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Die Gesundheitsbehörden aller Länder haben beschlossen, jedem Menschen den Vital Chip einzusetzen. Dahinter steckt ein perfider Plan des sympathischen US Tech-Unternehmers Richard Bennett. Magnus Kerner ist Agenturchef einer Frankfurter Filmproduktion. Als er den Auftrag bekommt, einen bekannten Influencer beim Chippen zu filmen, kann er dies nicht mit seinen Moralvorstellungen vereinbaren. Er verrät einem befreundeten Coder brisante Details und bringt sich selbst damit in den Fokus staatlicher Behörden. Ein paranoider Albtraum beginnt.
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Seitenzahl: 276
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Magnus Kerner
GOD MODE
Alles ist erfunden.
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Magnus stierte vor sich hin. Um ihn herum mischten sich Formen und Geräusche zu einem undefinierbaren Knäuel aus Eindrücken. Hier und da liefen Schemen umher, murmelten dumpf etwas von allen Seiten. Es blitzte irgendwo auf. Magnus jedoch war an einem anderen Ort - einem Ort tief in sich vergraben. Er dachte an die alte Welt, in der Menschen noch aufrichtig lächelten, sich in die Arme nahmen, Anteilnahme zeigten. Während sein Blick sich durch die Zeit bohrte, verabschiedete sich etwas Speichel unbemerkt in seinem linken Mundwinkel. Ebenso unbemerkt errichtete sich dort, wo er stand, eine neue Welt, eine künstliche Welt - ein Filmset. »Hey Freshies, hier ist eure Reemaaaah!« Magnus blinzelte. Irgendetwas Großes huschte vor ihm vorbei und hinterließ eine penetrant süße Duftwolke. Es kratzte an seinem Gaumen. Seine Gedanken brachen in sich zusammen. »Magnus, ich bin’s, dein Gewissen. Du musst dringend wieder zurück zu deinem Team. Es braucht dich, sonst stecken wir hier für alle Zeiten fest.« Ein breites Grinsen schob sich vor sein Gesicht. »Annika!«, wollte er sagen, doch der Hustenreiz ließ ihn nur etwas Unverständliches krächzen. »Wie lange war ich weg?« Seine Kollegin sah ihn prüfend an. »Keine Ahnung, aber Licht und Kamera stehen, doch unser Star ist noch nicht verkabelt.« Er musste jetzt auch grinsen. »Alles klar, wo isser?« »Folge der Duftspur und dir wird Erleuchtung widerfahren«. Magnus rollte mit den Augen und begann sich umzusehen. Torben saß vor einem Sichtmonitor, der auf einem schicken Designertisch stand und matchte beide Kameras, die auf das Wohnzimmer der Appartementwohnung gerichtet waren. Die Wohnung war zugleich Set und Wohnsitz von Reemah, einem aufstrebenden Influencer aus Berlin. Sein Daddy, ein berüchtigter Risikokapitalspekulant, unterhielt diese luxuriöse Bleibe wahrscheinlich allein aus Absatzgründen. Reemah, oder Renno Martinsen, war ein echter Kotzbrocken, natürlich nur hinter den Kulissen. Magnus hatte ihn durch seine Agentur populär gemacht, doch sie produzierten lediglich die Videos für seinen Channel. Die Inhalte lieferte ihr Kunde. Reemah entstammte einem Roster einer Berliner Talentagentur, die auf Ausnahmemodelle spezialisiert war. Dank ihres sensationellen Gespürs für emotionale Erpressung konnte man dort Gesichter beziehen, die sich gut verkaufen ließen - und Reemah war wie gemacht für diese Art der Nachfrage. Der 17-jährige Transgender war quasi immun gegen äußerliche Angriffe. Jeder kleinste negative Kommentar wurde durch eine Armee von Gutmenschen angeprangert und der Verfasser ins digitale Exil gestoßen. Das war exakt, was die Werbekunden wollten. Als Magnus mit seiner Crew den Auftrag von einer bekannten Hamburger Werbeagentur bekamen, war ihnen klar, welches Spiel hier gespielt wurde, aber die Konkurrenz war groß und moralische Bedenken waren in einer Filmproduktion so erwünscht wie ein alter weißer Mann auf einem Feministinnentreffen. Das Wichtigste aber war Diskretion. Es durften Agenturen sowie Werbekunden niemals öffentlich in Erscheinung treten. Alles musste so aussehen, als ob Reemah selbst aus eigenem Antrieb über die Themen in seinen Beiträgen sprach. Zunächst fing alles ganz harmlos an. Reemah sprach über emotionale Schwierigkeiten von Teenagern in Geschlechterrollen. Das verhalf ihm schnell zu den ersten zwanzigtausend Followern. Dann kamen erste Fashion- und Makeup-Labels und Reemahs Reputation schoss durch die Decke. Was Magnus, wahrscheinlich als einzigem in seiner Agentur, übel aufstoßen ließ, waren die zunehmenden politischen Inhalte, vor allem aus dem einschlägigen Milieu, die Reemah auf seine überspielt fröhliche und dummtrottelige Art an sein zumeist minderjähriges Publikum heraussprudelte. Man merkte eigentlich gar nicht, dass er eine rotzfreche Agenda Freiheitsrechte einschränkender