Tor drückt ihre Hand. »Ja, jetzt bist du hier, und du bist es, die das Himmelfjell Hotel in eine neue Ära führen wird. Und so schlecht läuft es doch wohl nicht?«
Sie lächelt. »Nein, in der Tat, schlecht läuft es keineswegs.«
Sie hatte das Hotel heil durch die Wintersaison gebracht – ein Winter, der dramatischer werden sollte, als jemand sich hätte vorstellen können. Die Pläne, das Hotel zu verkaufen, hatte sie auf Eis gelegt, sie hatte einige der dringlichsten Reparaturen durchführen lassen, und mit der Hilfe guter Freunde hatte sie auch das Marketing in den Griff bekommen. Und sie hatte Tor wiedergefunden.
Tor, der jetzt hier neben ihr auf dem Trollstein sitzt, so nah, so erdverbunden. Sie hält seine Hand. Er hat kräftige Hände, wie geschaffen für die Arbeit, von der es auf seinem Hof genug gibt. Jetzt streicht er sich mit der anderen Hand die widerspenstigen Haare aus der Stirn. Im Sommer sind sie noch heller als sonst und bilden einen Kontrast zum Gesicht, das nach der vielen Arbeit im Freien bereits sonnengebräunt ist. Seine blauen Augen funkeln im Sonnenlicht.
Als Freunde hatten Tor und sie den Kontakt wieder aufgenommen, als sie im vergangenen Jahr heimgekehrt war. Die ereignisreichen Wochen rund um ihr erstes Weihnachten als Direktorin des Himmelfjell Hotels hatten sie einander jedoch nähergebracht, ja, sie beinahe schicksalhaft zusammengeführt.
Im Nachhinein ist es schwer zu verstehen, dass es so fern schien, dass der nette und zuverlässige Freund aus Kindheitstagen ihr Partner werden sollte. Jetzt fühlt es sich natürlich an. Es ist gut, mit Tor zusammen zu sein.
»Weißt du, was mich momentan am meisten beschäftigt?«, fragt sie, nachdem sie vom Stein heruntergekrabbelt sind und ihren Weg fortsetzen. »Dass ich mit den Kursteilnehmern den Himmelnuten besteigen soll. Als ich nach dem Unglück hierher zurückgekommen bin, habe ich geweint, weil ich glaubte, dass ich nie wieder dort klettern würde. Und dann habe ich es doch getan.«
Tor nickt. Die Geschehnisse an Weihnachten, als sie den sechsjährigen Hussein von einem Ausflug gerettet hatte, zu dem er niemals hätte aufbrechen dürfen, sind ihnen beiden noch immer in sehr guter Erinnerung. Ingrid war geklettert – weil sie hatte klettern müssen. In diesem Augenblick hatte sie gewusst, dass sie neu anfangen konnte. Dass das Bergsteigen für sie nicht verloren war, dass sie es nicht verloren gehen lassen konnte. Sie hatte sich verpflichtet, nicht aufzugeben. Und das Anlernen anderer ist eine Art und Weise, sich selbst an diese Verpflichtung zu binden. Also hat sie wieder begonnen zu trainieren sowie Kletterkurse und Gebirgswanderungen für Touristen aus dem In- und Ausland zu planen.
Aber Tor weiß auch, wie viel Unbehagen ihr das bereitet, und wie sehr ihr daran gelegen ist, das zu verbergen. Will man Kurse für Touristen abhalten, die dafür eine gehörige Summe bezahlen, kann man sie nicht spüren lassen, dass man selbst beim Gedanken an Stürze, Eis und steile Felswände zu zittern beginnt. Denn so ist es. Ingrid, die einst so kühn gewesen ist, ihr ganzes Leben lang geklettert ist und alles erklommen hat, was erklommen werden konnte, fürchtet sich nunmehr. Sie ist sich nicht mehr sicher, ob sie ihren eigenen Einschätzungen und Kräften vertrauen kann.
»Du schaffst das. Schließlich bist du schon immer eine Bergsteigerin gewesen«, sagt Tor.
»Ja, ab und an spüre auch ich das wieder«, entgegnet sie. »Wenn der Körper gehorcht und ich wie gewünscht Halt finde. Aber dann ist da diese Angst. Ein Fehltritt, ein misslungener Griff, eine bedrohlich aussehende Schneewehe, und schon bin ich wieder dort.«
Dort bedeutet: am Berghang im Himalaya, unter dem Schnee, während sie bei stetig knapper werdendem Sauerstoff panisch kämpft. Dort bedeutet im Krankenhaus in Kathmandu, mit den weißen Laken, den Schmerzen und dem Blut.
Noch immer kommt es vor, dass Ingrid mit einem kleinen Schrei aufwacht, nachdem sie von Schnee geträumt hat. Das Unglück hat sie noch immer im Griff. Der Gedanke an steile Felswände und Lawinen – herumgewirbelt, von dem weißen Drachen in die Tiefe gezogen zu werden – lässt sie noch immer nach Luft japsen. Sie müsse akzeptieren, dass es viele Jahre dauern könne, hatten die Therapeuten gesagt. Der Körper hat sein eigenes Gedächtnis, und oft erinnert er sie an das, was im Himalaya geschehen ist. Allerdings kommt es immer seltener vor.
Sie folgt dem gewohnten Pfad, lässt die Füße den Weg finden, spürt Tors warme Hand in ihrer. An der Schlucht bleiben sie stehen und schauen zum Himmelnuten hinauf. Der aufrechte, schneebedeckte Gipfel ragt vor dem Himmelsgewölbe empor. Darunter poltert der Styggfossen, lautstark, ausgelassen, überwältigend. In der abschüssigen Geröllhalde unter dem Berg hat der Polarfuchs seinen Bau. Auf den Hängen dahinter kann man ab und an wilde Rentierherden sehen.
In den Nächten, in denen sie nicht unten bei Tor in Dalen übernachten, gehen sie jeden Morgen diese Runde, so früh wie möglich, am liebsten vor dem Frühstück. Wenn Tor nicht da ist, geht Ingrid alleine. Das tut sie, seit sie vor knapp einem Jahr zurückgekehrt ist. Die Routine tut gut, sie hilft ihr dabei, zur Ruhe zu kommen.
Jetzt überqueren sie die Wiese, und dort vor ihnen erhebt es sich majestätisch, das Himmelfjell Hotel, in dunklem Kontrast zu den umgebenden Hochebenen. Das Hotel, das der feste Punkt in ihrem Leben ist, solide, groß und – zumindest in angemessener Weise – gut bewahrt. Das Ergebnis eines generationenübergreifenden Einsatzes. Sie wird es von den Klauen der großen Hotelketten fernhalten, denn das ist ihr Zuhause. Das Zuhause von Mutter Borghild. Der Arbeitsplatz von Maja und Alfred, von Perle und Aisha, das Zuhause von Hussein. Sie hat nicht vor, es in fremde Hände zu geben.
