Weihnachten im Himmelfjell Hotel - Kjersti Herland Johnsen - E-Book

Weihnachten im Himmelfjell Hotel E-Book

Kjersti Herland Johnsen

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Beschreibung

Nach Jahren als Bergsteigerin und Expeditionsleiterin, die mit einem Lawinenunglück ein dramatisches Ende fanden, kehrt Ingrid Berg in ihre Heimat zurück, um die Leitung des seit Generationen familiengeführten Himmelfjell Hotels zu übernehmen, malerisch gelegen in den norwegischen Bergen. Weihnachten naht, man erwartet zahlreiche Gäste aus dem In- und Ausland. Doch es scheint, als würde das Schicksal – oder jemand? – nicht wollen, dass Ingrids Arbeit im Hotel Erfolg hat. Noch dazu kommt Ingrid einem Familiengeheimnis auf die Spur, und sie entwickelt Gefühle für ihren Kindheitsfreund Tor – sehr zum Unmut von Preben, der Ingrid um jeden Preis zurückgewinnen will. Turbulente Adventstage münden in ein stimmungsvolles Weihnachtsfest.

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Seitenzahl: 486

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Schon als sie das erste schwache Dröhnen vernimmt, weiß Ingrid, dass sie den größten – und womöglich letzten – Fehler ihres Lebens begangen haben.

 

Zuerst ist da nur das Geräusch. Dann wird sie sichtbar. Die Lawine ist eine weiße Masse, die auf sie zukommt, in kleine weiße Schollen zerbirst, ein Netz, das immer breiter wird, je mehr es an Geschwindigkeit zunimmt.

 

Für eine gefühlte Ewigkeit bleibt sie wie versteinert stehen. Dann hört sie die Schreie. Giovanni, den Sherpa Pertema, die anderen aus der Gruppe. Was Preben, der Anführer, sagt, hört sie nicht. Bevor sie wenige Minuten zuvor vom Basislager aufgebrochen waren, hatte er ihnen noch versichert, er habe alles unter Kontrolle. Und jetzt kommt die Lawine. Alles geht so schnell. Jemand wird sterben, denkt sie. Sie weiß nur nicht, wer. Aber sie hat keine Angst. Noch nicht.

 

Der weiße Schnee ist das Schönste, was sie jemals gesehen hat. Er ist das Furchteinf‌lößendste, was sie jemals gesehen hat. Er gleicht einem Zug, der mit 120 Kilometern pro Stunde auf sie zurast. Ein wildes Tier, wütend, dass es nach langem Schlaf im Berg geweckt wurde. Ein Ungeheuer, ein Yeti – nein, ein funkelnder weißer Drache. Plötzlich ist sie nicht mehr versteinert, ihr Körper erwacht, sie will weglaufen. Doch der Boden schwindet unter ihren Füßen, zerfällt zu Pulver. Als der Drache sie zu fassen bekommt und sie in die Luft wirbelt, schwebt sie zuerst auf seinem Atem. Dann tanzt er mit ihr, einen wilden Tanz, rundherum und rundherum, immer schneller und schneller.

 

Schnee und Eis sind überall, sie hat keine Kontrolle, kann nicht atmen. Wie in einem Strudel wird sie unter die Schneemassen gezogen, eingeschlossen, daruntergedrückt. Dann ist alles plötzlich ganz still.

 

Ist sie tot? Sie sieht Lichtstrahlen. Sie hat keine Schmerzen. Sie friert nicht. Aber sie kann ihre Beine nicht bewegen, sie sind wie in Zement gegossen. Sie versucht es mit den Händen, die bef‌inden sich oben beim Gesicht, sie kann sie einige Zentimeter in jede Richtung schieben. Dann ist sie wohl doch nicht tot.

 

Der Raum, den sie durch die Bewegung ihrer Hände erschaffen kann, ist klein. Die Spalten füllen sich erneut mit Schnee, das Licht verschwindet. Jetzt wird das Atmen schwer, sie bekommt zu wenig Luft. Die Lungen schmerzen. Wo ist oben? Wo ist unten?, denkt sie. Wie tief bin ich begraben? Wie viele Minuten bleiben mir? Sollte es so enden? Dann wird alles dunkel.

1. Dezember

Ruckartig setzt sich Ingrid Berg im Bett auf. Der gleiche Traum wie immer. Wieder und wieder sucht er sie heim. Das Dröhnen. Der weiße Drache. Die Schreie. Die Dunkelheit. Die Panik. Der Schmerz. Überall Schnee.

Es ist nicht viel, an das sie sich aus den ersten Stunden und Tagen erinnert, aber das grelle Licht, die weiß gekleideten, hektisch umhereilenden Menschen, die Schmerzen und das Blut, all das Blut – das wird sie niemals vergessen.

Sie bringt ihre Atmung wieder unter Kontrolle. Sie ist jetzt nicht dort. Nicht unter dem Schnee, nicht im Krankenhaus. Sie ist in ihrem Bett im Himmelfjell Hotel. Um sie herum ist es dunkel, und sie ist allein.

*

Bereits als kleines Kind hatte Ingrid mit dem Klettern begonnen. Zuerst an den kleinen Felsen in der Nähe des Hotels, in dem sie aufwuchs, dann an Bergwänden. Etwas in ihrem Inneren trieb sie immer weiter, immer steiler und immer höher hinauf. Die Leute hatten sich gewundert, dass ihre Großmutter, die sie Mutter Borghild nannte, das zuließ – erst recht nach dem, was den Eltern geschehen ist! Doch die Großmutter war stets ruhig geblieben. Ingrid ist zum Klettern geboren, hatte sie entgegnet. Ihr das Klettern zu verweigern, wäre, wie dem Raufußbussard das Fliegen zu verbieten.

Die Leute vom Himmelfjell sind immer Kletterer gewesen. Mutter Borghild hatte erzählt, dass sowohl sie selbst als auch Ingrids Mutter Engeline von Kindesbeinen an an den Bergwänden unterwegs waren, obwohl das zu dieser Zeit für Frauen noch ungewöhnlich war. Das Letzte, was Mutter Borghild also wollte, war Ingrid daran zu hindern, sich zu entfalten. Als Zugeständnis an die allgemeine Vernunft hatte sie dennoch dafür gesorgt, dass Ingrid einen Kletterkurs belegte, Sichern und Abseilen lernte und einen Helm benutzte, dass sie Kletterkameraden fand und tat, was nötig war, damit das Klettern so sicher wie möglich wurde. Mutter Borghild vertraute Ingrid. Und so hatte Ingrid sich selbst vertraut, keine Angst gehabt. Sie kannte die Berge, ihre Finger wussten, wohin sie greifen mussten, sie wusste immer, wohin sie den Fuß beim nächsten Schritt zu setzen hatte.

Und nach und nach war das Klettern zu ihrem Leben geworden. Sie war in die Welt aufgebrochen, zu neuen Herausforderungen, und hatte sich immer sicher gefühlt, nahezu unverwundbar.

Aber dann, im vergangenen Jahr, hatte sich dort oben im asiatischen Hochgebirge das Leben innerhalb weniger Minuten verändert. Die Bilder rasten wie eine Schneelawine an ihrem inneren Auge vorbei, wie die Lawine, die sie im Himalaya überrollt hatte. Prebens Versagen, die fatalen Konsequenzen – darüber würde sie niemals hinwegkommen, und jedes Mal, wenn sie daran dachte, war es, als wäre sie erneut unter meterweise Schnee gefangen und mühte sich damit ab, Luft zu bekommen.

 

Sie ließ warmes Wasser über Kopf und Körper laufen, während sie das Lied mitsang, das im Badezimmerradio lief. Every Day Is Christmas With You. Es war der erste Sonntag im Advent, die Weihnachtslieder wurden jedoch schon seit mehreren Wochen gespielt. Shampoo, Spülung, erneut Shampoo. Was für ein Luxus das war, sich täglich eine warme Dusche genehmigen zu können. Den Albtraum der Nacht in den Abf‌luss rinnen zu lassen. Ingrid hatte an genügend Expeditionen teilgenommen, um den Komfort des Indoorlebens wirklich schätzen zu wissen. Saubere, trockene Handtücher. Warmes Wasser. Warmer Badezimmerfußboden. Duftendes Duschgel. Candy cane kisses. With you! Beinahe vergaß sie, dass sie nicht singen konnte. Sie verteile noch etwas Spülung in den Händen und fuhr sich damit durch die langen, lockigen Haare, um des Gewirrs Herr zu werden. Why wait for mistletoe? I don’t need an excuse.

Ingrid drehte den Wasserhahn zu und streckte sich nach dem Handtuch. Für einen Moment hatten das warme Wasser und die beschwingte, herrliche Musik sie in eine Zeit zurückversetzt, in der das Leben ganz anders gewesen war, in der sie selbst eine ganz andere gewesen war. Eine Zeit, in der sie dieses Lied geliebt hatte, genauso wie denjenigen, der es für sie gesungen hatte, obwohl auch er nicht singen konnte: Every Day Is Christmas With You!

Sie hielt kurz inne, wickelte sich das Handtuch um. Spürte, dass ihr kalt wurde. Ihre Muskeln verspannten sich; wie so oft, wenn die Erinnerung kam.

