Somnus - Magnus Kerner - E-Book

Somnus E-Book

Magnus Kerner

0,0

Beschreibung

Arvid Nox ist Grafikdesigner in einem Tech-Unternehmen für Robotersicherheit. Zerfressen von der täglichen Tristesse seiner beruflichen Sackgasse erscheint ihm seine Existenz sinnlos und leer. Zuflucht findet er in einem immergleichen Traum von der Stadt, in der er sich als einziges Lebewesen beinahe frei und ungehemmt bewegen darf. Nach einem zermürbenden Streit mit einem Arbeitskollegen steckt Arvid im Affekt einen persönlichen Gegenstand seines Gegenübers ein und ist überrascht, dessen Besitzer nun im Traum auffinden und nach Belieben quälen zu können, was nicht ohne Folgen bleibt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 249

Veröffentlichungsjahr: 2024

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


I

Arvid blickte hinunter auf seine nackten Füße, die über der Spitze der goldenen Pyramide schwebten. Es würde so sein wie jede Nacht. Endlich war er allein. Vor ihm lag die Stadt in seidenem Dunkel, ohne erkennbare Lichtquelle. Lediglich die Pyramide pulsierte sanft, glomm golden auf und erlosch in endloser Wiederholung – still, wartend. Arvid erhob sich langsam in die Höhe. Er konnte nun über die Dächer der würfelartigen Gebäude des Wartungsbezirks blicken, wo sich die Wolkenkratzer des Arbeitsbezirks am Horizont abzeichneten, wohin er wieder gehen musste, wenn er aufwachte. Doch noch hatte er etwas Zeit im Negativ der Stadt, die haargenau bis auf den letzten Kiesel so dastand wie am Tage. Nur das Leben fehlte – das Gebrüll, das unstete Zappeln aus Millionen von Körpern, die Kakophonie aus medialen Angriffen und bedeutungsleeren Reaktionen darauf. Es war ihm unklar, warum er jede Nacht hierherkam, seit er in die Stadt gezogen war, warum er wach war, obwohl er doch schlief, aber es war ihm, als ob dies das eigentliche Leben sei, als ob er den Tag nur erdulden musste, um in die stille, dunkle Realität seines Selbst zurückzukommen, wo er scheinbar zuhause war. Hier brauchte er nichts, nicht einmal Kleidung – keine Verkleidung. Gewichtlos setzte er sich in Bewegung. Die undurchsichtigen Fassaden des Arbeitsbezirks ließ er hinter sich und glitt ein paar Meter oberhalb einer Hochbahnschiene dem geraden Pfad folgend entlang. Die riesigen Werbedisplays links und rechts entlang der Strecke waren erloschen. Als die Schienen sich ihren Weg zwischen dem Zuse Tower und dem Engineers Building hindurch fortsetzten, stieß Arvid pfeilschnell nach oben. Die Stockwerke des Towers rasten dicht an ihm vorbei. Arvid sah die vibrierende Reflexion seines nackten Körpers, wie sie sich durch den luftleeren Raum nach oben fraß. So gefiel er sich: aufsteigend, furchtlos, mächtig. Seine wasserblauen Augen funkelten süchtig nach sich selbst. Er kam immer dichter an sein Spiegelbild heran, bis er beinahe das Glas mit der Nasenspitze berührte. Da verschwand sein Abbild abrupt. Er war über das einhunderterste Stockwerk hinausgeschossen und konnte nun über das einseitig spitz zulaufende Dach des Towers auf den Rest des Bezirks schauen. Behutsam entschleunigte er und ließ sich auf eine Servicenische des Dachs sinken. Seine Füße berührten vorsichtig den Boden des Vorsprungs, spürten den Widerstand, aber weder Wärme noch Kälte. Sein Blick fiel auf die weiße Metalltür vor sich, die sich ihm trotzig in den Weg stellte. Das war das einzige Problem an seiner zweiten Existenz: er konnte nirgendwo eintreten, wusste nie, was drinnen vor sich ging, war stets ausgeschlossen – wie am Tage. Arvid wollte sich nicht ärgern. Stattdessen umflog er noch eine Weile die gläsernen Giganten des Arbeitsbezirks. Einige waren verdreht, andere in komplexe Abstufungen unterteilt. Besonders das Kali Building inmitten des Bezirks überragte beinahe alle anderen Gebäude und war ein grotesk geformtes Monstrum verschiedenster Baustile und Materialien, das täglich tausende Touristen anzog, virtuell und leibhaftig. Arvid verspürte den Drang umzukehren. Die goldene Pyramide, das Rechenzentrum der Stadt, rief nach ihm und duldete keine Aufschübe. Er würde bald aufwachen.

