Sommerdreieck - Franziska Hauser - E-Book

Sommerdreieck E-Book

Franziska Hauser

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Beschreibung

«Man muss jeden Tag mindestens einmal etwas Gefährliches machen. Oder etwas Verbotenes.» Als Erste kam Nele. Vor Jessi. Vor Magda und Elena, die den Bildhauer vom Mühlenhof umkreisen. Doch die sinnenfrohe Kommune, die wie von selbst um den bärtigen Mann zu wachsen scheint, ist den Einheimischen nicht ganz geheuer. Auch Jette, die Fotografin, sieht bald nicht mehr unbeteiligt zu. Könnte sie selbst die fünfte Frau sein? Tatsächlich ranken sich viel ältere Gerüchte um das Grundstück bei der ehemaligen Mühle. Sie reichen zurück in eine Zeit, in der kaum ein Berliner freiwillig ins sandige Brandenburg geflüchtet wäre. Erst nach und nach begreift Jette die Zusammenhänge, springen ihr Fluchtlinien ins Auge: Sie kennt jede der Bildhauer-Frauen besser, als es für sie selber gut ist. Alle vier stehen für wichtige Phasen ihres eigenen Lebens: die Kindheit in der DDR, das Fotografiestudium nach der Wende, die Zeit im Ensemble verrauchter Varietétheater während der 90er. Es scheint, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis auch sie in den Bann des Bildhauers gerät. Für Jette wird es ein Spiel mit dem Feuer. «Sommerdreieck» erzählt von einer Generation von Frauen, die, aufgewachsen als Töchter selbstbestimmter Mütter, die Wendezeit vor allem als das erlebten: ein wildes, gutes Chaos. Der sinnlich sommerliche Roman einer Drei-, ja Vier-, Fünfecksbeziehung: spannungsreich, temperamentvoll, freizügig und unverstellt.

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Seitenzahl: 244

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Franziska Hauser

Sommerdreieck

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Man muss jeden Tag mindestens einmal etwas Gefährliches machen. Oder etwas Verbotenes.»

 

Als Erste kam Nele. Vor Jessi. Vor Magda und Elena, die den Bildhauer vom Mühlenhof umkreisen. Doch die sinnenfrohe Kommune, die wie von selbst um den bärtigen Mann zu wachsen scheint, ist den Einheimischen nicht ganz geheuer. Auch Jette, die Fotografin, sieht bald nicht mehr unbeteiligt zu. Könnte sie selbst die fünfte Frau sein?

Tatsächlich ranken sich viel ältere Gerüchte um das Grundstück bei der ehemaligen Mühle. Sie reichen zurück in eine Zeit, in der kaum ein Berliner freiwillig ins sandige Brandenburg geflüchtet wäre. Erst nach und nach begreift Jette die Zusammenhänge, springen ihr Fluchtlinien ins Auge: Sie kennt jede der Bildhauer-Frauen besser, als es für sie selber gut ist. Alle vier stehen für wichtige Phasen ihres eigenen Lebens: die Kindheit in der DDR, das Fotografiestudium nach der Wende, die Zeit im Ensemble verrauchter Varietétheater während der 90er. Es scheint, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis auch sie in den Bann des Bildhauers gerät. Für Jette wird es ein Spiel mit dem Feuer.

Über Franziska Hauser

Inhaltsübersicht

Im MühlhausSeitenflügel links, drei TreppenUnsichtbarTheaterAusgezogenDer zweite AuftragWespensommerAlleine bleibenZweimannseeEnte mit KlößenElenaHasenzähneAns TheaterZuhauseLuxusAbschiedDazugehörenWas brennen mussWiedersehenDie rote Brücke

Im Mühlhaus

Als ich aus dem klappernden Auto steige, habe ich trotz der Sommersonne das Gefühl, als würde ein schweres schwarzes Tuch über allem liegen. Der Bildhauer steht in der Tür, mit einem Werkzeug, wie zufällig, begrüßt mich wie nebenbei, hat meine Anwesenheit registriert und überlässt mich seinem Paradies. Ich gehe in das backsteinerne Haus, ihm hinterher, «guck dich erst mal um», da ist er schon verschwunden.

Das Haus ist übersättigt: endlose Bücherregale mit Bildbänden; an den Wänden und Türrahmen Zeichnungen, Bilder, Plakate, Postkarten; Vorhänge in schweren Farben, hölzerne Pfeiler und offenes Gebälk. Ich rieche Holunder und Jasmin. Es ist unheimlich still.