Sie schaltete das Radio aus, zog sich schnell an, cremte Gesicht und Hände ein. Nach einigen Minuten mit dem Fön waren die Haare trocken genug, um unter eine Mütze gestopft zu werden. Ingrid betrachtete sich im Spiegel, der, seit sie sich erinnern konnte, neben der Tür gehangen hatte. Als Kind hatte sie zusammen mit Mutter Borghild hier in der Direktorenwohnung des Himmelfjell Hotels gewohnt, dem »Privatbereich«, wie die Hotelangestellten sie nannten. Jetzt lebte sie allein hier. Die Großmutter hatte darauf bestanden, als Ingrid nach Hause gekommen war, um die Leitung des Hotels zu übernehmen. Mutter Borghild ihrerseits war in eine kleinere Wohnung auf derselben Etage gezogen, die »Kårstua«, das Altenteil. Das Personal wohnte im Nebengebäude, mit Ausnahme der Hausverwalterin und der Köchin, die eigene Zimmer im Hauptgebäude hatten.

Ingrid zog Schnürstiefel und Wolljacke an, lief die Treppen zur Rezeption hinunter und ging mit großen, schnellen Schritten hinaus, um ein wenig Tageslicht zu tanken. Ihr blieb Zeit für einen kurzen Spaziergang, bevor sie sich des Tagwerks annehmen musste.

 

Sie genoss den Anblick des Sonnenaufgangs am Himmelfjell. Die rosafarbenen Strahlen drangen durch die dünne Wolkenschicht und umrahmten die schöne Silhouette der Berggipfel und Bäume. Dreihundert Kilometer von Oslo und eine Stunde Autofahrt vom See Mjøsa entfernt, durch Täler hindurch und steile Gebirgsstraßen hinauf, lag das Hotel nahe der Baumgrenze. Hier oben wuchsen nur Birken und Kiefern, keine gewaltigen Fichten, wie auf den Hängen nach Dalen hinunter. Umso besser war die Aussicht. Der Himmel wechselte unaufhörlich seine Farben und selbst die Form des Gebirgsmassivs schien sich mit dem Licht zu verändern.

Unter ihren Stiefeln knirschte es, als Ingrid das Heidekraut Richtung Geröllhalde überquerte. Die Flechte und das Moos auf dem Boden waren mit Reif überzogen, der im frühen Morgenlicht glitzerte. Die an den Blau- und Preiselbeersträuchern verbliebenen Früchte waren in eine dünne Eisschicht gehüllt und sahen aus wie von der Natur sorgfältig ausgearbeitete, delikate Kunstgegenstände, nicht zu vergleichen mit irgendeinem von Menschenhand gefertigten Dekor.

Trotz eines kalten Herbstes hatte es bisher nur wenig geschneit. Lediglich der Gipfel hoch, hoch dort oben war von eisigem Weiß bedeckt. Die gigantische Spitze reckte sich zum Himmel. Manchmal verschwand sie in dicken Wolkenschichten, wie ein Wohnsitz Gottes, hoch erhaben über der Welt der Menschen. Nicht verwunderlich, dass der Berg den Namen Himmelnuten trug, und dass sich Mythen und Sagen um ihn rankten.

In der Senke unterhalb des Himmelnuten lag, blau-weiß und monumental, der gefrorene Wasserfall Styggfossen.

Die Sonne kämpfte sich durch die Wolkendecke, das Licht veränderte seine Farbe, wurde wärmer. Ingrid schloss die Augen und ließ die Sonnenstrahlen ihr Gesicht wärmen, spürte, wie sie die Lebenskräfte weckten. Vögel und andere Tiere erwachten. Von einer Birke aus f‌log ein kleiner Schwarm Unglückshäher an ihr vorbei. Sie machten sich auf den Weg zum Kücheneingang, wo von den Hotelangestellten Brotkrümel zu erwarten waren, obwohl die Köchin den kleinen Rabenvögeln gegenüber misstrauisch war, die ihrer Meinung nach ihrem Namen alle Ehre machten und Unglück brachten. Ein ungerechter Name. Die Unglückshäher waren niedlich und lustig mit ihrer Abenteuerlust und ihrer verwegenen Frisur.

Sie sah sich um. Wenn man Glück hatte, konnte man an einigen Tagen an den Berghängen Herden wilder Rentiere erblicken. Heute jedoch war von ihnen keine Spur.

 

Die Sonne stieg, das Licht wurde weißer, das Funkeln stärker. Die Wintersonne würde sich nur wenige Stunden über dem Horizont halten, bevor ihr Licht verblasste und sie sich schläfrig verabschiedete, um in einem Meer aus Rot und Orange zu versinken. Dann würde sich die Dämmerung in farbenfrohen Streifen über den Horizont erstrecken, bevor gegen achtzehn Uhr die Nacht wieder hereinbrach – eine lange, dunkle und kalte Winternacht im norwegischen Gebirge.

 

Aber – Ingrid holte tief Luft – bevor es so weit war, sollte im Himmelfjell viel passieren. Nicht nur die Unglückshäher hatten ihre Aufgaben zu erledigen. Die Stunden zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang hielten auch für Ingrid Berg und ihr Team vieles bereit: Weihnachten näherte sich mit großen Schritten, sie mussten die Ankunft der Weihnachtsgäste vorbereiten und die Gerichte testen, die im Restaurant serviert werden sollten. In wenigen Wochen würde sich zeigen, ob all das, wofür sie die letzten Monate gearbeitet hatten, wirklich gelingen konnte.

Ingrid machte auf dem Absatz kehrt und ging über das Heidekraut zurück zum Hotel, das das Gebirgsplateau dominierte. So vertraut ihr das große Gebäude auch war, beeindruckte sie das Himmelfjell Hotel dennoch immer wieder aufs Neue. Hoch und breit, solide und braun gebeizt war es, mit weißen Fensterrahmen und Schnitzereien im traditionellen Drachenstil. Seit Hunderten von Jahren war die Familie Berg am Fuße des Hochgebirges ansässig. 130 davon hatte sie ein Hotel betrieben. In 1200 Metern Höhe, dort, wo die Straße endete und der Aufstieg zum Himmelnuten begann, stand das Himmelfjell Hotel, seit im 19. Jahrhundert die ersten Touristen ihren Fuß ins Gebirge gesetzt hatten.

Über die Jahrzehnte hinweg war das Hotel gewachsen. Anbauten und Nebengebäude im Stil des Haupthauses waren hinzugekommen. Daher verfügten sie nun, neben den zwanzig Zimmern und Suiten im Hauptgebäude, zusätzlich über Wohnungen und Familienunterkünfte. Die Erweiterungen waren schön gelöst worden, denn an einem Ort wie diesem sollte der Baustil traditionell sein. Hier gab es keine dieser hässlichen Annexe, die man bei einigen Hotels im Hochgebirge sah. Nein, dies war das familienbetriebene Himmelfjell Hotel, und Mutter Borghild hatte dafür gesorgt, dass der Originalstil beibehalten wurde.

Der große Platz vor dem Hauptgebäude war mit Kieselsteinen bedeckt. Eine breite Treppe mit Rampen zu beiden Seiten führte zur Eingangstür hinauf, die von einem Vordach geschützt und von großen schmiedeeisernen Laternen f‌lankiert wurde.

Viele Fenster waren dunkel und die Gardinen zugezogen. Noch waren nicht alle Gäste aufgestanden, zudem waren sie weit entfernt davon, ausgebucht zu sein. Im Erdgeschoss hingegen waren die Fenster erleuchtet. Dort wurde gearbeitet. Köchin Maja Seter stand vermutlich seit fünf Uhr in der Küche. »Morgenstund hat Gold im Mund«, lautete ihr Motto. Wenn die anderen gegen halb sieben in die Küche kamen, hielt Maja oftmals schon frisch gebackene Brötchen bereit. Da hatte sie bereits den Geschirrspüler ausgeräumt und neu bestückt, ein Salzfässchen umgestoßen, sich eine Prise Salz über die Schulter geworfen, um Unheil abzuwenden, den Tisch für die Kollegen gedeckt, die erste Kerze am Adventskranz entzündet und Kaffee gekocht. Und jetzt, da gegen neun die Sonne vollständig aufgegangen war, würde sie bereits mit den Vorbereitungen für das heutige Abendessen beschäftigt sein.

 

Es war richtig, hierher zurückzukehren, dachte Ingrid. Es fiel ihr schwer zu sagen, dass sie froh über ihre Entscheidung war, sofern sie denn eine Wahl gehabt hatte. Dafür brachte der Entschluss, die Hotelleitung zu übernehmen, zu viele Sorgen, zu viel Arbeit, zu viel Unsicherheit mit sich. Doch jedes Mal, wenn sie das Hotel betrachtete, wuchs etwas in ihr, der Keim von etwas, das vielleicht als Zufriedenheit bezeichnet werden konnte. Es hatte etwas damit zu tun rauszugehen, sich umzusehen und zurückzukehren. Ab und an fand sie auf ihren morgendlichen Touren zu einer inneren Ruhe, im Einklang mit der glitzernden, kalten Stille um sie herum.

Allerdings hielt diese Ruhe selten lange an. Und heute war sie von besonders kurzer Dauer. Denn bereits bevor Ingrid die Eingangstür erreicht hatte, durchbrach ein lauter Schrei die Stille.

*

»Maus! Maus!« Der alte Küchentisch knarrte unter Maja Seters ansehnlichem Gewicht. Die kräftigen Füße in soliden Hausschuhen, stand die Köchin auf der karierten Tischdecke. »Macht sie weg! Macht sie weg! Wir können in der Küche keine Maus gebrauchen!«

»Eine Maus? Wo ist sie?« Ingrid war zur Küche geeilt, kaum dass sie die Schreie vernommen hatte und stand jetzt in der Türöffnung, den Blick auf die zu Tode erschrockene Köchin gerichtet.