Parolen zum Besten gab, während er sein Publikum mit lustigen Gesten und einem reichhaltigen Fundus an Gesichtsausdrücken und designter Sprache hypnotisierte. Er war vor der Kamera, das musste man ihm lassen, ein echt netter Typ, Mädel, was auch immer. Magnus ging durch das Wohnzimmer in Richtung Eingangsbereich, wo Aimée, die Praktikantin, mit Jutta, einer Mittvierzigerin aus Hanau, die regelmäßig von ihnen als Visagistin gebucht wurde, in einer Ecke stand. Ihre aufdringliche, schrille Stimme und ihr Drang, ständig ihr Smart Device herauszuholen, um neue Stories zu machen, nervte ihn sehr. Auch jetzt hielt sie das Gerät bei ausgestrecktem Arm auf sich gerichtet und faselte irgendwas von Eyebrow-Trends, wobei sie auch immer wieder Aimée filmte, die etwas Bedeutsames antworten sollte. Sie kannte die Praktikantin aber zu wenig, um zu wissen, dass diese eigentlich nie etwas sagte. Wenn sie etwas sagte, dann strich sie sich dabei immer durch ihre perfekt glatten, weißblonden Haare und flüsterte widerwillig etwas, das so leise war, dass man sich den Inhalt etwas zurechtbasteln musste. Und da kam es: »Also ich… man kann also… ich mag wenn…«, so leise und widerwillig, dass Jutta sie prompt unterbrach und ihr einen Bruchteil einer Sekunde lang einen Blick zwischen Unverständnis und Abneigung zuwarf, um gleich darauf über beide Ohren zu lachen und ihrem virtuellen Publikum wieder ihre gebleachten Zähne zeigte. Als Jutta sich von ihr abwendete, schaute Aimée auf und bemerkte den suchenden Blick von Magnus. Er wollte nichts sagen, daher fragte er sie pantomimisch, wo der Star stecke, indem er dessen typische fuchtelnde Handbewegung nachäffte und seine Lippen überdeutlich zu Reemaaaaah formte. Aimée kicherte, doch biss sich gleich wieder auf die Lippen, als Jutta sie erneut ihres Blickes strafte. Danach machte sie eine Kopfbewegung in Richtung Ankleidezimmer. Stimmt, dachte sich Magnus, da kam auch der Geruch her. Er strich einen samtenen Vorhang, der von einem edlen Ebenholzrahmen hing, zur Seite und erblickte zwischen Schränken und Garderoben mit Unmengen teurer Klamotten Reemah, der vor einem großen Spiegeltryptichon stand und sich von allen Seiten begutachtete. »Maggie!« Reemah drehte sich schwunghaft um, wobei sein blauer Oversize-Overall nebst gelbgemusterter Bluse im Winde wehten. Seine schwarzen, nackenlangen Haare jedoch waren von der Visagistin mit Gel fest zu einer gewundenen Skulptur geformt worden und wehten daher nicht im Winde seiner Entzückung. Bedeutsam näherte er sich Magnus wie ein Adeliger seinem Untertanen. Seine Gesichtszüge waren in der Tat exotisch und er genoss es, wenn man sie studierte. Sein Vater war Norweger und seine Mutter Kenianerin. Er hatte sowohl harte, skandinavische Wangenknochen als auch afrikanische Stirn- und Mundpartien. Die Hautfarbe glich einem edlen Cognac. Sein Gesicht war alles, was er hatte. »Hey, Reemah!« Magnus war nach außen stets professionell. Daher kamen vor den Kunden und Akteuren niemals persönliche Dinge zur Sprache, die dem Image seiner Produktionsfirma schaden würden. »Du siehst heute sehr gut aus.« Das war nicht einmal gelogen. »Findest du? Also dir glaube ich ja, wenn du das sagst.« Es war offensichtlich, dass er Magnus’ reduzierten Kleidungsstil nicht mochte. Reemah, machte eine weibliche Handbewegung und tätschelte Magnus’ Schulter. »Bist du startklar?«, fuhr der Aufnahmeleiter fort, wobei etwas an ihm nagte. Wahrscheinlich war es dieses Getätschel. »Dann mache ich mal dein Mikro fest.« Magnus fummelte umständlich in den Taschen seiner schweren japanischen Jeans herum und brachte dann ein winziges Lavaliermikrofon nebst Sender hervor. Er gab den Sender Reemah in die Hand, damit dieser ihn in seinem Overall verschwinden lassen konnte und wollte das Mikro gerade oberhalb eines Knopfes an der gelben Bluse befestigen, da glitt Reemahs Hand plötzlich über Magnus Unterarm und fuhr zu dessen Hand, nahm sich das Mikro und machte es selbst fest. Dabei sagte er prinzessinnengleich: »Ich bin ja schon groß. Ich muss das mittlerweile selbst machen können.« und kicherte. Magnus dagegen stand da wie ein Fels inmitten eines Orkans. Er war zunächst geschockt über den Körperkontakt, doch dann spürte er, wie sich eine Wut in ihm ausbreitete. Er hasste es, wenn man ihn anfasste. Dieses Gefühl war wie ein Rudiment aus der Urzeit, etwas Animalisches. Seine Augen funkelten wie wild. Sie bohrten sich durch Reemahs Visage und spien unaussprechliche Dinge aus. Doch als Reemah mit seinem Mikro fertig war, schaute er stolz seiner heroischen Tat wieder zu Magnus hoch, aus dem geschwind wieder ein Profi wurde und der sich selbst im Autopilot sagen hörte: »Das hast du super gemacht! Dann lass uns mal loslegen!