Sie stehen ganz am Anfang der Sommersaison, aber die eifrigsten Bergtouristen sind schon bereit für Touren und Aktivitäten an der frischen Luft. Ihr erster Kletterkurs ist fast komplett ausgebucht, und für Juli und August sehen die Gästezahlen vielversprechend aus. Es sind nicht so viele, wie es für die angespannte Finanzlage des Hotels ideal wäre, aber genug, um keine vollkommene Krise auszulösen. Nach einigen Jahren des Rückgangs sind es jetzt immer mehr, die die höchstgelegenen Regionen Norwegens erkunden und im legendären Himmelfjell Hotel wohnen wollen.
Das Gras ist weich und an einigen Stellen noch mit Tau bedeckt. Vor ihnen tanzt ein kleiner, blauer Schmetterling über die Wiese. Da kommt Svartlaug wie ein dunkler Schatten um die Ecke einer der Anbauten und schleicht sich an Ingrid und Tor vorbei, ohne die beiden zu beachten. Majas Katze ist alt und kräftig – nun, manch einer würde sogar sagen, ziemlich dick –, jedoch bewegt sie sich überraschend geschmeidig durch das Gras. Der Schwanz wedelt von einer Seite zur anderen, während sich der Kopf dicht am Boden befindet. Svartlaug ist im Jagdmodus, ein schwarzer Panther zwischen Grashalmen und Heidekraut. Ihr Blick fokussiert sich auf den blauen Schmetterling. Ein jäher Sprung, dann ist er weg.
Das Telefon in ihrer Tasche klingelt. Ingrid weiß, dass es Vegard ist, da er beschlossen hatte, auf ihrem Handy einen eigenen Klingelton zu haben. Für gewöhnlich wechselt er ihn, wenn sie sich treffen, momentan ist es Dancing Queen.
Sie zieht das Handy aus der Tasche und schaltet den Ton aus. Der Anruf passt ihr besser, wenn sie wieder oben in ihrem Büro ist. Denn Vegard hat ganz sicher sowohl neue Ideen als auch neue Sorgen hinsichtlich des Großereignisses dieses Sommers – der Hochzeit!
Schon bevor sie die Küchentür öffnen, vernehmen sie den Duft von Maja Seters frisch gebackenen Brötchen und frisch aufgebrühtem Kaffee. Ingrid schaut auf die Uhr. Es ist Viertel nach acht, und sie weiß, dass die Köchin bereits seit zwei oder drei Stunden zugange ist.
Sobald das Frühstück beendet und Tor nach Dalen hinunter gefahren ist, ruft Ingrid Vegard an.
»Oh my God, Ingrid!«, legt er los. »Du glaubst nicht, wie gestresst ich momentan bin!«
Ingrid verdreht die Augen und lacht. »Doch, das tue ich in der Tat. Was ist es jetzt wieder?«
Es ist fast ein halbes Jahr her, dass ihr bester Freund mit der guten Nachricht angerufen hatte.
»Wir wollen eine Sommerhochzeit im Himmelfjell feiern!«
Beziehungsweise war es nicht das, womit er begonnen hatte, sondern mit: »David hat um meine Hand angehalten! Als wir im Statholdergaarden gegessen haben! Ingrid, es war so romantisch.«
Seine Stimme war kurz davor gewesen, ihm den Dienst zu versagen.
»Oh, wie schön!«, hatte sie gesagt. »Was hast du geantwortet?«
Vegard hatte glücklich gelacht. »Machst du Witze? Selbstverständlich habe ich Ja gesagt!«
Sie hatte sich so gefreut für Vegard. David und er wohnten seit mehreren Jahren zusammen, und sie hatten eine gute Beziehung. Warum das Ganze also nicht formell machen und es feiern?
»Phantastisch! Wann ist es so weit? Ich muss es mir in den Kalender schreiben. Denn ich rechne damit, dass wir eingeladen werden?«
»Ja, nicht nur eingeladen, Ingrid«, hatte Vegard entgegnet. »Ich möchte dich bitten, meine Trauzeugin zu werden.«
Da waren ihr die Tränen in die Augen gestiegen.
»Was für eine Ehre, Vegard! Das übernehme ich selbstverständlich gern.«
»Prima! Und dann frage ich mich, ob das Hotel im Sommer schon komplett ausgebucht ist?«
Sie hatte kurz gezögert, nicht verstanden, worauf er hinauswollte.
»Nein … wir haben zwar einige dieser Kurse, aber … Es kommt darauf an, an welchen Zeitraum du gedacht hattest?«
»Zum Beispiel rund um das Mittsommerwochenende?«
Da hatte es ihr angefangen zu dämmern.
»Ah, jetzt … Ich hatte angenommen, ihr wollt in einer angesagten Location in Oslo feiern, aber du meinst, dass …?«
»Ja, selbstverständlich meine ich, dass wir im Himmelfjell feiern wollen!«, hatte Vegard klargestellt.
»Hast du gewusst, dass es so viel Arbeit macht, eine Hochzeit zu planen?«, fragt er jetzt.
»Nein, wenn ich ganz ehrlich sein soll, wusste ich das nicht«, lacht sie. »Zwar habe ich schon an einigen teilgenommen, allerdings nur als Gast. Da wirkte alles immer so einfach. Trauung und Abendessen, Geschenke, Kuchen, ein bisschen Tanzen, eine gute Zeit haben, viel Glück wünschen und dann nach Hause und die schicken Schuhe abstreifen – fertig. Aber jetzt!«
Sie hatten die vergangenen Monate darauf verwendet zu planen. Vegard und David wollten das komplette Paket: Trauung in der Dalener Kirche, mit Pferd und Wagen hinauf zum Hotel, eine große Tafel auf der Wiese, Leinendecken, lokales Bier, Blumenkränze, Trachten und Tanz. Sonnenwendfeuer in der Sommernacht, Tau in den Haaren und Grillengezirpe zwischen den Grashalmen.
Ein reiner, klarer Sommertraum. Aber auch, wie Ingrid festgestellt hatte: Wenn nicht gerade ein Albtraum, so zumindest doch ziemlich anstrengend. (Außerdem zirpen Gebirgsheuschrecken nicht, weil sie keine Flügel haben. Dem wohnt sicher irgendeine Symbolik inne, denkt sie, weiß jedoch nicht genau, was für eine.)
