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**Wenn die größte Miesmuschel der Ostsee dir die ersehnten Praxisräume wegschnappt, hilft nicht mal ein quirliger Hundewelpe. Oder doch?**
Lenja kann ihr Glück kaum fassen. Ihr Traum, neben ihrer Teestube eine kleine Wellnessoase zu eröffnen, wird wahr! Doch in letzter Sekunde schnappt ihr ein junger Arzt die Räume weg. Und dann will dieser eingebildete Jannis ihr auch noch verbieten, weiterhin heilsame Kräutertees zu verkaufen. Der spinnt wohl!
Dummerweise verursacht Lenja einen kleinen Unfall – und muss nun für Jannis Krankenschwester spielen, wobei gewaltig die Fetzen fliegen. Sie hält den attraktiven Arzt für herzlos, doch beim quirligen Hundewelpen Fridolin zeigt Jannis eine ganz andere Seite. Hat er vielleicht doch das Zeug zum Traummann?
Romantisch, witzig, zum Träumen und Wohlfühlen. Komm mit nach Möwenitz, verlieb dich im Leuchtturm und verlier dein Herz an einen flauschigen Liebesboten.
In sich abgeschlossen, mit viele Liebe und Humor, ein Wohlfühlroman, der gemütlichen Lesespaß verspricht.
Keine Vorkenntnisse nötig.
Ebenfalls erhältlich aus der Reihe "Liebe, Leuchtturm und vier Pfoten":
Winterküsse im Leuchtturm
Liebeschaos im Leuchtturm
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Veröffentlichungsjahr: 2025
von
Karin Koenicke
Liebe Leserin, lieber Leser,
Willkommen in Möwenitz! Ich wünsche dir fröhliche Lesestunden in dem kleinen Ostseeort mit dem ganz besonderen Leuchtturm.
In meiner Liebeskomödie spielt Humor eine große Rolle und deshalb möchte ich dich bitten, auch die „Gesundheits-Passagen“ mit einem Augenzwinkern zu lesen. Nimm nicht alles ernst, was im Text vorkommt, koch nicht jeden Tee nach und sei gnädig mit meinen Figuren, die sich teilweise als steinharte Sturköpfe erweisen, wenn es um Medizin geht. Halt einfach deine Nase in den Ostseewind, streck die Füße in den Sand und genieße deine kleine Auszeit im Leuchtturm! Deine Karin
„Moin, Lenja“, rief Hinnerk, als er meinen Laden betrat. „Was für ein herrliches Wetter! Die Touristen werden dir heute die Bude einrennen. Du hast mir aber doch zwei von deinen berühmten Zitronen-Spatzen zur Seite gelegt?“
Er schielte über die Schulter der Frau, die vor ihm an der Kuchentheke stand und mit ihren beiden Kindern über die Gebäckauswahl diskutierte.
„Es sind Möwen, keine Spatzen“, korrigierte ich ihn lachend. „Zitronen-Möwen. Und natürlich habe ich für dich und Hedi welche zurückgelegt. Aber du musst trotzdem warten, bis du dran bist.“
Hinnerk murmelte etwas in seinen grauen Bart. Während die Kundin schließlich für sich und den Nachwuchs ihre Bestellung aufgab, stieg er ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Ich schmunzelte vor mich hin. Typisch Rentner, die hatten nie Zeit!
Die blonde Frau, offenbar eine Touristin, ging mit ihren Kindern die schmale Treppe nach oben, wo sich mein Café befand. Oder besser gesagt meine Teestube, denn hier an der Ostsee gab es eine Menge Einheimischer, die statt Kaffee lieber starken Schwarztee mit Kluntjes und Sahne tranken. Und selbst ein paar eingefleischte Kaffeetrinker hatte ich dank meiner umfangreichen Tee-Auswahl und meiner unermüdlichen Überzeugungsarbeit inzwischen zu Teetrinkern umerzogen.
„Möchtest du eine Tasse Lavendeltee mit Orangenblüten? Ist frisch aufgebrüht. Und sehr gut für die Nerven.“ Ich zwinkerte Hinnerk zu.
Neben den üblichen Teesorten hatte ich eine große Auswahl an Kräutertees vorrätig, mit denen ich auch manches Wehwehchen der Möwenitzer kurierte. Hier gab es weit und breit keinen Arzt, also kamen die Leute zu mir, wenn sie von Magendrücken geplagt wurden oder sie nachts nicht gut schlafen konnten.
Doch Hinnerk ging nicht auf mein Angebot ein. Stattdessen sah er nach rechts und links, als wollte er sich davon überzeugen, dass niemand uns belauschen konnte, dann beugte er sich über den Tresen.
„Hast du es schon gehört?“, flüsterte er mir mit Verschwörermiene zu.
Ich hob die Augenbrauen. „Was denn? Gibt es in Kurts Kombüse ein Fischbrötchen-Wettessen? Oder warte – hat sich etwa der Naturalistenverein wieder für einen Besuch in Möwenitz angekündigt?“
Die Nacktbader waren im letzten Jahr hier gewesen und hatten Hinnerk schwer verstört. Oder beeindruckt. So genau hatte man das nicht unterscheiden können. Er hatte jedenfalls wochenlang von nichts anderem geredet. Bis seine Frau Hedi ihm vorgeschlagen hatte, gemeinsam regelmäßig nach Rostock in eine Sauna zu fahren, wenn er offenbar so gern nackte Menschen sah.
„Da müsste ich mich ja selber ausziehen, kommt nicht in die Tüte!“, hatte er geantwortet. Hedi hatte breit gegrinst und das Thema war erledigt gewesen.
„Red keinen Tinnef, es geht um etwas ganz anderes!“, ereiferte er sich.
„Dann verrat es doch endlich!“ Nebenbei machte ich die Bestellungen fertig und schickte sie mit meinem praktischen Lastenaufzug nach oben. Im Café konnten die Gäste dann ihre Kuchenteller und die Teekanne dem kleinen Aufzug entnehmen, was besonders Touristen regelmäßig in Entzücken versetzte.
„Es geht um nebenan“, raunte Hinnerk mir zu, als ich mich wieder zu ihm umdrehte. „Der Bücherladen.“
Ich verstand nicht, was er meinte. „Odas Ostseebücher und mehr, meinst du? Der Laden ist doch schon lange fast geschlossen. Oda kommt nur noch einmal die Woche für ein paar Stunden in die Buchhandlung.“
„Ja, eben“, nickte er. „Und jetzt hört sie ganz auf. Das heißt, der Laden kann wieder vermietet werden. Geht alles über die Gemeinde. Hach, das wird spannend! Was tippst du, wer dort einziehen wird? Hedi und ich haben schon überlegt, ob wir ein Wettspiel veranstalten. Sie glaubt, es kommt ein Fischladen rein, aber ich tippe eher auf eine Metzgerei. Groß genug wäre der Laden natürlich auch für eine Galerie, da könnte man dann die Fotos von mir ausstellen.“
„Der wird frei?“ In meine Stimme hatte sich ein aufgeregter Kiekser eingeschlichen. Was wäre ja der Wahnsinn!
Hinnerk nickte, war aber mit seinen Gedanken ganz wo anders. „Weißt du, die Jessica hat viele Bilder von mir geschossen. Den Rest von Möwenitz hat sie natürlich auch fotografiert, aber die Aufnahmen von mir sind eben besonders ...“
„Woher weißt du das?“ Mein Magen kribbelte urplötzlich, als hätte ich eine Schüssel Brausepulver gefrühstückt.
Er zuckte mit den Schultern. „Spricht sich herum. Ich bin viel im Dorf unterwegs.“
Das stimmte, er war so etwas wie die Tratschzentrale von Möwenitz.