Durch eine Flügeltür betrete ich die zugewachsene Terrasse und gehe in den Garten. Es sieht aus, als wäre nichts eingerichtet oder angelegt worden. Es gibt weder Zäune noch Hecken, und der Eindruck von nachlässiger Wildheit kommt mir vor wie hohe Gartenkunst. Fast fühle ich mich zu sehr willkommen, es fehlt ein Kennenlernen, ich bin gleich ganz da. Der Garten und das Haus wirken genauso gleichgültig wie er.

Alte Zinkwannen liegen in hohem Gras, ausgeblichene Laternen hängen in den Bäumen, und eine der Laternen ist ein lebendiger Kürbis, der sich in den Baum gerankelt hat, als er noch keiner war. Es gibt einen Teich mit Seerosen und Enten, ein dunkelblaues Kinderhaus mit Kindern und Katzen. Weiter hinten Pferde, deren lange Mähnen nahtlos in das hohe Gras fließen. Eine Ruine, mit Efeu umwachsen, zwischen zwei Kastanien.

Der bärtige Bildhauer, ein stiller Mensch, kein Hofherr, steht jetzt auf der Terrasse, die Hände in den Taschen, sieht zu mir rüber. Da ist vielleicht doch ein Interesse, dass er mich staunen sehen will in seinem Garten?

Ich sehe in den Himmel über den Obstbäumen, zweifle an mir, nicht an der Idylle, und denke, dass meine Beklommenheit vielleicht nichts zu tun hat mit dem friedlichen Garten. Die Luft in meinem Hals wird schwer und will in meinen Körper fallen. Ich stoße sie aus und hole mir neue. Woher mein Unbehagen kommt, will ich nicht wissen. Nicht jetzt. Vielleicht ist es der Stadtstress, denke ich, der hier abfällt.

Steht er da immer noch? Er dreht sich um, langsam, und geht zurück ins Haus.

Die Kinder scheinen sich nicht zu wundern, dass ich hier bin. Neles Tochter ist vielleicht drei. Klar kann sie sich nicht mehr an mich erinnern. Sie schleppt eine rote Katze.

«Wie heißt du?»

«Jette.»

«Achso», sagt sie und geht in das blaue Kinderhaus.

Ein weißblondes Mädchen, vielleicht fünf, sitzt auf einem Heuhaufen und wickelt etwas um einen Stock. Neles Sohn, etwa gleich alt, rollt sich in Zeitlupe theatralisch von dem Haufen, mit langgezogenem Aaaaahhhh!

Das Mädchen sagt: «Haaaast duuuu diiiir weeeehgetaaaan?»

Der Junge antwortet: «Neeeee, ich fallll jaaaa nooooch.»

Dass ich darüber lache, gefällt ihnen. Sie sehen zu mir rüber und spielen es noch mal.

Eine zarte Frau mit verschrecktem Gesicht und kurzem blondem Haar taucht auf von irgendwoher, grüßt nicht, sieht mich nicht an, holt das weißblonde Mädchen ab und huscht wieder weg. Ich habe das Gefühl, ich sollte nicht zu lange bleiben. Ich will nicht feststellen, dass das Paradies nur eine Hülle ist über etwas anderem.

Plötzlich denke ich, dass es von Bedeutung sein könnte, was ich hier als Erstes berühren werde, und ich werde den blöden Einfall nicht los. Es ist wie im Auto, wenn ich nicht aufhören kann, die Strommasten zu zählen. Die Katze scheint mein Problem erkannt zu haben, kommt auf mich zu und legt sich vor meinen Füßen in die Sonne. Dankbar kraule ich ihren weißen Bauch.

Nele hat Vorstellung im Theater und kommt erst am Sonntag aus Berlin zurück. Wenn wir uns in den letzten Jahren in der Stadt begegnet sind, hat sie mich eingeladen hierher. Da lebte sie noch mit ihm zusammen. Aber ich habe den Besuch hinausgeschoben. Neles Landleben interessierte mich nicht. Wir waren Großstadtkinder. Ich verstand nicht, was sie hier suchte.

Mittags biete ich an, einen Salat zu machen. Als ich das glänzende japanische Messer bewundere, das so schön schwer in der Hand liegt, sagt er hinter mir im Vorbeigehen: «Schönes Messer. Das hat nach einem Streit mal einem Freund zwischen den Rippen gesteckt.» Ich sehe ihm hinterher, dann auf das Messer in meiner Hand.

Beim Essen mit Neles Kindern und Elli, der Haushälterin, erfahre ich, dass Nele nebenan im alten Gutshaus wohnt, mit den Kindern und mit Elli. Die Mutter des weißblonden Mädchens lebt in der ausgebauten Scheune an der Straße neben der Einfahrt, die ich bei meiner Ankunft für eine Werkstatt gehalten habe.