Als Trauzeugin hatte sie die Dokumente unterzeichnet und den Junggesellenabschied ausgerichtet; selbstverständlich wird sie in der Kirche zugegen sein und während des Essens eine schöne Rede halten. Jetzt ist sie zudem aber auch noch die Gastgeberin der Hochzeitsfeier, Hoteldirektorin und Reisebüro. Und um ehrlich zu sein: Es ist, als sei sie in einen Strudel geraten: Da wären Blumen, Menüs, Beförderung und Zimmerbestellungen, um die sie sich kümmern muss, außerdem Lieder und Servietten, Besteck, Farbkombinationen, Champagnergläser, der Teufel und seine Großmutter.
»Aber von dem Junggesellenabschied werde ich noch lange zehren!«, sagt Vegard.
Sie lacht. »Ja, genau genommen wusste ich doch, dass du es lieben würdest! Auch wenn du mehrfach betont hast, keinen Junggesellenabschied haben zu wollen.«
Ingrid hatte begriffen, dass Vegard das nur gesagt hatte, um sie nicht zu belasten, weil sie so schon genug zu tun hatte. Aber schließlich kannte sie ihn und verstand, dass das, was er nicht wollte, ein peinlicher Junggesellenabschied war. Vermutlich wäre er lieber gestorben, als mit Bierweste und Elchmütze ausgestattet auf der Karl Johans gate mitten in Oslo Kondome zu verkaufen. Hingegen hatte er absolut keinen Widerstand geleistet, als er zur Spa-Behandlung gekidnappt und anschließend zu der eleganten Partylocation gefahren wurde, wo Champagner, Sonnenschein und Freunde auf ihn warteten.
Pia hatte Ingrid so viel geholfen, dass diese beinahe ein wenig beschämt war – schließlich war sie die Trauzeugin. Aber vor allem war sie dankbar gewesen, denn Pia wusste wirklich, was sie tat. Sie hatte das mit der Limousine und dem Styling geregelt und zudem das Wunder vollbracht, einen freien Termin in dem legendären funktionalistischen Restaurant aus den dreißiger Jahren zu ergattern, einem Lokal, das die meisten kannten, die wenigsten jedoch schon einmal von innen gesehen hatten. Sie waren eine Weile auf dem mit Platten ausgelegten Fußweg stehen geblieben, Pia, Vegard und sie, und hatten die eleganten abgerundeten Formen des Gebäudes bewundert, die Fenster, in denen sich das Meer spiegelte, all die Blumen, die alten Kiefern, die sich kräuselnde Wasseroberfläche, die in der Sonne glitzerte. Es hatte salzig und warm nach Meer, Tang und Kiefernadeln gerochen. Es ist aufgrund einer abgesagten Hochzeit kurzfristig frei geworden. Die armen Leute!, hatte Pia gesagt. Aber des einen Tod, des anderen Junggesellenabschied. Oder so was in der Richtung.
Nunmehr ist die Gästeliste für die Hochzeit das ständig wiederkehrende Thema. Vegards Familie und die gemeinsamen Freunde der zukünftigen Eheleute bilden den Kern, aber es gibt immer wieder kleine Änderungen, was anstrengend ist, wenn man sechzig Gäste einquartieren und verköstigen soll. Wenn sie alles, was sie an Suiten und Doppelzimmern zur Verfügung haben, belegen und die Familienappartements mit zusätzlichen Betten ausstatten, bekommen sie gerade so alle unter. Wenn dann aber Leute auftauchen, die sich kurzfristig nahezu selbst eingeladen haben und noch eine weitere Person mitbringen wollen und andere aus guten oder weniger guten Gründen doch nicht kommen, wird das eine Art Patience, die aufgehen muss. Nach dem Junggesellenabschied ist kaum ein Tag vergangen, ohne dass Ingrid und Vegard praktische Details miteinander besprochen haben. Er ruft sie wegen des Essens, der Dekoration, der Sitzordnung und der Musik an. Vegard entwickelt schlichtweg ernsthafte Brautzilla-Allüren.
Ingrid erscheinen die Themen oft ziemlich bagatellmäßig: die Schriftgröße der Tischkarten oder der Inhalt der kleinen Geschenktüten, die an die Gäste verteilt werden sollen. Geschenke für die Gäste? Macht man das im Ausland so?, hatte Maja Seter gefragt, als ihr das zu Ohren gekommen war.
Heute geht es um das Menü.
»Ich habe ein paar neue Mitteilungen erhalten«, sagt Vegard, was Ingrid innerlich seufzen lässt.
»Schreibst du mit?«, fragt Vegard, was sie mit einem Nicken beantwortet, auch wenn er es nicht sehen kann.
»Also, Cousine Erika ist Veganerin. Und Vetter Thomas verträgt keine Gurken.«
»Ich habe noch nie gehört, dass jemand keine Gurken verträgt«, entgegnet Ingrid. »Aber das werden wir selbstverständlich berücksichtigen.«
»Ja, prima! Und dann wäre da noch Onkel Einar.«
»Was ist mit Onkel Einar?«
»Nun, ich habe von Mama Bescheid bekommen, dass er nicht in der Nähe von Tante Kari sitzen darf. Außerdem darf er nicht zu viel zu trinken bekommen.«
»Okay …« Ingrid zögert ein wenig. »Aber wie verdammt noch mal sollen wir das hinkriegen? Schließlich servieren wir Alkohol; wer soll Onkel Einar verweigern, seinen Teil zu bekommen?«
»Vielleicht könnte Maja aufpassen …?«
Ingrid bricht in lautes Lachen aus, verstummt dann jedoch. Es ist durchaus nicht gänzlich ausgeschlossen, dass die resolute Köchin einen gewissen erzieherischen Effekt auf trinkfreudige Onkel haben könnte.
»Das besprechen wir, wenn du morgen herkommst«, sagt sie schließlich. »Ich freu mich schon darauf, dich zu sehen!«
Mutter Borghild reicht Ingrid bis zur Schulter. Neben ihr wirkt die Großmutter so zart. Ist sie in letzter Zeit noch kleiner geworden? Das konnte im Alter gewiss vorkommen. Dünner ist sie auf jeden Fall. Früher hatten Ingrid und Mutter Borghild jeden Morgen zusammen Kaffee getrunken; seit aber Tor und Ingrid ein Paar sind, ist diese Routine ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten. Heute wird es stattdessen eine gemeinsame Mittagspause. Sie haben belegte Brote mit nach draußen genommen und setzen sich auf eine der braun gebeizten Bänke auf der Terrasse. Es duftet nach Gras und warmem Holz.
»Wie geht es dir, Großmutter?«
»Gut, gut, meine Liebe«, entgegnet Borghild.