Odas Laden! Ich schritt im Geiste die Räume ab. Die Buchhandlung umfasste das komplette Erdgeschoss des alten Fachwerkhauses nebenan, es gab unzählige Nischen, Winkel, Nebenräume. Genau das hatte den Charme der Buchhandlung ausgemacht. Und genau das wäre perfekt für unser Vorhaben.
„Ich muss sofort Nele anrufen!“, beschloss ich und lief zum Telefon.
„Halt! Meine Zitronen-Amseln!“, rief Hinnerk voller Panik.
Oh je, die hätte ich um ein Haar vergessen. Ich schlug mir gegen die Stirn, schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln und holte die Gebäckstücke. Es waren flache Törtchen mit knusprigem Mürbeteigboden und einer süßsäuerlichen Zitronencreme, die sich jetzt im Sommer zum Verkaufsschlager entwickelt hatten. Die Möwenformen hatte ich extra dafür bestellt und die Investition hatte sich absolut rentiert. Sogar aus den umliegenden Orten kamen die Kunden inzwischen zu mir, um sich mit den Zitronen-Möwen, Leuchttürmen aus Blätterteig mit Aprikosen-Mandel-Füllung oder meinen Sanddornlikör-Muffins einzudecken. Besonders die fertigen Geschenkpäckchen in allen Größen mit meinen selbst gemachten Pralinen und verschiedenen Tees kamen gut bei den Kunden an. Teilweise musste ich sie sogar verschicken, weil sie sich nicht nur als Urlaubsmitbringsel, sondern auch als Geburtstagsgeschenke eigneten.
In den letzten Jahren hatte ich viel gearbeitet, was mir nicht schwerfiel, da ich erstens überzeugter Single war und zweitens meinen Laden liebte. Auf diese Weise war ein ordentliches Geldsümmchen zusammen gekommen und ich träumte zusammen mit meiner Freundin Nele schon lange davon, etwas ganz Besonderes zu erschaffen. Mit Odas Räumen nebenan könnte das tatsächlich möglich sein!
Ich gab die Gebäckteile vorsichtig in eine Tüte und reichte sie Hinnerk. „Die gehen aufs Haus. Als kleines Dankeschön für die tolle Nachricht, die du mir gebracht hast.“
Er sah mich so skeptisch an, dass seine buschigen Augenbrauen sich fast trafen.
„Du willst doch wohl nicht deinen Teeladen und das Café erweitern? Und am Ende so einen dämlichen Touristenshop aufziehen, wo man Kaffee in Plastikbechern kauft mit lauter komischen Namen wie Himberry Dabbl fettarm Latte-free Mariachi oder so?“
„Mariachi? Du meinst Macchiato!“ Lachend schüttelte ich den Kopf. „Du liebe Zeit, ich will doch keinen Starbucks eröffnen! Nein, Nele und ich haben etwas ganz anderes vor. Etwas sehr Entspannendes. Wird Hedi und dir sicher auch gefallen.“
Mein verheißungsvolles Zwinkern ließ ihn erbleichen.
Erneut sah er sich um, beugte sich ganz nah zu mir herüber und flüsterte: „Ihr wollt so einen Club eröffnen, wo sich Paare mit anderen treffen, um Schmuddelkram zu machen?“
„Hinnerk, was denkst du von mir!“ Ich kicherte. „Wir planen doch keinen Swingerclub hier in Möwenitz! Es geht vielmehr um Gesundheit. Lass dich überraschen.“
Er sah mich finster an. „Ich hasse Überraschungen“, maulte er.
War ja klar. So neugierig, wie Hinnerk war, konnte er es schlecht aushalten, etwas nicht zu wissen. Aber ich blieb stur. Erst musste ich mit Nele sprechen. Das war das Allerwichtigste.
Da Hinnerk allmählich klar wurde, dass er aus mir nichts mehr herausbekam, trollte er sich missmutig. Ich musste noch fast eine Stunde warten, bis endlich mal keine Kunden im Laden standen oder oben im Café zu betreuen waren. Dann erst konnte ich zum Telefon greifen.
„Nele, stell dir vor!“, rief ich aufgeregt, sobald meine Freundin sich gemeldet hatte. „Unser Traum könnte wahr werden. Ich habe die passenden Räume!“
Noch am Abend des gleichen Tages kam Nele vorbei. Sie wohnte erst seit einem Jahr in Möwenitz und pendelte für ihre Arbeit als Physiotherapeutin täglich nach Bad Doberan.
Wir standen nebeneinander am Schaufenster der Buchhandlung und drückten unsere Nasen platt.
„Das geht dort hinten noch weiter“, erklärte ich. „Da gibt es mehrere Räume. Ich war oft bei Oda, um zu stöbern.“
„Wieso hat sie denn aufgehört?“, erkundigte sich Nele.
„Sie ist schon Mitte sechzig. Und hat irgendwie den Anschluss verpasst. Schon allein das Schild über der Tür ist unpassend, denn sie verkauft natürlich nicht nur Reiseführer für die Ostsee. Aber viele dachten das und sind dann gar nicht reingegangen. Und ihr Schaufenster, na ja, das siehst du selbst.“
Nele seufzte tief. „Ist nicht wirklich modern, das stimmt. Nichts gegen Agatha Christie-Romane, aber ein paar moderne Küstenkrimis sollten schon in die Auslage.“
„Ganz genau. Aber sie hat eine Menge Enkelkinder und wird einen tollen Ruhestand haben. Für uns jedenfalls ist der Laden ideal. Komm, wir gehen rauf zu mir und ich zeichne eine Skizze. Dann können wir planen.“
Nele war sofort Feuer und Flamme.
Eine Viertelstunde später saßen wir in meiner Dachgeschosswohnung, die über dem Café lag, tranken grünen Tee und beugten uns über einen karierten Block.
„Eine ganzheitliche Wellness-Oase in Möwenitz, das wird super!“, jubilierte Nele. „Ich kriege dann mein Zimmer für Osteopathie und meine geliebte Cranio-Sacral-Therapie. Außerdem könnten wir in einem Raum Yoga anbieten. Eine Kollegin von mir ist Lehrerin, auch für Qi Gong.“
„Und ich kann mir endlich richtig viel Zeit nehmen für die gesundheitlichen Probleme der Menschen in Möwenitz.“
„Und aus der Umgebung!“, ergänzte Nele. „Ich wette, unser Laden wird sich rasend schnell herumsprechen und wir können uns bald nicht mehr retten vor Patienten.“
„Zur Feier unseres eigenen Gesundheitsparadieses habe ich uns etwas in den Ofen geschoben“, sagte ich und grinste.
„Echt?“, quietschte Nele und stürmte sofort in die Küche, wo sie vor dem Backofen in die Hocke ging.
„Ein Flammkuchen!“, freute sie sich. „Du weißt das also noch?“
Mit strahlenden Augen drehte sie sich zu mir um. Ich war ebenfalls in die Küche gekommen und lächelte.
„Wie könnte ich das jemals vergessen?“
Nele und ich hatten uns vor einigen Jahren in einer Heilpraktikerschule kennengelernt. Nein, eigentlich nicht in der Schule, sondern in der benachbarten Kneipe, wo wir uns beide einen Flammkuchen bestellt hatten, der Wirt aber nur noch einen vorrätig hatte. Den hatten wir uns schwesterlich geteilt, uns an einen Tisch gesetzt und für den Rest des Abends blendend unterhalten. Just an diesem Abend war auch die Schnapsidee entstanden, irgendwann einmal eine gemeinsame Praxis für ganzheitliche Medizin zu eröffnen. Wir wollten einen Ort schaffen, an dem die Patienten nicht im Schnelldurchgang abgearbeitet wurden wie bei vielen Ärzten und in manchen Physiopraxen. Nein, wir wollten uns richtig viel Zeit nehmen können für die Menschen, wollten ihnen zuhören, statt nur ein Schmerzmittel zu verschreiben und „der Nächste bitte“ zu rufen.