II

»Guten Morgen, Arvid.« Das verdunkelte Glas der Fensterfront wurde transparent und gab die Sicht auf den benachbarten Wohnkomplex frei. Die Sonne war noch im Begriff, sich über den Horizont zu schieben und blinzelte vereinzelt als Reflexion in Arvids Wohnung. Er war zurück in seinem Gefängnis, starrte bereits erwartungsarm an die Decke und stieß mit der Nase einen langen, pfeifenden Schwall verbrauchter Luft aus. Das Raumlicht schaltete sich mit ansteigender Intensität ein. »Guten Morgen, Arvid.«, wiederholte sein Personal Assistant freundlich. Arvid schälte sich aus seinem Bett, nahm Kissen und Decke und verstaute sie im Bettwäschecontainer des multifunktionalen Wandschranks, der eine komplette Wandbreite seiner fünfzig Quadratmeter großen Wohnung einnahm. Er fuhr mit dem Finger über ein kleines Sensorfeld oberhalb des Containers und das Bett verschwand sanft und lautlos kopfüber in der Versenkung und war als solches nicht mehr vom Rest der mit grauen Betonplatten verzierten Schrankwand zu unterscheiden. Arvid trat in Unterwäsche an die Glasfront. Seine Augen streiften Stockwerk für Stockwerk des gegenüberliegenden Wohnkomplexes, der sich wie der, in dem er wohnte, in einer Art Helix aus dem Boden schraubte. Die Helix hätte etwas Menschliches, sagte ein Bauingenieur einmal zu ihm in einem ansonsten belanglosen Aufzuggespräch. Der Blick des morgendlichen Voyeurs bohrte sich in die Zimmer, die man einsehen konnte. Schemen liefen umher, ein Paar stand noch in Schlafbekleidung an einem Fenster und beobachtete umschlungen das sich zunehmend beschleunigende Geschehen auf den Straßen. Arvid rümpfte verächtlich die Nase und schlurfte in sein kleines Bad. Beim Betreten erhellte sich der Raum und der große Spiegel über dem flachen Waschbecken zeigte auf der rechten Seite das aktuelle Wetter, einen Newsticker des städtischen Nachrichtenportals und die letzten Entwicklungen bei Tomorrow Township an, einem Onlinespiel, das Arvid in jeder freien Minute spielte. Daneben stand das Spiegelbild eines zweiundvierzigjährigen Grafikdesigners, das ihn ausdruckslos nachahmte. Sein Gesichtsausdruck widerspiegelte ungeschönt den Konflikt, den er mit seiner Außenwelt austrug. Seine Haare in Straßenköterfarbe fielen strähnig in alle Richtungen. Hinter dem leicht schief hängenden Mund mit dünnen, kaum sichtbaren Lippen, verbargen sich kleine, spitze Zähne, die sich schnell zeigten, wenn ihm etwas zuwider war. Arvid hätte mit seinen Maßen einen grandiosen Profiboxer abgegeben, hätte er jemals in Betracht gezogen, Sport zu machen. Stattdessen hing sein Körper mitleidig an seinem Skelett, was ihn selbst aber nicht im Geringsten störte. Wem außer sich sollte er auch gefallen? An einer Beziehung hatte er so wenig Interesse wie an seinem Job, der bereits auf ihn wartete. Er warf sich etwas Wasser ins Gesicht und blickte auf den Screen: heute etwas frisch, wieder jemand in der Hochbahn niedergestochen, eine Nachricht von Holly, seiner Angetrauten in Tomorrow Township. Er überlegte noch kurz, sie zu lesen, entschied sich dann dagegen. Er hatte bereits genug getrödelt. Arvid ging zurück zu seinem Schrank im Wohnbereich. Über einen weiteren Fingersensor öffnete sich eine Klappe nach oben und ein gut sortiertes Kleiderkonvolut fuhr geräuschlos heraus. Seine Wohnung war nicht die Größte, aber er hatte eine Schwäche für exquisite Designobjekte und einen feinen Geschmack für Herrenbekleidung. Flink griff er nach einem weißen Hemd mit Rundkragen, einer schwarzen Bundfaltenhose und einem schwarzen Jackett, allesamt Kreationen eines dänischen Designers, den Arvid präferierte. Dann nahm er sich seine schwarzen, italienischen Lederhalbschuhe aus der unteren Ablage