Keine von ihnen - Franziska Hauser - E-Book

Keine von ihnen E-Book

Franziska Hauser

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Beschreibung

Die Grafikerin Jef schlägt sich in der Großstadt mehr schlecht als recht durchs Leben. Als in einem mondänen Urlaubsort ein Stipendium ausgeschrieben wird, gerät Jef durch eine übermütige Lüge unter die fünf ausgewählten Künstler.

Dank ihres frisierten Lebenslaufs zieht sie in die marode Villa Strand. In der Gruppe kommt Jef sich vor wie eine Hochstaplerin; und sie ist es ja auch. Ist Jef zu ungebildet, um die elitäre Kunst zu verstehen, oder steht sie in Wahrheit vor einer Fassade?

Die ohnehin schon wechselhafte Dynamik läuft durch das Auftauchen einer alten Frau aus dem Ruder. Die Frau ist der Familie Strand offenbar ein Dorn im Auge. Jef beginnt, der Geschichte auf den Grund zu gehen.

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Seitenzahl: 425

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Vorwort

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

Teil 6

Teil 7

Teil 8

Teil 9

Teil 10

Teil 11

Teil 12

Teil 13

Teil 14

Teil 15

Teil 16

Teil 17

Teil 18

Teil 19

Teil 20

Teil 21

Teil 22

Teil 23

Teil 24

Teil 25

Teil 26

Teil 27

Teil 28

Teil 29

Über das Buch

Die Grafikerin Jef schlägt sich in der Großstadt mehr schlecht als recht durchs Leben. Als in einem mondänen Urlaubsort ein Stipendium ausgeschrieben wird, gerät Jef durch eine übermütige Lüge unter die fünf ausgewählten Künstler. Dank ihres frisierten Lebenslaufs zieht sie in die marode Villa Strand. In der Gruppe kommt Jef sich vor wie eine Hochstaplerin; und sie ist es ja auch. Ist Jef zu ungebildet, um die elitäre Kunst zu verstehen, oder steht sie in Wahrheit vor einer Fassade? Die ohnehin schon wechselhafte Dynamik läuft durch das Auftauchen einer alten Frau aus dem Ruder. Die Frau ist der Familie Strand offenbar ein Dorn im Auge. Jef beginnt, der Geschichte auf den Grund zu gehen.

Über die Autorin

Franziska Hauser, geboren 1975 in Pankow/Ostberlin, hat zwei Kinder. Sie studierte Fotografie an der Ostkreuzschule bei Arno Fischer und ist Autorin. Ihr Debütroman Sommerdreieck erhielt den Debütantenpreis der lit.COLOGNE und stand auf der Shortlist des aspekte-Literaturpreises. Ihr zweiter Roman Die Gewitterschwimmerin war für den Deutschen Buchpreis nominiert.

FRANZISKA HAUSER

KEINE VON IHNEN

ROMAN

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-BilleEinband-/Umschlagmotiv: Franziska Hauser, BerlineBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-2368-8

luebbe.delesejury.de

Vorweg

Wir sagen Naturschauspiel, aber alles an der Natur ist echt, nie gespielt. Unecht sind nur die Menschen. Da ist einfach zu viel Luft zwischen denen. Sie möchte reden, ohne Vorsicht walten zu lassen, ohne befangen zu sein, die Hand ausstrecken. Die selbstsicher reden, versteht man nicht. Die von sich plappern, sehen einen nicht. Kunst hilft, die eigenen Störungen unter Kontrolle zu halten. Alle Künstler sind Trickser. Nur stören die sich am wenigsten dran. Man wünscht ihnen das Schlimmste an den Hals. Zum Beispiel ein erfülltes Sexualleben.

Sie hat mit dem Alltag genug zu ertragen. Sie möchte ihnen entfliehen. Den Umgangstönen. Allein wie ein Schreiben abzufassen ist, nervt. Schreib einfach: Wir möchten eine Responsibilität für die suffiziente Reputation vor Ort aufspüren, um unser Renommee zu sublimieren. Behaupte einfach, Schriftstellerin zu sein. Bewirb dich für Literatur. Klappt es, lebst du in der Klapsmühle der Stipendiaten. Die Tage sind leer. Die Gespräche öden dich an. Du kannst mit allem nichts anfangen. Was an den anderen lebendig ist, geistert urtot als Gespenst herum.

Die betreiben Kunst, um nicht arbeiten zu müssen. Wo die Miete gezahlt wird. Wo du Kunst aus dir pressen musst zum Dank. Wärst du obdachlos, gehörte die Welt dir. Du redest mit den Vögeln. Du atmest die gleiche Luft wie sie. Ohne dass deine App die Atemzüge mitzählt. Dich davon abzuhalten, ist aller Stipendien oberster Sinn. Der Rest ist Waschmaschinenprogramm, Toastbrot, Nudelsalat. Nach drei Monaten gehen alle auseinander, getrennter als vorher schon. Die Obdachlosen; vielleicht sind sie es ja auch nur, weil sie zu oft abgelehnt worden sind und keinen Bock drauf hatten, weiter zu tricksen.

Peter Wawerzinek

»Jennifer!«, brüllte ihr Vater. Sie hätte die Tür nicht öffnen dürfen, bevor das Auto ganz stillstand, das musste sie wirklich lernen.

Wegen der Katzen und um die Großmutter wiederzusehen, war sie gleich zum Haus gerannt. »Nächstes Jahr kommst du als Schulkind zu mir«, hatte die Großmutter im vorigen Sommer gesagt.

Im Flur erschrak Jennifer für einen Moment. Der Spiegel hing schon immer an der Garderobe, aber gesehen hatte sie sich darin noch nie. Jetzt stand sie ihrem gebräunten Gesicht gegenüber, verstand, dass sie gewachsen war, und dann verstand sie, dass sie in dieser Geschwindigkeit weiterwachsen würde, ob sie wollte oder nicht.

Ihre Sommerfreundin hatte sich auch verändert, trug jetzt Brille, und der Pferdeschwanz war ab.

Nachdem alle Schubladen in Haus und Scheune durchsucht waren, fand sich eine Rolle Draht und Jennifer machte sich selbst eine Brille. Eine Schere fand sich auch.

»Das darf man nicht alleine machen!«, rief die Sommerfreundin entsetzt und rannte aus der Scheune. »Jenny hat sich den Zopf abgeschnitten!«

Die Eltern waren darüber weniger empört als über das voreilige Öffnen der Autotür.

Jetzt war die Verbundenheit zwischen den Mädchen wiederhergestellt, und sie richteten ihre Höhle aus dem letzten Jahr ein, unter der umgestürzten Erle, deren Wurzel wie eine Theaterkulisse gegen den See stand.

Jennifer liebte auch die einsamen Scheunennachmittage, wenn ihre Freundin bei Kaffee und Kuchen zu Hause bleiben musste. Niemand hörte ihre rumplige Musik auf dem verstimmten Klavier. Hühner saßen auf dem Deckel des Instruments, Tasten fehlten und die Drahtsaiten hatten sich gelöst.

»Was hat das Kind an der Hand?«, sagte die Großmutter. »Komm, gib brav dein Händchen her, Jennylein.« Die Großmutter zog ihr die Hand hinterm Rücken vor. »Nein, das gibt’s doch nicht! Weißt du denn gar nicht, dass du damit Geld verdienen kannst?«, setzte ihre Brille auf und schrieb einen Kaufvertrag. »Zwei Mark pro Stück. Wie viel bekommst du dann?«

»Sechs?«

»Richtig! Und jetzt schreib deinen ganzen Namen. Ohne Unterschrift ist es ja nicht gültig.« Jenifer Marie Brakel, schrieb sie langsam und sauber.

»Na, da hast du mir ja ein N übrig gelassen?«, sagte die Großmutter, »ich werd es für dich aufbewahren«, und schrieb Annnelies Marie Brakel.

Die drei Pflaster mit Zauber-Honig durfte Jennifer erst nach siebzehn Tagen abreißen, und da ließ die aufgeweichte Haut sich wegwischen wie Kaugummi. Die Warzen hatte Oma in einer kleinen Metalldose, die klapperte und die Jennifer nicht haben durfte, weil die Geschwüre sonst wieder an ihre Hand gesprungen wären.