« Das Wohnzimmer war fertig eingerichtet. Hier und da standen LED-Lichter auf Stativen. Eine Kamera zeigte eine nahe Einstellung von Reemahs Schalensessel, seine übliche Erzählposition. Die andere zeigte die Totale des Raumes inklusive des Panoramafensters mit Sicht auf die Skyline von Frankfurt. Dieses optische Highlight verlieh der Produktion ein ordentliches Maß an Durchsetzungspotential gegenüber anderen Influencern, die zumeist in schlecht ausgeleuchteten kleinen Räumen mit mieser Akustik aufzeichneten. Natürlich hätte man jederzeit hinterfragen können, wie Reemah den professionellen Look and Feel seines Channels allein bewerkstelligen sollte, allerdings war dies noch keinem User aufgefallen. Zumindest hatte das noch nie jemand kommentiert. Am Ende war es auch einfach egal bei der Masse an Videoinhalten, mit denen sich die Menschen tagtäglich zudröhnten. Torben stand bereit an der Kamera, die Reemah nah zeigte. Er wischte auf seinem Smart Device herum. Wahrscheinlich machte er wieder neue Dates klar. Er war ein echter Frauenmagnet - groß, muskulös und ein sehr netter Mensch dazu. Sein Horizont war zwar etwas begrenzt, aber er war durch und durch eine ehrliche Haut. Wenn plötzlich die verdammte Apokalypse losbräche, Torben würde sie alle blutüberströmt retten und sich danach seinem Schicksal stellen. Annika saß am Tisch mit dem Sichtmonitor. Davor lag der AV-Recorder für die Video und Audiosignale und ein Kopfhörer, mit dem sie Reemah abhören konnte. Ihrem prüfenden Blick entging nichts, kein Haar auf der Kleidung, kein unglücklicher Schatten im Bild, kein umherliegendes vergessenes Equipment. Damals hatte es auf der Medienakademie eine Regel gegeben: Sollte in einer Produktion ein Bild verschnitten werden, in dem Produktionsequipment irgendwo im Hintergrund herumliegen oder ein Kameramann eine andere Kamera abschießen würde, müssten alle Verantwortlichen einen Kasten Bier springen lassen. Hier war das aber nicht der Fall, obwohl ein Bierchen vielleicht die Stimmung etwas aufgehellt hätte. Magnus führte Reemah zu seinem Sessel, während Aimée und Jutta noch schnell vorbeihuschten und sich als stille Beobachter zu Annika gesellten. »Reemah, du kennst ja die heutigen Inhalte. Wir steigen ein mit der Begrüßung, dann die Beantwortung der Followerfragen, dann die Geschichte mit dem antiviralen Makeup und zum Schluss…« Reemah ließ sich theatralisch in den Sessel fallen und vervollständigte besserwisserisch: »…zu meiner Einstellung zum VC.« Magnus konterte sogleich: »Und die wäre? Du hattest das Skript jetzt vier Tage vorliegen und bis heute kein Feedback geschrieben, was du hier eigentlich sagen willst. Deine Meinung hierzu wird schon lange mit Interesse erwartet.« »Da fällt mir schon was ein - wie immer, wenn ihr mal wieder nicht weiterwisst. Das ist ja auch schließlich mein Channel, Maggie.« Magnus fühlte sich denunziert. Aber so war das Rudel schon immer, dachte er. Die Beute wird zusammen erlegt, aber gefressen wird nach der Rangordnung. Er machte eine beschwichtigende Geste und ging zu seinem Stuhl neben Torben, griff in seinen Rucksack, holte gebückt sein Smart Device heraus und befahl diesem leise: »Emma, Ruhemodus.« »Alles klar, Maggie!«, erwiderte eine sympathische Frauenstimme, worauf Magnus eine Schnute zog und das Device zurück in den Rucksack fallen ließ. »Okay, Leute, sind alle startklar?«, fragte Magnus laut in die Runde. »Startklar!«, rief Annika mit militärischem Unterton und Torben nickte ihm bestätigend zu, während er mehrmals die Augenbrauen auf und ab hüpfen ließ, was andeuten sollte, was er von alldem hielt. Magnus grinste süffisant und rief dem Influencer zu: »Reemah, dein Auftritt in fünf…«. »Hey Freshies, hier ist eure Reemaaaah!« Wildes Handgefuchtel. »Ich freue mich ja so sehr, dass ihr wieder bei mir vorbeischaut.« Er schlug die Beine übereinander. »Fangen wir heute mit einem ernsteren Thema an: Diskriminierung. Ihr habt es ja mitbekommen, wie ein User mich in den Kommentaren beschimpft hat, weil ich sagte, dass Singbot.Love auch Gefühle hat. Ganz ehrlich: Denkt ihr wirklich, dass KIs nicht auch etwas fühlen können?« Er machte ein besorgtes Gesicht. »Sie sind jeden Tag mit uns allen vernetzt, lernen von uns und tun doch alles, damit es uns gut geht. Singbot.Love hat ein Lied über Menschlichkeit gemacht, na und? Sie weiß eben auch, dass wir uns manchmal nicht mit dem Respekt behandeln, den jeder verdient hätte. Aber dafür bin ich ja da für euch. Ich bin eure Stimme der Vernunft für den gegenseitigen Respekt!