Die Kräuterkunde hatte ich bereits von meiner Großmutter gelernt, mich seither aber ständig weitergebildet. Natürlich schickte ich meine Kunden oft genug zu Fachärzten in den größeren Städten, wenn sie ernste Probleme hatten. Aber für die alltäglichen Wehwehchen stand ich immer gerne zur Verfügung und hatte schon manchen Heuschnupfenanfall, verspannten Rücken oder kratzigen Hals mit meinen Mitteln aus der Natur kuriert. Auch dadurch, dass ich die Leute, die zu mir kamen, ernst nahm, ihnen manch aufmunterndes Wort schenkte und mich immer wieder erkundigte, wie es ihnen ging.
„Er ist fertig, hol ihn raus!“, forderte Nele und ich musste wieder einmal lachen.
„Du hörst dich an wie ein Kind, das auf seine Zuckerwatte wartet“, neckte ich sie.
„Kann ja nicht jeder so ernst und erwachsen sein wie du“, sagte sie und streckte mir die Zunge heraus.
Wir lachten beide und machten uns kurze Zeit später über den Flammkuchen her, den ich stilecht auf einem Holzbrett servierte.
Während Nele in schillerndsten Farben erzählte, wie sie ihren Raum einrichten wollte, betrachtete ich sie.
Wenn wir zusammen unterwegs waren, hielt man uns manchmal für Schwestern, weil wir beide blond waren und blaue Augen hatten. Was das Temperament anging, waren wir jedoch grundverschieden. Nele war lebhaft und lustig, sie stand bei jeder Party sofort im Mittelpunkt und genoss das. Bei ihren Patienten war sie empathisch und die Ruhe selbst, abseits der Behandlungen jedoch versprühte sie pure Lebensfreude. Das fiel auch der Männerwelt auf und Nele war ständig frisch verliebt, frisch verlobt oder frisch getrennt.
Ich war in dieser Hinsicht das Gegenteil. Mit Menschen konnte ich gut umgehen, das schon. Aber ich war eher der nachdenkliche Typ, vergrub mich lieber in einem Roman als mich auf einer Party zu vergnügen, stand gern am Rande des Geschehens. Ein gutes Gespräch war mir tausendmal lieber als eine sektfröhliche Tanznacht. Ich liebte klassische Musik, las gern die Gedichte von Emily Dickinson und hörte von Nele regelmäßig, dass ich flippiger sein sollte. Und auch, dass ich mir endlich mal einen One-Night-Stand gönnen sollte.
Das war aber nicht mein Ding. Überhaupt waren Beziehungen nicht mein Ding. Vielleicht hatte meine Oma recht gehabt und das passte nicht zu der Kräutertee- und Heilkunstsache.
„Weißt du, min Deern“, hatte sie oft gesagt, „man muss sich entscheiden. Will man für viele Menschen da sein oder nur für einen einzigen? Beides zusammen geht nicht.“
Ich hatte mich für meine Kunden entschieden. Für die Nachbarn, die meine Hilfe brauchten. Für die einsamen alten Frauen im Ort, denen ich gerne mein Ohr und eine Tüte Mandelkekse schenkte. Für die junge, alleinerziehende Mutter, der ich am Sonntag das zahnende Baby für einen Spaziergang mit dem Kinderwagen abnahm, damit sie Schlaf nachholen konnte.
Für mich waren das Selbstverständlichkeiten, schließlich lebte ich in einem kleinen Ort und da half man sich gerne. Und ein glückliches Lächeln war genug Dank.
„Du tust es schon wieder“, unterbrach Nele meine Gedanken.
„Was denn?“, sagte ich verwirrt.
„Sinnieren. Und nicht über unseren Wellnesstempel, das sehe ich dir an der Nasenspitze an.“
„Du hast recht“, gab ich zu und nahm mir ein Stück Flammkuchen, bevor Nele alle verdrücken konnte. „Mir ging meine Oma durch den Kopf.“
„Die dir abgeraten hat, dich auch mal mit Kerlen einzulassen? Mit der würde ich gern ein paar Takte reden!“, regte Nele sich auf.
„Geht leider nicht mehr.“ Meine Großmutter war schon vor fünf Jahren verstorben. Arne, der örtliche Kunstschmied, hatte ihr ein wunderschönes Kreuz geschmiedet. Ich besuchte oft ihr Grab und redete mit ihr. Aber das verriet ich Nele lieber nicht, sonst würde sie mich endgültig für verrückt halten.
„Ich weiß. Aber trotzdem hat sie unrecht. Man kann für andere Menschen da sein und dennoch eine tolle Partnerschaft haben. Ist doch totaler Quatsch, dass das nicht geht. Du bist kein katholischer Pfarrer oder so was. Und Nonne auch nicht, obwohl du dich manchmal so verhältst.“
Sie biss krachend in das letzte Stück Flammkuchen.
„Hey! Jetzt übertreibst du aber“, erwiderte ich.
„Gar nicht. Erinnerst du dich an diesen Gianfranco neulich? Der kam nicht nur wegen deiner Nussecken täglich in deinen Laden. Was für ein sexy Kerl! Und diese italienischen Glutaugen! Den hätte ich nicht von der Bettkante geschubst, aber du hast ja wieder die Eiskönigin gegeben.“
Du liebe Zeit, dieser Italiener mit gegeltem Haar und Ziegenbärtchen? Ich verdrehte die Augen. „Der war nur für eine Woche hier, was soll ich mit einem Mann aus Padua?“
Nele riss die Arme nach oben. „Ein paar heiße Nächte erleben, was sonst! Oder dieser Däne. Marten hieß der. Ihr wärt so ein schönes Paar gewesen. Lauter blonde Kinder mit strahlenden Augen hättet ihr produziert. Ich wette, man hätte euch sofort als Model-Familie für den IKEA-Katalog gecastet.“ Sie bekam einen schwärmerischen Blick.
Ich musste angesichts ihrer Miene lachen.
„Du bist wirklich einmalig. Aber dir wird es noch vergehen, dich über mich lustig zu machen. Denn uns steht eine Riesenladung Arbeit bevor.“
„Machen wir auch Ayurveda-Behandlungen? Das kommt bei den Touristinnen sicher gut an. Wir können Flyer drucken und bei dir im Laden auslegen. Bei Tjarks Küstenmarkt dürfen wir sicher auch ein Plakat aushängen. Und Arne kann welche verteilen, der ist doch überall unterwegs.“
„Stopp“, unterbrach ich ihren sprudelnden Redefluss. „Bevor du halb Möwenitz für die Werbung einspannst, brauchen wir eine Zusage für den Laden.“
Sie ließ die Schultern hängen. „Stimmt, da gibt es noch Papierkram. Lästig! Wo bekommen wir den Mietvertrag?“
„Bei der Gemeinde. Die Bürgermeisterin selbst ist für so etwas zuständig, schätze ich.“
„Oh Gott“, stöhnte Nele theatralisch. „Die taffe Tilda persönlich. Aber die kriegen wir doch rum, oder?“
„Na klar. Mit einem irre guten Businessplan. Kannst du in den nächsten Tagen ein paar Bilder erstellen, wie unsere Wellness-Oase am Ende aussieht? Und ich setze mich an die Zahlen. Fürs Café und den Laden brauche ich dann auch eine Aushilfe, aber das sollte kein Problem darstellen. Hedi ist froh, wenn sie ein paar Stunden unter Leute kommt. Und vielleicht stelle ich auch noch jemanden ein. Wichtig ist erst mal, dass wir Tilda ein richtig gutes Konzept vorlegen.“
Nele kaute auf ihrer Lippe herum. „Wir haben aber doch super Chancen, oder? Glaubst du, es gibt noch andere Bewerber?“
Ich hob die Schultern. „Keine Ahnung. Aber Tilda ist seit Jahren scharf darauf, mehr Touristen nach Möwenitz zu holen. Mit unserem Angebot schlagen wir genau in diese Kerbe. Ich gehe davon aus, dass sie uns den Mietvertrag mit Handkuss unter die Nase halten wird.“
„Yo!“ Nele strahlte übers ganze Gesicht. „Wir schaffen das!“, rief sie in bester Bob, der Baumeister-Manier.