und befestigte die ebenfalls schwarze Automatikuhr von 1963 an seinem Handgelenk. Er betrachtete sich noch kurz im Spiegel. Kleider machen Leute, keine Frage. Er gefiel sich in seiner täglichen Verkleidung, die den Menschen um sich herum klar zu verstehen gab, dass sie sich von ihm fernhalten sollten. Er strich sich noch einmal kurz durchs Haar. Dabei musterte er seine Tattoos auf den Handrücken: links die Silhouette eines fliegenden Vogels, rechts ein leerer Vogelkäfig – eine Jugendsünde. Zufrieden mit sich ließ er seine Ankleide wieder verschwinden und nahm sich sein Smartphone und die In-Ear-Kopfhörer von dem Beistelltisch mit integrierter Ladestation, der sich neben dem luxuriösen Liegesessel im Zentrum der Einraumwohnung befand. Das Smartphone ließ er in die Innentasche des Jacketts gleiten, die Pods kamen in die Hosentasche. Damit verließ er seine Komfortzone und schritt hinaus in den Flur. »Auf Wiedersehen, Ar...«, erklang es von drinnen, bevor sich die Tür hinter ihm schloss und verriegelte. Arvid hoffte, wenigstens heute einmal allein einen Fahrstuhl nehmen zu dürfen und machte sich auf den Weg zu eben diesem. An den Türdisplays konnte man erkennen, dass die meisten Nachbarn noch nicht aufgestanden waren, denn neben den jeweiligen Namen leuchteten kleine Symbole, die drei Zetts zeigten. Faulpelze. Als er die Aufzüge erreichte, standen bereits zwei Großfamilien parat, deren Oberhäupter man an den Augenringen erkennen konnte. Arvid rollte mit den Augen und trat zögerlich näher. Hätte er vielleicht doch besser die Treppe nehmen sollen? Dann wären ihm aber sicher diese nervigen, verschwitzten, gutgelaunten Gesundheitsfanatiker entgegengejoggt, die auf der eigens für sie angelegten Markierung auf den Treppen ächzten und stöhnten, jedoch bei Augenkontakt wie Wahnsinnige grinsten und grüßten. Nein, danke. Dann also doch die Kaninchenbande. Arvid konnte erkennen, dass beide Aufzüge bereits auf dem Weg zu ihnen waren. Wäre er gläubig gewesen, hätte er gebetet, sie mögen doch alle den anderen Fahrstuhl nehmen, welcher dann in voller Fahrt abstürzen und explodieren würde, aber er war Realist. Natürlich würden sie alle wie in einem Mastbetrieb aufeinander hocken. Die Kinder schrien und hüpften und sprachen unfertige Sätze. Arvid fing an zu schwitzen. Da öffnete sich eine der Türen. Eine Hipstermom mit Stirnbandana machte eine einladende Geste und Arvid war nun gezwungen, direkt in die Falle zu laufen. »Erdgeschoss«, bestätigte das Bedienpaneel. Eingeengt in der letzten Ecke des fahrenden Sargs wurde er von sieben Kindern und drei sogenannten Erwachsenen emotional bedroht. Ein Junge von vielleicht vier Jahren lugte unter seinem Bauch hervor und glotzte ihn an, als hätte er einen Dämon gesehen. Arvid schwitzte weiter und glotzte zurück. Was will der Bengel? Langsam schob sich aus Nervosität seine Oberlippe nach oben und schmiegte sich eng an seine spitzen Zähne, die nun zum Vorschein traten. Im Blick des Jungen schien Panik aufzusteigen. Mach hier jetzt kein Drama, Kleiner. Und es ging los: der Junge fing an zu weinen, die sektenhaften Erzeuger warfen ihm vorwurfsvolle Blicke zu, der Schweiß schoss ihm aus allen Poren. Die Zeit schien eingefroren zu sein. Endlose Sekunden verstrichen. »Bitte aussteigen. Wir wünschen Ihnen einen schönen Tag.