Auf dem Heimweg weinte sie. Aber es war ein Fehler, zu weinen. Eine Charakterschwäche, wie ihr der Vater erklärte. Sie müsse lernen, nicht so empfindlich zu sein. Jennifer weinte leise.

*

Baby, do you understand me now … singt ihr Klingelton, und so beginnt jeder Anruf mit der Bitte um Verständnis.

Jef geht aus dem Büro, setzt sich mit einer Zigarette auf die Feuertreppe, den Rücken gegen die warme Ziegelwand gelehnt, und ruft ein energisches »Ja!« ins Telefon, wie um ihr Verständnis vorzuschießen. »Gerburg Strand!«, sagt eine Frauenstimme streng, und Jef presst vor Schreck ihre Zigarette in den Aschenbecher. »Spreche ich mit Jennifer Brakel?«

Schlagartig wird ihr bewusst, dass die erfundene Geschichte über die Zusammenarbeit mit Professor Strand zwar schon bruchstückhaft in ihrem Hirn herumliegt, sich aber noch nicht glaubhaft vortragen lässt. »Ja, das bin ich.«

Sie sei aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit dem Künstler ausgewählt worden, teilte die Stimme mit, als müsste Jef jetzt für ihre Lüge bezahlen. Wann sie vor Ort zu sein habe und dass eine Anwesenheitspflicht für die Dauer von drei Monaten bis zur Jubiläumsveranstaltung gelte, da sonst das Stipendium zurückzuzahlen sei, wird wie eine amtliche Verordnung ins Telefon gebellt. Jef kann nur Ja und Nein sagen, und nach dem Gespräch hat sie das Gefühl, sich versehentlich in blöde Schwierigkeiten gebracht zu haben. Sie versucht, die angerauchte Zigarette aus dem Aschenbecher zu reparieren, und weiß, sie ist eine Betrügerin. Eine Hochstaplerin.

Ihr Bewerbungstext war doch damals nur eine alberne Spielerei gewesen. Diese Unbeschwertheit ist ihr jetzt ein Rätsel.

Es war die beste Zeit ihres Lebens, als sie mit Rita zusammenwohnte und es Weinabende gab, an denen sie in der Küche gesessen und überlegt hatten, wo sie das Geld für die Miete herbekamen. Jef suchte nach Kunststipendien, und es war lustig, für das Anschreiben angesagte Fremdworte so unsinnig wie möglich aneinanderzureihen. »Wir müssen unsere Arbeit unbedingt als transformative Versuchsanordnung bezeichnen, und auf jeden Fall muss das Wort Schnittstelle vorkommen«, hatte Rita gesagt, mit den Füßen getrampelt und die Hand auf den Tisch gehauen vor Lachen. »Schreib mal: Wir möchten eine Responsibilität für die suffiziente Reputation vor Ort aufspüren, um unser Renommee zu sublimieren.«

Jef schrieb es auf. Abgeschickt hatten sie die absurde Bewerbung damals nicht.

Vor zwei Wochen fand Jef sie wieder. Ihre ernst gemeinten Bewerbungen für Ideenausschreibungen wurden nie beantwortet. Warum diese?

Das Telefon klingelt wieder. Auf dem Display steht: Sparkasse. Wie können die erwarten, dass ich freiwillig einen Termin mache, damit die Bank mein überzogenes Konto sperren kann, denkt Jef. Please don’t let me be misunderstood, lässt sie das Handy weitersingen.

»Das will doch keine Sau so genau wissen, was der Typ mit dir gemacht hat«, sagt eine Kollegin, die zum Rauchen rausgekommen ist und hinter den langweiligen Aktfotos, die Professor Strand vor Jahren von Jef gemacht hat, Erotikbilder vermutet. »Fahr dahin, Mann. Mach das, echt. Ist doch ein Traum. Bisschen Kunst machen und dafür bezahlt werden! Hallo?«

»Was soll ich denn bitte für eine Kunst machen?«, sagt Jef. »Ich hab noch nie Kunst gemacht. Ich hab überhaupt nichts zu sagen!«

Als Jef abends an der Bushaltestelle sitzt, beobachtet sie zwei lachende Mädchen in High Heels, die um eine Ecke biegen, als erschienen sie direkt auf einer Kinoleinwand. Lange Haarsträhnen fliegen ihnen um die Schultern. Jef kennt diese übermütige Stimmung, in der sie das Getriebe der Großstadt einmal geliebt hat und sich von der Großstadt geliebt fühlte. Sie kennt diesen Zustand, in dem es reicht, den richtigen Song zu hören, um mit allen Männern der Stadt schlafen zu wollen. Warum macht es sie nicht mehr glücklich, im kurzen Rock mit einer Freundin auf einem Barhocker zu sitzen und Cappuccino zu trinken?

*

Wenn Jennifer als Kind krank war, hatte ihre Genesung dem strengen Plan zu folgen, den ihre Mutter festlegte. Jedes Mal, wenn die Mutter das Zimmer betrat und unangenehme Utensilien auf einem Tablett hereintrug, hatte sie diesen genervten Blick, und Jennifer wusste: Es war ihr eigener Fehler, krank zu sein. Es hätte vermieden werden können und durfte nicht wieder vorkommen. Temperatur und Tabletteneinnahme wurde in eine Tabelle eingetragen, und das Kranksein bestand aus dem kontrollierten Ablauf aller Bedürfnisse. Jede Bewegung, die Jennifer machte, unterlag entweder einer Pflicht oder einem Verbot. Mit schlechtem Gewissen lag sie im Bett und wusste, in der Schule musste ihretwegen der Unterrichtsplan geändert werden, Vertretungslehrer mussten einspringen, Stunden fielen aus, und das nur, weil die Tochter der Lehrerin Fieber hatte.

Mit zehn Jahren begann sie jedes Unwohlsein vor der Mutter zu verbergen und nahm heimlich Medikamente. Wenn sie erkältet war, beeilte sie sich in der einen Stunde, die sie vor ihren Eltern nach Hause kam, Dampfbäder zu machen, Zitronentee zu trinken, Vitamine zu nehmen, heiß und kalt zu duschen. Vor den Eltern gab sie sich alle Mühe, gesund zu wirken.

In den Sommerferien wurde sie endlich zur Großmutter gebracht.

Wie wenig Jenny und ihre Sommerfreundin aus dem Nachbarhaus brauchten, um sich frei zu fühlen. Eine Feuerstelle, Wasser und eine Decke. Die Höhle am Waldrand war alle Sommer leicht wiederherzustellen. Hier ein dicker Ast drüber, da ein paar Zweige angelehnt, dann Moos und Blätter, und sie konnten vor ihrem Ausweichlager sitzen, wo sie ungestört waren. Jeden Tag nahmen sie Essen mit, bauten weiter und gingen am Abend Hand in Hand singend zurück. Dass sie für immer zusammenbleiben würden, war klar.

Die Eltern lachten sie aus, als sie ihre Tochter am Ende der Ferien von der Großmutter abholen kamen und Jennifer dem Umzugsauto ihrer Sommerfreundin hinterherrannte, die zum sechsten Schuljahr in die Stadt zog. Jennifer stolperte in den Straßengraben und blieb weinend liegen. Sie hasste ihre Eltern dafür, dass sie sich so einig waren.

Die Oma und die Sommerfreundin mehr zu lieben als die Eltern, musste bedeuten, mit ihr stimmte etwas nicht.

Am Freundeverlieren zu leiden, betrachteten die Eltern als harmlose Kinderkrankheit, die sich verwachsen würde. Das konnten nicht ihre Eltern sein, dachte sie. Die mussten sie adop-tiert haben. Ihre wahren Eltern mussten Leute mit Gefühlen gewesen sein. Wo sonst sollte sie die herhaben?

*

Jef packt ihren Koffer mit dem Gefühl, einen Fehler zu machen.

Als sie ihn über den U-Bahnhof zieht, kann sie sich kaum noch vorstellen, die erstickende Wärme in den letzten Wochen als kühl empfunden zu haben. Jetzt ist die Luft kalt und der Tunnel warm.

Sie fährt durch die Keller der Großstadt, hat sich an dieses Getriebe längst gewöhnt.

Am Hauptbahnhof zieht sie ihren Koffer durch die Menschenmenge und versucht zielstrebig zu wirken, obwohl sie nicht weiß, auf welcher der vier Ebenen des verkreuzten Bahnhofs ihr Gleis liegt. Wer nicht zielstrebig wirkt, wird angerempelt, wie der Mann mit der einzelnen Rose, der verirrt an der Rolltreppe steht. Sieht nicht aus, als ob das helfen wird, will Jef ihm laut zurufen.