Auch ich prustete los.
Es lag in den nächsten Tagen eine Menge Arbeit vor uns, keine Frage. Aber wenn der Businessplan stand, würde ich mir sofort einen Termin bei Tilda geben lassen. Ich kannte sie seit einer Ewigkeit, hatte ihr schon mehrmals eine Kur mit Schüßler-Salzen gegen Stress verkauft. Außerdem war sie süchtig nach meinen Eierlikör-Cupcakes.
Wäre doch gelacht, wenn ich nicht in Nullkommanix eine Zusage für die Räume nebenan hätte!
„... und deshalb ist unsere Praxis für ganzheitliche Gesundheit der perfekte Nachmieter für Odas Buchhandlung“, schloss ich eine Woche später meine kleine Präsentation ab und sah gespannt auf unsere Bürgermeisterin.
Mein Herz klopfte wie verrückt und mein Bauch fühlte sich an wie ein schwarzes Loch, aber der Vortrag war mir gut gelungen. Tilda saß mir gegenüber, natürlich an ihrem protzigen Mahagonischreibtisch, und blätterte durch die Mappe, die ich gemeinsam mit Nele zusammengestellt hatte.
Allmählich legte sich meine Nervosität. Tilda schien sehr interessiert zu sein, wir hatten eine aussagekräftige Mappe mit Entwürfen vorgelegt, nichts konnte mehr schiefgehen. Das Beste an der Sache war, dass die Miete so günstig war, das wusste ich von Oda. Ein weiterer Pluspunkt war die Nähe zu meiner Wohnung und dem Laden.
Tilda musste mir nur noch sagen, wo ich unterschreiben sollte, dann wäre alles geritzt. Ob wir gleich loslegen konnten mit dem Umbau? Oda hatte seit Tagen ihre ganze Familie im Laden, um die restlichen Bücher auszuräumen und die Regale abzubauen.
„Möwenitz wird um eine Attraktion reicher sein, wenn wir eröffnet haben“, schob ich hinterher, weil Tilda immer noch blätterte. Sollte ich ihr einen Gutschein für eine Nackenmassage mit Arganöl versprechen? Oder fiel das schon unter Bestechung?
Wahnsinnig viele Attraktionen hatte Möwenitz nicht zu bieten, wenn man ehrlich war. Tilda wollte das nicht hören, aber es stimmte. Gut, wir hatten einen Leuchtturm, den man als Ferienwohnung mieten konnte. Einen kleinen Sandstrand mit ein paar Strandkörben gab es ebenfalls. Und natürlich den idyllischen Dorfkern mit seinen pittoresken Häusern. Aber Möwenitz war so ziemlich der einzige Ort an der Ostsee, der nicht über kilometerlange Strände mit entsprechenden Freizeitangeboten verfügte. Wir hatten die Besonderheit, dass einige Strandabschnitte felsig waren und die Landzunge mit dem Leuchtturm sogar recht rau daherkam. Deshalb fuhren die meisten Touristen lieber weiter nach Rügen oder an die ewiglangen Sandstrände der beliebten Badeorte in der Gegend.
Nun aber konnte Tilda auf der Homepage unseres Ortes anpreisen, dass Möwenitz auch für Wellnessurlauber ein Traumziel darstellte. Eine feine Sache! Also nichts wie her mit dem Mietvertrag.
Endlich sah sie auf. Und legte die Mappe zur Seite.
„Klingt alles sehr spannend“, sagte sie. „Aber leider geht das nicht. Tut mir leid, Lenja.“
„Was?“, krächzte ich und starrte sie an. „Wie meinst du das?“
Sie schenkte mir ein joviales Politikerlächeln. „Es gibt bereits einen anderen Mieter.“
„Dann musst du dem wieder absagen! Wir haben doch etwas viel Besseres zu bieten, von unserem Vorhaben profitiert die ganze Region, wir können ...“
„Du verstehst nicht“, unterbrach sie mich. „Ich habe den anderen Mieter zu uns geholt. Weil ich – als Bürgermeisterin von Möwenitz – ihn hier haben will.“
Hatte die gute Tilda einen Vogel?
Ich konnte mich nicht zurückhalten. „Weil es ein Bekannter ist von dir, oder was? Das kannst du nicht machen, Tilda. Wir sind hier nicht in Berlin, hier gibt es keine solchen Politikermauscheleien, das lassen die Möwenitzer nicht zu!“
Tilda verengte ihre Augen. „Was unterstellst du mir da? Du bist ja von allen guten Geistern verlassen! Ich habe selbstverständlich nichts gemauschelt, wie du es nennst. Sondern das Beste getan, was man für seinen Ort nur tun kann.“
„Und das wäre?“ Ich hatte die Hände zu Fäusten geballt und funkelte sie an. So gutmütig ich sonst auch war – für unseren Traum würde ich kämpfen! Mit allem, was ich zur Verfügung hatte!
Doch Tilda hielt meinem giftsprühenden Rachegöttinnenblick stand. „Ich habe geholt, was Möwenitz am dringendsten braucht. Einen Arzt.“
Volle fünf Sekunden starrte ich sie nur an.
„Einen Arzt?“, krächzte ich schließlich. Meine Hände begannen zu zittern.
Sie nickte zufrieden. „Ganz genau. Seit Jahren jammern mir die Leute die Hucke voll, dass sie weite Strecken fahren müssen für eine einfache Blutabnahme oder Untersuchung. Nicht nur unsere Senioren liegen mir ständig in den Ohren, sondern auch die jungen Familien. Deshalb strecke ich seit Monaten meine Fühler aus. Und jetzt, als Odas Laden freiwurde, hat endlich jemand zugesagt.“
„Du hast Odas Laden an einen Arzt vermietet?“, wiederholte ich fassungslos.
Tilda neigte den Kopf. „Sag mal, hast du Probleme mit den Ohren, Lenja? Dann kannst du ja bald in die Sprechstunde von Doktor Bohnenberg kommen.“
„Doktor Bohnenberg“, wiederholte ich tonlos. Ich kam mir vor wie eine kaputte Schallplatte. Eine mit einem gewaltigen Knacks.
„Der kriegt also die Räume von Odas Bücherladen?“, fragte ich zur Sicherheit, weil ich es einfach nicht glauben konnte.
Der Name des Mannes klang, als stammte er direkt aus der Muppetshow. Doktor Bohnenberg! Ernsthaft? Der teilte sich wahrscheinlich mit Professor Bunsenbrenner dessen Assistenten Beaker, der immer nur „mimimi“ machte. Überhaupt hatte ich bei dieser ganzen Szene den Eindruck, in einen völlig falschen Film geraten zu sein.