Im Haus wohnt nur er. Es sei das älteste Haus im Dorf, sagt er, als wäre es wichtig, das zu wissen. Mehr sagt er nicht. Die Kinder baumeln mit den Beinen und plappern so viel, dass eine Unterhaltung kaum möglich ist. Elli beobachtet mit Gleichmut, wie die ungeschickten Kinder Besteckgriffe mit Essen beschmieren, Suppe über Tellerränder kippen, saure Sahne auf den Tisch klecksen und schwappend aus ihren Teetassen trinken. Er nimmt die Jüngste auf den Schoß, ein zartes, stilles Wesen.

«Du hast ja nur auf einer Seite Sommersprossen», sage ich. Er küsst die kleine Nase und sagt:

«Ja, da hat dir jemand eine Handvoll Sommersprossen ins Gesicht geworfen, aber du hast den Kopf schnell weggedreht, dass sie nur hier, neben der Nase, gelandet sind.» Und er tippt ihr mit dem großen Zeigefinger gegen die winzige Wange. Der Anblick seiner großen Hände auf ihren feinen Schultern trifft mich wie eine ferne Erinnerung.

In Brandenburg bin ich ihm zum ersten Mal begegnet, vielleicht sogar in der Nähe. Ich war siebzehn, er zehn Jahre älter. Ich fand ihn verschlossen und arrogant. Mit dem Studium hatte ich noch nicht angefangen, saß mit Zetteln auf der Treppe vor der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee, als der VW-Bus sich mit Kunststudenten, Taschen und Schlafsäcken füllte. Es war heiß. Irgendwer muss mich gefragt haben, ob ich mitkommen will.

«Wohin denn?»

«Ausflug.»

Ich stieg ein. Ich wollte dazugehören, Kunststudentin sein mit allem Drum und Dran, und in dem Moment hatte ich das Gefühl, zu wissen, wozu ich das wollte. Der Bildhauer saß neben mir. Ich fühlte mich von ihm abgelehnt, obwohl ihn meine nackten Beine im kurzen Rock zu interessieren schienen. Als ich den Träger von meiner Schulter in seine Richtung fallen ließ, reagierte er mit einem Blick, der mir belustigt vorkam damals.

Wir fuhren in das geerbte Haus eines jungen Malers. Das Dach musste neu gedeckt werden. In Staubwolken gehüllt, hatten wir das alte Stroh runtergezerrt. Die Arbeit war mühsam, die Stimmung gut. Wir badeten im See den Staub ab, und ich weiß noch, wie gut meine gebrannte Sommerhaut roch, als ich nass und verschämt auf der Wiese hockte. Wir schliefen zwei Nächte in dem alten Stroh, das wir in eine Senke unter der riesigen Esche geworfen hatten.

Am letzten Tag hatte er mich lange angesehen beim Essen am großen Tisch. Ich sah weg. Sein Blick fühlte sich bewachend an. Es war angenehm, und ich kam mir vor wie ein gezähmtes Tier.

Damals hatte er lange Haare, einen langen Bart, trug Jeans und ein offenes Hemd. Haare und Bart sind jetzt kurz. Jeans trägt er immer noch, aber das Hemd ist geschlossen. Er hat eine Schwimmerfigur mit starken Armen und Stiernacken. Schön ist er nicht, nur sein Mund ist es, und ich muss immerzu hinsehen. Auf seiner Nasenspitze gibt es eine platte Stelle, einen kleinen flachen Teller, wie ein Daumennagel so groß. Die wüsten Augenbrauen sind präsenter in seinem Gesicht als die Augen. Wenn ich seiner Gestalt ein Material zuordnen sollte, wäre es ein feines, aber sehr festes Gestein von dunkler Farbe. Marmoriert vielleicht, grün, grau und braun.

Ich sehe ihm zu, wie er den Kindern Fleisch klein schneidet, Tee in Tassen gießt, wie er kaut und Wein trinkt, mit ruhiger Gelassenheit. Seine Augen scheinen etwas zu verbergen, und da ist eine Wand zwischen uns. Sobald ich, wenn er über die Kinder lacht, kurz das Gefühl bekomme, dahintersehen zu können, verfestigt sie sich wieder. Ab und zu sieht er zu mir, aber ich kann nicht lesen in seinen Kieselaugen. Ich fühle mich entblößt und weiß nicht, ob mir das angenehm ist oder nicht. Vielleicht ist es beides.