»Sie ist direkt vor mir langgelaufen, als ich den Backofen anschalten wollte!«, rief Maja aufgebracht. »Ja, sie hat mich mit großen, roten Augen angesehen … Und dann ist sie unterm Herd verschwunden! Sie war riesig! Ein richtiges Biest! Genau genommen könnte es auch eine Ratte gewesen sein.«

Die Köchin atmete schwer und hielt sich eine Hand vor die Brust. »Wir sollten ein paar von Gråpus Jungen holen«, fuhr sie fort, bevor Ingrid antworten konnte.

»Als wir noch eine Katze hatten, war es hier frei von Mäusen und anderen Ungeheuern.«

Ingrid war nicht ganz sicher, ob Katzen in der Küche sich besser mit den Vorschriften der Lebensmittelhygiene vereinbaren ließen, brachte jedoch nicht die Kraft auf, sich in diesem Moment einer Diskussion zu stellen.

»Ich f‌inde die Maus süß. Ihr gefällt es hier.«

Erst jetzt bemerkte Ingrid Hussein. Der Sechsjährige saß auf der Bank beim Fenster und lächelte sie an, wobei er den Blick auf eine Lücke freigab, dort, wo sich eigentlich zwei Schneidezähne bef‌inden sollten.

»Hast du die Maus gesehen, Hussein?«

»Ja, sie heißt Speedy, weil sie so schnell ist. Sie mag Brot. Und Käse.«

Ingrid sah ihn lange an.

»Du hast Speedy doch wohl nicht gefüttert, oder?«

»Nein, Tante Ingrid!« Hussein schaute schnell weg.

»Du darfst die Mäuse nicht füttern, weißt du. Maja will sie nicht in der Küche haben.«

Sie war kurz davor hinzuzufügen: Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzt Maja auf dem Tisch, schaffte es aber gerade so, sich zurückzuhalten.

»Nein, das will ich ganz gewiss nicht«, ertönte es vom Küchentisch. »Das ist lebensgefährlich! Habt ihr noch nie von der Mäusepest gehört? Wir brauchen Fallen! Oder Katzen! Oder Gift! Oder alles auf einmal! Sofort!«

»Was geht hier vor sich?«

In der Küchentür stand Aisha Noor mit einem verwirrten Ausdruck in ihrem hübschen Gesicht. Eigentlich war Aisha der Inbegriff von Ruhe und Ordnung. Die langen, glatten Haare waren mit einer Spange im Nacken zusammengefasst, sie trug eine schwarze Hose, eine Bluse und einen marineblauem Blazer. Aisha war neu in der Rolle der Hausverwalterin des Himmelfjell Hotels und die Erste, die Ingrid eingestellt hatte, nachdem sie den Direktorenposten übernommen hatte.

Aisha und ihr Sohn Hussein waren im Frühjahr nach Norwegen gekommen und rechtzeitig vor Schulbeginn im Herbst ins Hotel gezogen. Ingrid war froh darüber, dass sie Aisha und Hussein diese Möglichkeit hatte anbieten können. Mit Wohltätigkeit hatte das jedoch nichts zu tun. Die stämmige Aisha hatte glänzende Referenzen von früheren Arbeitgebern vorzuweisen, sie hatte eine Ausbildung, sprach gut Englisch und verfügte über langjährige Erfahrung in der Hotelbranche. Nach nur wenigen Monaten im Land sprachen sowohl Aisha als auch Hussein zudem f‌ließend Norwegisch. Husseins Vater, Mohammed, stammte aus Syrien, lebte zurzeit aber in Jordanien.

»Hussein, hast du wieder etwas angestellt? Und warum steht Frau Maja auf dem Tisch?«, erkundigte sich Aisha.

Bevor Maja es schaffte, erneut »Maus« zu rufen, war Hussein bei seiner Mutter und bohrte sein Gesicht in ihren Blazer. »Frau Maja will Speedy umbringen!«, schluchzte er. »Nur, weil er schnell ist und Käse mag!«

*

Als die Situation in der Küche wieder unter Kontrolle war – nachdem Aisha Hussein mit in ihr Büro genommen hatte, Maja Seter vom Tisch heruntergeklettert war, und die Maus auch nach mehreren Minuten keine Anzeichen gemacht hatte, sich erneut zu zeigen –, schenkte sich Ingrid eine große Tasse Kaffee ein. Jetzt musste sie sich auf die Suche nach Mutter Borghild machen.

Um diese Zeit würde Ingrids Großmutter, ihre allmorgendliche Inspektionsrunde beendet haben. Ingrid sah sie vor sich, wie sie mit dem Zeigef‌inger über Leisten und Geländer strich. Sie würden auch heute staubfrei sein, wie sie es jeden Tag in den fünfzig Jahren gewesen waren, in denen Borghild die Verantwortung getragen hatte, mit der möglichen Ausnahme einiger chaotischer Wochen in den neunziger Jahren. Borghild pf‌legte die Angestellten in der Küche zu begrüßen, während Ingrid ihrerseits draußen unterwegs war. Dann nahm sie eine Tasse Kaffee mit in die Bibliothek, und Ingrid freute sich jeden Morgen darauf, sich zu ihr zu setzen.

Borghild war früh Witwe geworden, als Ingrids Großvater Christian im Alter von nur fünfzig Jahren an einem Herzinfarkt verstorben war. Da waren Borghild und Christian bereits fast dreißig Jahre verheiratet gewesen und hatten über zwanzig Jahre das Hotel gemeinsam geleitet. Anschließend hatte Borghild das Hotel mit ihrer Tochter Engeline und ihrem Schwiegersohn Marius weitergeführt – Ingrids Eltern.

Als Ingrid drei Jahre alt war, wurde die Familie jedoch erneut vom Unglück heimgesucht. Wenige Jahre nach Christians plötzlichem Tod verloren Engeline und Marius bei einem Autounfall ihr Leben, als sie auf dem Heimweg von einem Sommerfest von der Fahrbahn abkamen. Es gab keine Erklärung, kein anderes Fahrzeug war involviert. War es ein Augenblick der Unaufmerksamkeit? Ein Tier, das sich ihnen in den Weg gestellt hatte? Das wusste niemand. Im Alter von dreiundfünfzig Jahren blieb Borghild inmitten der Trauer erneut mit der Verantwortung allein zurück, nunmehr für den Hotelbetrieb und ihre dreijährige Enkelin.

So hatte Borghild das Hotel dreißig Jahre lang allein betrieben. Ingrids Bewunderung für die Großmutter war noch mehr gewachsen, nachdem sie eingesehen hatte, was für große Herausforderungen die Leitung eines Hotels mit sich brachte. Mutter Borghild hatte die Traditionen des Himmelfjell als Familienhotel bewahrt und gleichzeitig alles dafür getan, den Gästen all die Aktivitäten, zu denen das Terrain einlud, anbieten zu können, von Skifahren über Bergwanderungen und Gipfeltouren bis hin zum Wasserfallklettern. Mutter Borghild war ein Fels in der Brandung.

Sie hatten Höhen und Tiefen durchlebt. Konkurrenz von größeren Hotels, sinkende Besuchszahlen, Bedarf an Ausbauten und Ausbesserungen, bürokratische Hürden und wechselnde wirtschaftliche Konjunkturen. Für alles hatte Mutter Borghild die Verantwortung getragen. Bis jetzt – da Ingrid nach Hause gekommen war, um den Staffelstab zu übernehmen.

Seit Ingrids Rückkehr aus dem Ausland hielten sie und die Großmutter jeden Morgen ihre Tagesbesprechung in der Bibliothek ab. Sie nutzten diese Stunden, um praktische Fragen zu klären sowie den Umgang mit kleinen und großen Krisen zu diskutieren. Und in diese Kategorie f‌iel die Maus: Schädlinge im Hotel bedeuteten in der Tat eine Krise, auch wenn Ingrid sich in der Küche bemüht hatte, ruhig zu wirken. Die Lebensmittelaufsicht würde von Mäusekot in den Ecken nicht sonderlich begeistert sein.

Knarzend f‌iel die Tür hinter Ingrid zu, und obwohl der Eingangsbereich mit Fichtenzweigen und Kerzen schön weihnachtlich geschmückt war, seufzte Ingrid, als sie auf dem Weg zur Bibliothek die Rezeption passierte. Sie lächelte der neuen Mitarbeiterin zu, die hinter dem Empfangstresen stand, war gedanklich jedoch mit ihren Aufgaben beschäftigt. Sie musste Alfred bitten, die Türscharniere zu ölen. Oder vielleicht konnte sie das auch einfach selbst machen. Das, und dann die Bretter an der Kellerwand überprüfen, die möglicherweise morsch waren. Die Liste würde kein Ende nehmen. Es gab so viel zu beachten, so viel, was in einem Hotel schiefgehen konnte. Als sei die physische Instandhaltung nicht schon herausfordernd genug, musste man auch dafür sorgen, dass das Buchungssystem funktionierte, die Internetseite aktuell war und die Präsentation in den sozialen Medien bestenfalls stilvoll war. Man trug die Verantwortung für die Personalplanung, dass sich die Lebensmittelbestellungen sowohl im Umfang als auch preislich in einem angemessenen Rahmen befanden, dass die Hygieneregeln eingehalten wurden. Und dann war da noch all das, was man nicht beeinf‌lussen konnte. Straßensperrungen. Stromausfall. Krankheit.