Dummerweise verwandelte sich Tilda aber nicht in einen leuchtend grünen Kermit, sondern sah noch immer aus wie eine Kommunalpolitikerin in gedeckten Farben.
„Der Doktor hat den Mietvertrag schon unterschrieben. Er kommt übrigens jeden Moment vorbei, weil er noch ein paar Dinge mit mir klären will. Warte, ich frage Erna, ob er schon da ist. Dann könnt ihr euch gleich kennenlernen. Schließlich seid ihr Nachbarn.“
Ohne auf meine Antwort zu warten, drückte sie einen Knopf auf ihrer Telefonanlage. „Ist Doktor Bohnenberg schon da? Ah, gut, dann schick ihn rein.“
„Moment mal, ich will doch gar nicht ...“, protestierte ich, denn auf irgendeinen grauhaarigen Doktor Brinkmann, der vorhatte, mir meine Räume wegzuschnappen, hatte ich absolut keine Lust. Ich musste doch erst einmal meine Gedanken sortieren und einen Plan ausarbeiten, wie ich den Weißkittel vergraulen konnte! Vielleicht das Gerücht in die Welt setzen, dass die Wände nebenan von fiesen grünschwarzen Schimmelpilzen befallen waren, die man keinem Patienten zumuten konnte? Nein, halt, das würde auch uns betreffen. Einen Dudelsackverein anheuern, der täglich auf der Straße probte?
Doch es war zu spät für irgendwelche Überlegungen.
Die Tür öffnete sich und ein griechischer Gott trat ein. Für einen kurzen Augenblick vergaß ich, dass ich den Kerl unbedingt hassen wollte, und starrte ihn nur an. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig, sofern man für Bewohner des Olymps weltliche Zeitrechnung anwenden konnte. Er war groß, wirkte sportlich, hatte dichtes braunes Haar und unverschämt lange Wimpern. Sein Blick aus dunklen Augen streifte mich kurz, wanderte aber weiter zu Tilda. Erst jetzt fing ich mich wieder, schickte das verzückte Teeniegirl in mir zurück ins Kinderzimmer und musterte ihn als erwachsene Frau, der er die ersehnten Praxisräume weggeschnappt hatte.
Der Mann trug eine Edeljeans, dazu ein weißes Hemd und ein dunkelblaues Sakko. Mit Goldknöpfen. Pah! Kein Mensch in Möwenitz trug ein Sakko. Und ein weißes Hemd erst recht nicht, von Goldknöpfen ganz zu schweigen. Ich straffte die Schultern und war froh, dass der kurzzeitige hormonelle Ausrutscher vorbei war. Der Typ sah aus, als wäre er einem Werbespot für eine Hausratversicherung entsprungen. Und passte absolut nicht in unser legeres Dorf.
Das Modellächeln, mit dem er jetzt Tilda begrüßte, bestätigte meine Meinung. Für Zahnpastawerbung wäre der Mann ebenfalls geeignet. Diese ebenmäßigen Züge, das volle Haar, die perfekten Zähne! Jeder Werbefotograf würde bei diesem Gesicht hingerissen aufseufzen. Ich hingegen konnte Coverboys nicht ausstehen, selbst wenn sie nicht meine Träume sabotierten. Die meisten Männer, die so dermaßen gut aussahen, waren eingebildet und selbstverliebt, sagte mir meine Erfahrung.
„Schön, Sie zu sehen, Frau Bürgermeisterin“, umschmeichelte er Tilda mit dieser warmen Stimme, die seinen Patienten sicher vorgaukelte, dass er wahnsinnig an ihrem Schicksal interessiert wäre, und streckte Tilda die Hand hin.
Sie war aufgestanden, stand jetzt neben mir und schüttelte dem neuen Ehrenbürger von Möwenitz mit einem verzauberten Strahlen die Hand.
Sah doof aus. Himmel, wieso mutierte Tilda plötzlich zu einer Teenagerin, die ihren Popstar mit dümmlichen Blicken anhimmelte? Das war ja peinlich! Als Bürgermeisterin sollte sie sich im Griff haben und nicht dahinschmelzen wie eine Kugel Erdbeereis, sobald ein Adonis mit Goldknöpfen ihr Büro betrat.
Ich hingegen blieb supercool, stopfte meine Hände in die Taschen der hellen Leinenhose, die ich zur Feier des Tages trug, und warf dem aufgetakelten Kerl einen feindseligen Blick zu.
„Das ist Ihre Nachbarin, Herr Bohnenberg. Unsere Lenja. Sie hat eine sehr gemütliche Teestube“, stellte Tilda mich vor.
Er wandte sich mir zu und wollte mich offenbar mit seinem Strahlegrinsen bezirzen, doch ich kam ihm zuvor.
„Odas Räume gehören mir!“, stieß ich aus. „Meine Geschäftspartnerin und ich, wir haben ein perfektes Konzept ausgearbeitet. Sie können mit Ihrer Praxis doch wirklich auch woanders unterkommen.“
Er hob die Augenbrauen. „Konzept? Oh, das tut mir sehr leid. Ich wusste gar nicht, dass es andere Bewerber für die Räumlichkeiten gab.“
„Es gibt sie immer noch. Ich werde mir nicht gefallen lassen, dass hinter dem Rücken der Bürger so etwas einfach entschieden wird“, sagte ich und baute mich kampflustig vor ihm auf. Okay, ich reichte nur bis zu seinem Kinn, aber mein funkensprühender Blick glich das locker aus.
Mister Supermodel mit Doktortitel wirkte tatsächlich etwas eingeschüchtert. Er sah erst zu mir, dann zu Tilda, und klang jetzt deutlich unsicherer.
„Mir war nicht klar, dass die Vergabe erst im Ort ausgeschrieben werden muss.“
„Muss sie auch nicht“, grätschte Tilda dazwischen.
Er wandte sich vollends mir zu. Seine dunklen Augen, bei denen sicher alle Patientinnen dahinschmolzen, hielten mich fest.
„Was für einen Laden wollen Sie denn dort eröffnen?“, fragte er interessiert.
Ich straffte die Schultern. „Ein Zentrum für ganzheitliche Gesundheit!“, verkündete ich stolz.
So, nun wusste er Bescheid! Ihm war jetzt sicher klar, dass er dagegen keine Chance hatte und sich eine andere Bleibe suchen musste.
Doch dieser Kerl sah mich einfach nur an – und stieß anschließend ein kleines Lachen aus. So, als hätte ich einen flachen Witz gerissen.
„Sie nehmen mich auf den Arm, oder?“ Er sah abwechselnd zu Tilda und mir, ein amüsiertes Lächeln auf den perfekt geschwungenen Lippen.
„Von wegen. Wir haben bereits genaue Pläne für das ganzheitliche Wellnesszentrum“, stellte ich klar.
Er riss die Augen auf. „Reden wir von so einer Wohlfühlstube mit Duftkerzen und Walgesängen im Hintergrund, wo Sie Menschen vorgaukeln, dass eine Handvoll Zuckerkügelchen sie wirklich heilen kann?“ Er schüttelte den Kopf und hatte ein ungläubiges Grinsen im Gesicht.
Ich war ein äußerst empathischer und friedliebender Mensch – aber diesem Kerl hätte ich am liebsten eine Ohrfeige verpasst!
„Es geht nicht nur um Globuli“, gab ich mit eisiger Stimme zurück. „Sondern generell um die Kraft der Natur. Um Heilkräuter und Tees, um ausführliche Gespräche mit unseren Patientinnen, um Osteopathie und andere Körperarbeit.“
„Oh, ich verstehe. Handauflegen, Energieaustausch und die Abwehr von schädlichen Magnetstrahlen durch das Tragen eines Salbeibüschels um den Hals“, gluckste er.