 

Nach dem Essen gehe ich durchs Dorf. Alles ist orange beleuchtet von der Sonne, die sich in den Wald sinken lässt. Die Straße ist eine Mauer aus verschlossenen Türen und Toren. Da liegen Müllsäcke vor den Zäunen, da wartet eine Baugrube, da stehen Stromkästen. Aber Menschen, die den Ort bewohnen, Strom verbrauchen, Müll wegschmeißen, auf den Gehweg treten, sehe ich keine. Die Straße liegt vor mir, still und ausgestorben. Ich weiß, beim nächsten Schritt schallt die Alarmanlage aus Hundegebell bis ins nächste Dorf. Ein paar Gardinen bewegen sich im Hundealarm.

Während ich beobachtet werde von den Leuten hinter den Gardinen, die sich fragen, wer ich bin und was ich hier mache, frage ich mich das auch. Ich bin hergekommen, um Fotos zu machen. Die Kamera habe ich am Hals, wie immer. Ich fotografiere einen Storch aus Plaste an einem leeren Teich aus blauer Folie, ein rotes Fahrrad, das in der kleinen Baugrube am Bordstein liegt. Eine stachelige Hecke, hinter der eine blaue Mülltonne hervorguckt, aus der ein Ofenrohr ragt, in dem ein Besen steckt. Ein mit Marienkäfern bemaltes Stromhäuschen, vor dem ein Gitter lehnt: ein Käfergefängnis. Ein hölzernes Tor mit hölzerner Tür darin, ausgefranst überm buckeligen Pflaster, vom Wetter so zerfressen, dass eine graue Katze bequem darunter durchpasst. Ich gehe weiter Richtung Kirche.

Als ich während des Studiums am Theater arbeitete, traf ich den Bildhauer eines Tages in der Werkstatt. Er ging an mir vorbei ins Materiallager und nickte mir zu. Ich war erstaunt, dass er sich an mich erinnern konnte. Wir bauten für das Bühnenbild eine Figur nach seinem Entwurf. Zur Premiere saß er hinter mir im Zuschauerraum. Ich spürte seinen Blick in meinem Nacken, als ich mir das Haar zusammenknotete, und seinen Blick auf meinen Schenkeln, als ich aufstand, um in meinem Rock ein Stück Schokolade aufzufangen, das mir eine Freundin aus dem zweiten Rang in den Schoß warf; ich spürte seinen Blick auf meinen nackten Schultern, während der Vorstellung. Es war wie damals an dem langen Esstisch: Ich war gebannt, wie ein Tier, das in einen Lichtkegel geraten ist. Was mir bei jedem anderen unangenehm gewesen wäre, gefiel mir.

Ich hätte mich gerne mit ihm unterhalten, um mich aus dem Kegel zu lösen und mich nicht nur beobachten zu lassen. Auch um nach Nele zu fragen, mit der er da schon seit zwei Jahren zusammenlebte. Aber ich ging ihm aus dem Weg. Die Begegnung war schon zu aufgeladen für ein unbefangenes Gespräch über Frau und Kinder. Im Kantinengedränge strich mir jemand im Vorbeigehen über die Taille und war nicht mehr zu sehen, als ich mich umdrehte.

Ein paar Monate später fand ich am Schwarzen Brett eine Trauerkarte mit dem Schwarzweißfoto eines kleinen Kindes. Wir trauern um Benni. Der Name des Bildhauers stand darunter und der Name einer fremden Frau. Ich war erschrocken, und das Bild ließ mich tagelang nicht los, aber ich fürchtete mich davor, Nele anzurufen, obwohl ich wusste, dass von ihren Kindern keines Benni hieß. Ich fragte ihre Mutter, und sie sagte, es sei das Kind der neuen Frau. Nele war nicht mehr mit ihm zusammen und wohnte auch nicht mehr im Haus.

 

Eine Woche ist es her, dass wir uns in Berlin wiederbegegnet sind. Dass es seine Ausstellung war, hatte ich nicht gewusst. Zuerst war ich abwesend zwischen den Plastiken umhergelaufen. Ich scheute mich, sie genauer zu betrachten, denn ich war nicht aus echtem Interesse gekommen, sondern aus Höflichkeit, weil ich den Galeristen kannte. So stark berührt zu werden von der Ausstellung, darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Die Köpfe, Körper und Körperteile waren von so zarter Schönheit, dass es mir fast weh tat.

Der Bildhauer stand neben dem Galeristen zwischen drei Frauen. Er war der, mit dem ich auf dem Strohdach gesessen hatte und einmal im Theater vor ihm. Er war der Exmann von Nele.

Auf den ersten Blick hätte man denken können, der Galerist sei der Künstler. Er trug, wie immer, seltsame Klamotten: einen Anzug aus blauem Samt, die Krawatte mit chinesischem Muster aus gelber Seide, die Schuhe orange, wildledern und in der Brusttasche ein hellbraunes Tuch. Der Kopf kurzgeschoren, das Kinn kahlrasiert. Der Bildhauer wirkte verwildert neben ihm. Vom grauen Hemd standen zwei Knöpfe offen, und es wuchsen Brusthaare daraus hervor. Sogar seine Handrücken waren behaart. Die Besucher suchten Kontakt zu ihm, aber er schien sie zu ignorieren. Die Zeichen, die er gab, waren klein, ein Lächeln, ein Nicken, ein Blick. Offenbar war ihm gleichgültig, was man von ihm hielt.