In ihren dunkelsten Stunden fürchtete sie das, dieses Unkontrollierbare. Dass etwas geschehen würde, das die Gäste dazu brachte, sie im Stich zu lassen, sodass sie das Handtuch werfen und das Hotel der Familie verkaufen musste, um die nicht unbedeutenden Schulden zu tilgen. Es gab Interessenten, die das Himmelfjell Hotel erwerben wollten, das wusste sie. Die Hotelketten, die sich in den letzten Jahren in den Tälern etabliert hatten und die norwegische Hotelbranche zusehends dominierten, hatten, nahezu ausnahmslos, Kontakt zu ihnen aufgenommen. Ihre Preisvorstellungen waren jedoch lächerlich niedrig gewesen.

Außerdem hatte Ingrid nicht vor, sich so leicht zu ergeben. Nachdem sie sich erst einmal entschlossen hatte, den Hotelbetrieb zu übernehmen, tat sie das mit voller Kraft. Doch der Einsatz war hoch und die Fallhöhe entsprechend.

Sie öffnete die Tür zur Bibliothek und fand ihre Großmutter in einem der großen Ohrensessel am Kamin.

 

»Es ist ein Mäusejahr, ja. Ich habe mit Bjørnar darüber gesprochen«, sagte Mutter Borghild und legte ein großes Buch auf den Tisch neben sich, eines der Werke über die Geschichte der Region, für die sie sich so sehr interessierte.

»Großmutter. Bjørnar ist ein ausgestopfter Bär«, entgegnete Ingrid. Sie setzte sich in den Sessel neben dem der Großmutter, legte eine Hand über ihre und schaute zu dem großen Bären hinauf, der mit offenem Maul und steifen Lippen neben dem Kamin stand. Groß, dunkel und stillschweigend starrte Bjørnar sie an.

»Ja, das weiß ich«, fuhr die Großmutter fort, während sie ihre Strickjacke zurechtzupfte. »Du glaubst wohl, ich bin völlig verkalkt?« Sie sah Ingrid scharf an.

»Abgesehen von mir ist Bjørnar schließlich am längsten im Hotel, wie du weißt. Allerdings hält er sich besser als ich. Zudem sagt er, er habe Schlimmeres gesehen. Im großen Mäusejahr 1961 zum Beispiel gab es so viele Mäuse im Hotel, dass die Katzen ihrer nicht Herr wurden. Es waren sogar welche hier in der Bibliothek und haben an seinem Fuß genagt. Sieh nur, du kannst den Abdruck dort im Fell sehen.«

Ingrid sah wieder zur Großmutter hinüber und entdeckte das Funkeln in ihren Augen. Oh, sie scherzte! Gott sei Dank! Ingrid musste lachen. Sie war so viele Jahre weg gewesen, dass sie beinahe den verschmitzten Sinn für Humor der Großmutter vergessen hatte. Nein, Mutter Borghild war wohl noch nicht völlig durcheinander. Dennoch glaubte Ingrid, dass die Großmutter in der Tat dann und wann ein paar Worte mit dem ausgestopften Bären wechselte. Ja, sie war nicht einmal sicher, ob dieser nicht auch antwortete.

 

»Und wie läuft es sonst mit den Vorbereitungen?«, erkundigte sich die Großmutter, während sie sich mit einer Hand über die weißen, hübsch hochgesteckten Haare strich. »Nicht mehr lang, bis deine Freunde kommen.«

Nun, Mutter Borghild hatte noch immer mindestens genauso viel Kontrolle über die Vorbereitungen wie sie selbst, dachte Ingrid. Jedoch betonte die Großmutter, dass sie selbst nunmehr im Begriff war, zurückzutreten, und dass Ingrid die neue Direktorin des Himmelfjell Hotels war, mit all der Verantwortung, die das mit sich brachte. Und das war viel Verantwortung. Nicht ohne Grund war Ingrid einmal davor davongelaufen. Den Berg hinunter, in die Stadt hinein und später andere Berge hinauf, und das weltweit.

Jetzt aber war die Zeit gekommen. Die Großmutter war über achtzig, und Ingrid brauchte einen Neustart.

Nach dem, was im Himalaya geschehen war, war der Druck groß gewesen, und Ingrid hatte sich einfach nur weggewünscht. Weg von Preben, weg von der Aufmerksamkeit, weg von all den Erinnerungen und – nicht zuletzt – so weit weg vom internationalen Bergsteigermilieu wie nur möglich. Ein wenig paradox, dass sie dann hierher zurückgekehrt war, ins Himmelfjell Hotel – mit der Aussicht auf den Himmelnuten, den sie in ihrer Jugend so oft bestiegen hatte und von dem sie jetzt, im Alter von vierunddreißig Jahren, nicht wusste, ob sie jemals wieder einen Fuß daraufsetzen würde.

Mutter Borghild hatte einmal zu ihr gesagt, das Wichtigste für einen Bergsteiger sei, gut im Vergessen zu sein. Wer Berge besteigen wolle, müsse die Angst vergessen können, all die Stürze und die verfrorenen Finger, die Streitereien und Hindernisse, um die man nicht umhinkommt.

Und genau so war es schließlich. Um weitermachen zu können, musste man lernen, den Schmerz zu vergessen. Man musste Freude am Bewältigen f‌inden, das Schwierige wegschieben – wieder und wieder. Und das hatte sie getan. Bis etwas geschehen war, das sie unmöglich vergessen konnte.

Ingrid hob den Blick. Die Großmutter hatte eine Frage gestellt. Sie musste sich aufs Hier und Jetzt konzentrieren.

»Die Vorbereitungen … Ja, die gehen ihren Gang. Heute Abend werden wir die gepökelte Lammrippe probieren. Sofern die Maus sie nicht aufgefressen hat. Schließlich wollen wir wissen, ob sie genau so ist, wie sie sein soll, bevor wir sie den Gästen servieren«, sagte Ingrid.

»Glaubst du, dass sie gut ankommt?«, wollte die Großmutter wissen.

»Das will ich wohl meinen! Die Leute wollen solide, traditionelle Gerichte, wenn sie hierherkommen. Ich erinnere mich, dass wir üblicherweise Bratklößchen serviert haben, als ich klein war«, sagte Ingrid. »Und dann gab es an Weihnachten Rippchen und Rinderfrikadellen. Und Würstchen.«

Mutter Borghild lächelte breit. »Würstchen hast du geliebt! Und die Rippchen waren beliebt, def‌initiv. In alten Zeiten war es Tradition, kurz vor Weihnachten Brühefest zu feiern.«

»Brühefest? Was ist das?«

»Nun, zu dieser Zeit haben wir die Rippchen vor dem Braten gekocht und die Fleischbrühe mit Brot serviert. Das war herrlich! Und dann gab es an einem der Weihnachtsfeiertage Rakf‌isk. Das könnte man vielleicht für deine Touristen ausprobieren? Für Rakf‌isk muss man allerdings ziemlich hart im Nehmen sein!«

Ingrid zog die Augenbrauen hoch. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich das Risiko eingehen will. Kann man nicht an einer Vergiftung sterben, wenn man da was falsch macht?«

Borghild lachte.

»Maja macht nichts falsch, das solltest du wissen. Außerdem klingt es so, als hättet ihr beide den Speiseplan im Griff.«

Borghild strich sich über den Bauch. Sie war seit jeher darauf bedacht gewesen, ihre Figur zu halten, und selbst jetzt in weit fortgeschrittenem Alter wies der Stoff über dem Tweedrock lediglich die schwache Andeutung eines Bauchansatzes auf.

»Das wird demnächst viel Probeessen für uns«, lächelte sie. »Dazu noch all die Kuchen von Maja. Nicht dass das für dich sonderlich gefährlich wäre, Ingrid. Das Fett setzt sich bei dir sowieso nicht fest. Du uferst an keiner Stelle aus. Aber wir anderen müssen ein bisschen aufpassen, weißt du.«

Instinktiv griff Ingrid sich an die Taille. Die Großmutter versuchte lediglich, ihr ein Kompliment zu machen, ahnte jedoch nicht, wie hart die wohlgemeinten Worte sie trafen. Denn das war das Einzige, worüber Ingrid nie mit der Großmutter gesprochen hatte. Sie musste den Blick abwenden. Nein, an Ingrid uferte nichts aus. Und das würde es sicher auch niemals tun.

*

Die Zeit vor dem Mittagessen hatte sie für Büroarbeiten eingeplant, doch es f‌iel ihr schwer, sich auf die lange To-do-Liste zu konzentrieren. Sie spürte, wie die Rastlosigkeit in ihr kribbelte, während ihr Blick ständig aus dem Fenster auf die schöne Landschaft f‌iel. Sollte ihr Leben künftig wirklich so aussehen? Was sie am Himmelfjell so schätzte, war – neben dem Hotel selbst und der Großmutter selbstverständlich – die Natur. Das herausfordernde Terrain, das Licht in den Bergen. Der Wechsel der Jahreszeiten, die frische Luft. Nun aber saß sie die meiste Zeit drinnen und starrte auf den Computerbildschirm.

Es lag auf der Hand, dass sie auch ihre Erfahrung als Bergsteigerin einbringen sollte. Sie war hinreichend bekannt, dass es für viele interessant sein dürfte, ihr zu begegnen und von ihrer Erfahrung zu lernen, sie vielleicht als Bergführerin für Touren in der näheren Umgebung zu haben oder Vorträge von ihr zu hören, wie ihr Freund und Berater Vegard Vang es vorgeschlagen hatte. Themenwochenenden. Inspiration für Leute aus der Wirtschaft. So etwas war eine Geldquelle!

