Sonderpädagogik und Inklusion -  - E-Book

Sonderpädagogik und Inklusion E-Book

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Beschreibung

Die (Forderung nach) Inklusion von Menschen mit Behinderungen wirft Fragen auf und führt zu kontroversen Antwortversuchen. Wie könnte der Beitrag der Sonderpädagogik zur Inklusion aussehen und was bedeutet das für die Zukunft der Sonderpädagogik? Benötigt ein inklusives Bildungswesen mehr Sonderpädagogik oder etwa gar keine Sonderpädagogik mehr? Über viele Jahre hat sich die Sonderpädagogik als Anwalt von Menschen mit Behinderungen verstanden - wird dieses Verständnis zukünftig überflüssig? In der vorliegenden Publikation wird das Verhältnis von Sonderpädagogik und Inklusion aus verschiedenen sonderpädagogischen Gebieten und Nachbardisziplinen diskutiert. Dabei werden historische, wissenschafts­theoretische sowie das Bildungs- und Gesellschaftssystem betreffende Aspekte vorgestellt und die Frage des Beitrags der Sonderpädagogik zur Inklusion kritisch hinterfragt. Orientierungspunkte für die weitere Entwicklung der Sonderpädagogik in Theorie und Praxis werden aufgezeigt in einem Bildungs- und Gesellschaftssystem, das für Menschen mit Behinderungen ein größeres Maß an Teilhabe und Partizipation realisieren will.

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Cornelius Breyer, Günther Fohrer, Walter Goschler, Manuela Heger, Christina Kießling und Christoph Ratz (Hgg.)

Sonderpädagogik und Inklusion

ATHENA

Lehren und Lernen mit behinderten Menschen

Band 26

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

1. Auflage 2013

Copyright © 2013 by ATHENA-Verlag, Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen

www.athena-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Print) 978-3-89896-483-8 ISBN (ePUB) 978-3-89896-832-4

Für Erhard Fischer zum 60. Geburtstag

Vorwort

Fast zeitgleich wurden in Deutschland in den 1970er-Jahren einerseits das Sonderschulsystem flächendeckend etabliert, andererseits aber auch ernst zu nehmende Forderungen nach Integration erhoben (Dt. Bildungsrat). Diese Parallelität besteht 40 Jahre später noch immer. Auf der einen Seite sucht die Intensität, mit der das sonderpädagogische System zwischenzeitlich in Deutschland ausgebaut wurde, weltweit ihresgleichen. Auf der anderen Seite stehen heute weitreichende Bemühungen, die UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen durch geeignete Bildungsangebote inklusiv umzugestalten – regional allerdings mit sehr unterschiedlicher Ausprägung.

Die inklusive Entwicklung des Bildungssystems steht politisch und moralisch außer Frage. Dennoch tauchen bei ihrer Umsetzung Fragen auf, vor allem hinsichtlich des jahrzehntelangen Engagements für die Belange von Menschen mit Behinderungen seitens der schulischen, institutionellen und wissenschaftlichen Sonderpädagogik, wie beispielsweise: Kann das erreichte Niveau sonderpädagogischer Förderung in inklusiven Institutionen gehalten werden? Ist eine inklusive Gruppenzusammensetzung tatsächlich uneingeschränkt im Interesse der Kinder oder Erwachsenen mit Behinderungen? Aber auch: Wie verändern sich Forschung und Lehre, Kultuspolitik, Pädagogik und Didaktik in einem inklusiven Bildungssystem und was könnte der Beitrag der Sonderpädagogik sein?

Prof. Dr. Erhard Fischer feiert im Mai 2012 seinen 60. Geburtstag. Seine berufliche Biografie ist eng mit dem Ausbau des sonderpädagogischen Bildungssystems verbunden. Er hat sich für den Ausbau der Integration eingesetzt und wurde in den wissenschaftlichen Beirat des Bayerischen Landtages berufen, von wo aus er an der inklusiven Entwicklung des Schulsystems in Bayern beteiligt ist. So erscheint uns als Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl für Pädagogik bei Geistiger Behinderung das Thema »Sonderpädagogik und Inklusion« für eine Festschrift sehr geeignet, um die bisherige akademische Leistung von Erhard Fischer anlässlich seines 60. Geburtstags zu würdigen.

