Sommerscheiben
Michael Pick
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Michael Pick ...
Sommerscheiben
Der Junge stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Hügelkuppe besser überblicken zu können.
Links, im Schatten der riesigen Eichenkronen leuchteten Tische auf der Wiese. Es hieß, jeder bringe etwas mit. Eine junge Frau im weißen Sommerkleid dirigierte die Schlange der Gäste mit Leichtigkeit.
Der Junge tastete nach den Sommerscheiben in seinen Hosentaschen.
Von der Hügelkuppe wehte Musik herüber, die Bäume tanzten dazu. Die jüngeren Männer riefen den Mädchen zu, und diese jauchzten und warfen die Röcke hoch. Die Älteren rekelten sich auf den Decken im Gras und schauten dem Treiben mit jugendlichen Augen zu.
Die Äpfel spannten beim Gehen die Hosentaschen.
Er hatte die prächtigsten gepflückt. Doch mit einem Mal kamen sie ihm ganz mickrig vor – war der eine nicht ein wenig verschrumpelt, und hatte der andere nicht eine hässliche braune Stelle?
Zwei Äpfel, nicht mehr, hatte er zu geben, der eine schrumpelig, der andere mit einer Stelle. Jetzt stand er auf dem Hügel und wäre fast zu den Füßen der Frau gestolpert. Sie lächelte. Ihre Augen leuchteten. Ihm brannte das Herz.
Er grub seine Hände in die Hosentaschen und holte die beiden Sommerscheiben heraus.
In der Mitte des Tisches schob sie einen Platz frei – eine schlichte Holzschale. Sie legte die beiden Sommerscheiben hinein. „Danke“, flüsterte sie, sodass es alle hören konnten – und dennoch glaubte der Junge, sie spreche nur zu ihm. Die Blicke der Umstehenden machten ihm plötzlich nichts mehr aus, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Das ganze Fest über stand er an einem Baum gelehnt und betrachtete sein Mädchen im weißen Sommerkleid.
Heute kommt Marie
Als mir einfiel, welcher Tag es heute war, wäre ich beinahe aus dem Bett gefallen. Plötzlich hatte ich es so eilig, dass ich nicht wusste, womit ich anfangen sollte.
Marie war die Liebe meines Lebens, vielleicht sogar nicht nur meines. Ich hätte alles dafür gegeben, das Gleiche auch für sie zu sein.
Marie kommt heute.
Der Satz klang wie Musik. Ich rief ihn in die leere Wohnung. Die Worte flitzten durch die beiden Zimmer und entkamen aus dem Fenster.
Heute kommt Marie.
Ich riss das Fenster auf. Ich hätte meine Freude hinausschreien sollen, aber es schien mir Verschwendung. So lüftete ich wenigstens die Wohnung. Marie liebte frische Luft.
Ich war so durcheinander, dass ich die Hose für ungerade Tage wählte, obgleich heute Sonnabend war. Zur Feier des Tages trug ich ein Hemd. Es war zehn Jahre alt, aber ich hatte es kaum getragen. Ich nannte es „anlassbezogene Nutzung“. Das klang zugleich wichtig und bescheuert.
Heute kommt Marie.
Ich freute mich auf sie und darauf, sie abzuholen. Es war ein fester Termin in meinem leeren Kalender. Ich unterstrich ihn mit roter Farbe, damit er schon von Weitem zu sehen war.
Im Spiegel suchte ich nach meinem Mund. Ein Gestrüpp von Barthaaren hatte sich unbemerkt über ihn geschoben. Ich schüttelte die Dose mit Rasierschaum, bis sie sich auf meinen Fingern erbrach, und kratzte mir den Bart mit der Rasierklinge ab. Die Haut war gereizt, ich weniger**;** man darf die Verhältnisse nicht außer Acht lassen. Ich wunderte mich, dass ich im Badezimmerschrank noch eine Tube Zahnpasta fand.
Heute ist ein besonderer Tag: Heute kommt Marie.