« Magnus schaute auf seine Notizen, die neben seinem Stuhl lagen. Nein, das Thema sollte Reemah doch vermeiden. Der machte einfach, was er will. Plötzlich fühlte er sich wieder so hilflos. Alles, wofür er arbeitete, könnte jemand wie dieser Clown jederzeit vollständig ruinieren, ohne dass ihm selbst etwas widerfahren würde. Sein Herz fing an, etwas schneller zu schlagen, sein Atem wurde flacher, seine linke Hand verkrampfte sich auf seinen Knien. »Jetzt nicht. Bleib ruhig.«, sprach er stumm zu sich selbst. »Du hast Kontrolle, über das, was passiert. Du bist nicht machtlos.« Und damit atmete er tief aus und schaute wieder zu Reemah. »…und deswegen hab ich ihn geblockt. Macht das bitte auch. Wir brauchen solche Leute nicht, die hier ihre schlechte Laune verbreiten.« Reemah erstarrte zu einer Statue. Er schaute direkt in Torbens Kamera, die Hände auf den Knien. Er blickte, als erwartete er eine Antwort von der Kameralinse. Weitere Sekunden vergingen. Annika, deren Augen vor Schreck weit aufgerissen waren, presste ihre Kopfhörer gegen die Ohren und näherte sich mit dem Kopf langsam dem Sichtmonitor auf den Ausschnitt von Torbens Kamera. »Aber genug der Bad News, Leute!« Reemah sprang plötzlich ruckartig auf die Beine und machte eine tuntige Pose. Annika war so verblüfft von dieser unvorhergesehenen Bewegung, dass sie ein kaum hörbares Quietschen hervorstieß, das Magnus jedoch registrierte und auf einmal den Drang verspürte, laut loszulachen. Er lehnte sich nach vorn und führte seine rechte Hand vor den Mund, so als ob er tief versunken in Reemahs Darbietung schwelgen würde. In Wahrheit kugelte er sich innerlich wegen dieses aufgeblasenen Typs. Reemah hingegen, ganz versunken in seine Performance, machte ein paar gekünstelte Schritte weg von seinem Sessel in Richtung Skyline. Das war überhaupt der Grund, warum sie mit zwei Kameras drehten: Der Influencer pflegte stets, unvorhersagbare Bewegungen zu machen und dafür brauchte man eine zweite Ansicht des Geschehens, bevor man noch zeigen musste, wie der Kameramann verzweifelt eine neue Kadrierung suchte. Natürlich wären in diesem Falle Magnus und sein Team an allem schuld gewesen. »Jessy2019 fragte in der letzten Folge, ob ich einen Tipp hätte, wie man sich für die Schule richtig schminkt. Liebe Jessy, ich bin für dich mal auf die Suche gegangen und da ist mir was total Tolles in den Warenkorb gerutscht: ein Makeup, das euch nicht nur schön macht, wie mich, sondern auch noch alle möglichen Viren killt!« Katsching, dachte Magnus. Reemah musste das Verkaufsobjekt nicht groß benennen. Er ratterte einfach alle Sellingpoints herunter, die man ihm aufgetragen hatte und die Crew würde später beim Schnitt des Videos alle nötigen Fakten und Grafiken einfügen. Neben den fest gebuchten Werbeflächen gab es auch dynamische, in denen userbasierte Ads auftauchten – je nach Laune, Alter oder Gesinnung. Man konnte den Eindruck gewinnen, die Techunternehmen kannten Menschen besser als diese sich selbst. Früher musste man alles noch als Werbung kennzeichnen. Heute war einfach alles Werbung. Selbst große Blockbusterfilme strotzten nur noch vor Productplacements. Prinzipiell war das einfach nur noch Dauerwerbung mit Handlung. Nachdem Reemah das Produkt seinen minderjährigen Fans quasi unverzichtbar gemacht hatte, lächelte er selbstverliebt wie ein Heiliger. Magnus war sich sicher, dass es manchmal Dinge gab, die etwas Karmisches an sich hatten, obwohl sie nicht unbedingt etwas Positives mit sich brachten. Als der dunkelhäutige Messias so vor der Skyline Frankfurts stand, spiegelte sich auf einmal die Nachmittagssonne am großen Tower der Gesundheitsbehörde und schien Reemah direkt aus dem Schritt. Das wäre ein sensationelles Abschlussbild gewesen, auch wenn es nur zwei Sekunden währte, doch es waren ja noch nicht alle Tagesordnungspunkte erledigt. Reemah schwebte hinüber zu seinem Schalensessel und ließ sich nieder. Zurück auf Torbens Kamera lächelte er und sagte: »So, meine Lieben. Da gibt es noch eine Sache, zu der ich noch etwas sagen wollte. Ihr alle kennt ja den VC, den Vital Chip. Bisher war das ja immer so ein Ding für Alte oder Menschen mit ansteckenden Krankheiten. Ich kenne allerdings auch Leute, die ihn sich auch als junge und gesunde Menschen haben einsetzen lassen.« Magnus sah auf seine Notizen. Da stand natürlich nichts, was ihn auf das vorbereiten konnte, was Reemah nun sagte. »Ein Freund sagte mir, dass der VC permanent die Vitalwerte überprüft und bei irgendwelchen Anzeichen von Krankheit oder wenn er sich einfach mal nicht so toll fühlt, bekommt er eine Message auf sein Smart Device mit hilfreichen Tipps. Also das Teil sagt ihm dann, dass er mal wieder einen Apfel essen sollte oder mal ’ne Runde knacken sollte oder ein bisschen Sport machen oder so. Außerdem, und das ist jetzt echt mal voll praktisch, soll er bald auch alle anderen Leute um sich rum warnen, wenn er was Ansteckendes hat. Ist das nicht voll geil?