« Das war die Erlösung. Die Meute schob und stieß sich gegenseitig hinaus und Arvid musste in seiner Ecke noch kurz verweilen, um durchzuatmen. Dann trat auch er hinaus in den weitläufigen Eingangsbereich. Das Gebrüll der kleinen Menschenaffen verhallte im morgendlichen Treiben von Menschen, die einer Tätigkeit nachgingen, mehr Menschen, die keiner Tätigkeit nachgingen und bereits überall nutzlos herumlungerten und kleinen Servicerobotern, die zwischen den Humanoiden herumflitzten, um Bestellungen an die Postboxen der Wohnungen zu liefern. Dabei fuhren sie an die Wand mit den hunderten kleinen, metallischen Türchen, entriegelten sie per Codeeingabe und schoben die Lieferungen zügig und koordiniert hinein. Arvid beschleunigte sein Tempo, um dem Gewusel zu entrinnen und hüpfte beinahe erleichtert durch das Eingangsportal hinaus, wo ihn eine angenehm kühle Brise erwartete. Der Aufgang zur Hochbahn lag etwa fünf Minuten zu Fuß entfernt. Arvid nutzte die Zeit, um durchzuatmen. In der Luft flogen bereits Drohnen umher und zu Land folgten Menschen ihren täglichen Routinen. Er reihte sich in den Strom der stillen Arbeitnehmerkohorte ein, von denen sich jeder von elektronischen Accessoires auf seine Weise berieseln ließ, um der Realität zu entschwinden. Die Realität sah so aus: die Arbeitslosenquote lag bei über fünfzig Prozent, was man aber so nicht sagte. Man erfand eine Wattewolke aus Begrifflichkeiten, aus der niemals der tatsächliche Zustand des Landes in Erfahrung gebracht werden konnte. Wer nach Antworten suchte, wurde öffentlich gebrandmarkt. Aber wer sollte auch nach irgendetwas fragen? Das bedingungslose Grundeinkommen war so hoch angesetzt worden, dass man überhaupt nicht mehr zu arbeiten brauchte. Wer, wie Arvid, tatsächlich einer Beschäftigung nachging, tat dies aus Tatendrang, Überzeugung oder schlichtweg aus der verrückten Idee heraus, sich ein besseres Leben erarbeiten zu können. Die meisten Menschen brauchten dieses bessere Leben aber nicht, da sie aufgrund rudimentärster Hirnleistung durch Dauerhypnose der Medien und Nahrungsmittel von fragwürdiger Herkunft sich im besten Deutschland aller Zeiten wähnten. Die Vergangenheit war ausgelöscht worden. Es gab nur das angenehme Jetzt und das noch bessere Morgen. Arvid gehörte allerdings zu keinerlei Gruppierung, die einem Lifestyle folgten, der in den meisten Fällen eher als Glaubensrichtung einzuordnen gewesen wäre. Er stand nur für sich selbst, wollte kein Willenloser werden aber auch kein subversiv Intellektueller. Innerlich hatte er bereits mit alldem abgeschlossen, mit dem binären Für und Wider, dem Gutsein und dem Schlechtsein. Als er den Aufgang zur Hochbahn erreichte, erklang ein leiser Bestätigungston aus seinem Jackett. Er stieg auf die Rolltreppe und fuhr den Tunnel nach oben, der innen aus einem einzigen röhrenförmigen Display bestand, das Werbung präzise angepasst auf den Konsumenten in spe zeigte. Neben ihm flog eine Blase mit Informationen zu Updates seines Lieblingsspiels und buhlte aufdringlich um seine Gunst. Arvid war froh, dass es nur das war. Der Mann vor ihm wurde von aufreizenden Unterwäschemodels bedrängt. Privatsphäre war in der Stadt ein seltenes Gut. Oben angekommen, drängten sich schon Horden von Fahrgästen in den Wartezonen eng aneinander. Arvid schnaufte abfällig und schob einige Leute vor sich her, während er sich seinen Weg zum Coffeeshop bahnte. Dabei überragte er die meisten um mindestens einen Kopf, wodurch Gegenwehr nicht zu erwarten gewesen war. Es hätte ihn auch nicht interessiert. Endlich angekommen, erkannte der Roboter im Inneren des kleinen Häuschens seinen täglichen Gast und das kleine Display formte sein pixeliges Gesicht zu einem Grinsen, während es aus seiner Brusttasche zu ihm sprach: »Guten Morgen, Arvid. Dein Kaffee kommt sofort. Wie geht es dir?