Sie weiß nicht mehr, was sie damals mehr geärgert hat, als ihr letzter Freund auf diese hilflose Idee mit der Rose gekommen war: Dass Rosen offenbar nur im Notfall vorkommen, oder der leidende Blick, in dem die Bitte lag, wenigstens aus Mitleid bei ihm zu bleiben.

Während Jef zwischen grauen Schallschutzwänden wie durch einen Graben fährt, wird sie unruhig und fürchtet sich vorm Rasen in ihre unsichere Zukunft. Lieber würde sie schlafen, vertraut aber dieser Betonzwischenwelt nicht. Als endlich Wälder zu sehen sind, macht es sie kaum zufriedener. Die Bäume sehen vertrocknet aus, und die Vorfreude, die sich sonst beim Zugfahren eingestellt hat, flackert nur als Erinnerung auf.

Sie würde gerne mit jemandem reden, um zu testen, wie glaubwürdig es klingt. Beiläufig, als wäre es nicht das erste Mal, dass sie im Haus eines Künstlers mit Künstlern wohnt, um Kunst zu machen, würde sie den Hinweis fallen lassen: Sie wird jetzt für drei Monate eine Stipendiatin sein.

Der alte Mann, der neben ihr sitzt, ist aber mit Brille, Zeitschrift und Fahrkarte so beschäftigt wie mit einem komplizierten Puzzle, und die Frau gegenüber sieht aus wie eine Echse: Riesenaugen und ein dünnlippiger Mund, der offen steht. Ihre kleine Zungenspitze huscht unruhig herum und schnellt andauernd zwischen den Zähnen hervor. Jef hält es kaum aus, sie nicht andauernd im Blick zu behalten, um sicherzugehen, dass ihre Zunge nicht blitzartig ausrollt, um ihr eigenes Auge abzulecken.

Immerhin war der Koreaner beeindruckt, der jetzt in Jefs Bett schläft, auf ihrem blauen Küchensofa sitzt und ihre Miete bezahlt.

Im Gegensatz zu Jefs Frage nach einem Nebenjob, mit dem sie ihre Selbstständigkeit als Gebrauchsgrafikerin finanzieren konnte, waren auf ihre Rundmail, in der sie ihre Wohnung zur Untermiete angeboten hatte, sofort Reaktionen gekommen.

Sie steigt um, kauft in dem fremden Bahnhof einer fremden Stadt einen Espresso, setzt sich auf ihre Tasche und beobachtet den Vorplatz. Woanders neu anzufangen, wäre womöglich eine Lösung. Es muss Städte geben, in denen das Leben weniger schwer ist. Städte, in denen Rechnungen einfach bezahlt werden, ohne dass man darum kämpfen muss. Mittelmäßige Städte für ein mittelmäßiges Leben, in denen mittelmäßige Kompetenzen ausreichen. Jef würde einen mittelmäßigen Freund finden und in eine mittelmäßige Zufriedenheit verfallen.

Der Gedanke ist nicht neu. Er hat sich oft angeboten, wie ein trockenes Stück Kuchen, das sie endlich nehmen würde, wenn sie entweder keine Torte mehr sehen könnte oder halb verhungert wäre.

Vielleicht würde sie einen Mann finden, der ihr immerzu die Welt erklärt. Einen, über den sie sich mit Rita lustig gemacht hätte, als sie noch befreundet waren. Rita äffte diese Männer im Vorbeigehen nach »Pass mal auf Baby, das ist so …«, sagte Rita mit tiefer Stimme und einem Gang wie ein Affe. »Das Gras ist grün und der Himmel ist blau, verstehst du?«

Vielleicht würde es reichen, wenn er dabei eine angenehme Stimme hätte. So einer würde Jef endlich vom Selberdenken abhalten.

Sie steigt in einen anderen Zug, der genauso aussieht wie der vorherige, setzt sich auf den gleichen Platz, rechts am Ende eines Waggons, und fährt weiter.

Als der Vater eines unzufriedenen Babys aggressiv mit einer Rassel klappert, denkt Jef schon wieder an Rita. Rita hätte sicher so etwas gesagt wie: »Guck, das macht er, weil er dem Kind am liebsten eine runterhauen will. Dazu werden solche Klappern nämlich hergestellt.«

Vielleicht hätte Rita daraus eine Performance entwickelt, sich nackt an eine Säule fesseln lassen, mit Kinderrasseln geklappert und die Gäste aufgefordert, sie zu ohrfeigen.

Ein bärtiger Mann in bunten Turnschuhen setzt sich Jef gegenüber, starrt auf eine kalte Zigarette, die er zwischen den Fingern hält, und wippt mit dem Knie, als müsse er die Zylinderkolben des Zuges antreiben. Dann hält er ein winziges Handy ans Ohr und flüstert so, dass es freundlich klingen soll: »Ich würd dich nachher gerne ein bisschen zuballern.«

Er wirkt seltsam fürsorglich. Jef wünscht sich, jemand würde so etwas zu ihr sagen.

Schließlich bleibt der Zug auf der Strecke stehen. Große Vögel fliegen langsam über offene Rinderställe unter Wellblechdächern, wo Hunderte schwerer Tiere dicht zwischen Eisenstangen stehen und beim Atmen dampfen. Jef sieht, wie ein Mann mit armlangem rosa Gummihandschuh etwas aus einer Kiste nimmt und durch die unruhig muhenden Reihen geht.

Der Zug fährt weiter, und Jef überlegt, ob sie mit einem zusammen sein könnte, der Kühe besamt. Einer muss es ja machen, würde so einer bestimmt sagen, und was Rita dazu sagen würde, wäre: Die Tiere könnten das sicher selber. Aber vielleicht denkt so einer gar nicht darüber nach.

Mit dem letzten Umsteigen sitzt sie in einem gläsernen Panoramawagen. Die Bahnlinie gehöre zum Weltkulturerbe, erklärt eine Ansage, und Jef schläft endlich ein. Die Wange im Pullover, zwischen Kopf und Scheibe, schreckt sie hoch bei Durchsagen, in denen Worte vorkommen wie: spektakulärster Streckenabschnitt, imposanteste Schlucht. Jef kommt sich vor wie damals als Kind, wenn die Eltern aus dem Auto auf jedes Pferd zeigten, das in der Landschaft herumstand. »Harmonisch eingebettet in die atemberaubende Landschaft der sagenumwobenen Bergwelt, sehen Sie links das charmante Kreisviadukt.« Jef hebt das Handy zu spät vor die Scheibe, die Kamera reagiert zu langsam, und schon ist die imposante Schlucht mit dem Eisbach unter dem Zug durchgetaucht. Zu müde zum Staunen schläft sie ein.

Im Schlaf ist Jef glücklich. Alles ist richtig. Sie muss nicht arbeiten, nicht denken, sich nicht selbst optimieren, weil Schlafen ein optimaler Zustand ist. Sie muss nicht selbst leben, nicht essen, kein Essen kaufen und vor allem kein Geld verdienen, das dann doch wieder nicht für die ganze Miete reicht. Als sie diesen herrlichen Zustand verlassen muss, bedankt sich die Stimme gerade fürs Bereisen der hundertjährigen Bahnstrecke.

Der alte Professor ist hier also mit der Bahnstrecke geboren worden. Jef stellt sich vor, dass er als Kind eines Ingenieurs oder Gleisarbeiters hergekommen sein könnte. Vielleicht hat sein Vater diese Schwellen verlegt, die Viadukte gemauert und seine Mutter die Kleider der Bahnarbeiter gewaschen oder ihnen Essen gekocht.

Jef zieht ihren Koffer hinunter zum See, um den die Häuser der Stadt sich versammelt haben. Die Luft ist seidig, als sie zur Uferpromenade hinabgeht. Erst nachdem sie ihren Blick eine Weile in das blaugrüne Wasser getaucht hat, fragt sie nach dem Weg.

Das Geburtshaus von Professor Strand liegt am Hang gegenüber, nah am Wasser, umgeben von niedrigen Nadelbäumen, und sieht unscheinbar aus für seine Größe. Hellgrau und verletzbar. Nicht so robust wie die umliegenden Gebäude.