Die Autoren dieses Bandes haben entsprechend ihrer Arbeitsgebiete sehr unterschiedliche Zugänge zum Thema »Sonderpädagogik und Inklusion«. Wir haben deshalb eine grobe Gliederung in drei Bereiche vorgenommen. Der Bereich »Allgemeine Fragen« umfasst grundlegende Beiträge. Der zweite Bereich umfasst Themen zu Unterricht und Schule. Schließlich finden sich im dritten Bereich Überlegungen mit und von benachbarten Disziplinen.

Diese Beiträge zeigen, wie weitreichend der Prozess der Inklusion für die Gesellschaft und das Bildungssystem ist. Wir hoffen mit diesem Band Erhard Fischers Arbeit unterstützen zu können auf dem Weg zu einer inklusiven und für Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen lebenswerten Gesellschaft.

Würzburg, zum 07. Mai 2012

Die Herausgeber

I Allgemeine Fragen

Andreas Möckel

Heilerziehung, Bildsamkeit und Inklusion in der Geschichte der Heilpädagogik

1 Vorbemerkung

Seit dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der UN im Jahre 2006 stellt sich für die Erziehungswissenschaft auch die Fachdiskussion zur Geschichte der Heilerziehung neu dar.[1] Bisher war es so, wie Heinrich Hanselmann es 1932 in seiner Antrittsvorlesung sagte.

»So geht denn ziemlich vom Beginn unseres Volksschulwesens an bis in unsere Zeit jener breiten Heerstraße der Bildung ein schmaler Pfad parallel, dem man den sehr mißverständlichen Namen Heilpädagogik gegeben hat« (Hanselmann 1932, 2).

Wenn man von der Forderung der Inklusion ausgeht, muss sich das insofern radikal ändern. Es muss in Zukunft eine viel stärkere gegenseitige Empathie aufgebracht werden als bisher. Immer wieder sprachen sich Pädagogen in den vergangenen 200 Jahren für eine gemeinsame Erziehung von behinderten und nicht behinderten Kindern in Schulen aus. Trotzdem bildete sich der »schmale Pfad« Heilpädagogik heraus. Jetzt soll die Konsequenz daraus gezogen werden, dass Heilerziehung Pädagogik ist »und nichts anderes«.[2]

Elmar Heinz Tenorth und Sieglind Ellger-Rüttgardt legen diesen Befund in einem Bericht über die Ergebnisse eines groß angelegten Forschungsprogramms zur »Geschichte und Wirksamkeit von Ideen im Europa der Neuzeit« nahe (Raphael/Tenorth 2006). Sie fassen die Geschichte der Heilerziehung seit der Aufklärung mit Hilfe des Begriffes der »Bildsamkeit« (Tenorth 2006; Ellger-Rüttgardt 2008).[3] Die Ursprünge der Heilpädagogik lassen sich als Ursprünge der Pädagogik verstehen (Möckel 1988, 24 f.). Heilpädagogik kann zeigen, wo Erziehung ihren Sitz im Leben hat. Ob das auch mit dem Begriff einer Idee der Bildsamkeit zu leisten ist, hängt davon ab, wie »Bildsamkeit« verstanden wird.

Tenorth bietet eine dreigeteilte Periodisierung der Geschichte der Heilerziehung an. Die erste Phase beginnt in der Aufklärung, und zwar mit der Wirkung der Idee der Bildsamkeit. Tenorth zeigt das an den ersten Instituten für den Unterricht und die Erziehung taubstummer und blinder Kinder auf. Die zweite Phase setzt er mit dem Beginn der »Selbstdestruktion« der Idee der Bildsamkeit an. Die dritte Phase, so kann man hinzufügen, beginnt nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Idee der Bildsamkeit macht sich in den Forderungen von Integration und Inklusion neu geltend.[4]

Ich will zunächst Tenorths Gedanken der Selbstdestruktion der Idee der Bildsamkeit referieren und dann diese These diskutieren.