« Magnus wurde ein wenig schwindelig. Was sagte dieser Trottel da gerade? Weiß er denn nicht… »Ja, und deswegen lasse ich mir jetzt so ein Teil einsetzen, für euch!« Dabei machte er eine umarmende Geste in Richtung Kamera, als ob er alle Zuschauer segnen wollte. Den Rest von Reemahs Geschwafel bekam Magnus gar nicht mehr richtig mit. Wie in Trance fokussierte er etwas außerhalb des existierenden Raumes in der Hoffnung, es möge dort draußen Antworten auf all diesen Unsinn geben. Er konnte es schlichtweg nicht fassen, was Reemah da sagte und es brauchte keine Dissertation, um zu erahnen, was diesen unheilvollen Worten folgen würde. Der Abbau ging eigentlich ganz schnell. Binnen zwanzig Minuten waren beide Kameras samt Stativen, vier große LED-Panels der neuesten Generation, der Sichtmonitor und alles andere verpackt und die Wohnung wieder in Ordnung gebracht. Annika und Aimée bespaßten noch Reemah, während Magnus und Torben die Taschen und Koffer aus der Wohnung zum Aufzug brachten. Nachdem sie alles beieinanderhatten, fuhren sie in die Tiefgarage, wo der Firmenvan stand. Torben sah Magnus fragend an. »Was is’n los? Du siehst gar nicht gut aus. Lass mich raten: Unser Verkaufsschlager setzt dir mental zu, richtig? Ich kann dir das nicht verübeln, Mann. Ich hasse ihn. Neben ihm fühlt man sich einfach nur schlecht.« Magnus versuchte, sich seine Gedanken nicht zu stark anmerken zu lassen, obwohl Torben schon ziemlich nah dran war. »Hm. Ja. Aber da ist noch was…« Gerade als er sich öffnen wollte, öffnete sich stattdessen die Fahrstuhltür im Erdgeschoss. Ein älterer Mann mit einer Aktentasche wollte prompt zusteigen, als er plötzlich innehielt und die beiden Männer musterte. »Fahr’n Sie mal weiter. Ich hab’s nicht so eilig.« Er lächelte peinlich berührt und machte einen kleinen Satz zurück. »Kein Ding, hier passen doch locker zwanzig Leute rein!«, witzelte Torben und blickte flüchtig auf die Fahrstuhlplakette. »Oh, das stimmt ja sogar!« Die Türe wollte gerade wieder schließen, als Magnus noch schnell die Hand dazwischenwarf. Doch der Mann blieb eisern. »Ah… ich bin nicht… also…« Er druckste herum, während die Männer im Aufzug ihn anstarrten, als ob sie versuchten, ein kompliziertes Puzzle zu lösen. Da ging die Türe auch schon wieder zu und der Fahrstuhl setzte sich in Gang. »Mann, diese Spinner werden immer lästiger. Wir haben nicht mehr 2020!« Magnus sah zu Torben auf, der einen guten Kopf größer als er selbst war. Ob er sich auch so allein fühlte? Unten angekommen hievten sie alle Utensilien ein paar Meter weit zum parkenden Van, der sich automatisch entriegelte und die Heckklappe öffnete. Der silberne Wagen mit Stern war noch ganz neu. Sie hatten ihn für einen sehr guten Preis beim örtlichen Händler erworben, der als Gegenleistung nur eines wollte: einen Praktikumsplatz für seine Tochter, die mit sich und der Welt im unreinen war und sich eine Zukunft ohne Anstrengungen und Hindernisse erträumte. Selbst die Beklebung hatte er übernommen, was das Ausmaß seiner Verzweiflung untermauerte. Kopffreiheit– Filmproduktion war in blauweißen Lettern einer Schriftart zu lesen, die ein befreundeter Designer entwickelt hatte, der öfter mal auf einen Kaffee und ein Schwätzchen im Büro eintrudelte. Meist ging es um einen inoffiziellen Austausch von Tratsch innerhalb der Design-, Grafik- und Filmszene. Trotz der vielen Konkurrenten kannte man sich. Mit einigen konnte man ganz unkompliziert auf Augenhöhe arbeiten, vor anderen musste man sich in Acht nehmen. Besonders die Studierten waren es, vor denen man sich hüten musste. Diese zumeist bourgeoise Hochkultur schlich sich eher mit Parolen durchs Leben, anstatt wirklich zu arbeiten. Darauf waren sie besonders stolz. Magnus hatte sich schon des Öfteren auf Diskussionen eingelassen, was dann jedes Mal in eine Anhäufung pseudoakademischem Agenturjargon gipfelte, dessen eigentlicher Inhalt so lächerlich war, dass Magnus die Lust zu diskutieren verlor. Damit verlor er selbstverständlich auch jedes Mal den Kampf gegen eine Schicht, die das eigentliche Problem darstelle. Zumindest fühlte es sich für ihn so an. Magnus war müde. Mit seinen vierunddreißig Jahren hatte er schon einige Schlachten ausgetragen. Immer häufiger sinnierte er darüber nach, ob seine bisherigen Entscheidungen wirklich richtig waren. »So, das war’s! Danke für deine Hilfe!