Es ist kalt. Die Menschen, die um den See spazieren, vergraben die Gesichter in den Schals und sind den Wind nicht gewohnt, der ihnen in die Jacken bläst und durch die Haare jagt. Gestern muss es hier wärmer gewesen sein. Das verrät die feuchte Luft, die noch mit dem Geruch von warmem Stadtstaub vermischt ist.

Dieses Haus, Gott bewahr, vor falschen Freunden und Gefahr, liest Jef, als sie im Näherkommen die sorgfältige Schmuckschrift über den Fenstern der zweiten Etage erkennt. An dem löchrigen Putz und der gewaltigen alten Holztür und an den zarten Fensterstreben, von denen der Lack blättert, sieht Jef: Hier ist seit Jahren nichts ausgebessert worden.

Residenzprogramm Haus Strand, steht auf einem flatternden Zettel, der mit einer Reißzwecke an der Tür befestigt ist und noch keinen Regen abbekommen hat.

Die Eisenklinke lässt sich nicht bewegen. Jef findet eine kleine primitive Plastikklingel, die an einem Kabel baumelt und nicht aussieht, als könnte sie etwas bewirken. Aber irgendwo im Inneren löst sie einen leisen Ton aus.

Niemand öffnet, und als Jef mit beiden Händen an der Klinke rüttelt, lässt die Tür sich doch öffnen, als habe sie entschieden, Jef erst jetzt, nachdem sie geklingelt hat, einzulassen. In dem großen Vorraum steht eine Kommode mit Kunstzeitschriften und einem historischen Telefonapparat. Licht fällt durch die bunten Scheiben über der Tür auf die gemusterten Bodenfliesen. In jeder Ecke ein samtgepolsterter Stuhl. Jef ist nicht sicher, ob sie das Haus als historisches Museum betrachten soll, oder ob es einfach von der Gegenwart vergessen wurde. Als sie die Tür mit der Sütterlin-Aufschrift: Büro öffnet, hört sie jemanden lachen. Das Büro ist holzgetäfelt, alte Schränke mit endlosen kleinen Schubfächern stehen herum und wirken, als wären sie seit einem halben Jahrhundert nicht mehr geöffnet worden.

Jef erschrickt vor einer alten Frau, die hinter ihr steht, einen Wischeimer trägt und mit einem Handfeger die Tür abfegt. »Weißt du, wo sie den Besen stehen gelassen hat?«, fragt die Frau, sieht Jef gütig an und hält den Kopf schief. »Nein?«, sagt Jef unwirsch, und die Frau lächelt mit penetranter Betulichkeit. Ihr fusseliges gelbgraues Haar ist hochgeknotet, Strähnen hängen vor dem Gesicht wie Spinnweben. Sie ist auf keinen Fall die Frau, mit der Jef telefoniert hat. Ihre Augen sehen aus, als wollte sie jedem Kind ihre knochige Hand hinhalten und sagen: Wolln wir mal in den Garten gehen und nachsehen, ob wir da was finden, woraus wir einen Kuchen backen können? Nur würde es wahrscheinlich jedem Kind vor ihrer Erscheinung grausen. Der zu große Kittel ist schief geknöpft. Sie fegt weiter an der Tür herum und lässt den Staub liegen, der sich in den Ecken gesammelt hat.

Als Jef an ihr vorbeigeht, riecht sie muffig, nach nasser Wolle bei Regen und nach ungewaschenem Haar. Noch etwas anderes, beißendes, von Terpentin, oder Katzenpisse, ist in diesem Geruch. »Sie wird vergesslich. So wird’s dir auch gehen.« Die Frau nickt verschmitzt, und Jef hat plötzlich Angst, von ihr verflucht zu werden.

Das Haus sieht von innen noch älter aus als von außen. Es riecht nach Keller. Jef geht die knarrende Treppe rauf, kehrt um, geht zurück, weil ihr einfällt, dass sie ihren Koffer nicht mit der verrückten Alten hier unten alleine lassen sollte. Jef zerrt den Koffer Stufe für Stufe hinter sich her.

Mit Schwung führt die Treppe über einen Absatz mit verwinkelter Diele hinauf in einen holzgetäfelten Salon. Eine lange Fensterfront lässt so viel Licht hinein, wie Jef es dem trüben Wetter nicht zugetraut hätte. Der Salon ist nur der Vorraum zu einem Saal, den sie jetzt betritt. Vier Menschen auf einer rosasamtenen Sitzgruppe am Ofen betrachten Jef.

»Hi«, sagt eine sehr kleine junge Frau mit neon-orangeroten Fingernägeln, die auf dem Sofa liegt, etwas kaut und »Sonja« sagt.

Sie geben einander befangen die Hand, als würde ihnen diese Förmlichkeit vom Haus aufgetragen, und Jef denkt, dass sie es wohl kaum fertigbringen wird, das Mädchen nicht Sunny zu nennen. Oleksii, ein dünner Mann mit schwarzem Bart und Glatze, sitzt neben ihr. Ein Zellstofftaschentuch steckt am Handgelenk im Pulloverärmel. Daneben Kevin, ein unscheinbarer Rothaariger. Er gibt Jef die Hand. »Nenn mich Vin.«

Ein breiter Mann mit Locken ist offenbar der älteste. »Wolf«, sagt er, und seine Hand ist warm und trocken.

»Jef«, sagt sie. »Hi, Jef«, singen die Neonfingernägel und tanzen kurz in der Luft. »Heißt du wirklich so?«, fragt Wolf. Jef hasst diese Frage und sie hasst ihren richtigen Namen. »Jennifer«, sagt sie. Wolf nickt. »Vin und Jef. Hört sich an wie Ikea-Stühle.«

Jef nimmt einen Keks aus der alten Blechdose, die auf dem Tisch steht, geht durch den Saal, sieht aus den Fenstern, um sich zu orientieren. Der Keks schmeckt verbrannt. Es hat zu nieseln begonnen. Zur Bergseite gibt es eine Terrasse mit Stühlen und Tischen, von denen Regen auf nasses Holz tropft. Zur Seeseite ein großes Rundbogenfenster. Es rahmt das dunstige Bild vom See ein und von den zufriedenen Häusern dahinter. Wie eine Betonwand steht der Nebel in endloser Gleichmäßigkeit über allem.

Jef fühlt sich wie am ersten Schultag im Gymnasium, als würden sie auf einen Lehrer warten, der die Klasse kommandiert. »Ich erwarte dringend ihr pünktliches Erscheinen«, sagt Vin in gespielt herrischem Tonfall und sieht zur großen Wanduhr. »Habt ihr auch mit dieser Frau telefoniert?« Hätte er nicht so schlechte Zähne, würde er gut aussehen, findet Jef. Die Zähne geben ihm etwas Verruchtes. Sie stellen einander die üblichen Fragen, über Herkunft und Kunstsparte. »Ich mache Collagen«, sagt Jef so neutral wie möglich. Dass Vin Schmuckgestalter sein soll, irritiert sie.

Sunny ist Tänzerin, und das scheint, wenn Jef ihren zappligen Körper betrachtet, überhaupt die einzige Möglichkeit. »Können wir mal Holz nachlegen, oder so?« Sunny stellt sich hin, um einen Überblick zu haben. Sie trägt bis auf die Nägel nichts Auffälliges. Ihre Augen sind unglaubwürdig groß, sie könnten aus einen Animationskinderfilm geliehen sein. Die Wimpern, so lang und dicht, dass es schwer sein muss, die Lider zu heben. Es sieht aus, als wäre ihr Gesicht noch neu, als müsste Sunny erst lernen, es zu tragen.

»Hier muss es doch Holz geben.« Sie sieht hinters Sofa und dann Wolf an, als wäre es seine Aufgabe. Wolf trägt ein albern gemustertes buntes Hemd und hat viel zu kräftige Arme für einen Lyriker. Die verschränkt er, nachdem er eins der Programmhefte auf den Tisch geworfen hat.

»Wir können ja die ganzen Druckerzeugnisse verbrennen«, sagt er und sieht nach oben. »Oder die klapprige Empore verfeuern, bevor sie uns auf den Kopf fällt.«

Oleksii blickt erschrocken von seinem Handy auf und betrachtet die Galerien an beiden Saalenden. »Meinst du, die können runterkommen? Oh Gott, die sehen ja gar nicht gut aus. Gruselig hier alles. Aber echt.« Er stützt die Arme auf die Knie und reibt nervös seine Hände.