Stimmt, aber wenn sie nur wüssten, wie es ihr ging, dachte sie. Wer würde sich von einer Bergsteigerin inspirieren lassen, die mittlerweile Höhenangst entwickelt hatte?

 

Sie hatte sich gerade zusammengerissen und sich im Mehrwertsteuerregister eingeloggt, als das Telefon klingelte. Es war Aisha.

»Ich habe oben auf dem Dachboden etwas entdeckt«, sagte sie. »Ich glaube, es könnte Schimmel sein.«

»O nein!«, brach es aus Ingrid heraus. »Mäuse, Schimmel. Was kommt als Nächstes?«

Sie stützte den Kopf auf die Hand. War es überhaupt möglich, das umzusetzen – das Projekt der Revitalisierung des Hotels, um es in eine neue Zeit zu führen? Oder hatte sie sich zu viel vorgenommen?

Sie bekam Lust, alles einfach hinter sich zu lassen. Der Großmutter zu sagen, dass es zu viel wurde, dass sie das Hotel verkaufen müssten.

Aber das konnte sie nicht. Sie konnte jetzt nicht aufgeben.

»Ich sehe mir das zusammen mit Alfred an«, ließ sie die Hausverwalterin wissen.

Gib noch nicht auf, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Halte durch, f‌inde Halt, mach noch einen Schritt.

2. Dezember

Im Winter geht die Sonne über dem Himmelfjell spät auf, dachte Borghild Berg, sie nimmt sich die Zeit, die sie braucht. Ingrids Großmutter stand am Fenster und schaute über die Gebirgslandschaft – ein Anblick, dem sie niemals überdrüssig wurde, ohne den sie nicht leben konnte. Hier oben hatte sie immer gelebt, und hier würde sie sterben. Ein Pf‌legeheim unten im Tal wollte sie um jeden Preis vermeiden.

Das Panorama vor ihr war gefroren, und dennoch voller Leben. Die weiße Gestalt dort beim Hügel, war das ein Polarfuchs? Ja, es sah ganz so aus. Hätte er an diesem Dezembermorgen den Blick gen Südosten gehoben, hätte er den rötlichen Streifen ganz unten am Horizont des nächtlichen Himmels gesehen. Langsam, ganz langsam wuchs dieser Streifen zu einem breiten Band in allen Farben von Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau und Indigo, verblassend zu grau-rosa und grau-blauen Farbtönen, wenn man den Kopf Richtung Norden oder Süden drehte. Weit oben in dem dunklen Blau leuchtete noch immer kräftig ein einzelner Stern. Auch dieser vom Polarfuchs unbemerkt. Hätte er jedoch hochgeschaut, hätte er gesehen, dass die Sternbilder bereits im Begriff waren zu verblassen, jetzt da sich sowohl der Große als auch der Kleine Bär für heute in ihren Himmelsbau zurückziehen würden.

Für einen Moment erweckte es den Anschein, als würde die Sonne in Erwägung ziehen sich umzuentscheiden: Der Himmel wurde immer heller, die Sonne selbst war jedoch nicht zu sehen. Ein von morgendlicher Müdigkeit geplagter Mensch wäre vielleicht auf den Gedanken gekommen, dass auch die Sonne der Versuchung nicht hatte widerstehen können, sich wieder hinzulegen – noch ein wenig zu schlafen – unter der weichen Decke aus Nebelschwaden, die sich im darunterliegenden Tal versammelt hatten. Der Polarfuchs jedoch hatte keine Vorstellung von Bettdecken und war an diesem Morgen vermutlich auch keineswegs müde. Borghild sah ihn zielstrebig zum Bau im Geröll unter der Bergwand traben. Vielleicht hatte er heute Glück gehabt und seine komplette Morgenrunde gedreht, ohne dabei auf Rotfüchse oder Menschen zu treffen. Mit einer extra Portion Glück hatte er vielleicht sogar einen Lemming zum Frühstück gefunden. Es f‌iel nicht schwer, sich vorzustellen, dass der Fuchs an einem Morgen wie diesem recht zufrieden war.

Allerdings war nicht nur der Fuchs früh auf den Beinen. Als sich die orange Kugel endlich über den Horizont schob und die ersten Strahlen am Himmelnuten heraufkrochen, waren die Leute vom Himmelfjell Hotel bereits mehrere Stunden mit ihren Aufgaben zu Gange.

An den meisten Tagen absolvierte Borghild Berg ihre Runde durchs Hotel, sobald sie sich angezogen hatte, heute aber hatte sie eine Weile am Schreibtisch ihrer kleinen Wohnung gesessen und Tagebuch geführt.

Borghild betrachtete sich im Spiegel neben dem Kleiderschrank. Zupfte einen Fussel von der blau-weißen Strickjacke mit Zinnknöpfen und schob am Dutt im Nacken eine Haarsträhne an ihren Platz. Die Sachen saßen gut, und das Haar war noch immer voll, auch wenn es mittlerweile komplett weiß geworden war. Nicht schlecht für eine Zweiundachtzigjährige, dachte sie, bevor sie ob ihrer eigenen Eitelkeit schnaubte.

Wie immer blieb sie für einen Augenblick vor den beiden Bildern stehen, die an der Wand hingen. Dem Hochzeitsfoto von ihr und Christian in Schwarz-Weiß. Dem kleinen Ölgemälde daneben, das zwei Mädchen in Tracht vor einer frisch gesprossenen Birke zeigte. Sie hatte sie mitgenommen, als sie in die Kårstua gezogen war. In die Direktorenwohnung waren Christian und sie als Frischvermählte vor einer gefühlten Ewigkeit gezogen und bis zum vergangenen Herbst war sie ihr Zuhause gewesen. Sechzig Jahre lang hatte sie diese Bilder jeden Tag betrachtet, aber noch immer konnte sie nicht daran vorbeigehen, ohne einen Stich in der Brust zu verspüren – sowohl aus Liebe als auch aus Wehmut. Eine Trauer über das, was gewesen ist, und das, aus dem niemals etwas geworden war.

Das Foto wie auch das Gemälde stammten aus einer vollkommen anderen Zeit, als sie selbst auf der Schwelle zum Erwachsenenleben gestanden hatte, wie es bei Ingrid jetzt der Fall war. Gut, gut. Ingrid befand sich streng genommen schon längst im Erwachsenenleben, korrigierte sie sich selbst, schließlich war sie über dreißig! Als die Bilder entstanden, war Borghild selbst weitaus jünger gewesen. Heutzutage aber werden die Menschen später erwachsen. Es gab so viel zu erledigen, bevor sie zur Ruhe kommen konnten. Sie mussten eine lange Ausbildung absolvieren und noch länger reisen. Verschiedene Formen des Wohnens und Lebens wollten ausprobiert werden. Zu ihrer Zeit hatte es weniger Möglichkeiten und mehr Verpf‌lichtungen gegeben. Vieles, dem man sich einfach hatte annehmen müssen, ob man wollte oder nicht.

Dennoch hatte sie sich damals frei gefühlt. So als hätte das Leben alles Mögliche zu bieten. Und viel hatte es ihr gegeben. Auf vieles hatte sie aber auch verzichten müssen.

Jetzt ging sie zum Schreibtisch zurück und setzte sich wieder hin, nahm den Füllhalter und schrieb noch ein paar Zeilen. Dann saß sie noch für einige Sekunden mit dem Füller in der Hand da, nachsinnend, bevor sie das Tagebuch entschlossen zuklappte. Zusammen mit dem Füllhalter legte sie es in die Schublade, stand auf und verschloss diese mit dem Schlüssel, der an einer langen Goldkette unter ihrer Bluse hing. Einige Dinge behielt man besser für sich.

Borghild streckte den Rücken durch. Dann ging sie nach unten, um einen neuen Tag anzupacken. Bevor sie in den Flur hinausging und die Tür hinter sich schloss, warf sie einen letzten Blick auf die beiden Bilder. Nur Ingrid und sie selbst hatten einen Schlüssel zu der Wohnung. In ihren eigenen vier Wänden machte sie selbst sauber. So hatte sie es auch gehalten, als sie in der Direktorenwohnung gelebt hatte. Sie hatte es als unpassend empfunden, dass die Zimmermädchen dort hineingingen und in ihren Sachen herumräumten, und daran hielt sie auch heute fest.

 

Unten an der Treppe traf sie den kleinen Hussein mit dem Rucksack auf dem Rücken. Seine Mutter Aisha war nach draußen gegangen, um das Auto aufzuwärmen, bevor sie ihn zur Schule fahren musste. Der Sechsjährige war derart dick in Kleidung eingepackt, dass er kugelrund war, was ihn jedoch nicht an dem Versuch hinderte, die Treppe an der Außenseite des Geländers hinaufzuklettern.

»Guten Morgen, Hussein. Was treibst du da?«

»Guten Morgen, Frau Borghild! Ich bouldere nur ein bisschen!«, rief der Sechsjährige, sprang herunter und gab mit einem breiten Lächeln die Sicht auf die fehlenden Vorderzähne frei. Das kleine Gesicht glänzte vor Kälteschutzcreme und war zwischen der weit über die Ohren gezogenen Mütze und den vielen Schals kaum zu sehen.