Die Tür fiel hinter mir ins Schloss. Auf dem Flurplan war mein Name durchgestrichen, so als würde ich hier gar nicht mehr wohnen. Schon gut, ich hatte seit Jahren keine Treppe geputzt. Ich war nie ein großer Treppenputzer gewesen.
Egal – heute kommt Marie.
Der Weg war beinahe so schön wie die Ankunft von Marie selbst. Ich ging nicht oft aus, damit ich etwas Neues entdecken konnte. Eines Tages hatte man mir sogar die Straße gestohlen.
Nicht wörtlich, natürlich, doch von gestern auf heute hieß sie nicht mehr Leningrader Straße. Ich fragte einen Passanten, wo der Name geblieben sei. Er sagte, Leningrad gäbe es nicht mehr, und eine Leningrader Straße müsse dann geradewegs ins Nichts führen. Vermutlich hatte er recht.
Was soll's, solange Marie da ist.
Auch sonst veränderte sich ständig etwas in meiner Stadt. Von einer Frau fing ich den Satz auf: „Wir müssen jetzt mit der Zeit gehen!“ Ich bekam Angst. Ich wusste nicht, wohin die Zeit mich mitnehmen wollte.
Fast alles war bunter und neuer. Sogar die Sonne strahlte klarer.
Vielleicht liegt es daran, dass Marie heute kommt.
Links von mir führte die Hochbrücke Autos über den Mühlenteich. Ich begleitete sie ein Stück. Bevor sie mir entglitt, führte sie mich an den alten Lokschuppen vorbei.
Die roten Ziegelsteine, aus denen er geschichtet war, verliehen ihm eine politische Ausrichtung. Die Ziegel waren längst verblasst und etliche aus der Reihe gefallen. Wenn der Wind ging, durch die Fugen, schlugen die Türen.
Ich mochte sie, die alten Gebäude. Vielleicht, weil wir uns so ähnlich waren.
Heute habe ich keine Zeit für sie – heute kommt Marie.
In den Löchern des Gehwegs sammelte sich Regenwasser zu Pfützen. Ich sah mich vor fünfzehn Jahren darin. Ich sah mich, wie ich die Welt verändern wollte.
Die Welt hatte sich geändert. Ohne mich.
Marie ist die Konstante – heute kehrt sie heim.
Im Lindengarten lag die Zeit begraben. Eine Sonnenuhr, eingelassen in die Erde wie ein Grabstein. Eine Gruppe Linden umstand die Uhr, und ich fragte mich, wie die Sonne in ihrem Schatten je die richtige Zeit anzeigen könne.
Möglich, dass es gar nicht darum ging. Die Zeit war einfach zu beschränkt.
In dieser Uhr schwammen Seelen. Auch meine. War es Furcht, die ich spürte? Ich dachte schnell an Marie und verjagte die dunklen Gedanken wie der Sturm die Wolken zerreißt.
Es ist gut, dass Marie heute kommt.
Der Lindengarten endete am Bahnhof – wie es sich gehört. Ein Bahnhof ist immer der Anfang oder das Ende von etwas, meistens von Bewegung.
Alt war er geworden in den letzten Jahren. Grau und ein bisschen nachlässig im Äußeren. Unrasiert und ungewaschen. Im Eingang stand die Schwingtür, und im Tunnel lag der Alkoven mit der Ausstellung des Modelleisenbahnvereins.
Die Züge donnerten nicht mehr so oft über den Tunnel, und es stank nach Urin. Auf den Bahnsteigen hing noch eine Spur des Duftes von Ferne. Über den Bänken schwebte der Nebel der Sehnsucht.
Unter dem Dach stauten sich die Gedanken der Reisenden. Abschied und Freude, Tränen und Umarmung, Ankunft.
Ankunft!
Heute kommt Marie.
Manchmal wünschte ich mir, ich wäre ein Fremder in der Stadt. Alles hier wäre in weißes Tuch gehüllt, und müsste es wie ein Maler nach meinen Eindrücken neu zu färben.
Die Kirche hätte ich bunt gestrichen. Sie ist so groß geraten, dass es fast schon Spaß wäre.
Übrigens, die Kirche trug denselben Namen wie Marie.