»Ich find’s cool. Ist doch total vintage!«, sagt Sunny.

Vin behauptet, viel unheimlichere Häuser zu kennen. »Zum Beispiel das Hotel in Caracas, in dem ich ausgeraubt wurde. Das war wirklich gruselig.« Das schrecklichste Haus allerdings sei das Nachbarhaus gewesen, neben dem er aufgewachsen sei. Vin hat ein seltsam grobes Gesicht. Etwas Verletztes, das womöglich niemals heil war, ist in seinem Blick, oder in seiner Haltung, oder um ihn herum. Seine Augen kippen zur Nase hin nach unten, sind leuchtend grün und betteln Jef an, überhaupt beachtet zu werden unter seinem roten Haar. Er trägt einen mintgrünen weichen Pullover, und Jef setzt sich vielleicht wegen des Pullovers neben ihn. Vin spricht laut und tief, sodass alles gewaltiger klingt, als es womöglich klingen soll. Seine Stimme fühlt sich neben ihm an, als benutze sie auch Jef als Klangkörper.

»Von außen sah es ganz unauffällig aus. Aber drinnen war es die blanke Hölle. Das hatte sogar lange nachdem alle ausgezogen waren noch eine ganz böse Energie, die hat man kilometerweit gespürt. Dagegen ist das hier ein Paradies von einem Haus.« Wolf will wissen, wo er aufgewachsen sei. Vin sagt nur: »Ach, so ne asoziale Vorstadt«, und greift nach den Keksen. »Das wird gleich einen guten Eindruck machen, wenn wir das ekelhafte Gebäck aufgegessen haben.« Mit einer so kräftigen Stimme, die besser zu Wolf passen würde, dürfte man eigentlich keine belanglosen Sachen sagen.

»Ich weiß nicht, ob ich hier komponieren kann«, sagt Oleksii mit zusammengezogenen Schultern, steht auf, geht an den schwarzen Flügel und schlägt im Stehen ein paar Tasten an. »Und es ist echt zu kalt. Zum Spielen brauch ich warme Finger.« Er schließt den Klavierdeckel, wippt beim Gehen, dass die Bänder seiner Kapuzenjacke schlenkern, und setzt sich wieder. Er trägt Jeans in beige. Rentnerfarbe, denkt Jef. Seine zerbissenen Lippen mit Hautfetzen fallen ihr auf und dass er zu viele Zähne hat, als hätte jemand alle Klaviertasten in seinem Mund unterbringen wollen.

Jef nimmt eine der Broschüren vom Tisch und blättert darin. Künstler, die hier im Haus gewohnt haben, Namen, Fotos, Texte. Jefs Brustkorb zieht sich zusammen, drückt ihr die Luft ab, bei der Vorstellung, dass man so etwas auch von ihr erwartet. Eine Künstlerin hat aus Ästen Buchstaben gebaut und in die Landschaft gekrakelt. Sie steht daneben, mit verbissenem Gesicht. Jef hofft, an so einer steifen Veranstaltung nicht teilnehmen zu müssen, bei der die verklemmten Streber sich zusammengeschlossen haben, um für immer mit der Schule weiterzumachen. Ein Haufen Papierschnipsel, der »Weißes Geräusch« heißt, ein unsinniges Gedicht dazu, Trauben aus Wachsperlen, ein Regal voller eingeschweißter Bettdecken. Ein paar Künstler stehen mit Stolz vor ihren Werken, andere wie ängstliche Heimkinder, die auf ihre eigene Versteigerung warten. Statt der Erklärungstexte in gestelzter Sprache könnte Jef ein Buch mit mathematischen Formeln lesen. Es gäbe ihr dasselbe Gefühl, zu dumm zu sein.

*

Jennifer war fünfzehn, als sie Rita zum ersten Mal begegnete. Rita hockte im Gebüsch hinter den Ställen und zischte sie an. »Hey, gehst du rüber? Holst du mir ’n’ Kaffee? Cappuccino mit Zucker! Ohne umrühren.«

Jennifer brachte ihr den heißen Pappbecher aus der lauten Bauernmarkthalle ins Gebüsch, obwohl sie gar nicht vorgehabt hatte, in die Halle zu gehen und an der langen Schlange zu stehen. Jennifer war nur auf der Suche nach einem Ort, an dem sie sich verstecken konnte. Genau wie Rita im Gebüsch. Es war Vorschrift, sich von den Ställen zu entfernen, sobald sie die Nester mit Eiern gefüllt hatten. Sie durften von den Besuchern nicht gesehen werden. Zwei bis drei Eier in jedes Nest. Wie frisch gelegt sollte es aussehen. Die Paletten holten Jennifer und Rita aus einem Holzverschlag und liefen damit zwischen den verwirrten Hühnern hin und her, um alle Viertelstunde die Nester zu füllen, während die Besucher mit der »Eierbahn« über den Bauernmarkt kutschiert wurden. Es war ein bunt bemalter Traktor mit offenen Anhängewagen, in denen dicke Großeltern eingezwängt saßen, mit Kindern auf den Schößen. Körben und Einkaufstaschen. Die Bahn hielt vor dem Kuhstall, wo die Besucher saubere Kälbchen in goldgelbem Stroh streicheln durften. Die nächste Station war der Hühnerstall, wo man leere Eierpackungen an die Besucher verteilte und sie im Stall die Nester leer räumen ließ. Die Hühner gewöhnten sich keine fünf Minuten an dieses idiotische Theater. Sie hatten es sofort vergessen, sobald die Besucher aus der nächsten Eierbahn den Stall plünderten. Jedes Mal liefen sie empört gackernd durcheinander. Rita machte sich lustig über die Besucher mit ihren Hamstertaschen, die sich offenbar nicht fragten, wie fünfzig Hühner jeden Tag sechshundert kalte Eier legen konnten. Trotzdem hatte Rita mit den gestressten Hühnern mehr Mitleid als Jennifer. Einmal weinte Rita, als sie ein Ei fallen gelassen hatte. Sie entschuldigte sich bei den Hühnern, wollte sie streicheln, konnte keines fangen.

An jedem der sechs Sommerferienwochenenden saßen Jennifer und Rita den halben Tag lang im Gebüsch. Nach Feierabend bekamen sie an den Marktständen die Reste geschenkt. Jennifer hätte es nicht gewagt, nach übrig gebliebenem Essen zu fragen. Sie hätte es auch nicht geschafft sich, wie Rita, so überschwänglich zu bedanken, als die Verkäufer schon Restetüten vorbereitet hatten für die beiden Hühnermädchen. Mit vollen Taschen stellten sie sich in die Schlange vorm Büro, um ihren Lohn abzuholen, der in Butterbrottüten ausgegeben wurde, fuhren mit der historischen Eisenbahn über die Dörfer bis zum Bus, aßen Brötchen, Kräuterquark, Bouletten und Erdbeeren. Rita hatte zu viele Ideen, was sie mit dem Geld machen wollte. Für jede Idee wäre es zu wenig gewesen. Jennifer wollte sparen für ihren Führerschein.

Rita wohnte ein paar Stationen weiter, in der Innenstadt. Kurz bevor Jennifer aussteigen musste, sagte Rita: »Weißt du was? Ein Name mit Ypsilon am Ende ist wirklich eine Demütigung!« Sie kniff ein Auge zu, zielte mit dem Zeigefinger auf Jefs Brustbein und sagte: »Ich benenne dich hiermit um in Jef!«

Jennifer sah dem abfahrenden Bus hinterher. Auf dem Heimweg begann ihr der neue Name zu gefallen. Es wurde Zeit, Jef zu werden.

Als ihre Großmutter im Herbst starb, wurden die Eltern die einzigen Menschen, die noch Jenny zu ihr sagen durften.