Hat sie mit der Antwort gezögert?, überlegt Ingrid. Und ist der Bereich um ihre Augen leicht geschwollen? Vielleicht schläft sie nicht so gut? Für ihre über achtzig Jahre ist Mutter Borghild rüstig. Der Körper noch immer zierlich und der Rücken noch immer aufrecht. Die weißen Haare sind im Nacken hübsch zu einem Dutt zusammengefasst, und die Bluse scheint frisch gebügelt. Wie immer trägt sie ihre Perlenohrringe; sie ist das Paradebeispiel einer adretten älteren Dame.
Bevor Ingrid weitere Fragen stellen kann, kommt Mutter Borghild ihr zuvor.
»Wie laufen die Hochzeitsvorbereitungen?«
»Es gibt noch viel zu regeln«, sagt Ingrid. »Was für eine Aufregung. Ich bin froh, dass nicht ich es bin, die heiratet.«
Sie bereut es in dem Moment, als sie es ausspricht.
Denn als Ingrid Mutter Borghild gegenüber die anstehende Feierlichkeit erwähnt hatte, hatte die Großmutter zuerst geglaubt, dass Ingrid und Tor heiraten würden. Das Missverständnis wurde schnell aufgeklärt, jedoch meinte Ingrid, in den Augen der Großmutter eine gewisse Enttäuschung auszumachen. Selbstverständlich nichts, was sie laut geäußert hätte.
»Nun, das werdet ihr herausfinden«, hatte sie angemerkt. »Ich bin auf jeden Fall froh, dass du Tor in dein Leben gelassen hast.«
Als Ingrid und Tor ein Paar wurden, meinten alle um sie herum, dass sie es hätten kommen sehen. Vegard hatte sie monatelang mit »dem attraktiven Schafbauer« aufgezogen, sie hatte die Andeutungen jedoch nur mit einem Schnauben abgetan. Tor sei schließlich nur ein guter Freund, hatte sie behauptet. Und lange war es auch so gewesen. Bis ihr bewusst wurde, dass er so viel mehr war.
Die anderen waren offensichtlich der Meinung, sie sei ein wenig träge, sie selbst fand es hingegen keineswegs verwunderlich, dass sie etwas Zeit brauchte, um sich nach der Trennung von Preben Wexelsen überhaupt vorstellen zu können, eine neue Beziehung einzugehen. Denn anstatt nach ihrer Rückkehr ins Himmelfjell Ruhe und Frieden zu finden, war sie direkt mit zahlreichen Problemen konfrontiert worden: praktische Katastrophen, ein wildes Familiendrama, eine Rettungsaktion, und nicht zu vergessen, dass inmitten von all dem Chaos und dem Weihnachtsstress plötzlich und unerwartet Preben aufgetaucht war. Sein Besuch hätte das, was sich zwischen Tor und ihr im Begriff war zu entwickeln, beinahe kaputtgemacht. Aber schließlich endete es damit, dass Tor sich ein Herz fasste und Ingrid anvertraute, was er für sie empfand, und dass es ihr selbst gelang, ihre Gefühle für ihn zuzulassen.
Die Beziehung zu Tor tut ihr gut. Er ist liebevoll, tüchtig und stark, und er verfügt über eine stille Autorität, die dafür sorgt, dass die Leute im Dorf zuhören, wenn er spricht – auch wenn er dies nicht unnötig tut. Gut im Bett ist er auch. Sie muss lächeln, und ihr wird heiß, wenn sie daran denkt. Sie wusste nicht, dass eine Beziehung so viel Nähe und Sicherheit bieten konnte. Mit Preben war es ständig auf und ab gegangen (auch im wortwörtlichen Sinne), es hatte viele Unstimmigkeiten und viel Unruhe gegeben. Mit Tor hingegen fühlte sich das Leben gut an, beständig.
Jetzt hat die Großmutter anscheinend beschlossen, dass das Thema doch reif ist. Sie blinzelt in die Sonne, um sich anschließend mit einem verschmitzten Blick an Ingrid zu wenden. »Ihr habt nicht darüber nachgedacht, du und Tor? Zu heiraten? Es könnte doch eine Doppelhochzeit geben?«
»Haha! Mit drei Wochen Vorlaufzeit? Nein, dieses Fest überlassen wir allein Vegard und David«, lacht Ingrid. »Tor und ich, wir befinden uns nicht an diesem Punkt. Zumindest noch nicht.«
»Nein?«
»Nein, wir haben noch nie darüber gesprochen. Schließlich sind wir auch noch nicht so lange zusammen«, sagt Ingrid. »Wenn wir die paar Wochen in der fünften Klasse mal außen vor lassen.«
Sie trinkt einen Schluck Kaffee. »Eigentlich weiß ich gar nicht, ob ich der Typ zum Heiraten bin. Kann mir das irgendwie gar nicht richtig vorstellen.«
»Warum nicht?«, hakt Mutter Borghild nach.
Ein Teil von Ingrid möchte das Gespräch an diesem Punkt gern beenden. Es gibt Themen, über die sie nicht allzu viel nachdenken möchte. Wie daran, dass Tor schon einmal verheiratet war, ohne dass diese Ehe besonders geglückt gewesen wäre. Wie daran, dass eine Hochzeit auch andere Erwartungen nach sich ziehen würde, bei Tor und bei seinen Eltern.
Puh, nein. Sie ist kurz davor, die To-do-Liste hervorzuholen und sich wieder dem Praktischen zuzuwenden. Dann aber betrachtet sie die Großmutter, ihre weißen Haare, die dünnen Hände. Mittlerweile ist ihr bewusst geworden, dass Mutter Borghild in der Tat alt ist. Es fällt schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie, die immer stark und beständig war, allmählich vom Alter geschwächt wird. Dass Ingrid sie nicht für immer bei sich haben kann. Ich werde immer auf dich aufpassen, hatte die Großmutter immer gesagt, als Ingrid klein war. Aber manchmal heißt es zu lernen, auf sich selbst aufzupassen.
Irgendwann werden die Rollen sich umkehren. Oder ist dies bereits geschehen? Geschieht es jetzt?
Als Ingrid jünger war, waren sie so vertraut miteinander, Mutter Borghild und sie. Aber irgendwann hatte das aufgehört, die Gespräche waren weniger persönlich geworden, hatten sich mehr um praktische Dinge gedreht. Nach den vielen Enthüllungen an Weihnachten hatte Ingrid sich selbst versprochen, den Versuch zu unternehmen, zu den vertrauten Gesprächen mit der Großmutter zurückzufinden, bevor es zu spät war. Es ist unmöglich zu wissen, wie viele Gelegenheiten sich noch bieten werden, ordentlich miteinander zu reden.
Sie räuspert sich.
»Nein … Ich weiß nicht genau, warum ich es so empfinde. Aber schließlich bin ich es gewohnt, mein Leben allein zu meistern. Und dann habe ja ich meine Arbeit hier oben, während Tor den Hof und die Tiere hat. Vielleicht fange ich wieder an, ein wenig zu reisen, während er immer an Dalen gebunden sein wird. Wie also sollte eine Ehe zwischen uns eigentlich funktionieren?«
Die Großmutter sieht sie ernst an.