Auf dem Weg zum Klo kam ich an der offenen Bürotür vorbei. Der Galerist und der Bildhauer saßen mit Flaschen in den Händen auf Hockern. Ich blieb unschlüssig im Türrahmen stehen.

«Kennt ihr euch?», fragte der Galerist.

«Vom Sehen», sagte ich und wollte weitergehen, aber der Bildhauer setzte sich auf die Tischkante, zog an meinem Schal und bot mir seinen Hocker. Ich versuchte, meine krumme Haltung unauffällig zu ändern, ärgerte mich über mich selbst und machte den Rücken gerade. Er sah mich von der Seite an, und es fiel mir schwer, nicht wieder zusammenzufallen unter seinem Blick.

«Hast du nicht auch in Weißensee studiert?», fragte ich. Es kam mir vor, als würden wir nur reden, um uns ansehen zu können dabei. Meine Schultern wollten ständig wieder zusammenklappen. Es schien ein Reflex zu sein, meine Brüste zu verbergen vor ihm. Ich hielt dagegen, und mit dem Getränk, das mir der Galerist in die Hand gab, war es leichter. Ich schlug die Beine übereinander, stützte mich am Hockerrand mit der Handkante ab und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Ich musste so nötig pinkeln, dass mir Tränen in die Augen stiegen, aber ich wollte das Gespräch nicht unterbrechen, vielleicht weil ich spürte, dass er keine Scheu davor hatte zu verletzen.

Eine Frau mit viel Schmuck und Schminke blieb in der Tür stehen, um schnatternd seine Werke zu loben: «Ganz großartig, sinnlich, zauberhaft.» Seine Augen verschwanden unter mürrischen Brauen. Ich sah, dass er das Ausstellungsgerede nicht leiden konnte, das seine Werke zerfallen ließ in die Materialien, aus denen er sie gehoben hatte.

Als meine Anspannung endlich nachließ, waren die letzten Besucher gegangen. Der Galerist schleppte Getränkekästen ins Büro. «Jette ist übrigens eine prima Fotografin», sagte er. «Sie könnte doch mal ein paar Fotos machen von deinem Atelier.»

Beim Aufstehen drückte der Bildhauer die Handfläche gegen meinen Rücken. Ich sollte vorgehen. Der Galerist klapperte mit dem Schlüsselbund hinterher.

«Is doch eine Idee. Was meinst du?»

Die Berührung war wie eine Erweckung, drang durch meinen Körper, der sich nach ihm ausrichtete.

«Oder? Sie kann doch mal ein paar Bilder machen?»

Ich könne am Wochenende zu ihm kommen, er habe ein großes Haus in einem alten Dorf. «Ich weiß», sagte ich. «Nele hat mir davon erzählt.»

Der Galerist ließ krachend die Jalousien runter.

«Hundert kann ich dir geben. Dass ich was hab für Webseite und Presse.»

«Schön, dich kennengelernt zu haben», sagte er beim Kuss auf die Wange. Er roch so gut, dass mir mehrere Sinne vorübergehend ausfielen. Der Galerist klopfte mir auf die Schulter wie einem alten Kumpel, und es war der kleine Anstoß, der ausreichte, um mich in gleichbleibendem Tempo die Torstraße entlangzubewegen. Ich lief mechanisch, ohne dass meine Gedanken mit dem Nachhauseweg in Zusammenhang traten. Meine hohen Absätze trieben mich an. Mit flachen Schuhen hatte ich immer das Gefühl, mich durch tiefen Sand zu kämpfen. Jetzt schleuderten die Absätze jeden meiner Schritte nach vorn, und langsam wachte ich auf aus meiner Versunkenheit. Über der Friedhofsmauer saß die schwarze Baumsilhouette. Dahinter erhob sich der ganze Himmel in gelbbräunlichem Blau. Der Sichelmond stand schief im Farbverlauf und daneben ein einzelner Stern. Ich merkte, wie meine stolze Haltung weich wurde, meine Knie einknickten und mein Rücken sich krümmte. Die winzigen Lindenblätter hingen im Laternenlicht wie eine gelbe Lichterkette. Ich wollte mich ergeben, auf die Knie fallen und versprechen, dass ich mir nichts mehr wünschen würde auf der Welt, wenn ich mich nur in seinen Schoß legen dürfte.