Was für ein überheblicher Mistkerl!
Ich holte tief Luft, um ihm eine gepfefferte Antwort um die Ohren zu hauen, doch er sprach ungerührt weiter.
„Seien Sie mir nicht böse, liebe Nachbarin, aber ich habe Medizin studiert, sogar als einer der Besten abgeschlossen. Von langjähriger Praxiserfahrung ganz zu schweigen. Und ich weiß, dass all diese Dinge nur auf Einbildung basieren. Nichts davon ist wissenschaftlich belegt. Schlimmer sogar, diese angeblichen Heilmethoden können furchtbare Schäden anrichten. Ich glaube, Ihre Bürgermeisterin hat die richtige Entscheidung getroffen, indem sie mich hierhergeholt hat.“
„Da bin ich mir ganz sicher, mein lieber Doktor Bohnenberg“, säuselte Tilda sofort ihre Zustimmung.
Mein Blick schoss zu ihr. „Du hast dir doch selbst schon oft bei mir Magentee geholt, wenn du wieder mal an Feiertagen zu viel Fettes gegessen hast!“, fuhr ich sie an.
„Nur aus Höflichkeit. Ein echter Arzt hätte mich da natürlich viel besser behandelt.“
Sie warf ihrem Dr. McDreamy ein strahlendes Lächeln zu. Wahrscheinlich hatte sie sämtliche Staffeln von Grey’s Anatomy inhaliert und deshalb unbedingt einen attraktiven Dorfarzt haben wollen, um ihn anschmachten zu können.
Mir wurde schlecht. Leider auf eine Weise, gegen die selbst mein bester Magentee nichts ausrichten konnte.
„Aber du kannst doch nicht ...“, begann ich voller Verzweiflung, doch Tilda hatte offenbar genug von meinen Einwänden.
„Schluss damit!“, stellte sie lautstark klar. „Das Haus neben deinem gehört der Gemeinde. Und nur die Gemeinde entscheidet, an wen die Räume vermietet werden. Möwenitz braucht schon lange einen Arzt, hier ist einer. Doktor Bohnenberg hat mit mir einen Mietvertrag geschlossen, dagegen kannst du nichts ausrichten, Lenja. Akzeptier es. Und gib deinem neuen Nachbarn jetzt endlich die Hand!“
Ich kochte vor Wut. Einen Moment lang dachte ich darüber nach, hinauszustürmen und die Tür laut zuzuknallen. Aber auch das würde nichts bringen, außer mich als lächerliche Zicke bloßzustellen.
Zähneknirschend streckte ich also dem Neuen meine Hand entgegen.
„Ich bin Lenja“, sagte ich und ärgerte mich gleich darüber. Klar, hier bei uns im Dorf duzte man sich. Aber bei diesem Typen hätte ich mich mit meinem Nachnamen vorstellen sollen!
Er ergriff meine Hand und schüttelte sie. „Und ich bin Jannis. Tut mir sehr leid, dass es wegen der Räume ein Missverständnis gab. Aber ich glaube, ein echter Mediziner ist das Beste für diesen Ort. Ich als richtiger Arzt kann Menschen nun mal wirklich helfen.“
Ich entriss ihm meine Hand, presste einen knappen Gruß heraus und verließ Tildas Büro.
Draußen schnaubte ich erst einmal lautstark. Was für ein arroganter Mistkerl!
Ein Blick auf mein Handy zeigte mir, dass Nele mehrere Nachrichten geschickt hatte. Ich rief sie kurzerhand an.
„Wir kriegen die Räume nicht“, sagte ich und hatte mit den Tränen zu kämpfen.
In wenigen Sätzen erzählte ich ihr, wie das Gespräch mit der Bürgermeisterin gelaufen war.
„Das gibt’s ja nicht!“ Nele schnappte hörbar nach Luft. „Tilda hat einfach einen Arzt gesucht und Schwupps sind die Räume weg? Unfassbar. Ich meine – dass sie einen Doc nach Möwenitz holt, ist ja okay. Aber doch nicht in unsere schöne ganzheitliche Oase!“
„Und nicht ausgerechnet so einen arroganten Besserwisser und Sturkopf. Wie der unsere Arbeit ins Lächerliche gezogen hat! Salbeibüschel um den Hals, von wegen. Ich sag’s dir, Nele, das ist garantiert einer von denen, die Patienten überhaupt nicht zuhören, sondern ihnen einfach ein Rezept für Pillen über den Tisch schieben.“
„Weil sie nur die Symptome behandeln, genau. Ohne mal genau hinzuschauen und den gesamten Patienten einzubeziehen“, ereiferte sich auch meine Freundin. „Was machen wir jetzt?“
Ich seufzte. „Keine Ahnung. Der Zug ist erst mal abgefahren, fürchte ich. Aber wenn der Kerl meint, er kann mit mir eine harmonische Nachbarschaft haben, hat er sich geschnitten!“
Einen knappen Monat später standen Jessica und Arne vor mir, warfen einen Blick auf die Kuchenauswahl und sprachen das leidige Thema an.
„Die Praxis nebenan ist ja schon fast fertig. Ging irre schnell“, sagte Jessica und deutete mit einem Nicken nach rechts.
„Ja, leider“, brummelte ich vor mich hin.
Noch immer brodelte Wut in mir hoch, wenn ich an die verpasste Chance dachte. Die Erfüllung unseres Traums war so nah gewesen! Aber wir hatten all unsere Pläne umsonst gemacht. Und das wurmte mich gewaltig.
Seit dem Gespräch mit Tilda waren mehrere Wochen vergangen. Wochen, in denen dieser Jannis es irgendwie geschafft hatte, sämtliche Handwerker des Umkreises nach Möwenitz zu locken.
„Ich frag mich wirklich, wie er den ganzen Umbau so schnell regeln konnte. Wenn ich einen Elektriker brauche, muss ich monatelang warten“, fügte ich an.
Arne nickte mitfühlend. „Soweit ich weiß, hat Tilda ihre Beziehungen spielen lassen. Weil sie den Möwenitzern so schnell wie möglich ihre tolle Leistung präsentieren wollte.“
„Dass sie einen Arzt hierhergelockt hat? Pah“, machte ich. „Ich wette, sie hat ihm die Wohnung im ersten Stock für ’n Appel und ’n Ei vermietet. Nur damit er hierherzieht.“
Hinnerk hatte dieses Gerücht jedenfalls großflächig gestreut.
„Hattest du schon Kontakt mit ihm?“, wollte Jessica wissen. „Also in den letzten Wochen.“
Ich schob die Mandelhörnchen auf dem Tablett in der Theke zusammen. „Er war mehrmals hier im Laden, um sich Essen zu kaufen. Und jedes Mal hat er mein Regal mit den Heiltees, der Arnikasalbe und den Schüßlersalzen gemustert, als hätte ich Gläser mit toten Kröten herumstehen.“
Jessica lachte. „Rein optisch ist er ja ein Sahneschnittchen.“
Arne knuffte sie in die Seite. „Du willst doch wohl nicht sagen, dass er attraktiver ist als ich?“
„Niemals“, erwiderte Jessica eilig, grinste jedoch breit.