»Ach so!«, sagte Borghild. »Bist du jetzt bereit für die Schule?«

»Ja! Wir haben heute Skitag!«, strahlte Hussein.

»Was du nicht sagst«, entgegnete Borghild. »Ja, sie haben ten im Skistadion die Schneekanonen wohl eine Weile laufen lassen. Aber hast du denn Ski?«

»Nein, aber wir können welche leihen.«

»Das wird sicher ein Spaß! Allerdings könnte es sein, dass du zum Skifahren ein bisschen zu warm angezogen bist«, ergänzte Borghild. »Das wirst du merken, wenn ihr erst einmal in Gang seid.«

»Mama sagt, dass man in Norwegen nie zu warm angezogen sein kann«, lautete Husseins Antwort.

Borghild lächelte. Aisha hatte Unmengen an Geschichten über unvorsichtige Leute gehört, die sich in der unwirtlichen norwegischen Natur verletzt hatten oder erfroren waren, nicht zuletzt von Maja Seter. Die Köchin hatte immer eine gute unheilvolle Geschichte auf Lager, und Aisha hatte Todesangst bekommen, dass ihrem Sohn hier in diesem neuen, kalten und wilden Land etwas Schlimmes zustoßen würde.

Borghild verstand die Besorgnis. Sie erkannte in Hussein etwas von Ingrid wieder. Sie war auch so ein Kind gewesen, eines, das niemals ruhig dasaß, das immer kletterte: auf Möbel, Steine, Geländer, auf Bäume. Vor einigen Wochen war Aisha vom Lehrer angerufen worden: Während einer Schulexkursion war Hussein auf die große Statue im Dorf geklettert. Der Lehrer hatte keine Angst gehabt, dass Hussein sich verletzen würde, der Junge kam immer überall sicher wieder herunter, sondern davor, dass die anderen Kinder seinem Beispiel folgten und es auch ausprobierten.

Borghild begleitete Hussein zur Haustür und winkte Mutter und Sohn zum Abschied zu. Dann ging sie in die Küche, um sich ihren Kaffee zu holen.

*

Mit Hausmeister Alfred Haugs schweren Schritten hinter sich ging Ingrid entschlossen die Treppen hinauf. Wer viel zu tun hat, schafft viel, sagte eine Stimme in ihrem Inneren. Das waren Mutter Borghilds Worte. Alfred Haug schwieg. In der obersten Etage bogen sie auf den Flur ab, gelangten zur Treppe, die auf den Dachboden führte und nahmen die dunklen, unbehandelten Stufen in Angriff. Durch ein kleines Fenster ganz oben in der Wand drang ein wenig Licht.

Ingrid hatte es nicht geschafft, am Tag zuvor den Dachboden zu überprüfen und hatte nicht die geringste Lust, es jetzt zu tun. Alfred ging es offensichtlich genauso. Ingrid wusste, dass sie es sich nicht leisten konnte, die Augen vor dem Schimmel zu verschließen. Es war nur, dass sie es sich eigentlich auch nicht leisten konnte, etwas dagegen zu unternehmen, sollten sie tatsächlich welchen f‌inden. Sie hatte Schimmel gegoogelt und war beim Gedanken an das, was sie gelesen hatte, erschaudert: »Hat er sich erst einmal in Ihrem Haus festgesetzt, hat dies enorme Konsequenzen. Er wächst explosiv und oft im Verborgenen. Man hat kaum eine Chance, ihn zu entdecken, bevor er nicht bereits viel Schaden angerichtet hat.«

Sie nahm die letzten Treppenstufen, drückte die schwere Dachbodentür auf und tastete mit der Hand nach dem Lichtschalter. Nackte Glühbirnen hingen von den schweren Holzbalken herunter und verbreiteten gelbes Licht. Die Ecken des großen Raums waren noch immer dunkel, weshalb sie die Konturen von Schachteln, Schränken und diversem anderen aussortierten, aber noch nicht entsorgten Mobiliar nur erahnen konnte. Die Luft war eiskalt. Ingrid hielt die Tür hinter sich auf, bis auch Alfred Haug die Treppe erklommen hatte. Er keuchte, nachdem er sich mit dem schweren Werkzeugkoffer vier Etagen nach oben gekämpft hatte. Er hatte geschnaubt, als Ingrid ihm mitgeteilt hatte, dass Aisha entlang der ten einige merkwürdige Auswüchse entdeckt hatte, und gegen die komplette Expedition protestiert. Das aber musste er sich def‌initiv ansehen. Er war der Hausmeister; das f‌iel in seinen Zuständigkeitsbereich.

Ingrid hatte eine solide Taschenlampe dabei, damit sie trotz der sparsamen Deckenbeleuchtung etwas sehen konnten. Sie bewegte sich tiefer in den Raum hinein, leuchtete entlang der Bodenleisten in Türnähe, konnte jedoch nichts Außergewöhnliches entdecken. Auf halbem Weg notierte sie sich, dass in einer Ecke ein paar zusammengelegte Wolldecken lagen. War das nicht irgendwie merkwürdig? Wonach sie jedoch Ausschau hielt, war etwas ganz anderes. Sie ging weiter in den Raum hinein und erlaubte sich beinahe, erleichtert zu sein, weil sie an Wänden und Boden nichts entdeckte … bis – da spürte sie, wie ihr Herz in der Brust einen Satz machte. An der einen Wand lag auf den vergilbten Dielen ein bräunliches Pulver. Und was war das? Aus einem Loch zwischen Wand und Bodenleiste schien eine orangefarbene Substanz herauszuquellen.

»Alfred, sieh dir das an! Kann das echter Schimmel sein?«, fragte Ingrid.

»Was für eine Art von Schimmel soll es sonst sein?«, entgegnete Alfred Haug. »Eine Fälschung? Made in China?«

Ingrid seufzte. Sie wusste nicht, ob Alfred dumm war oder versuchte, sie aufzuziehen, in diesem Moment jedoch war sie kaum empfänglich für Humor.

»Schimmel ist ein Albtraum!«, brach es aus ihr heraus. Sie sah sich um. »Allerdings hatte ich nicht gedacht, dass das Hotel besonders anfällig dafür ist. Schließlich handelt es sich um einen soliden Bau.«

»Ja, genau«, sagte Alfred.

»Und es ist seltsam, dass er auf dem Dachboden auftaucht.«

»Ja.«

»Man sollte annehmen, dass es hier oben ziemlich trocken ist.«

»Ja.«

Sie drehte sich zu dem Hausmeister um und betrachtete den buschigen, grauen Kinnbart und die tief unter Hautfalten liegenden Augen. Wie alt mochte Alfred wohl sein? Unmöglich zu schätzen. Irgendwas zwischen fünfzig und hundert, dachte sie. Aber hatte er in den letzten Jahren die Instandhaltung schleifen lassen? Mutter Borghild war zwar eine geschäftige Frau, aber mit begrenzten Einnahmen aus dem Hotelbetrieb und einem kleinen Team waren dem, worüber sie den Überblick haben konnte, Grenzen gesetzt. Zudem war sie mittlerweile über achtzig. Vielleicht hatte der Verfall zu weit fortschreiten können.

Ingrid richtete die Taschenlampe erneut auf die Wand.

»Bist du in letzter Zeit hier oben auf dem Dachboden gewesen? Hast du das Feuchtigkeitsniveau überprüft?«

Alfred sah sie an, ohne zu antworten, ging jedoch zu der angeleuchteten Stelle. Mühselig begab er sich in die Hocke und tastete vorsichtig mit den Fingern nach dem vermeintlichen Schimmel. Er löste ein kleines Stück ab, um es genauer in Augenschein zu nehmen. Roch daran. Dann steckte er es in den Mund.

Ingrid traute kaum ihren Augen. Zwar hatte sie Alfred Haug schon immer als etwas seltsam wahrgenommen, dass er jedoch geisteskrank war, nein, das hatte sie nicht mitbekommen. Warum hatte Mutter Borghild ihn so viele Jahre als Hausmeister behalten – einen Kerl, der sich auf den Boden hockte und Schimmel aß?

Alfreds wettergegerbtes Gesicht erstrahlte in einem breiten Lächeln. Er streckte den rechten Arm aus, nahm ein weiteres Stück der orangefarbenen Masse und erhob sich schwerfällig, die linke Hand auf das Knie gestützt. Wie ein Irrer grinsend ging er auf Ingrid zu. Als er vor ihr stand, hielt er ihr das, was er in den Händen hatte, vors Gesicht. Sie blinzelte. Es war orange und sah trocken und porös aus.

»Nimm einen Happen!«, forderte Alfred sie auf. »Das ist gewiss eine ganz besondere Art von Schimmel!«

Sie machte einen Schritt rückwärts, er aber fuhr fort: »Magst du keine Käsebällchen?«

Alfreds polterndes Lachen erschallte, bis die Dachbodentür wieder zugefallen war und sie sich auf den Weg die Treppen hinunter zur Küche begaben.

*

Ingrid gönnte sich fünf Minuten Pause mit Hussein auf der Bank unter dem Küchenfenster. Die Köchin hatte sich nach dem Mittagessen für eine Weile in ihr Zimmer zurückgezogen. Aisha war wieder in ihrem Büro.

Nach dem Schulausf‌lug waren Husseins Wangen noch immer rosig. Als Ingrid ihn fragte, wie es gelaufen sei, antwortete er begeistert.