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen, stand immer wieder auf, sah aus dem Fenster in den arroganten Baum, der sich an die Straße gestellt hatte und seine schwarzen Äste wie fett gekrakelte Graffiti reckte, ohne sich um die Kubikmeterpreise in der teuren Großstadtluft zu scheren. Die Laterne stand schmal und gekrümmt daneben, als müsste sie sich entschuldigen für den gierigen Baum. Ich fühlte mich wie die Laterne, wollte aber der Baum sein, und ich sehnte mich nach dem Geruch an seinem Hals, unter dem Ohr, da, wo der Bart anfing und der Muskelstrang schräg zum Brustbein führte. Da, wo seine Halsader schlug.

 

Das Dorf ist hübsch. An der alten Kirche führt eine weiche, runde Kopfsteinpflasterstraße vorbei, und am Dorfplatz stehen Linden, an die man gelbe Naturschutz-Eulen genagelt hat. Bei meinem Abendspaziergang habe ich mich den Bewohnern hinter ihren Gardinen gezeigt. Eine Friedensgeste: Ich erlaube ihnen, über mich zu reden, und hoffe, selbst etwas herauszufinden über den Ort, der vor mir schweigt, und über die Menschen, die vorsichtig, fast furchtsam zu sein scheinen, als wären sie einmal erschüttert worden.

Als ich zurückkomme, steht die Tür zur Scheune weit offen. Drinnen sieht es mehr nach handwerklicher Arbeit aus als nach Wohnen. Nur eine Ecke mit Stehlampe wirkt gemütlich. Da liegt das weißblonde Mädchen in gelber Decke auf blauem Sofa, mit großem Buch.

Ein Berliner Auto steht neben meinem. Es sind Gäste gekommen. Ein Paar, er älter als sie, sitzt am großen Terrassentisch. Er öffnet den mitgebrachten Wein. «Henriette», sage ich und ärgere mich fast im selben Moment über meine Förmlichkeit, die zu dem leichten Sommerabend nicht passt. Wir hören Musik, rauchen, essen Reste, und zu jedem Gesprächsthema werden Bücher, Kataloge und Bildbände geholt, die sich immer höher um uns türmen. Ich hänge an seinen Lippen, und wieder scheint er mich zu ignorieren. Wieder habe ich das Gefühl, ich sollte Abstand halten zu ihm. Und bin nicht in der Lage dazu.

Die verschreckte Frau taucht noch einmal auf, um eine Zange zu holen. «Jessi», sagt er beiläufig. Jessi ist barfuß, trägt ein langes Männerunterhemd und eine sehr kurz abgeschnittene Jeans. Sie wühlt in der Küche, schief an einer Schublade lehnend, ein Träger rutscht ihr von der Schulter. Ich würde gerne ihre Beine sehen und überlege, mich dafür vorzubeugen. Aber da schiebt sie schon die Lade mit der Hüfte zu und gleitet durch das Halbdunkel davon. Es sieht aus, als wäre die Luft, die sie umgibt, klarer als das unscharfe Nachtlicht.

Die Gäste sind ein Philosoph und seine Freundin. Sie studiert Modedesign an der Kunsthochschule und erzählt von einem Seminar zum Thema Kunst und Liebe. Während des Studiums hatte ich selbst in einem der Seminare aus der Reihe gesessen, es hieß Kunst und Schmerz. Der Bildhauer kann sich an das erste Seminar erinnern: Kunst und Macht.

Die Modestudentin erzählt, es seien immer noch die beliebtesten Kurse. Die Dozentin habe das Seminar zu Kunst und Liebe eingeleitet, indem sie jeden Teilnehmer einzeln fragte: «Verführen Sie lieber, oder werden Sie lieber verführt?» Jeder hatte sofort eine Antwort gehabt, und die Studenten ließen sich leicht in zwei gleich große Gruppen teilen. Der Philosoph macht sich darüber lustig. Er teile alle Menschen in «fuckable» und «unfuckable» ein. Das sei am einfachsten. Die Freundin ist beleidigt.

Dann stellt sich heraus, dass der Bildhauer damals Gitarrist werden wollte. Die Musikhochschule lehnte ihn zweimal ab. In der Berufsberatung gab er an, Testesser für Kuchen und Torten werden zu wollen, bis er so dick wäre wie Hitchcock. Da wurde er rausgeschmissen. Weil ihm nichts Besseres einfiel, bewarb er sich für Malerei. Die nahmen ihn, aber er hasste das Zeichnen. Bei den Bildhauern gefiel es ihm, weil der Ton so gut roch. «Den hätt ich fressen können», meint er. «Ich bin wahrscheinlich aus Mineralienmangel Bildhauer geworden.» Der Professor sprengte irgendwann den Fachbereichsetat, weil er alles in Bronze gießen ließ, was sein begabter Schüler produzierte.