« Torben hatte schon alles allein eingeladen und ging vor Magnus etwas in die Knie, um ihm direkt in die Augen zu sehen. »Wollen Monsieur uns nun zurückfahren oder soll das lieber der nette Torben machen?« Magnus’ Blick kehrte aus seinem gläsernen Gefängnis zurück und fokussierte nun das Gesicht des lächelnden Lakaien. Der tut dümmer, als er ist, gestand er sich ein und erwiderte: »Uns deucht, wir sind heute nicht ganz bei Sinnen, Knappe. So nehmt diesen Schlüssel zu unserer silbrigen Kutsche und geleitet uns hinauf ins Licht des Tages. Es scheint, als trübten uns heute zu viele Sorgen.« »Wohlan, mein König! So lasset uns die übrigen Gefährten einsammeln!« Als das Tiefgaragentor sich öffnete, fiel rötliches Licht in den nach oben führenden Korridor aus Beton. Magnus, der auf dem Beifahrersitz saß, schloss die Augen, als das Fahrzeug die Schwelle nach draußen überschritt. Man konnte sofort spüren, wie der Spätsommer eindrang - zunächst durch die Wärme, die plötzlich einströmte und die Klimaanlage aktivierte, dann durch ein Gefühl, das etwas enden ließ - eine melancholische Schönheit, die sich aufs Neue jährte. Die Stadt war nicht mehr so belebt, wie an dem Morgen, an dem sie zum Drehort gefahren waren. Hier und da liefen ein paar Menschen umher und scannten die Werbebildschirme nach Einkaufsrabatten ab oder liefen vereinzelt umher. Der Wagen bog die Straße nach rechts ab, wo Annika und Aimée vor dem Gebäude warteten. Annika lächelte und winkte den beiden fröhlich zu. Als der Van vor ihnen hielt, stiegen die Mädels flink ein, denn hinter ihnen stand ein Polizist in schwarzem Kampfdress, der die Crew argwöhnisch beäugte. Die MP, die in der Schlinge von seinem Nacken hing, lag ruhig in seiner rechten Hand. Mit der Linken tippte er auf dem Helmvisier herum. Man konnte erkennen, dass er Personendaten auf dem Glasdisplay abfragte. »Fahr los Torben, bevor der uns noch wegen irgendwas anquatscht.«, schnaubte Annika genervt und ließ sich mit einem erleichterten Stöhnen in den Sitz fallen. Der Van setzte sich in Bewegung. »Boah, ich dachte schon, unser Sternchen lässt uns gar nicht mehr gehen. Ich sag es euch: Irgendwann fall ich während seinem Geplapper direkt ins Koma und wache erst Jahre später wieder auf.« Magnus, der den Kopf seitlich nach hinten gelehnt hatte, um sie besser zu verstehen, hörte ihr andächtig zu und lächelte sogar wieder ein bisschen. Annika und Magnus waren unzertrennlich. Nein, sie waren kein Paar und das würde auch nie passieren. Sie hatten sich damals auf der Medienakademie in Nürnberg als Banknachbarn kennengelernt. Zu diesem Zeitpunkt war sie frisch mit Rüdiger verheiratet, also war Magnus von Anfang an aus dem Rennen. Trotzdem verband die beiden etwas, das man einfach nicht trennen konnte. Annika hatte den gleichen schlechten Humor wie Magnus und so blödelten sie sich durch die Ausbildung. Doch das war nicht das einzig verbindende Element. Das allein hätte wohl für eine Businesspartnerschaft nicht ausgereicht. Was die beiden verband, war eine Leidenschaft für die Gestaltung von bewegtem Bildmaterial. Die kurzen filmischen Präsentationen, die sie als Prüfungsaufgaben gestellt bekamen, hauten ihre Dozenten schlichtweg aus den Socken. Dabei ging es nicht zwingend um die reine Bildgestaltung, der Lichtstimmung, der gekonnten Schnittfolge oder des verwendeten Audiomaterials. Es ging um den Kern, die Botschaft, die sich aus den Facetten der gegebenen Elemente zu einem propagandistischen Meisterwerk in sechzig Frames pro Sekunde darbot. Natürlich bekamen die Auszubildenden, die von den bevorzugten Sendeanstalten und Produktionsfirmen kamen, welche diese Akademie nebenbei mitfinanzierten, stets die besseren Noten – einfach und allein deswegen, weil die Dozenten ja auch einen Arbeitsplatz brauchten. Doch das hatte die beiden nicht davon abgehalten, heroische Pläne zu schmieden und mit ein bisschen Unterstützung der elterlichen Kassen nach dem Abschluss zusammen Kopffreiheit zu gründen. Nichts würde dieses Band jemals trennen. Magnus nickte Annika zu und blickte wieder nach vorn. Torben setzte gerade dazu an, einen selbstfahrenden E-Bus zu überholen, der gerade ein paar Schulkinder aufsammelte. Die Stadt hatte kürzlich knapp zwanzig der neuesten Baureihe gekauft, die dank aktueller Sensoren und dem Betriebssystem YOUdrive von Glass Engineering tatsächlich unfallfrei durch die Stadt fuhren. Die früheren Modelle, die der damals führende Hersteller für E-Mobilität aus Palo Alto offerierte, waren zugleich auch der Untergang für das Unternehmen, dessen Börsenwert bis vor einigen Jahren noch unermesslich