»Ich glaube, ich war richtig gut auf den Ski«, sagte er. »Und das fand der Lehrer auch. Obwohl Mikkel gesagt hat, ich würde nur watscheln. Und dann hat er irgendwas von Moses in der Wüste gesungen, der auf Ski watschelt.«

Mikkel. Dabei musste es sich wohl um Mikkel Dalen handeln, den Sohn von Freddy Dalen, an den sie sich aus Schulzeiten erinnerte. Mikkel war somit – was war das? – der Urenkel, ja, das musste es sein, des berühmt-berüchtigten Hallgrim »Moschus« Dalen.

 

Hallgrim war eine Art Dorfkönig, Clanchef und Eigentümer der bedeutenden Firma Moschus Maschinen. Seine Familie dominierte das Dorf schon, seit Ingrid denken konnte. Ganz sicher auch davor. Sie hatte die Familie Dalen immer als unangenehm empfunden, besonders die Jungen. In der Schule hatten sie stets einen abfälligen Kommentar oder ein anzügliches Wort auf den Lippen. Hatte man ein neues Kleidungsstück oder einen neuen Ranzen bekommen, konnte man sicher sein, dass diese im Laufe des Schultages schlechtgemacht und möglicherweise beschmutzt wurden. Sie erinnerte sich an den Tag, als Freddy Dalen und einige seiner Kumpanen versucht hatten, auf dem Schulhof einen jüngeren Schüler an der Fahnenstange hinaufzuziehen. Er hatte eine neue Jeans von einer teuren Marke getragen und musste für diese Eitelkeit bestraft werden. Der Junge hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt, doch die älteren Kinder hatten ihn übermannt und die Fahnenschnur durch die Gürtelschlaufen seiner Hose gezogen. Mit vor süßem Grauen leuchtenden Gesichtern hatten die anderen Kinder nur dagestanden und zugesehen. Plötzlich jedoch war ein blonder Junge über den Schulhof gelaufen gekommen. Es war Tor Seter, Ingrids Klassenkamerad. Er war viel jünger als Freddy, aber groß und stark für sein Alter, und war Freddy auf den Rücken gesprungen. Lass ihn los!, hatte Tor gebrüllt. Das ist lebensgefährlich!

Freddy ließ von dem Jungen ab und stürzte sich stattdessen auf Tor. Halt dich da raus!, schrie er und stieß Tor zu Boden. Verf‌luchter Schafbauer! Er setzte sich auf Tor und schnitt Grimassen. Du stinkst nach Scheiße! Schafscheiße! Tor war groß, aber Freddy Dalen war größer. Und er hatte eine ganze Bande im Schlepptau. Jetzt ließen sie von ihrem ersten Opfer ab, das mit intakter neuer Hose umgehend das Weite suchte, während sich die Rabauken darauf konzentrierten, Freddy den Rücken freizuhalten, der nun Faustschläge auf Tor niederprasseln ließ. Ein Lehrer war nicht zu sehen, aber mit einem Mal durchbrach eine zarte Stimme das Spektakel. Freddy! Hör auf! Es war Freddys kleiner Bruder Karl, der mit Tor und Ingrid in eine Klasse ging. Karl – das Moschuskalb, hatten sie ihn genannt, erinnerte sie sich – war klein und dünn, das komplette Gegenteil von seinen massigen Brüdern und Cousins. Er ist nicht ganz normal, sagten die Leute im Dorf. Er war viel allein unterwegs gewesen, aber Tor hatte sich seiner angenommen. Normalerweise war Karl still, jetzt aber schrillte seine Stimme über den Schulhof: Tor ist mein Freund! Ich sage es Mama, wenn du ihm etwas tust! Freddy lachte laut, stellte aber die Schläge ein. Er stand auf, wischte sich die Hände an der Hose ab, bevor er Karl eine zimperliche Rotznase nannte und den Schulhof, gefolgt von seinen Untertanen, verließ.

Es war, als müssten die Dalen-Jungs damals einfach unangenehm auffallen, und so war es offensichtlich noch immer. Oder sah sie am helllichten Tag Gespenster? Es hatte nicht den Anschein, dass Hussein das Necken als schlimm empfand. Trotzdem wollte sie die Sache im Blick behalten. Ingrid wusste nur zu gut, dass Mobber kleine Dörfer gut im Griff haben konnten, und da Hussein aus einem anderen Land stammte, gab es zusätzlich reichlich Anlass, aufmerksam zu sein.

Ingrid wusste, dass auch Mutter Borghild ein angestrengtes Verhältnis zur Familie Dalen hatte. Sie grüßte Hallgrim nicht einmal, wenn sie sich im Dorf begegneten, obwohl sie sich von Kindesbeinen an kennen mussten. Es sah Borghild überhaupt nicht ähnlich, unhöf‌lich zu sein, also musste es dafür einen Grund geben. Waren sie schon zu Schulzeiten nicht miteinander klargekommen, oder steckte etwas anderes dahinter? Vor langer Zeit einmal hatte Ingrid die Großmutter danach gefragt, jedoch keine klare Antwort erhalten. Mutter Borghild hatte nur den Kopf geschüttelt und gesagt, es sei besser, sich von manchen Menschen einfach fernzuhalten. Hallgrim Dalen und seine Söhne hatten den Ruf, in Geschäftsangelegenheiten schlau zu sein. Manchmal vielleicht ein bisschen zu schlau. Und dass sie sich nicht scheuten, Menschen zu Verträgen zu drängen, die immer zum Vorteil der Familie Dalen ausf‌ielen.

»Er hat gesagt, ich sei gut darin, Bären zu schießen«, sagte Hussein.

Ingrid sah ihn verwirrt an, bevor sie verstand, was er meinte.

»Das war seltsam«, fügte Hussein hinzu. »Der einzige Bär, dem ich bisher begegnet bin, ist Bjørnar, und der wurde erschossen, lange, bevor ich ihn kennengelernt habe.«

Ingrid hätte Hussein erklären können, dass »Bären schießen« eine Umschreibung dafür war, beim Skifahren hinzufallen, aber das würde er noch früh genug erfahren.

»Du, Hussein«, sagte sie. »Hat Speedy oben auf dem Dachboden Verwandte?«

Hussein warf ihr mit seinen großen, dunklen Augen rasch einen Blick zu, bevor er sich abwandte. Er antwortete nicht sofort, sondern konzentrierte sich auf die Schnitzereien auf der Lehne der Bank.

»Alfred und ich haben in einem Mauseloch nämlich Käsebällchen gefunden«, sagte Ingrid. »Und auf dem Boden Kekskrümel. Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht weißt, wie die dort hingekommen sein könnten?«

»Die kleinen Verwandten hatten auch Hunger«, entgegnete Hussein. »Denen, die hungrig sind, muss man zu essen geben.«

Nachdem die Überraschung in Sachen »Schimmel« einigermaßen verdaut war, hatte Ingrid sowohl die Wolldecken in der Ecke als auch die Essensreste auf dem Boden in Augenschein genommen. Die Käsebällchen waren in ein kleines Loch gestopft worden, sodass es ausgesehen hatte, als würden sie aus der Wand wachsen. Das braune Pulver hatte sich bei näherer Betrachtung als Krümel erwiesen. Nicht als die befürchteten Schimmelsporen. Und zwischen den Decken hatte sie einen Comic und eine halbe Packung Schokoladenkekse gefunden.

»Ist das deine geheime Höhle, die wir dort oben gefunden haben, Hussein?«, fragte sie und nahm seine Hand. Er lächelte sie zögerlich an.

»Weißt du, das ist vollkommen in Ordnung«, sagte Ingrid. »Du kannst gern hoch auf den Dachboden gehen, wenn du Zeit für dich brauchst. Auch wenn es dort oben schrecklich kalt ist. Aber du musst mir versprechen, nicht mehr die Mäuse zu füttern.«

Hussein nickte zaghaft und nicht ganz überzeugend.

Ingrid fuhr fort: »Und das Nächste, was ich dir sagen muss, ist noch wichtiger. Ich habe dort oben nämlich auch eine Kerze und eine Schachtel Streichhölzer gefunden. Die darfst du NICHT verwenden! Wir werden dir eine Taschenlampe besorgen. Kerzen sind wirklich gefährlich, verstehst du. Stell dir vor, das ganze Hotel würde abbrennen!«

Erschrocken sah Hussein sie an: »Entschuldigung, Tante Ingrid! Ich will das Hotel nicht abbrennen!«

Ingrid sah, dass er kurz davor war zu weinen, und bereute den strengen Ton. Zudem erweichte es ihr Herz, wenn er sie Tante Ingrid nannte. Schließlich war sie nicht seine Tante, betrachtete es jedoch als eine Liebeserklärung. Sie legte einen Arm um Hussein, der sein Gesicht gegen ihre Schulter presste.

So saßen sie da, bis Maja in die Küche kam und mit ungeheurer Energie Gefäße und Lebensmittel hervorholte. Ab und an warf sie einen Blick auf den Boden unter dem Herd, so als bereite sie sich darauf vor, jeden Nager anzugreifen, der sich dort hervorwagen mochte.

»Wir hätten die Jungen von Monsine behalten sollen«, sagte Maja zu Ingrid. »Es ist, wie meine Großmutter gesagt hat: Hält man keine Katze, dann hält man Mäuse.«

*

Ingrid nahm ein Smørbukk-Karamell aus der Schale auf dem Schreibtisch und steckte es in den Mund, während der Computer mit einer kleinen Fanfare hochfuhr. Obwohl Ingrid dieses Geräusch täglich hörte, bereitete es ihr noch immer ein gewisses Unbehagen. Monatelang waren für sie Computer und Handy mit sozialen Medien, unerwünschter Aufmerksamkeit und schmerzlichen Erinnerungen verbunden gewesen. Die Erfahrung des vergangenen Jahres hatte ihr gezeigt, dass Menschen unbegrenzt Spekulationen und Gerüchte über Personen in die Welt setzen konnten, die sie nicht einmal kannten.