2 Die Selbstdestruktion der Idee der Bildsamkeit

Tenorth sieht in der ersten Phase der Heilerziehung ein wirksames System am Werk. Die Natur des Kindes und die Erfindungsgabe der Erzieher, beide verklammert durch die Idee der Bildsamkeit, waren ein wirksames System, das jedoch bewusst sein musste, wenn es wirksam bleiben sollte. Der Systemcharakter der heilerzieherischen Methoden sei jedoch zerfallen, und die »Einheit einer antizipierenden, in der universalen Idee der Bildsamkeit begründeten Technologie« habe sich aufgelöst (Tenorth 2006, 513). An die Stelle der in der ersten Phase der Heilerziehung erfolgreichen »Antizipation einer besseren Zukunft« (ebd.) seien »die Klassifikation der schlechten Gegenwart des Klienten« (ebd.) und eine berufsständische »professionelle Technik« (ebd.) getreten.

Die Pädagogen, wen immer Tenorth damit meint (Universitätsprofessoren, Dozenten der Lehrerseminare, höhere Schulverwaltungsbeamte, Taubstummen- und Blindenlehrer, Lehrer für geistig behinderte Kinder) hörten Mitte des 19. Jahrhunderts auf, sich an der Idee der Bildsamkeit auszurichten und bezogen sich mehr und mehr auf Medizin, Psychologie und Psychiatrie. Sie orientierten sich nach der ersten, innovativen Phase in der Fortentwicklung der Profession der Heilpädagogik an den »Erfahrungen mit der Technologie« (ebd.) und stützten sich auf die Wirksamkeit der gefundenen und erfundenen heilpädagogischen Methoden in der Gehörlosen- und in der Blindenerziehung. Sie orientierten sich ferner an den »Veränderungen im Verständnis der Natur des pädagogischen Klienten« (ebd.).

Die Folge davon war, dass die Pädagogen und Sonderpädagogen aus der Idee der Bildsamkeit nicht das Hilfsmittel bezogen, um den neuen anthropologischen Sichtweisen von Medizin, Psychologie und Psychiatrie kritisch zu begegnen und den Primat der Bildsamkeit zu behaupten. Tenorth spricht an dieser Stelle von der »Selbstdestruktion des ursprünglichen Anspruchs von Bildsamkeit« (ebd.). Dieser Anspruch zur Begründung und Kontrolle des pädagogischen Handelns sei preisgegeben worden. Im »Diskurs der Pädagogen« ließen diese die »hypothetische Anthropologie« fallen und wandten sich stattdessen medizinischen, psychologischen und psychopathologischen Vorstellungen zu (ebd.).

»Der Raum der Möglichkeiten, den die Pädagogen antizipieren und für die Gestaltung ihrer eigenen Welt nutzen können, verändert sich, nicht mehr die hypothetische, sondern die gegebene Welt und ein anderes Bild der Natur regieren die Konstruktion der pädagogischen Realität« (ebd., 514).

Das ist ein harter Vorwurf; denn er besagt, dass die Heilerzieher aufhörten, pädagogisch innovativ zu denken. Tenorth erläutert sein Urteil über die beginnende Phase der Dekonstruktion an zwei Beispielen. Das eine ist die Taubstummenerziehung nach den Aufsehen erregenden Anfängen. Sie habe sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in einen nationalistisch eingefärbten Methodenstreit verloren, ohne die eigene Praxis kritisch zu befragen. Es seien eher »statuspolitische Kämpfe« (ebd.), in deren Rahmen die eigenen Wahrnehmungen und Vorstellungen – und die Versprechen der anderen – bewertet und bestimmt worden seien. Daneben sei auch die Entwicklung der Methode durch die zunehmende Professionalisierung bedingt. Taubstumme und blinde Lehrer wurden aus dem Berufsstand der Taubstummen- und Blindenlehrer hinausgedrängt. Tenorth weist auf die großen Vertreter der Pioniergeneration hin, die von den ihnen anvertrauten gehörlosen oder blinden Kindern selbst lernten. Die Debatte über die »Idiotenerziehung« im ausgehenden 19. Jahrhundert ist das zweite Beispiel Tenorths. Er spricht von »Selbstkritik ohne methodisch präzise Zurechnung der Erfahrungen« (ebd., 515).