*

Die Hausherrin kommt durch eine Tür in der hölzernen Wandtäfelung, die vorher niemand bemerkt hat. Sie breitet die dünnen alten Arme aus, an denen Reifen klappern, und verursacht einen Wind, der ihr weites Gewand Wellen schlagen lässt. »Willkommen, ihr begabten Gestalter und musischen Erfinder«, ruft sie exaltiert, während ein wesentlich kleinerer Mann mit den Händen in den Hosentaschen hinter ihr hergeht wie angeleint. Theatralisch stellt sie sich an das Tischende und wirft Jef, die sofort die Beine vom Sofa nimmt, einen strafenden Blick zu. »Willkommen in unserem herrlichen, kulturell leider vollkommen verwahrlosten Refugium«, sagt sie etwas leiser. Sunny rutscht, als die Frau Anstalten macht, sich neben sie zu setzen. Sie setzt sich aber nicht, sondern beugt sich hinunter und packt Sunnys Kinn. »Na, das ist ja süß«, sagt sie und klappert sinnlos mit den Augen. »Hattet ihr eine gute Anreise? Oh, und ihr habt euch Feuer gemacht, wie ich sehe. Es ist ja bestimmt kalt gewesen!« Sie reibt ihre Hände. »Wann hatten wir die Heizung angeschaltet, Tigerlein? Gestern? Vorgestern?« Sie sieht zu ihrem Mann, der mit den Schultern zuckt. »Ich hab hier nichts angeschaltet.«

»Und ihr habt euch Gebäck besorgt«, sagt sie. »So soll es sein. Fühlt euch wie zu Hause. Dies ist ein Ort, an dem ihr ganz ungestört in eurer Kunst, äh« – sie schwenkt die Arme, als wolle sie Ballonbrüste andeuten, »schwelgen könnt.« Ohne auf eine Reaktion zu warten, dreht sie auf dem Absatz um, geht zum Fenster, öffnet die Flügeltüren, sodass die nasse Luft hereinzieht. »Bisschen muffig«, murmelt sie. »Bah!«

Vin sieht in die Runde. »Hat von uns einer Feuer gemacht?«, fragt er leise. Alle schütteln den Kopf. Vin zeigt fragend auf die Kekse. Alle sehen einander schulterzuckend an.

Der Mann, der Tigerlein genannt wurde, nimmt Holzscheite aus einem Korb direkt neben Jef und wirft sie in den eisernen Ofen.

In diesem Saal existieren die Dinge offenbar erst, wenn sie bewegt werden. Er ist mit einem Blick unmöglich zu erfassen.

Aus jedem Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts muss hier etwas übrig geblieben sein, und als eine grau getigerte Katze von einem der Stühle in der hinteren Saalecke springt, sich streckt und gähnt, weiß Jef, sie kann sich nicht auf ihre Augen verlassen. Wie hat sie das Tier bei ihrer Orientierungsrunde übersehen können? Um herauszufinden, wo sie hier ist, wird sie alle Sinne gleichermaßen befragen müssen.

Die Frau sagt, sie wolle nicht lange reden, und redet doch lange. Am längsten redet sie von ihrer Jubiläumsfeier, die ihr wichtig sei und für die sie hohe Ansprüche an die Stipendiaten habe, auf deren Idee sie zähle. Sie gestikuliert und braucht offenbar das Geklingel ihrer Armreifen zum Denken.

Tigerlein hat sich breitbeinig im Sofa zurückgelehnt, die Unterlippe vorgeschoben, was selbstzufrieden aussieht, nickt und wirft seiner Frau fehlende Worte und Namen zu. Sie würden auf der anderen Seite des Sees wohnen, sagt sie. »Von meiner Terrasse aus habe ich das Haus immer im Blick«, sie reibt ihrem Mann das Knie, »haben wir das Haus im Blick.«

Sauber gemacht würde hier nicht, erklärt sie beiläufig, als sei es unwichtig. »Ihr putzt bitte selber. Zeit habt ihr ja genug. Das Wetter wird so schlecht bleiben, versprochen.« Es gebe eine Putzmittelkammer, eine Waschmaschine im Keller und frisches Bettzeug müsste sich auch irgendwo finden. Sie seien ja nun bedauerlicherweise die ersten Teilnehmer des Residenzprogrammes nach dem Tod des Künstlers. »Meines Vaters«, hängt sie demütig an. Er sei zwar in den letzten zwanzig Jahren nicht mehr hier gewesen, aber sein Tod habe ja nun auch etwas Gutes, sagt sie streng. Zum ersten Mal würde das Programm teilweise von der Stadt Brönnen finanziert.

Alt genug sei er ja geworden, sagt sie, als hätte er aus Bosheit so lange gelebt, und Jef überlegt, ob die Strand auf den Tod des Vaters gewartet hat.

Zum Abschluss der vergangenen Residenzprogramme habe es nur eine kleine Ausstellung gegeben. Da sei kaum jemand gekommen, sagt sie beschwingt und hängt ein Lachen an. Diesmal würde alles anders und die Stipendiaten hätten die einmalige Chance, ihre Arbeiten während der großen Jubiläumsveranstaltung zu präsentieren, bei der sie die Gründung ihrer Stiftung zur Erforschung des Lebenswerkes des Künstlers – »meines Vaters« – bekannt geben würde.

Jef fragt sich, warum man Kunst andauernd ergründen musste. Vielleicht wäre sie Künstlerin geworden, hätte man sie in der Schule nicht gezwungen, Kunstwerke zu analysieren. »Ich hoffe, Sie werden dem hohen Anspruch des Hauses gerecht«, sagt die Strand-Tochter und zählt Künstler auf, die schon da gewesen sind. Jef kennt keinen von ihnen.

»Nun hängt es von Ihnen ab, wie es mit dem Haus weitergeht.« Die Strand-Tochter tippt den Zeigefinger auf die Tischplatte. In zwei Wochen würde sie sich eine Stunde Zeit nehmen. »Alle zwei Wochen möchte ich montags, neunzehn Uhr, hier an diesem Tisch die Pläne für den Festakt besprechen.« Außerdem gebe es im Saal ein paar Konzerte, Lesungen und Filmvorführungen. »Ich rechne zu allen geplanten Veranstaltungen fest mit eurer Anwesenheit.«

Jef ist gestresst von dem klingelnden Redeschwall, stellt lieber keine Frage. Die Strand-Tochter streckt den Arm aus, um sich von ihrem Mann einen metallenen Reifen mit Schlüsseln reichen zu lassen, die sie wie Medaillen verteilt. Auf den zersplitterten Sperrholzplättchen sind die Zimmernummern beinahe abgerieben.

»Putzt ihr bitte selbst«, schnauft Wolf, als die beiden verschwunden sind und nur die Armreifen aus der Tiefe des Hauses noch läuten.

»Und wer ist diese alte Frau da unten, wenn sie keine Putzfrau ist?«, fragt Jef.

»Welche Frau?« Oleksii war durch den Garten hereingekommen. »Stand hinten alles offen«, sagt er. »War niemand da. Ofen brannte schon.« Sunny ist von ihrem Freund hergebracht worden und hat, wie Jef, eine Weile an der Tür gerüttelt, bis die Klinke nachgab. Wolf und Vin hatten einander im Panoramazug kennengelernt und waren alleine ins Haus gekommen. Niemand außer Jef ist der Frau begegnet.

»Es gibt keine Schlüssel für die Außentüren«, sagt Wolf. »Wir sitzen in einem öffentlich zugänglichen Gehege für exotische Künstler. Wie in so einer überdachten Fußgängerzone.«

»Na, das Haus wird ja von Gott bewahrt«, sagt Vin, »steht ja dran. Da braucht man doch keinen Schlüssel. Und Sonja ist sächlich, habt ihr das mitgekriegt? DAS ist ja süß«, sagt Vin. »Du hättest ihr in die Hand beißen und das Gesicht zerkratzen sollen.« Sunny winkt ab. »Ach, nicht schlimm«, sagt sie leicht gequält.

»Wie heißt diese Frau?«, fragt Jef. »Ihr Vorname war irgendwie hässlich, oder? Ich hab ihn sofort vergessen.« Die anderen haben ihn auch vergessen.

Jefs Zimmer ist keins der Ferienlagerzimmer, wie sie die anderen haben. Es sieht nach Großvater aus, mit schweren dunklen Möbeln, Rüschengardinen und dickem Teppich.

In ihrem winzigen Bad funktioniert das Licht nicht. Wenn sie die Tür weit offen lässt, kann sie im Spiegel ihr Augenweiß erkennen und beim Schminken ahnen, wo ungefähr ihre Wimpern sein müssen. Abends ist sie froh, von unten noch Stimmen zu hören.