»Dafür würdet ihr doch wohl eine Lösung finden, meinst du nicht? Und … was ist mit später?«
Autsch, jetzt kommt’s, denkt Ingrid. Und ganz richtig.
»Willst du zum Beispiel Kinder haben?«, fragt die Großmutter. »Das ist sicher etwas, worüber du selbst auch nachdenkst?«
Sie braucht nicht hinzuzufügen: »Schließlich bist du bald fünfunddreißig.«
»Sicher«, sagt Ingrid. »Ich habe über Kinder nachgedacht. Du weißt …«
Eine Welle durchfährt sie … ist es ein Gefühl von Verlust? Trauer?
»Genau genommen war ich bereit … Prebens Kind zu behalten«, sagt sie. »Zumindest hatte ich nicht an einen Abbruch gedacht. Wäre also nicht …«
Sie schweigt. Die Großmutter weiß schließlich, was in Worte zu fassen sie nicht in der Lage ist. Hätte es das Lawinenunglück nicht gegeben, das vor zwei Jahren die von ihr und Preben im Himalaya geleitete Expedition getroffen hatte, wäre Ingrid jetzt Mutter. Sie war schwanger gewesen, als sie zu der Tour aufbrachen, hatte es jedoch erst unterwegs bemerkt und niemandem davon erzählt. Infolge der Lawine hatte sie das Kind verloren, wahrscheinlich aufgrund der Belastungen, denen ihr Körper ausgesetzt gewesen war. Sie war im vierten Monat.
Aisha, die leitende Hausdame, kommt auf sie zu und grüßt freundlich. »Ich werde bald aufbrechen, um Hussein von der Schule abzuholen«, sagt sie. »Braucht ihr etwas aus dem Laden?«
»Nein, mir fällt nichts ein«, antwortet Ingrid. »Aber danke, dass du gefragt hast.«
»Stell dir vor, dass sie die Erste war, die davon wusste«, sagt sie zu Mutter Borghild, nachdem Aisha zum Parkplatz gegangen ist. »Bevor ich es überhaupt selbst wusste!«
Mutter Borghild nimmt Ingrids Hand und drückt diese.
Ingrid war Aisha zum ersten Mal in der Norwegischen Botschaft in Kathmandu begegnet, und nach einer etwas unglücklichen Episode mit Erbrechen im Atrium war es Aisha gewesen, die Ingrid zu der Einsicht verhalf, dass sie schwanger war. Und Aisha war auch die Erste, die erfahren hatte, dass Ingrid nicht mehr schwanger war. Einer Reihe glücklicher Umstände war es zu verdanken, dass Ingrid später die Möglichkeit bekam, Aisha eine Stelle im Hotel anzubieten, und mittlerweile ist sie ihre engste Mitarbeiterin – und hat zudem den Sonnenschein Hussein mit ins Himmelfjell gebracht.
Erst an Weihnachten hatte sie Mutter Borghild, und auch dem Kindsvater, Preben, von der Fehlgeburt erzählt. Lange hatte sie den Gedanken daran nicht ertragen, Kontakt zu ihm zu haben, noch weniger, das anzusprechen, was sie da oben im Gebirge geheim gehalten hatte: Dass sie beide hatten Eltern werden sollen. Erst infolge der Dramatik rund um Weihnachten und der gemeinsamen Rettungsaktion von Hussein waren sie einander wieder so nahegekommen, dass sie ihm davon hatte erzählen können.
Allmählich ist sie dabei, Preben das Unglück zu vergeben, von dem sie lange der Meinung war, es sei seinem Fehler geschuldet gewesen. Größere Schwierigkeiten hat sie jedoch damit, sich selbst zu verzeihen, dass sie sich auf diese Expedition begeben und so viel aufs Spiel gesetzt hatte. Jedes Mal, wenn sie aus den weißen, kalten Albträumen erwacht, war sie wieder dort gewesen, hatte mit dem Drachen gekämpft, der sie in einem wilden Reigen nach unten zog, und in der Stille danach, mit den Schmerzen, dem Blut, das in den weißen Schnee, in die weißen Krankenhauslaken floss.
»Hast du mit Tor darüber gesprochen?«
»Er weiß, was passiert ist. Aber … wir haben nicht richtig darüber gesprochen. Nicht, dass es für mich und ihn aktuell wäre. Vermutlich habe ich dieses Gespräch wohl auch nicht gesucht«, sagt Ingrid. »Schließlich weiß ich, dass er sich eigentlich immer Kinder gewünscht hat.«
Ihre Stimme bricht weg.
»Es tut mir leid, meine Liebe«, sagt Mutter Borghild. »Ich hätte das nicht ansprechen sollen. Wenn es jemanden gibt, der wirklich niemandem Kinder und die Ehe aufschwatzen will, dann bin es wohl ich.«
Das Himmelfjell Hotel ist voller Schafe. Sie belagern den Empfangsbereich, den Speisesaal sowie mehrere Flure. Es handelt sich um grasende Schafe, rennende Schafe, Schafe, die geschoren werden, und saugende Lämmer. Schafherden, die ruhigen Schrittes auf entfernte Horizonte zutrotten, und einzelne Schafe, die den Betrachter mit unergründlichem Blick anstarren. Überall sind Schafe. In der Nacht hat Ingrid sogar von Schafen geträumt. Es ist, als könne sie sie selbst hier drinnen hören und riechen.
Tor nimmt einen kleinen Stapel eingerahmter Fotos aus einem Karton.
»Noch mehr?«, fragt Ingrid. »Wo sollen wir die alle unterbringen?«
»Die Wände bieten durchaus genug Platz«, entgegnet Tor.
Und was das betrifft, hat er recht. Das Himmelfjell Hotel ist groß und war mehrfach erweitert worden. Sollte es etwas geben, wovon sie viel haben, dann ist es Platz.
Wochenlang haben sie an der Ausstellung gearbeitet. Tors Ausstellung. Neben der Arbeit auf dem Hof hat er in den vergangenen Jahren viel Zeit aufs Fotografieren verwendet. Er braucht nicht weit zu reisen, um Motive zu finden. In seinen Bildern spiegeln sich die Natur und das Leben auf dem Hof wider, besonders die Schafe. Und wie sich gezeigt hat, finden die Fotos bei vielen Anklang. Mehrere von ihnen wurden bereits in der Lokalzeitung Dalen Tidene abgedruckt, und vor ein paar Jahren hatte er unten im Dorf auch eine Ausstellung und dabei ziemlich gut an Touristen verkauft. Ist es das Gefühl der Nähe zu einem natürlichen Lebensstil, das die Anziehungskraft ausmacht? Die Unschuld in den glotzenden Schafgesichtern? Ingrid weiß es nicht, aber auch ihr gefallen die Aufnahmen.