Die einseitige Bevorzugung der sog. »deutschen Methode« (der »lautsprachlichen« Bildung Taubstummer) belege den Wandel in den Grundannahmen, und Tenorth zitiert Friedrich Diesterweg, der gegen Friedrich Moritz Hill gewandt zu bedenken gab, nur »fortgesetzte Versuche« könnten entscheiden, ob die Gestenmethode oder die Sprachausbildung besser sei. Es wäre, so zitiert Tenorth Diesterweg, »übrigens nicht das erste Mal, dass die Pädagogen mehr gewollt haben, als sie hätten wollen sollen« (ebd.). Tenorths Schlussfolgerung:

»Diesterwegs Argumente belegen nicht nur die Skepsis gegenüber einer pädagogischen Technologie und Ambition, er ruft in Erinnerung, dass ›lange Erfahrung und fortgesetzte Versuche‹ zwar vorlagen, aber nicht verarbeitet waren, er läutet zugleich den zweiten Referenzkontext für den Wandel der aufklärerischen Erfindung des universalen Bildsamkeitskonzepts ein, nämlich das sich ändernde Verständnis von ›Natur‹« (ebd., 516).

Die skeptische Mahnung Diesterwegs zeige den Wandel der Heilerziehung im Kontext der Psychologie an, die sich ihrerseits veränderte und empirisch wurde. Diese Wendung der Psychologie habe »zur systematischen Reduktion der pädagogischen Idee der Bildsamkeit« geführt (ebd.). Diesterwegs Kritik weise schon darauf, dass es der Zeit darauf angekommen sei, die »Anlagen« empirisch und psychologisch zu identifizieren, um das pädagogisch Mögliche zu erfahren. Diesterweg, wie bereits Herbart, akzeptiere die Psychologie als Instanz, die zeigen könne, wo die »Grenzen der Bildsamkeit« lägen.

»Anders als die pädagogischen Innovateure um 1800 verlagert er mit diesem Denken über die Natur als ›Anlage‹ die Anstrengung des Pädagogen von der ›Erfindung‹ und der Technologie weg zur Diagnose und Beobachtung des Gegebenen hin« (ebd.).

Nicht allein die Pädagogik der Taubstummen, die gesamte Theorie und Praxis der Heil- und Sonderpädagogik schließe sich damit bald nach 1850 bis weit in das 20. Jahrhundert hinein an ein Verständnis der Natur des Kindes und des Behinderten, das primär auf die Diagnostik der gegenwärtigen Lernlage setze und in subtiler Klassifikation der Anlagen und der gegebenen Natur des Lernenden die eigenen Handlungsoptionen begründe. Bildsamkeit bleibe zwar die »Theorie des Zöglings«, wie Wilhelm Dilthey gesagt habe, »die Individualität« des Zöglings werde aber nicht mehr emphatisch gesehen und als Entwurf einer besseren Zukunft verstanden, sondern begrifflich mit größter Distanz formuliert. Gut pädagogisch gelte zwar immer noch die Prämisse, dass sich die Individualität erst »im unmittelbaren Vollzug der Erziehung« erweisen müsse. Das geschehe jetzt aber nicht mehr »konstruierend, sondern die Natur beobachtend, nicht mehr sie antizipierend, sondern konstatierend« (ebd.).

Die wesentliche Referenzliteratur, aus der »der Pädagoge im Allgemeinen und auch der Pädagoge der Behinderten« den Begriff der »Individualität« des Kindes bezögen, sei nicht anthropologisch, sondern im Kontext der »Pathologie« des Kindes entwickelt. »Begabung«, »Anlagen«, »Talent«, »Gene«, aber auch »Schwachsinn« oder »jugendlicher Verbrecher« steckten dafür den Rahmen ab. »Pädagogische Pathologie« bzw. die »Psychopathologie« des Kindesalters stiegen auf dem Boden einer empirischen Psychologie und der medizinischen Anthropologie zu den zentralen Referenzwissenschaften für die Pädagogik auf (ebd., 517). Die eigene Erfindungskraft und die pragmatische Anthropologie hätten ausgedient, der Dispositionsbegriff der Bildsamkeit sei ersetzt durch den Beobachtungsbegriff der Begabung. Ein Zeichen dafür sieht Tenorth in der neu gegründeten Zeitschrift Die Kinderfehler und in Strümpells Arbeiten zur Pädagogischen Pathologie.