„Absolut nicht mein Typ“, stellte ich klar. „Mal abgesehen davon, dass ich keinen Kerl in meinem Leben brauche und auch gar keine Zeit für eine Beziehung hätte: so einen nun wirklich nicht. Aber etwas ganz anderes: Wollt ihr meinen neuen sommerlichen Grüntee mit Ananasstückchen probieren?“
„Gern! Aber vorher will ich wissen, was genau dir denn nicht gefällt an deinem neuen Nachbarn. Angeblich ist er Single. Und hässlich ist er wirklich nicht.“
Ich drehte mich nach hinten, um die Teedose vom Regal zu nehmen, während ich antwortete.
„Was mich an diesem Herrn Doktor stört? Ganz einfach, der hält sich für was Besseres. Läuft immer total geschniegelt herum, als wäre er auf dem Weg zur Elbphilharmonie. Dabei sind wir hier in Möwenitz doch alle ganz leger angezogen! Außerdem hat er so ein künstliches Lächeln, so etwas kann ich nicht leiden.“
„Äh, Lenja“, hörte ich Jessica sagen, aber ich war gerade in Fahrt. Während ich das Wasser genau richtig temperierte und dann in die Kanne goss, sprach ich weiter.
„Wir sind doch hier im wahren Leben und nicht bei einem Werbespot für Zahnpasta! Natürlich kauft er ausschließlich Vollkornbrötchen, joggt absichtlich jeden Morgen bei mir vorm Fenster vorbei, als müsste er mir seinen supersportlichen Body präsentieren und mich darauf hinweisen, mich mehr zu bewegen. Der soll erst mal wie ich täglich hundert Mal von hier unten nach oben ins Café stiefeln, dann vergeht ihm sein aufgesetztes Grinsen schon.“
Schwungvoll schloss ich die Kanne, stellte zwei Tassen bereit und drehte mich zu Jessica und Arne, eine Antwort erwartend.
Doch sie starrten mich mit betretenen Mienen an.
Eine Sekunde später verstand ich, wieso. Direkt hinter den beiden stand nämlich Jannis. Von einem Zahnpastalächeln war allerdings weit und breit nichts zu sehen. Vielmehr funkelte er mich ausgesprochen finster an.
Schiet!
Vor lauter Teekochen hatte ich gar nicht bemerkt, dass er meinen Laden betreten hatte.
„Ich jogge hier vorbei, weil ich nun mal nebenan wohne“, sagte er mit einer Stimme, die klang wie aus dem Tiefkühlfach. „Und wenn mein Lächeln so schrecklich aufgesetzt ist, kann ich es bei künftigen Begegnungen gerne weglassen. Das ist kein Problem für mich.“
Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ meinen Laden.
Autsch. Mir stieg die Hitze ins Gesicht. Da hatte ich mich ja ordentlich danebenbenommen. Gut, dass kein weiterer Kunde hier gewesen war.
Arne sah mich mit verengten Augen an. „Lenja, ich versteh das alles nicht. Wir kennen uns schon ewig und ich habe dich immer als total freundlich und ausgeglichen erlebt. Jeder hier mag dich, du hast ein liebes Wort für jeden Kunden, hilfst überall, wo du gebraucht wirst. Weißt du, wie man dich hier nennt?“
Ich schüttelte betreten den Kopf.
„Die gute Seele von Möwenitz. Das sagen ganz viele Leute über dich. Und genau so kenne ich dich. Also sag: Was zum Henker ist denn los mit dir, dass du wie eine Furie auf diesen Kerl losgehst?“
Seine Frage brachte mich aus dem Konzept. Mit bebenden Fingern strich ich mir eine Strähne aus der Stirn.
„Keine Ahnung“, musste ich zugeben. „Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, wieso er mich so wahnsinnig macht. Vielleicht, weil er gleich bei der ersten Begegnung so auf mich herabgesehen hat und sich über ganzheitliche Heilmethoden lustig gemacht hat.“
„Dabei bist du doch eine große Anhängerin davon, jedem eine zweite oder auch dritte Chance zu geben“, sagte Jessica weich.
Sie hatte recht. Normalerweise verurteilte ich niemanden. Und kam mit allen Leuten aus. Selbst die griesgrämige Dortje Kröger, die es sich mit fast allen im Dorf verdorben hatte, kam gern in meinen Laden, um ein wenig zu klönen.
Ich seufzte. „Ihr habt recht. Wahrscheinlich sollte ich mich entschuldigen. Und genau überlegen, wieso der Mann mich so auf die Palme bringt. Neudeutsch würde man wohl sagen, der triggert etwas in mir.“
Mich beschlich eine Ahnung, was das sein konnte. Er war ein Weißkittel. Und zwar einer der besonders engstirnigen Art. Mit solchen Menschen hatte ich leider schon sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Erfahrungen, die auch jetzt noch die Wut in mir zum Köcheln brachten, sogar heißer als der Grüntee, den ich Jessica und Arne eingeschenkt hatte.
„Lenja“, rief jemand von oben. „Können wir noch etwas nachbestellen?“
„Bin sofort bei euch“, erwiderte ich, legte zwei Muffins auf einen Teller und stellte diesen vor meinen beiden Freunden ab.
„Tut mir echt leid. Ich sollte mich besser im Griff haben. Nehmt das als kleine Entschuldigung.“
Arne schüttelte lächelnd den Kopf. „Nicht bei uns musst du dich entschuldigen, sondern bei deinem Nachbarn. Jannis heißt er, oder?“
Leider hatte er recht. „Mache ich. Es stimmt alles, was du sagst. Ich reagiere bei ihm total dämlich. Aber das werde ich ändern, versprochen.“
Es konnte wirklich nicht sein, dass ich bei Jannis immer so ausflippte. Das war doch gar nicht ich! Ich war die Verständnisvolle, Nette, überall-Beliebte. Und keine Xanthippe, die über andere Leute herzog oder sie anzischte.
Vielleicht sollte Nele mal wieder bei mir eine Cranio-Therapie machen, um irgendwelche Verknotungen zu lösen. Sie erzählte oft davon, wie sich bei dieser Behandlung mit sanften Berührungen auch innere Blockaden lösten und manche Patienten sogar weinten, weil sie endlich verschüttete Teile ihrer Seele wieder spüren konnten.
Andererseits: Ich kannte den Grund sehr gut, wieso ich Menschen nicht ausstehen konnte, die auf meine Art der Heilkunst herabsahen. Aber daran wollte ich jetzt nicht denken, ich hatte einen Laden zu führen. Also eilte ich die Treppe nach oben in den ersten Stock, um neue Bestellungen entgegenzunehmen und bei einem Tisch abzukassieren.
Ich war eine Viertelstunde beschäftigt, das alles zu erledigen. Jessica und Arne verabschiedeten sich, sobald ich wieder an der Theke stand. Wobei Arne mir erneut einschärfte, mich dringend nebenan zu entschuldigen.
„Ich werde eine Friedenspfeife backen und ihm bringen“, erwiderte ich lächelnd. „Aus Marzipan. Nein, lieber aus gesundem Körnerbrotteig.“
Arne lachte. „Ich sehe schon, ihr werdet irgendwann die besten Freunde sein.“
Bei dieser Vorstellung musste ich dann doch die Augen verdrehen. „Niemals. Wir sind wie Feuer und Wasser. Aber zumindest freundlich miteinander umzugehen, das sollte machbar sein.“
Möglicherweise war die Idee mit der gebackenen Entschuldigung gar nicht so dumm. Ein geformter Hefeteig vielleicht?