«Die tanzende Dicke im fliegenden Kleid, ist die von dir?»

Er nickt beiläufig, zieht ein letztes Mal an seinem Zigarettenstummel und drückt ihn in den steinernen Aschenbecher. Ich will gerade erzählen, wie sehr ich die Figur geliebt habe. Sie stand hinter der Mensa im Hof und war mir eine stumme Freundin geworden. Aber die Modestudentin fragt:

«Spielst du noch Gitarre?»

«Nee, die hab ich verbrannt und dann neun Buchstaben in Beton gegossen, jeder zwei Meter hoch: SCHEITERN. Die standen hinterm Haus am Feldrand, bis die Dorfbewohner sich beschwert haben. Ich hab drei Buchstaben weggenommen. Mit HEITER waren sie einverstanden, und das blieb dann so, bis alle Buchstaben umgefallen waren. Da gab es hier noch keine Kinder.»

Ich fühle mich wohl in dem Kreis, er ist mir angenehm. Ich weiß nicht mehr, was mich vorhin bedrückt hat. Es ist nur dieses Gefühl noch da, als würde ich ein ungelöstes Problem mit mir herumtragen, aber es ist dumpf geworden. Die Nacht hat mich benebelt, ich bin in eine angenehm anspruchslose Zufriedenheit verfallen und könnte ihm zuhören, bis es hell wird. Er erzählt von seiner ersten eigenen Wohnung in Berlin, die ihm viel zu groß war. Der Philosoph kann sich erinnern. «Da hattest du ein Zimmer mit Kohlen vollgeschippt, eins hast du bewohnt, und in dem dritten wolltest du dir einen Nasenbären halten.»

Der Bildhauer erzählt, dass er unbedingt ein wildes Tier in der Wohnung haben wollte. Er hatte es mit Pflanzen, Ästen, Erde und Moos vollgestopft und war nachts mit einem Freund im Tierpark eingebrochen. Aber als er sah, wie groß ausgewachsene Nasenbären werden, wollte er doch lieber keinen. Irgendwann kamen die wilden Tiere von selbst zum Fenster rein, und es wurde ein Fledermauszimmer.

Neben mir auf der Bank liegt die rote Katze. Ich streiche ihr über die Nase, und sie fragt mich, ob ich mir das so vorgestellt habe. Ja, so ungefähr habe ich mir das vorgestellt.

Als die Gäste weg sind, bringt er mich zum Gästezimmer, das in der Mitte des Hauses liegt, seinem Schlafzimmer gegenüber. In der Tür umarmt er mich lange. Es kommt mir vor wie eine Umarmung, mit der nicht ich gemeint bin, aber auch niemand anders. Als ob er selbst nicht weiß, wen er meint, und nur einen Menschen braucht, der nichts gegen ihn hat. Trotzdem fängt mein Kopf an zu rauschen. Dann schlurft er weg in bärenhafter Gestalt. Er ist anders hier als in der Galerie. Verletzlicher.

Ich lehne mich von innen gegen die Tür, und jetzt erst merke ich, dass ich nass geworden bin, obwohl er nicht mal versucht hat, mich zu küssen. Es ärgert mich, dass seine Nähe mich schon wieder besinnungslos hat werden lassen. Ich beschließe, mich vernünftig zu benehmen, schlafe nicht nackt, sondern im T-Shirt, lege mich auf den Rücken und stecke meine Hände hinter meinem Kopf unter das Kissen. Ich weigere mich, meinen erregten Körper zu berühren, aus Ärger darüber, dass ich ihn nicht unter Kontrolle habe. Aber ich brauche meine Hände gar nicht. Es wird heiß zwischen meinen Beinen, und dann passiert es von selbst. Mein Körper tobt ohne Berührung. Die Dunkelheit flimmert um mich herum, und ich höre mein gestöhntes Atmen im Zimmer, als käme es nicht von mir. Ich fühle mich fernbedient durch die Wände.

Das schöne Zimmer und die Nachtluft helfen mir nicht beim Einschlafen. Düstere Träume, in denen ich das Haus nicht verlasse, wecken mich immer wieder. Ich träume von einem tiefen Mühlgraben, der sich hinter dem Haus auftut und nicht mit Wasser, sondern mit hellbraunem Schlamm gefüllt ist. Frauen in langen, schweren Röcken wühlen darin. Ich weiß, sie suchen nach einem ertrunkenen Kind.