Auf dem Treppenabsatz vor ihrem Zimmer begegnet sie Oleksii. »Da geht’s auch runter«, sagt er und zeigt in den Saal. Hinter der unscheinbaren Tür in der Holzverkleidung führt eine dunkle Treppe nach unten. »Dienstbotenaufgang wahrscheinlich«, sagt Jef, als sie von hinten die Küche betreten. »Sieht ja aus wie in einem Kinderheim.« Riesige Töpfe und Kellen hängen an der Wand neben dem großen Herd. Endlose Teller und Tassentürme sind in den Küchenschränken gestapelt. An dem langen Tisch sitzt Wolf vor einem Glas Wein, als wäre er längst zu Hause und liest Zeitung. »Hi«, sagt Jef und klingt verlegen, was ihr peinlich ist.

Wolf blickt nicht auf. »Wusstet ihr, dass der Ort damals von Künstlern erschlossen wurde? Die haben hier die Berge gemalt, Singvereine gegründet, und lauter Schriftsteller haben sich hier zurückgezogen und Naturbeschreibungen studiert«, erklärt er.

Oleksii isst Bratkartoffeln aus der Pfanne. »Darf ich das aufessen?«, fragt er kauend. »Aber nimm dir einen Teller, bitte!«, brummt Wolf.

Jef kocht sich Kaffee.

»Und dann wurden Hotels gebaut und sie haben einen Luftkurort draus gemacht.« Wolf liest murmelnd weiter und faltet die Zeitung zusammen. »Ja, und dann kam die Habgier und hat alle Künstler aus der Stadt verjagt. Jetzt müssen sie welche kaufen.« Er wirft die Zeitung auf den Tisch.

Oleksii tänzelt zum Küchenschrank. »Die Nacht wird schrecklich. Ich werde überhaupt nicht schlafen können bei so vielen unbekannten Geräuschen. Normalerweise stopfe ich mir in Hotels immer die Ohren zu. Aber wenn ich weiß, dass hier einfach jeder ins Haus kommen kann, traue ich mich das echt nicht.« Er streicht sich über die Glatze. »Ich weiß nicht, wie ich das hier drei Monate lang aushalten soll. Ich kann unmöglich komponieren, wenn ich zu wenig schlafe.«

Sunny schleppt eine Einkaufstasche, packt Essen aus, stellt Weintrauben auf den Tisch, erklärt, welche Läden es in der Nähe gibt und wie lange sie geöffnet haben, plappert ununterbrochen, während sie Chips aus ihrem Rucksack holt, den Aufdruck liest. »Dreißig Prozent weniger Fett? Weniger als wie viel? Als sie gerne reingemacht hätten? Man maximal reinmachen kann?« Sie reißt die Tüte auf, stopft sich Chips in den Mund. »Die Leute sind komisch hier. Da ist einfach zu viel Luft zwischen den Menschen.«

Sie nehme das untere Kühlschrankfach, weil sie die Kleinste sei, und Wolf sollte das oberste benutzen, bestimmt Sunny. Oleksii stellt sich vor den offenen Kühlschrank, wie ein kleiner Junge, der beim Kinderarzt ausgemessen wird, und vergleicht seine Augenhöhe mit dem vorletzten Fach, was Jef albern findet.

Jef geht auf den kleinen Innenhof, der von der Küche aus zu betreten ist, und erschrickt vor Vin, der an die Mauer gelehnt in einer dunklen Ecke raucht und den Himmel betrachtet. Sie hat das Gefühl, ihn zu stören, bekommt keinen Blick, kein Lächeln und keine Zigarette. Ein paar Fragen lässt er sich stellen und antwortet in den dunklen Himmel. Offenbar hat er einen Plan, den Jef nicht versteht. Er redet von schmelzenden oder sich verfärbenden Materialien, aus denen er Schmuck machen wolle, der sich bei jedem Träger verändere. Darunter kann Jef sich nichts vorstellen, denkt aber, so muss ein echter Künstler sein. Bestimmt braucht man diese einsame Begeisterung für Ideen, die niemand nachvollziehen kann. So wie Wissenschaftler und Geistesgestörte. Was sie hier vorhabe, fragt er und sieht Jef jetzt doch an. Sie behauptet, sie bräuchte einen Text, um ein paar Collagen zu machen. »Frag Wolf«, sagt Vin, »vielleicht schreibt er dir was.«

Sunny tänzelt aus der Küche, sieht in einen Eimer neben der Tür, »ist das für Biomüll?«, lässt einen Mangokern hineinfallen und leckt ihre Finger ab.

Vin verdreht die Augen. »Ist mir zu verpeilt, Sonnenscheinchen. Nervt mich total, so was«, sagt er leise, als Sunny wieder in der Küche ist.

Jef will wissen, was Vin von Strands Bildern hält, und er antwortet, ohne zu überlegen. »Diese konvulsivischen Bildverrenkungen finde ich ganz gut, aber seine Editionen aus den manipulierten Kopien und fantastischen Verzerrungen sind mir zu kommerziell und gefällig. So etwas interessiert mich nicht.«

»Aha«, sagt Jef betreten und hofft, er fragt nicht, wie sie Strands Bilder findet.

Vin beugt sich über die niedrige Mauer, versucht an der Giebelwand vorbei den See zu sehen. »Die alte Hexe kann von da drüben nicht mal mit nem Fernglas hier in die Fenster sehen.« Er lässt die Zigarette fallen und tritt sie mit einer Drehung aus. »Die spinnt doch.«

Oleksii lässt seinen Teller auf dem Tisch stehen. »Ich geh mal schlafen. Wir sehen uns ja morgen, wenn’s Frühstück gibt«, sagt er und geht.

»Wenn’s Frühstück gibt?«, fragt Vin, aber Oleksii hört ihn nicht mehr.

Als Jef die dunkle Küchentreppe wie aus einem U-Bahnhof raufsteigt, in den Saal, der nach Staub und Vergangenheit riecht, fragt sie sich, warum sie in diese erdrückende Lage geraten ist.

*

In ihrem Ort am Stadtrand gab es eine Schule, ein Krankenhaus und ein Altenheim. Fast alle Bewohner ließen sich in drei Gruppen einteilen: Die Unterrichtenden, Pflegenden, Betreuenden, und die, die unterrichtet, gepflegt und betreut wurden. Das war ihre kleine Welt.

Jefs kindliche Freude über eine Pumuckl-Torte und rosa Limo mit bunten Papierschirmchen hatte sich immer in Grenzen gehalten, und so war es auch mit ihrer jugendlichen Begeisterungsfähigkeit, die nur selten ausbrach. Als sie auf dem kleinen Weihnachtsmarkt im Ort mit Freunden ein paar Flaschen kalten Glühwein geklaut und sich auf der Burgmauer betrunken hatte, fühlte sie sich fast frei.

Zu Weihnachten war es, als wäre, immer dann, wenn Jennifer im Wohnzimmer war, die Großmutter in der Küche und würde vor den dampfenden Töpfen stehen. Wenn Jennifer gerade in der Küche war, dann musste die Großmutter am Tisch sitzen und Kuchenkrümel aus ihrer Kaffeetasse löffeln. Die Großmutter blieb in Jefs Leben fest installiert, ob sie tot war oder nicht. Jef war noch nicht bereit, um die Großmutter zu trauern.

Der Sommer darauf war der erste in Jefs Leben, den sie nicht bei ihrer Großmutter verbrachte. Sie fuhr mit den Eltern in die Berge. Der Vater wollte wandern.

Schnaufend stützte er sich links und rechts am Felsen ab, stieg durch die enge Spalte, Tritt um Tritt stapfend, und Jennifer fürchtete, er würde stecken bleiben. Es sah aus, als würde die Schlucht sich vor ihm weiter verengen, und Jennifer wusste, der Vater konnte doch nicht stehen bleiben. Umkehren erst recht nicht.

Das sei richtiges Wandern, sagte er, als sie auf dem Kamm waren. Was Jennifer machte, ständig anhalten, auf Bänke setzen, Mandarinen essen, das sei falsches Wandern. Er wusste, was richtig und falsch war. Jennifer wünschte, sie wäre nicht mitgefahren, sondern hätte mit Rita im Hühnerstall arbeiten können, wie letztes Jahr.