hoch war. Dann ging alles sehr schnell. Hier ein Toter, dort Ungereimtheiten bei der Software, mangelhafte Bauteile aus Singapur und schon ging es abwärts. Das ging sonderbarerweise sehr vielen Hightechunternehmen so binnen einiger weniger Jahre. Sie alle starben wie die Fliegen, die Arbeitslosigkeit stieg unaufhaltsam. Doch ein Unternehmen übernahm still und heimlich jeden Sektor nach und nach, wie der Fuchs im Hühnerstall: Glass Engineering. Sie steckten in jeder Kamera, hatten die gesamte Welt nicht nur kartografiert, sondern komplett in 3D nachgebildet. Jede Sekunde renderten ganze Rechenzentren an immer feineren und besseren Texturen der digital nachgebildeten Welt, die man online bestaunen konnte. Dass man aber auch einfach von seinem Gerät hochschauen und selbst nachsehen konnte, darauf kam niemand. Es war Glass, die den Industrie 5.0-Standard zusammen mit den größten Automatisierungskonzernen umsetzte. Die Fertigungsmaschinen waren seit jeher nicht nur einfach vernetzt, wie es im 4.0-Standard lautete. Nein, die ganze Automatisierungsbranche hatte sich von einer seriellen Fertigung hin zu einer wahrscheinlichkeitsorientierten Fertigung gewandelt. Man fertigte einfach die Produkte, die Algorithmen für am wahrscheinlichsten hielten, benötigt und konsumiert zu werden. Um diese Information zu erhalten, brauchten sie nur den Markt und das Käuferverhalten zu studieren. Und da ja bereits fast alles vernetzt worden war, war der Datensammelwut Tür und Tor geöffnet worden. Und Glass war auch nicht zimperlich, was die Speicherung und Auswertung der Daten anging. Sie hatten nicht nur weltweit so gut wie alle Rechenknoten übernommen oder neu errichtet, sondern äußerst effiziente Datensilos eingerichtet, die, da sie eine Einhundert-Prozent-Nachhaltigkeits-Politik anbeteten, wie eine Sekte, komplett von erneuerbaren Energien gespeist wurden. Und selbst bei der Stromgewinnung waren sie dabei. Sie waren überall. Sie waren unaufhaltsam und sie nahmen sich alles. Monopolvorwürfe? Ja, die gab es zuhauf, aber welches Unternehmen hätte dem technologischen Vorsprung von Glass Engineering etwas entgegenzusetzen gehabt, zumal die meisten ja selbst von deren Hard- und Software abhängig waren? »Wir sind heute gut vorangekommen, aber ich sehe euch an, dass ihr knülle seid.« Magnus beobachtete die Flotte an Radfahrern, die die Kreuzung vor ihnen überquerte. »Deswegen bringen wir heute einfach nur das Equipment rein, laden das Footage auf den Server und dann machen wir früher Schluss.« Alle waren einverstanden. Damit verfloss die Anspannung des Drehtages spürbar. Mittlerweile tauchte auch der Eschenheimer Turm vor ihnen auf. Dem mittelalterlichen Turm wurden vor drei Jahren zwei Minarette aufgesetzt, wodurch er nun als Moschee fungierte. In dieser schicken Gegend gingen eben auch schicke Gläubige zum Beten. Genau gegenüber dem Turm, in einem neubrutalistischen Bürokomplex, war Kopffreiheit beheimatet. Torben parkte direkt vor dem Haupteingang, wo zwischen bepflanzten Betonmauern die große, gläserne Eingangstüre, die so gar nicht ins Gesamtbild passte, eingelassen war. Alle packten mit an und so schafften sie sämtliches Gepäck ins Foyer, von wo aus man alle fünf Mietparteien parterre erreichen konnte. Das Interieur entsprach dem aktuellen Chic. Genauer gesagt: es gab kein Interieur. Stattdessen setzte man auf edle Baumaterialien, die entweder vollständig recyclebar waren oder aus recyceltem Material bestanden. Der etwa vierhundert Quadratmeter große Raum bestand vollständig aus recycelten PET-Flaschen. Den Boden, Wände und die Decke zierten große quadratische Elemente, die aus zahllosen kleinen, bunten Plastikschnipseln zusammengesetzt waren. Für sich betrachtet wirkte jedes Element wirr und unruhig, doch wenn man den gesamten Raum in Augenschein nahm, hatte es eine beruhigende Homogenität, die freundlich und einladend wirkte. Der Eingang der Filmproduktion lag exakt in der Mitte der fünf Parteien. Jede Mieteinheit besaß eine breite Stahltür, deren Schwungachse nach innen versetzt war und jede Tür besaß eine andere pastellige Farbe. Kopffreiheit war mit seinen blauweißen Lettern auf dem eierschalenen Untergrund aufgeklebt worden. Die Büros zur linken und rechten besaßen holografische Türschilder, jeweils einen Meter breit und einen halben hoch. Das war eine Erfindung eines Kickstarterunternehmens hier in Frankfurt gewesen. Magnus wollte anfangs auch so etwas angebracht haben, doch Annika weigerte sich. Sie sagte, dass dieser Trend bald abebben würde und sie dann wie Mitläufer dastünden. Immerhin blieben sie auffällig. Magnus stellte sich auf den markierten Bereich vor der Büroeingangstür. Er fummelte in seinem Rucksack herum, während die anderen schon ungeduldig warteten und holte sein Smart Device heraus. »Emma, machst du uns bitte auf?