Sie nimmt eines der Fotos und hält es an die Wand. »Hier?«
»Ein bisschen höher«, antwortet Tor. Ingrid streckt die Arme durch.
»Noch höher«, ertönt es von Tor. »Sodass es auf eine Linie mit dem anderen dort kommt.«
Ingrid stellt sich auf die Zehenspitzen und spürt, wie das weiße T-Shirt aus dem Hosenbund rutscht. Sie hatte die Wandersachen ausgezogen und gegen Hose und T-Shirt getauscht, was ihrer gängigen Arbeitskleidung im Hotel entsprach. Den Blazer hatte sie hängen gelassen, für den ist es im Moment zu warm, zumindest solange sie hier mit den Bildern beschäftigt sind.
»So?«, keucht sie. »Kommst du her und markierst die Stelle, Tor?«
»Warte! Halte es genau so!«, sagt Perle und zückt das Handy. »Das macht sich supergut auf Instagram! Kannst du deine Haare ein bisschen richten, sodass man auf dem Foto dein Gesicht sehen kann?«
Machten sie sich gerade über sie lustig? Mit einer Hand hält Ingrid das Bild fest und streicht sich mit der anderen die langen, ungestümen Locken hinters Ohr. Sie steht noch immer auf den Zehenspitzen, die Luft im Raum ist stickig, und jetzt fängt sie auch noch an zu schwitzen. Veranstaltungskoordinatorin, Hausmeisterin und Fotomodell. Offenbar gibt es keine Grenzen dafür, welche Rollen eine Hoteldirektorin ausfüllen muss.
»So, ja! Toll!«, ruft Perle. »Sieh mich an! Und lächeln bitte!«
Und Ingrid lächelt. Genau genommen ist es nicht so schwer zu lächeln, wenn man Perle anschaut, oder Erle Pedersen, wie sie eigentlich heißt. Die Jüngste im Hotelbetrieb ist schon jetzt ein Star in Sachen Marketing, Arbeitsweltforschung und Führungsphilosophie. Auf effektive Weise hat Perle im vergangenen Jahr die Schar der Follower in den sozialen Medien aufgebaut, während sie gleichzeitig an ihrer Abschlussarbeit schreibt und ihre vielen anderen Arbeitsaufgaben bewältigt. Perle serviert Essen, bereitet Zimmer vor und nimmt Buchungen entgegen, zwischendurch aktualisiert sie zudem die Accounts und die Internetseite des Hotels. Leider wird sie nur noch ein paar Monate da sein, denn im September geht sie in die USA, um eine neue Etappe ihrer Karriere in Angriff zu nehmen. Zuerst aber wird sie Ingrid während der Sommersaison helfen.
»Und jetzt du, Tor!«, ertönt es von Perle.
Tor stellt sich neben Ingrid; er versucht, Perles Anweisungen Folge zu leisten, während er gleichzeitig mit einem Bleistift markiert, wo das Bild hängen soll. Ingrid atmet seinen Duft ein. Er riecht nach Wiese, Holz und Seife. Einem Hauch Schweiß. Auf eine gute Art und Weise nach Mann.
»Großartig!«, lässt Perle sie wissen und macht sich auf den Weg ins Treppenhaus. Neue Beiträge müssen auf Insta gepostet werden, oder war es Snapchat? X? TikTok? Zumindest kann Ingrid die Arme jetzt runternehmen, einen Schluck aus dem Wasserglas nehmen, das auf einem Sideboard steht, und es Tor überlassen, den Nagel in die Wand zu befördern.
Vegard hatte den Vorschlag gemacht, die Ausstellung hier im Hotel zu machen. Ingrid hatte es für eine gute Idee gehalten, als er sie Weihnachten vorgebracht hatte, und das denkt sie genau genommen noch immer, auch wenn es vielleicht ungeschickt war, sie mitten in die Zeit des Saisonbeginns, des Kletterkurses und der Hochzeitsvorbereitungen zu legen.
Sie hatten beschlossen, die Bilder über mehrere Bereiche des Hotels zu verteilen. Die Ausstellung ist in verschiedene Themenkomplexe unterteilt, die Tiere im Stall und auf dem Hof, auf den Wiesen unten im Dorf sowie auf den Weiden im Gebirge. So wird die Ausstellung für das Publikum zu einer Art kulturhistorischen Entdeckungsreise – wie Perle es formuliert hatte. Kurze Gedichte, Erklärungen und historische Texte sind in einer App veröffentlicht und in einem kleinen Heft abgedruckt worden, damit die Besucher, parallel zum Kunsterlebnis, mehr über die Region erfahren können, in der sie sich befinden.
Tor hatte mehrere Monate darauf verwendet, die Bilder auszuwählen, zu vergrößern und professionell rahmen zu lassen, während Ingrid ihn dabei nach bestem Ermessen unterstützt hatte. Sie freut sich, dass sie dieses Projekt gemeinsam auf die Beine stellen, wird aber auch drei Kreuze machen, wenn das Ganze überstanden ist. Das Einzige, was sie jetzt noch tun muss, ist, die Rede zu schreiben, die sie – das hat sie jedenfalls versprochen – zur Ausstellungseröffnung halten wird.
Sie schaut aus dem Fenster. Der Sommertag lockt; sie wird sich etwas Leichteres anziehen und draußen ein paar Arbeiten verrichten. Vielleicht könnten sie heute die Wand an der Rückseite des Hauses beizen? Sie hatte Alfred versprochen, ihm dabei zu helfen, und sie freut sich darauf.
Auf dem Flur sind schnelle, leichte Schritte zu vernehmen. Mutter Borghilds zügiger Gang ist unverkennbar, auch wenn das Energische in den letzten Jahren vielleicht ein bisschen nachgelassen hat.
»Einen schönen Vormittag«, wünscht Mutter Borghild. »Wie hübsch das hier aussieht!« Sie betrachtet eine Reihe von Fotos, die über ihnen an der Wand hängen. »Aber hängen die Bilder nicht ein bisschen hoch?«
»Tor möchte es so haben«, lacht Ingrid.
»Hei, Borghild! Wie läuft es mit der historischen Forschung?«, erkundigt sich Tor.
Mutter Borghild ist nämlich im Begriff, die Geschichte des Himmelfjell Hotels und der Pionierinnen des Bergsteigens aus der Region aufzuschreiben. Die Menschen im Himmelfjell haben Bergsport betrieben, lange bevor jemand daran dachte, es als Sport zu bezeichnen, und Borghilds eigene Großmutter, Ingbrita Berg, war eine der ersten Bergsteigerinnen des Landes überhaupt.