Promibergsteiger in Todesunglück verwickelt. Kritik an Kletterern nach Todeslawine. Warnungen ignoriert. Unklar, ob verunglückter Bergsteiger aus dem Lawinengebiet geborgen werden kann. Verlor engen Freund – und die Liebe. Spekulationen über Trennung. Die Medien waren indiskret gewesen, und die Kommentarfelder noch schlimmer. Allein der Gedanke daran löste bei Ingrid körperliche Reaktionen aus, sie spürte, wie ihr Puls stieg und die Übelkeit einsetzte. Sie hatte gelernt, welche Internetseiten sie meiden musste und hatte die Nutzung sozialer Medien auf ein Minimum reduziert, um nicht wieder und wieder in dieses schwarze Loch zu fallen.

Ein internetfreier Alltag war jedoch keine Option, und sie war gezwungen, Messenger und Snapchat zu verwenden, die bevorzugten Kommunikationskanäle ihres Freundes Vegard. Vegard Vang war durch die dunkelste Zeit für sie da gewesen, und war es noch immer.

Vegard und Ingrid hatten sich vor vielen Jahren in einem Hotel in den Alpen kennengelernt und waren unmittelbar beste Freunde geworden. Vegard hatte damals für eine Eventagentur gearbeitet, die eine große Konferenz für Führungskräfte aus der Wirtschaft veranstaltete, auf der Ingrid einen Inspirationsvortrag halten sollte. Sie mochte solche Aufträge nicht besonders, weil diese Konferenzen oft voll von aufgeblasenen Wichtigtuern waren, allerdings war dieser richtig gut bezahlt gewesen, weshalb sie trotzdem zugesagt hatte.

Vegard hatte sich von den anderen Konferenzteilnehmern abgehoben. Dass seine legere Kleidung teuer und modern war, hatte sie erst später begriffen. Er hatte zerzauste dunkelblonde Haare, blaue Augen, eine Stupsnase und ein ansteckendes Lächeln. Außerdem hatte er etwas Lebhaftes und charmant Jungenhaftes an sich. Im Anschluss an die Konferenz verbrachten sie zusammen einen heiteren Abend an der Hotelbar. Anfangs hatte sie geglaubt, Vegard würde versuchen, sie zu verführen, in kürzester Zeit begriff sie jedoch, dass er niemals auf diese Weise an ihr interessiert sein würde.

Du bist die Schwester, von der ich nicht wusste, dass ich sie vermisse!, lachte Vegard, als sie sich nach der Konferenz mit einer Umarmung voneinander verabschiedeten. Ich habe zwar bereits eine Schwester. Aber du bist besser!

Da hatte auch sie lachen müssen. Und ja, wie gerne hätte sie Vegard zum Bruder gehabt. Sie war ohne Geschwister aufgewachsen, und so war es ein Glück, als Erwachsene einen Bruder zu f‌inden. Seither sahen sie sich, sooft es nur möglich war. Vegard hatte gesagt, sie könne immer bei ihm abstürzen, wenn sie in Oslo war. Konnten sie sich nicht treffen, schickten sie sich Nachrichten oder telefonierten miteinander. Sie hatten einander sowohl in beruf‌lichen Fragen als auch bei privaten Angelegenheiten unterstützt. Als Ingrid mit Preben Wexelsen zusammenkam, hatte sie schnell bemerkt, dass die beiden sich unsympathisch waren. Obwohl Preben schnell verstand, dass Ingrids Freund auf der romantischen Ebene keine Konkurrenz darstellte, war das Verhältnis zwischen den zwei Männern niemals herzlich geworden. Preben und Vegard hatten einander toleriert, mehr jedoch nicht. Für Ingrid war das schwer gewesen, weil ihr beide so viel bedeutet hatten. Allerdings war es die Freundschaft zu Vegard, die sich als am strapazierfähigsten erwiesen hatte.

Sie waren verschieden, sie und Vegard. Sie interessierte sich für Aktivitäten in der freien Natur, er für das urbane Leben. Wo sie praktische Wanderkleidung bevorzugte, folgte er in den sozialen Medien den neuesten Trends. Aber sie teilten etwas Tieferliegendes, etwas, das Vertraulichkeit, Wohlwollen und Vertrauen schuf. Nach und nach wusste Vegard alles über sie. Auch das Allerschwierigste hatte sie mit ihm geteilt. Das, was kein anderer wusste. Mit einem Freund wie Vegard an ihrer Seite hatte sie das Gefühl, alles schaffen zu können.

Und als Vegard einen Partner fand, war das etwas vollkommen anderes als damals, als Ingrid und Preben ein Paar wurden. Ingrid hatte David Wong sofort ins Herz geschlossen. Und das war in der Tat ein wenig überraschend, denn als Vegard erzählt hatte, dass er in einer Bar in Oslo einen wohlhabenden Investor mit norwegisch-chinesischen Wurzeln kennengelernt hatte und dass sie nunmehr ein Paar waren, war sie alles andere als sicher gewesen, ob das eine gute Idee war. Doch schon bei ihrer ersten Begegnung war Ingrid von der Beziehung überzeugt. Da lag etwas in Davids Haltung, seiner Stimme und der Wärme in seinen hübschen mandelförmigen Augen, wenn er Vegard ansah.

Obwohl sie David noch nicht häufig begegnet war – er wurde stets von seinen Geschäften in Anspruch genommen – hatte er im Hintergrund geholfen und viele gute Ratschläge gehabt, sowohl in praktischen als auch in f‌inanziellen Dingen. Bei David schienen Lebensweisheit und Ökonomie miteinander zu verschmelzen. Vegard nannte ihn manchmal liebevoll »Kauz«. Während David Vegard als »mein Eichhörnchen« bezeichnete. Ein bisschen albern, aber ein treffender Kosename, fand Ingrid: Vegard war sozial und gescheit und gleichzeitig f‌leißig und gut im Planen.

Ohne den Zuspruch von ihren Freunden hätte Ingrid es nicht gewagt, sich auf das Hotel einzulassen. Go for it!, hatte Vegard in charakteristischer Weise gesagt. Ich werde dir helfen! Und geholfen hatte er wirklich. Inspirator, Stratege und Medienberater – Vegard Vang war nicht mit Gold aufzuwiegen. Ja, erst recht nicht, wenn man sein bescheidenes Gewicht in Betracht zog. Zusammen mit David hatte er sich sowohl Ingrids private Finanzen als auch die Bilanzen des Hotels der letzten Jahre angesehen und Ingrid und Mutter Borghild dabei geholfen, einen Plan für die Ref‌inanzierung und den weiteren Betrieb zu erstellen. Das Paar hatte auch angeboten, selbst in das Hotel zu investieren, aus Furcht vor dem Gefühl, Almosen anzunehmen, hatte Ingrid jedoch dankend abgelehnt. Die beste Hilfe von Vegard und David, oder Vang & Wong, wie sie in geschäftlichen Belangen hießen, wäre so oder so nicht direkte f‌inanzielle Hilfe gewesen, sondern Unterstützung dabei, das Hotel für die Zukunft lebensfähig zu machen. Ein Neuanfang!

Soziale Medien, für die sich Vegard so interessierte, spielten für den Erfolg eine zentrale Rolle. Sie brauchte sie für das Marketing des Hotels, und faktisch auch der Marke Ingrid Berg, wenn man sie als solche betrachten wollte. Vegard hatte ihr bei der Umsetzung geholfen, und das Interesse am Himmelfjell Hotel war beträchtlich gestiegen.

In diesem Augenblick leuchtete auf dem Display eine Nachricht auf. Wenn man von der Sonne spricht – es war Vegard. Fantastische Neuigkeiten!, schrieb er. Ruf mich an!

3. Dezember

»Aber was hältst du von Incentives?«, fragte Zimmermädchen, Rezeptionistin und Allroundmitarbeiterin Erle Pedersen den Hausmeister Alfred Haug, als Ingrid in die Küche kam.

Alfred antwortete nicht. Er hob die Hand, um Ingrid zu grüßen und nickte ihr anstatt eines Guten Morgens zu, bevor er weiter an der Brotscheibe mit Schafwurst kaute, die Augen unter seinen schweren Lidern auf Erle gerichtet.

»Nun, du weißt sicher, was zum Beispiel an extrinsischer und intrinsischer Motivation am wichtigsten ist? Darüber wird viel geforscht, allerdings nicht in der Hotelbranche«, fuhr Erle eifrig fort und strich sich mit der linken Hand die blonden Locken hinter die Ohren, während sie in der rechten mit dem Buttermesser gestikulierte, so als wäre es ein hypermodernes Präsentationswerkzeug.

»Ich werde in meiner Bachelorarbeit über Mitarbeiter einbeziehende Innovationen über verschiedene Formen von Incentives schreiben. Ein äußerer Anreiz kann zum Beispiel f‌inanzielle Belohnung sein.«

Ein weiterer leerer Blick von Alfred.

»Ja, Lohn. Oder Bonus. Innere Anreize können das Erleben von Zufriedenheit oder Freude bei der ausgeübten Tätigkeit sein.«