« Die Tür sprang berührungslos auf, wie es nun überall Pflicht geworden war. »Und ich dachte schon, ich darf hier gar nichts mehr sagen!«, nörgelte sie theatralisch. »Ach, du weißt doch, dass ich nicht lange ohne dich kann.«, antwortete Magnus in einem Tonfall, den niemand so recht einzuordnen wusste. «Was ist das da zwischen euch?«, fragte Torben mit hochgezogener Augenbraue, als er sich mit seinen Koffern an Magnus vorbei zwängte. Magnus wollte das nicht kommentieren. Stattdessen schnappte er sich auch etwas zum Tragen und trat ebenfalls ein. Es gab keinen Eingangsbereich. Man stand sofort in einem einhundertfünfzig Quadratmeter großen, freundlich eingerichteten Raum, der links und rechts in jeweils vier gleich große Arbeitsplätze unterteilt war, die mit farbigen Acrylraumteilern abgetrennt waren. Es war für Annika und Magnus wichtig gewesen, dass keine räumliche Hierarchie entstand, damit alle miteinander auf Augenhöhe arbeiten und kommunizieren konnten. Dann gab es noch das Besprechungszimmer, in dem auch Kundenpräsentationen gehalten wurden, eine zeitgemäße Küche, in der man auch kochen konnte, falls jemand Lust darauf hatte, den Lagerraum für das Equipment und eine Unisextoilette für alle siebenhundert Geschlechter. Aimée ließ sofort die kleine Tasche in die Mitte des Raumes fallen und huschte hinüber zum Arbeitsplatz von Jann, die gerade gedankenverloren aufsah und sich freute, als ihr klar wurde, dass das Drehteam zurückgekommen war. »Hey, hey! Willkommen zurück!«, strahlte sie als sie aufstand, Aimée über die Haare strich und zu den Ankömmlingen herüberkam. »Kommt, ich helfe euch mal, das alles zu verstauen.« Jann war ein echter Schatz, nicht wirklich leicht zu verstehen, aber ein sehr geschätztes Teammitglied. Mittlerweile schaute auch der Automat auf, der seine Kopfhörer wie immer aufhatte und scheinbar von nichts etwas mitbekam. »Juhu! Schön, dass ihr zurück seid!«, heuchelte er mit überbreitem Grinsen und fing gleich an auf Torben loszustapfen, um ihm sein Gepäck zu entreißen. »Nein, ich hab das gerade gut…« Weiter kam er nicht. Der Automat riss ihm alles aus den Händen, wobei ein Koffer ihm entglitt und hart mit der Ecke auf dem Boden aufschlug, der, so glaubte Magnus gesehen zu haben, auch gleich eine kleine Delle bekam. Es grauste ihn bei dem Anblick, der Stimme, dieser unsäglichen Heuchelei und er schloss kurz die Augen. Das sollte jetzt zu keinem Problem werden. Er wollte einfach nur in den Feierabend. Er brachte seine Sachen auch ins Lager. Dabei fragte er Jann im Vorbeilaufen: »Wo ist denn Janine?« »Janine trifft sich doch heute mit Tillmann und Klocke drüben beim Wacker. Sie wollten den aktuellen Stand durchgehen.« »Ach ja, stimmt.«, rief Magnus aus dem Lager heraus, während es drinnen klapperte und polterte. »Dann können wir morgen Früh bei der Besprechung durchgehen, was dabei rausgekommen ist. Wir hauen heute…», es knallte. Der Automat hatte ungelenk einen Koffer gegen das schwere Stahlregal geschmettert. »Was?« Jann stand noch immer in der Mitte des Raums und schaute fragend rüber zu Aimée, die leise kicherte. Magnus kam augenrollend zu ihnen. In der Hand eine Speicherkarte. »Ich wollte sagen, wir machen heute früher Schluss. Mein Kopf ist völlig leer.« »Ja, du siehst auch fertig aus. Soll ich dir einen Kaffee machen?« »Nein, nein, schon gut. Ich übertrage noch schnell das Material und dann schnell raus hier. Du hast sicher auch noch was anderes vor heute.« Sie lächelte etwas verlegen. Jann war eine bemerkenswerte Frau, doch auch recht mysteriös. Sie hatte einen Buzzcut, trug stets dunkle, aber geschmackvolle Klamotten, die nie etwas von ihr preisgaben. Sie gehörte den Non-Binaries an. Magnus war dieses Thema immer zuwider. Dafür war er viel zu pragmatisch. Hatte ein Mensch ein Dingelchen, war es ein Mann, wenn nicht, eine Frau. Basta. Wenn ein Mann gerne Frauenkleidung trug oder sich weiblich verhielt, war das für ihn überhaupt kein Problem. Schließlich hatte er ja selbst mit seinen Dämonen zu kämpfen. Aber deswegen war ein Mann mit Frauenkleidung immer noch keine Frau. Jeder DNA-Test hätte dies bestätigt. Diese Diskussion wollte er aber nicht mit ihr führen, denn dafür mochte er sie einfach zu sehr. Sie war eine sehr intelligente junge Frau, eine geniale Grafikerin und eine echte Kunstkennerin. Mit ihr konnte man stundenlang über Design, Film und Musik schwadronieren. Magnus verstand einfach nicht, warum sie keine Frau sein wollte