»Nun, das will ich euch sagen!«, entgegnet Borghild eifrig. »Die Verwandtschaft in Bergen hat Unmengen an Bildern gefunden, von denen wir bisher nichts wussten! Cousine Sofie bringt die Fotoalben mit, wenn sie herkommt.«
Ingrid ist verwirrt. »Cousine Sofie? Kommt sie her?«
»Ja, das habe ich doch erzählt, meine Liebe. Sie kommt in ein paar Wochen«, bestätigt Mutter Borghild.
Ingrid ist sich ganz sicher, vom bevorstehenden Besuch der Cousine ihrer Großmutter bisher nichts gehört zu haben, und reagiert mit einem unverbindlichen Mmh, fragt dann: »Wie lange wollte sie noch mal bleiben?«
»Sie bleibt vermutlich bis Mitte Juli, nehme ich an.«
»Mitte Juli? Also einen ganzen Monat?«
Das hatte sie definitiv nicht gewusst. Ingrid sieht Tor an, und sein Blick spiegelt ihre Besorgnis. Hat Mutter Borghild neuerdings Erinnerungslücken?
Die Großmutter hingegen erwidert mit einem begeisterten Lächeln: »Ja, wir brauchen doch ausreichend Zeit zusammen, wenn wir uns schon mal sehen! Schließlich ist es viele Jahre her, seit sie hier gewesen ist.«
Sie holt mit den Armen aus, so als wolle sie die Arbeitsmenge andeuten. »Schließlich haben wir Unmengen an Dokumenten zu lesen und Bilder zu sortieren.«
»Ah! Das wird sicher schön«, sagt Ingrid. »Denk nur daran, dass wir Vegard versprochen haben, dass ihnen am Wochenende der Hochzeit alle Gästezimmer zur Verfügung stehen.«
»Ja, aber das passt schon«, beruhigt Borghild. »An dem Wochenende kann Sofie mit in meiner Wohnung schlafen, dann nehmen wir keines der Gästezimmer in Beschlag.«
»So!«, meldet sich Tor zu Wort. »Ich glaube, wir sind hier fertig.«
Sein Telefon gibt einen Ton von sich, er zieht es aus der Gesäßtasche seiner Arbeitshose, drückt den Knopf an der Seite und steckt es wieder weg.
»Ich sollte wohl zusehen, dass ich loskomme«, sagt er. »Hab Vater versprochen, auf der Alm vorbeizuschauen.«
Mit einem schiefen Lächeln greift er nach dem Werkzeugkasten. »Aber zuerst muss ich Alfred den hier zurückgeben. Ich habe nur gerade so die Erlaubnis bekommen, ihn mir auszuleihen.«
Ingrid grinst. »Vielleicht hat er Angst, du würdest ihn digitalisieren?«
Infolge eines Gesprächs am Mittagstisch zwischen Perle, die das Hotel gern in die moderne Zeit führen möchte, und dem konservativen Hausmeister Alfred hatte sich die Floskel vom digitalen Werkzeugkasten zu einem internen Witz entwickelt. Beständig versucht Perle, Begriffe wie Innovation und Digitalisierung in die Gespräche mit den Kollegen einzubringen, stößt dabei jedoch auf nur wenig Resonanz. Besonders Alfred hatte klar und deutlich kundgetan, dass er immer gut ohne all diese Dinge ausgekommen sei und keinen Bedarf für digitales Werkzeug habe. Der solide Werkzeugkasten aus Holz, den er von seinem Vater geerbt hatte, halte lange und benötige keine Form der Aktualisierung.
»Ja, ja«, sagt Alfred. »Alle reden übers Wetter, aber keiner tut was dagegen.« Mit einem karierten Taschentuch wischt er sich den Schweiß von der Stirn. Für Juni ist es plötzlich ungewöhnlich warm geworden, selbst hier oben im Gebirge.
Tor hebt zum Abschied die Hand, geht zu seinem Pick-up und vernimmt, wie aus der Hosentasche erneut das Geräusch einer eingehenden Nachricht ertönt. Ihm ist warm und er hat Durst. Nachdem er ins Auto eingestiegen ist, nimmt er einen Schluck aus der zwischen den Sitzen stehenden Wasserflasche. Igitt! Das Wasser ist lauwarm. Kein Wunder, schließlich steht es seit gestern dort. Auch das Innere des Wagens ist warm, auf dem heißen Autositz bricht ihm unmittelbar der Schweiß aus. Warum hat er so geparkt, dass das Auto mitten in der brütenden Hitze steht? Er schraubt den Deckel wieder drauf und wirft die Flasche auf den Boden. Kurbelt auf der Fahrerseite die Schreibe herunter, zieht das Handy aus der Hosentasche, wirft einen schnellen Blick auf die Nachricht, bevor er sie wegdrückt und das Telefon in der Halterung am Armaturenbrett platziert. Er bleibt eine Weile sitzen, ohne den Motor zu starten.
Hätte er das Ingrid gegenüber erwähnen sollen? Ihr erzählen, von wem die Nachrichten sind? Er hatte daran gedacht. Es ist nicht so, dass er etwas zu verbergen hätte. Es ist nur, dass … es passt irgendwie nie. Es würde nur für unnötige Unruhe sorgen.
Ingrid hat viel zu tun und an vieles zu denken. Vermutlich ist es das Beste, darauf zu hoffen, dass sich das Ganze von selbst erledigt. Das hat es früher schließlich auch getan.
Da erscheint Ingrid auf der Hoteltreppe, bekleidet mit Shorts, Turnschuhen und einem alten T-Shirt mit Farbflecken darauf. Wie hübsch sie ist! Er kann es kaum glauben, dass sie beide ein Paar sind. Er bewundert ihre langen, starken Beine, die athletische Haltung. Die langen, lockigen Waldelfenhaare sind nunmehr oben auf dem Kopf zu einem Dutt zusammengefasst. Selbst in Arbeitskleidung ist sie schöner als ein Filmstar auf dem roten Teppich.
Er lehnt sich über den Beifahrersitz, lässt die Seitenscheibe herunter und ruft ihr über den Parkplatz zu: Wie hübsch du bist! Sie lacht, nimmt den Farbeimer in die eine Hand und winkt ihm mit der anderen zu. Tor erwidert das Winken und startet den Wagen. Es knirscht, als er über den Kies fährt, doch als er auf die Straße Richtung Dalen kommt, geht der Belag in Asphalt über, und es wird still. Früher war dies lediglich ein Weg für Pferd und Wagen, erinnert er sich. Es rumpelte, wenn man zum Hotel hinauffuhr, und kleine Steine spritzten hoch, aber Borghild Berg hatte dafür gesorgt, dass der Weg asphaltiert wurde, sodass auch die Touristenbusse hinauffahren konnten, ohne Angst haben zu müssen, dass der Boden unter ihnen nachgab.