Ich meinte, vom Kirchturm aus müsse man den Horizont viel leichter sehen.
Ich könnte Marie sehen, wenn sie heute heimkommt.
Ich war dreißig Jahre alt und hatte die eine Hälfte mit Mauer, die andere ohne. Als mir das bewusst wurde, kam eine ganze Gedankenarmee in Marsch. Sie überrollte mich mitten auf dem Bürgersteig.
Wenn man wollte, teilte die Mauer noch immer mein Leben. Auch in jung und alt, doch das war mehr Zufall. Es juckte in meinen Händen, daran etwas zu ändern.
Vielleicht warte ich noch, bis Marie da ist.
Ich schob die Nase in den Wind. Ich konnte sie schon riechen. Salz lag in der Luft und puderte meine Haare und Kleidung. Ich streckte die Zunge aus und schmeckte die Freiheit. Wellen klatschten gegen die Hafenmauer, schlugen einen Purzelbaum und tauchten zurück, um im nächsten Augenblick einen neuen Versuch zu starten. Möwen kreisten kreischend um mein Haupt und fragten, ob ich etwas zu essen dabei hätte. Der Wind kam geradewegs von der offenen See und brachte sie huckepack mit sich.
Marie kommt heute.
Sie war ein kleiner Punkt am Horizont. Mein Herz erkannte sie früher als meine Augen. Sie war ein Stecknadelkopf auf der Oberfläche.
Der Wind blähte ihre Segel.
Marie ist wieder zu Hause.
Eins
Die Nacht verschluckte die Stille. Der halbe Mond spiegelte sich auf dem regenassen Gehweg, während der riesige Wohnblock sanft schnarchte. Als ich mein Ohr an die Wand legte, hörte ich sein Herz langsam pochen.
Selbst die Zeit schien sich ausruhen zu wollen. Meine Haut überzog sich mit Gänsehaut – der Sommer war zu Ende. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Die Nacht hatte kein Gesicht.
Eine Prise Zeit verrann, und als ich auf die Uhr schaute, war unsere Stunde verstrichen. Ich war nicht bereit, wieder zu gehen. Dunkelheit macht einsam und verengt den Blick.
Ich hörte sie, bevor ich sie sah, und spürte, wie ihre Hand meinen Arm entschuldigend streifte. Ihre blauen Augen waren Sterne in einer grauen Nacht, – ihre Arme weiße Königsnattern. Ihr Mund öffnete sich zu einem dunklen Spalt, und ihr warmer Atem strich über mein Gesicht. Ich schloss die Augen und sah sie trotzdem.
Ihre Hand führte mich in den Trockenraum. Mein Mantel war die Decke, auf der wir lagen. Unser Atem geriet aus dem Takt. Der Augenblick, als ich ihr den Pullover auszog, brannte sich für immer ein. Ihre Haut roch nach Wärme und schmeckte nach schäumendem Meer. Ihre Haare flossen auf ihre Schultern, als sie vor mir lag. Ich konnte nicht aufhören, sie anzusehen. Sie war so vollkommen, dass ich Angst hatte, sie mit meiner Berührung zu beschmutzen.
Sie war es, die meine Hand über ihre Haut führte. Die aufgehende Sonne warf einen Strahl auf ihren Bauchnabel und setzte die Zeit wieder in Gang.
Ihre Lippen ließen einen Rest Hitze auf den meinen zurück, und ich sah ihren wippenden Haaren nach.
Welt
Wir trugen die Welt zu Grabe.
Auf einem kahlen Feld, bar jeder Schönheit, standen wir nebeneinander – die erste Gemeinsamkeit seit Jahren.
Ich hatte fest geglaubt, für immer jung zu sein, und nun das. Ich suchte auf dem braunen Boden vergeblich nach einem grünen Halm. Ich wollte nicht wahrhaben, dass keiner zu finden war, und legte mich auf die Erde.
Der Schlamm drang mir durch Nase und Mund, verschlang Kopf und Haar.
Ich öffnete die Augen, um blind zu sein.
Es war wunderbar!
Als ich die Augen wieder schloss, konnte ich alles genau sehen.