Stattdessen musste sie im Hotel am Frühstücksbüfett stehen, während die Eltern mit den Gästen dasselbe redeten wie zu Hause mit den Nachbarn vor der Garage und mit den Freunden beim Geburtstag. Die Leute waren den Eltern alle gleich. Ob die Nachbarn wegzogen und man mit neuen Nachbarn grillte, spielte keine Rolle.

Lieber hätte sie einen berühmten schwarzen Rapper als Vater haben wollen und wäre gerne eine von drei verwöhnten Töchtern gewesen, die Pferde und Gartenhäuser zum Geburtstag bekamen.

Künstlereltern hätte sie gerne gehabt, oder wenigstens Eltern, die mit Kunst etwas anfangen konnten. Aber ihre Eltern hielten Kunst für das verwerfliche Bedürfnis, etwas Unnützes zu produzieren. Nur die Pflicht galt, und sie redeten von ihrer Arbeit wie von einer Freiheitsstrafe. »Der hat noch sechs Jahre«, sagten sie, wenn sie über Kollegen sprachen.

Dass es ein Fehler sei, Kommunikationsdesign zu studieren, würde Jenny auf dem Arbeitsmarkt schon noch zu spüren bekommen. Damit tauge sie nichts, sagte ihr Vater und schien das ganze Lebewesen zu meinen, das er sinnlos großgezogen hatte.

Jef war sicher, mit einem ernsthaften Problem, und sei es nur ein geerbtes, hätte aus ihr eine interessante Künstlerin werden können. Nur waren ihr die ernsthaften Probleme abgenommen worden. Während ihre Freundinnen Scheidungskinder waren, hatten Jefs Eltern ihr nicht einmal das gegönnt. Nicht mal gestritten hatten sie sich.

Sie hatten Jef hervorgebracht wie ihre Schulabschlüsse, ihren Nachwuchs empfangen, wie sie ihr Gehalt empfingen, Jef aufgezogen, wie sie ihre Arbeit machten: pflichtbewusst. Sie lebten, um das Leben hinter sich zu bringen und am Ende alles richtig gemacht zu haben. Die wenigen Freunde ihrer Eltern waren auch so. Aber Jefs Eltern trieben die Gehorsamkeit auf die Spitze, indem sie ihrer Hausverwaltung einen Brief geschrieben und um Erlaubnis gebeten hatten, ein zweites Kind zu bekommen. Die Hausverwaltung riet davon ab, mit der Bitte um Rücksicht auf die Nachbarn. So war Jef ohne Geschwister aufgewachsen und hatte dafür nicht ihre Eltern verflucht, sondern die Hausverwaltung. Später stellte Jef sich vor, wie man über diesen Brief gelacht haben musste, und schämte sich für ihre idiotischen Eltern. Es dauerte lange, bis ihr klar wurde, dass die Hausverwaltung mit ihrer Geschwisterlosigkeit gar nichts zu tun hatte und sie anfing, ihre Eltern zu verfluchen.

*

In der ersten Nacht träumt sie wieder von Rita. Sie leben gemeinsam in einem weißen Haus mit vielen abgeschlossenen Zimmern, von denen Rita alle Schlüssel hat.

Als Jef aufwacht und Oleksiis Klavierspiel folgend den großen Saal betritt, ist etwas vollkommen anders.

Vor dem Bogenfenster steht nicht mehr, wie gestern, die endlose Wolkenwand hinter der Stadt, sondern ein gigantisches schwarzes Bergmassiv, als wäre es über Nacht herangewandert und vor dem See stehen geblieben.

Jef geht in die Küche, wo Wolf sein Frühstück beendet hat und Sunny in einem flauschigen Mikrofaserbademantel zum Kühlschrank schlurft, Joghurt holt, eine fallen gelassene Himbeere zerlatscht und unter den Sohlen ihrer Pantoffeln auf den Fliesen verschmiert. Jef kocht Kaffee. Sunny telefoniert laut und schmatzt beim Kauen wie ein Igel, von dem man nicht erwartet, dass er so laut essen kann.

Jef stellt sich etwas Sexuelles dabei vor und kann Sunny nicht ansehen. Ihre Beklemmung versucht sie auszublenden, aber andauernd erscheinen schmatzende Geschlechtsteile zwischen ihren Gedanken.

Sunny greift über Wolfs Laptop in die Zuckerdose und stößt beinahe gegen die Kaffeetasse. Sie kaut Kandiszucker mit offenem Mund. Es klingt, als zerkaute sie ihre Zähne. Wolf stellt die Dose vor Sunny. Sunny stellt sie zurück »Nein, ich esse ja sonst alle auf!«

»Machst du doch sowieso.«

»Wird dir nicht schlecht?«, fragt Wolf mit schmerzverzerrtem Gesicht. Sunny winkt ab. Als sie fertig ist, hat sich um ihren Stuhl ein Areal aus Krümeln und Klecksen gebildet.

Jef geht in ihr Zimmer, weil alle nach dem Frühstück in ihre Zimmer gehen, um zu arbeiten. Sie weiß, sie wird sich nicht ernsthaft bemühen, in ihrem Bad die Glühlampe auszuwechseln. Im Dunkeln auf dem Klo sitzend, fragt sie sich, warum die Parfümierung von Slipeinlagen immer nach Einsamkeit riecht. Im Gegensatz zu der Dunkelheit stört sie das. Ihr ganzes Zimmer riecht nach Einsamkeit.

Eine Tür in ihrem Zimmer führt zu ihrem Atelier. »Ich habe ein Atelier«, sagt Jef leise, um zu hören, wie überheblich es klingt. Eine große billige Tischplatte auf zwei Böcken, ein alter hölzerner Drehstuhl und ein leerer Metallschrank. Jef legt sich auf den Boden und betrachtet die nackte Glühlampe an der Decke. Die Dielen sind kühl und wölben sich leicht unter ihrem Rücken. Es ist ein Irrtum, ein Atelier zu haben. Eine Künstlerin aus ihr zu machen verspricht der Raum nicht.

Sie geht zurück in ihr Zimmer, öffnet das Fenster und sieht über die Straße auf das gegenüberliegende Grundstück. Zwischen der Villa mit riesigen Fenstern und dem greisen Haus Strand liegt ein ganzes Jahrhundert. Vor der Villa steckt im Rasen ein leuchtender Pool mit gläsernem Schiebedach. Auf der Marmorterrasse sitzen gelangweilt zwei Jugendliche, hören Musik aus einer oberschenkelförmigen Box, und sehen auf ihre Handys. Zwei Kinder ohne Handys rennen um den Pool.

Sunny kommt mit nassem Haar in Jefs Zimmer. »Hast du einen Föhn?« Sie knipst im dunklen Bad den Lichtschalter hin und her. »Ich brauche keinen Föhn mehr«, sagt Jef.

Vor dem Fenster kreischen die Kinder.

»Was ist denn da los?« Sunny lehnt sich raus. »Warum können wir nicht in so nem Haus wohnen?«, sagt sie, stützt die Ellenbogen auf das Fensterbrett und beobachtet die Kreischenden.

»Als Kind hatte ich so lange Haare, wie das Mädchen da drüben«, sagt Jef.»Hab ich mir selbst abgeschnitten. Vor ein paar Jahren gingen sie wieder bis zum Hintern. Aber die hat meine Freundin Rita mir abgeschnitten.«

»Warum?«, sagt Sunny übertrieben entsetzt.

»Weil sie meinte, mein Gesicht würde so unscheinbar aussehen. Verschwommen, hat sie gesagt. Mit kurzem Haar sehe ich wenigstens nicht mehr aus wie so ein blödes Pferdemädchen.«

Sunny lacht. »So’n Quatsch.«

Als ein Jugendlicher hochsieht, winkt Sunny, bekommt aber nur einen abfälligen Blick zurück.

Im Saal hört Oleksii auf zu spielen und kommt in Jefs Zimmer.

»Hast du einen Föhn?«, fragt Sunny. Er streicht sich über die Glatze.

»Danke für die Beleidigung.«

Jef schätzt Oleksii auf Anfang dreißig.

»Na, vielleicht für dein Fell, was weiß ich«, sagt Sunny und zieht im Vorbeigehen ihre Neonfingernägel durch seinen Bart. »Ich frag Vin.«

Oleksii sieht sich um und sagt: »Dein Zimmer hat eine viel bessere Energie als meins. Können wir tauschen? Bitte! Ich liebe diesen Geruch hier.«

»Was denn für’n Geruch?«