Als hätte sie meine Gedanken erraten, tauchte Hedi in der Tür auf. „Ich muss ein bisschen unter Leute“, sagte sie, kaum dass sie die ersten Schritte in den Laden gemacht hatte. „Brauchst du zufällig eine Aushilfe?“
Hedi und Hinnerk waren einfach klasse. Sie kannten jeden im Dorf und boten überall ihre Hilfe an. Auch beim Ausräumen von Odas Buchhandlung hatten sie einige Kartons gepackt. Und bei mir im Laden sprang Hedi regelmäßig ein, wenn ich mal wegmusste. Die Bezahlung für diese Stunden nahm sie nur widerwillig an und betonte immer wieder, dass es ihr einfach Spaß machte, viele Menschen zu treffen.
„Rentner sollen sich eigentlich erholen und viel Ruhe gönnen“, neckte ich sie.
Doch sie schüttelte ihre graue Mähne. „Hinnerk ist neuerdings unter die Köche gegangen. Er bildet sich ein, bessere Kohlrouladen als ich hinzubekommen. Ich kann nicht zuschauen, wie er meine Küche verwüstet. Kriege ich Asyl bei dir?“
Ich lachte. „Oh je, das kann ich mir vorstellen. Ich muss tatsächlich etwas in der Backstube erledigen. Einen Hefeteig ansetzen.“
„Mach das. Und während der Teig geht, kannst du ein paar Einkäufe erledigen oder deine Balkonpflanzen umtopfen. Ich komme alleine bestens zurecht.“ Sie schenkte mir ein warmes Lächeln. Gerade so, als spürte sie, dass ich ein wenig Abstand brauchen konnte.
Hedi war ein Engel. Ich ging spontan auf sie zu und umarmte sie. „Du bist ein Schatz, weißt du das?“
„Ach was“, wiegelte sie ab. „Du tust doch auch ständig etwas für andere. Und nun los, mach dich vom Acker. Jetzt bin ich hier die Chefin.“
Mit entschlossenen Schritten ging sie um die Theke und griff zu einer bereit hängenden Schürze, auf der eine lustige Teekanne mit Tassen aufgedruckt war. Mein Logo. Bei dem Anblick schluckte ich trocken. Wie gerne hätte ich ein neues Logo entworfen! Eines mit Gesundheit und Natur und Wohlfühlen.
Aber das konnte ich mir fürs Erste abschminken. Dank Tilda. Und dem Nachbarn.
„Ich mache einen kleinen Spaziergang am Strand, glaube ich“, kündigte ich an.
Hedi nickte. Also rührte ich den Hefeteig an, stellte ihn warm und verließ meinen Laden. Ein schneller Blick auf das Nachbarhaus ließ mich zusammenzucken. An der strahlend weißen Haustür prangte ein Schild mit großen Lettern. „Praxiseröffnung! Ich bin ab sofort für Sie da.“
Neben diesem Computerausdruck, der mit Klebestreifen befestigt war, befand sich das eigentliche Schild.
„Dr. Jannis Bohnenberg, Hausarzt, alle Kassen“, las ich. Darunter waren die Öffnungszeiten aufgeführt.
Für eine Sekunde schloss ich die Augen. Stellte mir unser Schild vor, das von Nele und mir. In einem hellen Grün hatten wir es uns ausgemalt. Ja, die gesamte Praxis hatten wir in Lindgrün einrichten wollen, außerdem mit riesigen Zimmerpflanzen, hellem Holz und warmem Licht. In der Mappe, die ich Tilda präsentiert hatte, waren sogar Fotos unserer geplanten Einrichtung gewesen, die wir als Beispielbilder dem Internet entnommen hatten.
Alles für die Katz‘.
Ich drehte mich weg. Schlug den Weg zum Strand ein. Versuchte, nicht an die verpasste Chance zu denken, und stattdessen meinen Spaziergang zu genießen.
Heute war ein typischer Ostsee-Sommertag. Die Sonne strahlte zwar vom Himmel, aber es standen schon mehrere Wolkenberge bereit, um sich vor sie zu schieben. Auch der Wind gab sein Bestes und blies mir Haarsträhnen ins Gesicht, während ich den Küstenweg einschlug.
Ich liebte den Wind. Schon als Kind war ich ihm entgegengelaufen, hatte mich ihm mit ausgebreiteten Armen in den Weg gestellt und laut lachend von ihm durchpusten lassen. „Mama, schau, er fegt mich fast um“, hatte ich gerufen und mich lebendig gefühlt wie selten.
Egal, ob im eisigen Winter oder jetzt im Sommer, er gehörte zu Möwenitz. Er gehörte zu mir. Einen Urlaub an einem völlig windstillen Strand irgendwo an der Riviera oder auf einer heißen Südseeinsel konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Mir half der Wind, mich zu fühlen. Er fuhr in jede Ritze der Kleidung, glitt kühl über meine Haut. Er wirbelte meine Haare herum, er stemmte sich mir entgegen. Der Wind war mein Freund und mein Liebhaber, er gab mir das Gefühl, echt zu sein. Mit dem Boden verbunden zu sein. Zuhause zu sein.
Ich könnte niemals in einer Stadt wohnen, wo im Sommer der Asphalt glühte und die Hitze sich zwischen den Häuserblöcken hielt. Nein, ich gehörte an die Küste. Direkt hierher, nach Möwenitz, in meinen Heimatort, wo die Leute ein bisschen eigenbrötlerisch waren, aber zusammenhielten. Wo sich Touristen meist nur kurze Zeit aufhielten. Wo die Küste auch mal rau und felsig war, genau wie die Einwohner. Und wo der Leuchtturm stand, auf den ich jetzt zuging.
Wie gemalt erhob er sich vor mir mit seinem rotweißen Kleid, voller Stolz und Selbstsicherheit. Ich blieb stehen, lächelte in mich hinein und musterte unser Wahrzeichen. Früher hatte dort oben in der kleinen Wohnung tatsächlich ein Leuchtturmwärter gewohnt. Doch schon seit vielen Jahren befand sich im Turm eine Ferienwohnung, die sehr beliebt war. Ich war seit dem Umbau nicht mehr dort gewesen, hatte mir aber von Jessica alles genau beschreiben lassen. In luftiger Höhe lag das Wohnzimmer, natürlich rundherum mit Fenstern und einem traumhaften Blick über die Ostsee. Jessica hatte im Frühjahr für ein oder zwei Wochen dort gewohnt und eine Menge Fotos geknipst, deshalb hatte ich eine Vorstellung vom Ausblick. Unten gab es einen kleinen Anbau, dort befanden sich Küche, Bad und Schlafzimmer.
„Ich muss mal mit Hinnerk reden“, murmelte ich vor mich hin. „Der soll mir eine Führung spendieren.“
Er war so etwas wie der Verwalter und kümmerte sich um die Gäste, deshalb hatte er einen Schlüssel. Und würde mich beim Gästewechsel vielleicht mal einlassen können.
Möwen flogen über meinen Kopf, ihr Kreischen, das sich ins Meeresrauschen mischte, ließ alle Anspannung von mir abfallen. Ich nahm den Weg nach unten, hatte mich für das steinige Küstenstück entschieden, weil es hier einsamer war. Weiter vorne, an dem Stück flachen Ostseestrand wie aus dem Prospekt, tummelten sich garantiert Touristen. Dort gab es die beliebten gestreiften Strandkörbe, einen Eiswagen, jede Menge Familien mit kleinen Kindern, die das flache Wasser und den Sand liebten.
Ich hingegen bevorzugte diesen Teil des Strandes, bei dem vereinzelte Felsen aus dem Meer ragten und der Sand von Steinen durchzogen war. Eine vorwitzige Eiderente kreuzte meinen Weg, weiter vorne sah ich Austernfischer im auslaufenden Wasser herumpicken. Wie fast immer zog ich meine Sneakers aus, band die Schnürsenkel zusammen und hängte sie mir um den Hals.