Die Welt war tot, es lebe die Welt.
Wir gingen wortlos auseinander – unsere zweite Gemeinsamkeit.
Ich hängte meinen Mantel an einen Ast und lachte mit der Amsel, die aus einem Busch schoss. Die Sonne trieb den Nebel stiefelhoch über das Feld.
Die Welt war neu geboren, doch mir fehlte die zweite Sicht. Ich fragte mich, ob ich ein Auge verloren hätte.
Wie ein Maulwurf grub sich eine Pflanze aus dem Boden und blockierte meinen Weg, bis ich mich niederließ und sie betrachtete. Es war März, und sie trug ein aprilgrünes Kleid. Neugeboren, dieses Grün, unbefleckt von Zeit und Wissen.
Ich liebte es, wie nichts zuvor und nichts danach.
Eine neue Welt.
Kyra und Lille
Durch die Scheibe des Flughafenfensters sah Kyra die kleinen Regentropfen vergnügt auf den Platten des Gehwegs vor dem Gebäude aufschlagen. Wenn sie den Boden berührten, zersprangen sie jauchzend in tausend kleine Tröpfchen. Wie Tänzer in einem wilden Reigen wirbelten sie durch die Luft. Die junge Frau schlängelte sich lachend zwischen einigen mantelumhüllten Passagieren hindurch ins Freie. Sie zog die Schuhe aus und tippelte auf Zehenspitzen – drei Drehungen – den Weg zum nächsten Taxi. Sie glitt in den Wagen und lächelte dem Fahrer: „Ahornallee 15.“
Als Kyras Taxi abgefahren war, rückte die Reihe der wartenden Wagen für den nächsten Fahrgast auf. Der großgewachsene, schlanke Lille öffnete den Kofferraum, noch bevor der Fahrer aussteigen und helfen konnte. Er verstaute den großen Koffer, schloss die Klappe und setzte sich in den Fond, von wo er dem Fahrer kurz und bestimmt „Ahornallee 15“ nannte. Als der Wagen anfuhr, kündigte der Radiosprecher eine Unwetterwarnung an.
Das Taxi mit Kyra hielt vor der einladenden Stadtvilla, an deren Mauern Efeu emporrankte. Kyra stand einen Augenblick vor dem Haus, legte den Kopf auf die linke Schulter und betrachtete es aus dieser Schräglage. Das war ihr Ritual, wenn sie ein neues Haus bezog. Kyra grinste das Haus an: „Wir werden gute Freunde sein.“ Ein kräftiger Wind zerrte an ihren Kleidern, und aus den fröhlichen Tröpfchen am Flughafen waren schwere Regentropfen geworden.
Kyra hatte die Tür des Hauses gerade hinter sich geschlossen, als das Taxi mit Lille vorfuhr. Lille zahlte den Fahrpreis und, ohne einen Blick zu verschwenden, schritt er mit langen, ausgreifenden Schritten auf die Haustür zu.
Er drehte den Schlüssel, die Tür schnurrte auf. Die Wohnung wirkte auf den ersten Blick altmodisch, aber gemütlich. Lille interessierten Äußerlichkeiten kaum, doch sofort roch er das süßliche Frauenparfüm, das träge zwischen den Räumen lag.
Lille schnaubte durch die Nase. Der Geruch des Parfüms war penetrant stark. Wahrscheinlich war die Vormieterin eine Frau gewesen. Lille ging einige Schritte tiefer in den Flur, und plötzlich meinte er, Wasser rauschen zu hören.
Lille lauschte in die Wohnung hinein. Kein Zweifel, jemand hatte vergessen, den Wasserhahn zu schließen. Lille stürmte in Richtung des Geräusches, riss die Badezimmertür auf und blieb auf der Türschwelle stehen. Ein daumendicker Strahl strömte in die Badewanne und prallte dort auf einen schmalen, festen Unterschenkel. Dazu rekelte sich eine nackte Frau im Wasser. Lille war ein höflicher Mensch, doch der Anblick des unverhüllten weiblichen Körpers fesselte seinen Blick.
---ENDE DER LESEPROBE---