« Arvid beobachtete, wie der Greifarm in effizienten Abfolgen den gemahlenen Kaffee aus der Mühle holte, ihn in einen metallenen Behälter kippte, das kochende Wasser aus einem anderen Behälter holte, es über das Pulver goss, das Gemisch schüttelte und über einen Druckbehälter in seinen Becher goss, ein kleines Deckelchen von der Spindel nahm, es auf den Becher setzte und mit einem Permanentmarker seinen Nachnamen in Schreibschrift auf den Becher schrieb. Dann war der Greifer im Begriff, Arvid sein flüssiges Frühstück zu überreichen, setzte den Becher dann doch noch einmal ab und malte auf den Namen ein kleines Smiley. Erst dann überreichte er Arvid seinen Kaffee, auf dem nun Nox stand, wobei ihn das O freundlich anlachte. »Weil Montag ist, Arvid.«, erklärte der Roboter und fuhr mit seiner Arbeit fort, als ob nichts gewesen wäre. Arvid entnahm den Becher dem Ausgabebereich und rollte mit den Augen. Ein kurzer glockenartiger Klang ertönte und die Hochbahn glitt still und sanft an den Haltesteg heran. Sie hatte eine Perlmuttbeschichtung und glänzte somit seiden in verschiedenen Farbnuancen. Nachdem die elektronischen Gatter sich geöffnet hatten, wartete Arvid noch einen Moment, bis sich die enthusiastischsten Schafe zuerst hineingequetscht hatten. Er hasste Körperkontakt jeglicher Art. Die täglichen Fahrten waren für ihn eine Zumutung und er dachte oft daran, wie es wohl wäre, genug Einkommen zu haben, um eine eigene Fahrlizenz erwerben zu können. Dann könnte er sich selbst in der Stadt umherbewegen, wie es ihm gefiel, allein, beinahe wie… »Bitte steigen Sie zügig ein. Zusammen sind wir besser.« Arvid hatte kurz getrödelt. Der Vermerk auf seinem Smartphone würde ihn einen Sozialpunkt kosten. In ihm stieg eine unbändige Wut auf. Seine spitzen Zähnchen schoben sich langsam hervor. Eine Stimme tief aus seinem Inneren schrie ihn an, fauchte und zischte. Er konnte sie zwar nicht Wort für Wort verstehen, aber er wusste, was sie wollte. »Jetzt mach mal hin, Alter!«, rief ein Fahrgast ihm zu. Arvid musste kurz blinzeln. Er stand allein auf dem Steg. Nur er und sein langer Schatten, den die aufgehende Sonne neben ihn auf den geriffelten Boden zeichnete, waren noch draußen. Aus dem Zuginneren gafften ihn Leute an. Er riss sich zusammen und schritt auf den Mann zu. Dieser bemerkte langsam, was da für ein Koloss auf ihn zuwalzte und seine aufmüpfige Körperhaltung wich mit jedem Schritt Demut und Unterwürfigkeit. Arvid stellte sich neben den Mittedreißiger, der wie ein typischer Programmierer wirkte und sah auf ihn hinab wie ein Raubtier auf seine Beute. Seine Augen bohrten sich gnadenlos in die seines Gegenübers, das immer kleiner zu werden schien. Provokativ neigte Arvid seinen Hals ruckartig zur Seite. Es knackte laut und ungesund. Der Mann zuckte zusammen und blickte ängstlich weg. In Arvid hingegen machte sich ein warmes, entspannendes Gefühl der Genugtuung breit und er nippte genüsslich an seinem Kaffee, als sich die Bahn in Bewegung setzte. Vielleicht würde der Tag doch nicht so schlimm werden. Die Fahrt dauerte zwanzig Minuten von Wohnbezirk zwei über den Freizeitbezirk zum Arbeitsbezirk. In der Bahn war es still. Die Fahrgäste starrten, bis auf den nervösen Kerl neben Arvid, in sich selbst hinein, jeder für sich. Die spiegelnden, zum Teil grün bewachsenen Stahlgiganten, schoben sich teilnahmslos während der Fahrt an ihnen vorbei. Was man dachte, behielt man besser für sich und so war das Gehirn das letzte Territorium, das die Stadt noch zu erobern hatte. Aber sie arbeitete daran, Tag und Nacht. Arvid dachte an die noch vor ihm liegenden Arbeitstage. Lenny wollte den Laden an die Chinesen verkaufen. Das war allen klar, als sie der Unternehmung beigetreten waren. Sie arbeiteten an einem süß schmeckenden Leckerli, den der Wal fressen sollte und an dessen Gedärme zumindest Lenny sich zeit seines Lebens sattfressen sollte. So der Plan. Prinzipiell war Arvid das alles völlig egal. Es war ein gut