Er hat beide Fenster offen gelassen und genießt die frische Brise. Er erhöht das Tempo ein wenig und sieht im Rückspiegel, wie das Hotel verschwindet. Das Radio lässt er ausgeschaltet, hört nur das Rauschen des Windes und den Motor. Der Pick-up ist mittlerweile alt, aber dennoch ein beständiger, treuer Begleiter. Tor kennt jedes Geräusch des Motors, und jetzt klingt er zufrieden.
Während der Fahrt verändert sich die Landschaft um ihn herum. Oben im Hochgebirge gibt es lediglich Moos und Weidenbüsche, dann tauchen kleine Birken und Sträucher auf, und je weiter er nach unten gelangt, desto höher werden die Bäume. Schließlich sind auch Fichten zu sehen, schwere Riesen mit grauen Bärten aus Flechten. An der Straße entlang befinden sich einfache, in Blockbauweise errichtete Sennhütten mit Schieferdächern. Sie sind schon alt und im Laufe der Jahre ergraut; einige von ihnen sind so verfallen, dass aus den Dächern Espen und Ebereschen wachsen. Die Sennhütte seiner Familie ist nicht weit von hier entfernt, aber glücklicherweise ist sie in gutem Zustand, dafür hat er selbst gesorgt.
Nach der Stallfütterung im Winter und der hektischen Lämmersaison durften seine Schafe jetzt auf die Weiden auf der Alm umziehen. Seine Ablösung, Roger, ist den ganzen Sommer über vollauf als Hirte und Senner beschäftigt. Es gefällt ihnen auf der Alm, sowohl den Schafen als auch Roger und Tor. Die kleinen Herden mit Mutterschafen und Lämmern können lange Sommertage genießen und dabei frisches Gras und andere Pflanzen knabbern. Gleichzeitig sind die Sommernächte auf den Bergweiden kurz und relativ mild, auch wenn es oben im Gebirge kälter ist als hier unten im Tal. Seine Tiere haben ein freies, gutes Leben. Zumindest solange kein Wolf, Bär oder Vielfraß auftaucht. Er hat das Gewehr dabei. Er hat die Erlaubnis dafür, im Falle, er muss ein verletztes Tier töten, aber glücklicherweise kommt es selten zum Einsatz.
Das Telefon klingelt. Er verspürt ein Ziehen im Magen. Er will nicht. Als er jedoch aufs Display schaut, sieht er, dass es sein Vater ist. Seine Schwester Grete hatte ihn bei ihrem letzten Gespräch gefragt, wie es mit dem Vater liefe – ob Tor in der Lage sei, ihm zu verzeihen, dass er solches Schindluder mit dem Geld getrieben hatte.
»Ich weiß es nicht«, hatte Tor geantwortet. »Es nagt nach wie vor an mir.«
Als die Eltern sich vor einigen Jahren aus der Führung des Hofes zurückgezogen hatten, geschah dies inmitten der schwierigsten ökonomischen Phase. Dennoch hatten sie sich dazu entschlossen, Tor die Verantwortung zu überlassen, der zu diesem Zeitpunkt mitten in der Scheidung steckte und mehr als genug um die Ohren hatte. Im Nachhinein hatte er sich selbst eingestehen müssen, dass er damals sehr verärgert war.
»Aber Vater hilft mehr als früher«, hatte er Grete wissen lassen.
»Und er hat sich in letzter Zeit nicht in neue, halsbrecherische ›Investitionen‹ gestürzt?«, hatte die Schwester gefragt.
»Nein, nicht, soweit ich weiß«, hatte Tor geantwortet.
Die Schwester hatte gelacht. »Darüber sollte man sich doch freuen.«
Im Grunde war auch Grete keine große Hilfe gewesen, als die Krise eingetroffen war. Allerdings hatte sie sich in einer anderen Ecke des Landes um kleine Kinder und ihren Job zu kümmern, was also hätte sie genau genommen tun sollen?
Die Mutter hatte die meiste Arbeit damit gehabt, den Vater wieder in die richtige Spur zu bringen. Bipolare Störung, hatte sie gesagt. So hatte der Arzt es bezeichnet. Und Spielsucht.
Das hilft vermutlich ein bisschen, denkt Tor. Die Diagnosen. Selbstverständlich nicht im Hinblick auf die tatsächliche Situation, die Schulden oder die Arbeitsmenge. Aber zumindest hatte die Familie eine Form von Erklärung dafür erhalten, warum der Vater an dem einen Tag glänzend optimistisch schien – voller Enthusiasmus für eine neue Investitionsmöglichkeit mit Geld, das für den Hof vorgesehen war – und am nächsten schweigsam und in sich gekehrt sein konnte.
In letzter Zeit scheint es Torbjørn besser zu gehen. Sind es die Ereignisse der vergangenen Monate, die ihn aufgerüttelt haben, ihn dazu gebracht haben, sich wieder mehr einzubringen? Vielleicht ist es die Freude darüber, dass Tor und Ingrid zueinander gefunden haben? Eine Form der Zukunftshoffnung? Wahrscheinlich haben auch die Enthüllungen über Hallgrim Dalens schmutzige Arbeitsmethoden das Gemüt des Vaters ein wenig erleichtert. Schließlich trug Hallgrim einen wesentlichen Anteil an der Schuld für die finanziellen Verwicklungen. Oder vielleicht halfen die Medikamente. Wer weiß. Auf jeden Fall springt der Vater öfter ein als früher. In letzter Zeit haben sie es so gehalten, dass Torbjørn und Tor sich abwechseln, wenn es darum geht, Roger mit den Schafen auf der Alm zu helfen. Und Tor ist froh darüber, denn er braucht alle Hilfe, die er bekommen kann.
Er streckt den Arm aus und nimmt den Anruf entgegen.
»Hei, Papa!«
»Hei! Wollte nur hören, ob du unterwegs bist?«
»Ja, bin ich. Alles in Ordnung?«
»Alles in Ordnung. Aber wir müssen ein Auge auf Fjellrosa und das kleine Lamm haben.«
»Okay? Lehnt sie es ab?«, erkundigt sich Tor.
»Nein, aber sie kümmert sich mehr um das große«, erklärt der Vater.
»Hm, wir sollten überlegen, sie vielleicht wieder mit auf den Hof zu nehmen. Wir schauen es uns an, wenn ich da bin.«
»Okay«, entgegnet der Vater.
»Bis gleich«, beendet Tor das Gespräch.
Beide legen sie auf. Für Smalltalk hat man in der Familie Seter nicht viel übrig.