Am Morgen wache ich auf von verstimmtem Klaviergeklimper und vom Lärm der Kinder, die um das Haus rennen. Die Tür zu seinem Zimmer steht offen. Er liegt wach im Bett, und ich überlege, ob er die Tür in der Nacht offen gelassen hat.

Elli schaukelt ihren großen Körper schwermütig durch die Küche, deutet mit dem Kinn Richtung Tisch: «Da ist Tee in der Kanne.» Sie schmiert dem kleinen Mädchen ein Pflaumenmusbrot und setzt es auf einen Stuhl. Der Bildhauer ist in Shorts in die Küche gekommen, die Haare zerzaust. Er streicht der Tochter über den Kopf und nimmt einen Schraubenzieher aus der Besteckschublade, um ein lose herunterhängendes Scharnier unter dem Küchentisch zu reparieren. Ich kann seinen schlafwarmen Körper riechen. Er sieht jünger aus als gestern. «Scheiße.» Er steckt sich den blutenden Finger in den Mund. «Man sollte nicht vorm Aufstehen arbeiten», sagt er, wirft den Schraubenzieher zurück in die Schublade und lehnt sich in die Terrassentür. Elli stellt ihm eine dampfende Tasse hin. Sie scheint schlechte Laune zu haben. Das Haus selber kommt mir müde vor. Das Leben findet draußen statt. Der Esstisch ist in die Fensterecke gedrängt, als fürchtete er sich vor dem toten Innenraum.

Ich gehe raus, barfuß mit Teetasse und Pflaumenmusbrot. Es ist warm, aber am Himmel hängt eine verregnete Nieselsuppe, in der die Wolken als grauer Rauch übereinander hinziehen. Das Klaviergeklimper kommt aus einem kleinen Gewächshaus, das ich gestern nicht bemerkt habe. Die Kinder sitzen zwischen Tomatenpflanzen auf dem alten Instrument und trampeln mit nackten Füßen auf den Tasten. Ich frage, warum das schöne Klavier hier steht, wo es so feucht ist. Das weißblonde Mädchen erklärt gelassen: «Das hat Mama im Winter zur Bushaltestelle getragen, dann war’s kaputt, aber Papa hat’s zurückgeholt.» Darauf, dass ein Klavier weder an die Bushaltestelle noch ins Gewächshaus gehört, reagiert meine Kamera dankbar. Ich fotografiere die Kinder auf dem Klavier im diffusen Gewächshauslicht zwischen den Tomaten.

Ich bin es nicht gewohnt, nichts zu tun zu haben, und weiß nicht, wohin mit mir. «Nee, lass man», sagt Elli, als ich in der Küche helfen will. Ich gehe durch eine große gläserne Tür über eine breite Rampe ins Atelier, das am anderen Ende des langen Hauses liegt. Die Wände sind weiß gekalkt. Lebendig wirkende Frauenkörper auf hohen Sockeln umgeben mich. Hände, Gesichter, Brüste, Beine, Schultern, Arme, Schenkel. Die Figuren sind aus rötlichem Ton, und sie scheinen sich zu bewegen in ihrer fließenden Feinheit. Sie sehen mir nach, drehen ihre ernsthaften Köpfe hinter meinem Rücken, schweigend versonnen, traurig. Sie stehen, liegen oder sitzen auf ihren Sockeln, freiwillig, als könnten sie jederzeit aufstehen und in den Garten gehen.

Der Bildhauer trägt Bretter herein. Ich stehe verlegen zwischen den Sockeln wie eine seiner Plastiken. Ich sehe ihn arbeiten in dem lehmigen Raum und kann mir plötzlich vorstellen, dass der erdige Geruch nach Kalk, Gips und Ton süchtig macht.

Die Figuren wirken wie von innen geformt, nicht von außen, sie kommen mir vor wie Inhalt umspannende Häute, nicht wie bearbeitete Oberflächen. Als hätte er die Gestalten herausgewühlt aus dem Material, gierig, ohne Mitleid, bis sie roh vor ihm lagen. Ich stelle mir vor, wie er, jedes Mal erschüttert über die eigene Brutalität, eine nach der anderen gerettet, ihnen eine eigene Haut gegeben hat, um sie leben zu lassen.

Ich will ihn berühren, sehne mich nach der Umarmung von gestern Abend. Um mich aus der Erstarrung zu reißen und um nicht über seine Plastiken reden zu müssen, frage ich: «Was ist das eigentlich für ein Metallding da oben?» Meine Stimme hat zu weich und zu leise geklungen für die belanglose Frage. Ich sehe stur nach oben. In der Giebelwand steckt irgendetwas Verrostetes.

«Da war früher das Mühlrad befestigt, bevor der Mühlgraben zugeschüttet wurde.»

«Davon hab ich letzte Nacht geträumt», sage ich.