bezahlter Job und er tat, wie ihm geheißen. Seine einstige Leidenschaft für Gestaltung war von seinem damaligen Hochschulprofessor pulverisiert worden, als er ihm einmal auf dem Campusgelände gestand, er sehe keine Zukunft für Arvid in der bildenden Kunst. Dennoch läge seine Stärke im Aufschlüsseln vorhandener gestalterischer Strukturen und deren Umarbeitung für weitere Verwendung in einem kreativen, kooperativen Umfeld. Oder anders gesagt: Arvid sei eine Copycat, die als Mitarbeiter in einer der zahlreichen Werbeagenturen bestimmt einmal ein schönes Muster basteln dürfe. Etwas funkelte. Das rhythmische Licht- und Schattenspiel der vorbeiziehenden Gebäude fand seine Bühne auf dem zärtlichen Gesicht einer asiatischen Frau, die allein am Fensterplatz eines Doppelsitzes saß. Er hatte wohl einen Moment zu lange geschaut, denn sie sah zu ihm herüber. In ihrer Mimik lief ein Film in tausendfacher Geschwindigkeit ab. Das Ende war vernichtend. Er hatte allerdings auch kein Happy End erwartet. Als die Hochbahn an der Haltestelle Freie Welt zum Stehen kam, verließ Arvid die Bahn und war froh, dass mit ihm nur zwei weitere Personen ausgestiegen waren. Unten angekommen konnte er bereits das Developers Building Two sehen, in dessen zehnten Stockwerk sich Neuss Robot Safety Systems befand, wo er einen Job als Grafischer Designer, Illustrator und Animator bekleidete, der ihn bereits zu viele Nerven gekostet hatte. Die Arbeit mit seinen sogenannten Kollegen gestaltete sich jeden Tag aufs Neue schwierig. Da gab es Narzissmus, Größenwahn und grenzenlose Überheblichkeit, die aus einer schier unerschöpflichen Quelle fröhlich sprudelten, als gäbe es auf der Welt nichts anderes. Doch besonders die kleinen Sticheleien gegen ihn machten ihn fertig. Es wäre für Arvid ein Leichtes gewesen, den ein oder anderen Kollegen einfach in den Boden zu rammen. Doch was dann? Ihm fehlte einfach die Ausdauer, diesen Kampf immer wieder neu austragen zu müssen, denn was gab es schon zu gewinnen – einen Rang im Rudel der Halbaffen? Arvid war kein Mensch, der sich unter Seinesgleichen wähnte. Er war gewissermaßen ein Aussteiger, dem einfach der Sinn für sein Dasein abhandengekommen war. Aber er war hier, jeden Tag aufs Neue. Die Sonne stand bereits hoch und schien frontal auf die Gärten des majestätischen Gebäudes, die sich auf einer Seite in langen Treppenstufen abfallend zur Straße hin ausbreiteten. Die kleinen, begrünten Flächen waren so angelegt, dass man den Außenbereich der nächstliegenden Büros nicht einsehen konnte. Dies war eines der wichtigsten Gebäude der Stadt. In ihm wurde die Zukunft geschrieben, auf jede nur erdenkliche Weise – und dann verhökert, auf jede nur erdenkliche Weise. Arvid hatte den Haupteingang erreicht, der im Grunde nur ein aus schlichtem Beton gegossener Klotz war, in den verspiegelte automatische Türen eingelassen waren, die sich nur den Mitarbeitern der ansässigen Büros öffneten. Er entsorgte seinen freundlichen Kaffeebecher und trat ein. Die Eingangshalle war mit einem Boden aus bunten Hightech-Fasern versehen, deren Farbspektrum sich zu den Aufzügen hin auffächerte, sodass vor jedem Aufzug nur noch eine Farbe übrigblieb. Die Aufzüge waren in großen Abständen versetzt, denn jeder Aufzug fuhr lediglich in einen bestimmten Bereich der Gebäudestruktur, die außerordentlich verwinkelt angelegt war. Dem Architekten wurde lange Zeit nachgesagt, er hätte halb im Wahn entworfen. Für Arvid waren die kleinen, grünen Strähnchen vorgesehen, also folgte er diesen zu seinem Aufzug, der, als er sich ihm öffnete, eine täuschend echte Dschungelatmosphäre auf die im Inneren angebrachten Displays zeichnete, nebst Affengebrüll. Heute malAffen. Wie passend.