»Wie immer die Details dieser neuen pädagogischen Lehre vom Menschen aussehen, nicht mehr die universale Idee der Bildsamkeit regiert jetzt, sondern erneut ein Mechanismus, in dem Bildsamkeit nicht generell unterstellt, sondern klienttypisch zu- oder abgesprochen wird« (ebd., 518).

Die Reaktion der Pädagogen im Alltag habe in schlichtem Handwerk bestanden, ohne professionelle Ambition in Bezug auf die Erfindungskraft, ohne Vertrauen in eine hypothetische Anthropologie, ohne das damit verbundene Ethos. Auch hier gibt Tenorth zwei Beispiele. Die »Reorganisation« der Taubstummenbildung, schon früh um 1818 gefordert, habe dazu geführt, dass heterogene Klassen aufgehoben und Gehörlose von den Schwerhörigen, die Begabten von den Schwachbegabten getrennt worden seien. »Statt der Anregungskraft der pädagogischen Welt« regierte nunmehr »die Homogenität von Lerngruppen«. Das zweite Beispiel ist die »Hilfsschule«, die auch von Sonderpädagogen erfunden worden sei, »um in der Regelschule frei von Kindern arbeiten zu können, die als ›lernbehindert‹ gelten« (ebd.).

»Absonderung und Exklusion bestimmen die Praxis. Bildsamkeit verkommt damit zur strategischen Ressource professionell-pädagogischen Handelns, sie wird zum Instrument, Erfolg oder Misserfolg zuzurechnen und die Belastung und Selbstbelastung der pädagogischen Profession mit kühlem Kalkül durch Mechanismen von Inklusion oder Exklusion zu minimieren« (ebd.).

Die Hilfsschule rückt bei Tenorth in den Zusammenhang mit den »endlosen Listen und Klassifikationen, in denen die ›Kinderfehler‹ aufgearbeitet werden« (ebd.). Es gäbe immer neue Hinweise darauf, bei welchen Fehlern und bei welchen Graden der »Idiotie«, der »Imbezillität« oder des »Mindersinns« sich die pädagogische Arbeit noch lohne oder nur noch die Bewahranstalt der »Idioten« angebracht sei. Der theoretische Referenzraum für diese Zuschreibungen und Klassifikationen besteht bald auch nicht allein in den Untersuchungen der »Kinderfehler« oder in den umfangreichen Forschungen und Überlegungen zur Begabung, die immerhin noch die Entscheidung zwischen »Anlage« oder »Umwelt« als offene Frage kannten.

Von dieser Position aus zieht Tenorth die Linie fort zu den Analysen von den »Naturgrenzen geistiger Bildung« und zu der neuen Diagnostik, die Sonderpädagogen ein spezifisches Bewusstsein von der professionellen Kompetenz gab und sie 1933 zur Mitwirkung bei der Umsetzung des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« verleitete. Die Zugehörigkeit zur Hilfs- bzw. Sonderschule sei »bekanntlich als Anlassindiz für die Notwendigkeit eines solchen Verfahrens genommen« worden (ebd., 519). Der Niedergang der Idee der Bildsamkeit zeige sich am schärfsten in der Pädagogik zur Erziehung geistig behinderter Kinder und in ihrer Hilflosigkeit gegenüber den Verstiegenheiten der Rassenlehre.

Der Pädagoge habe nicht mehr die »Bildsamkeit«, sondern nur noch die »Brauchbarkeit« prüfen sollen. Die Verbandsvertreter sahen es als Anerkennung ihrer pädagogischen Professionalität, die Sterilisation befürworten zu können, indem sie Kindern Brauchbarkeit zu- oder absprachen.

Tenorth macht hier die Einschränkung, dass die »Referenz auf Eugenik und damit die Option der Zuschreibung oder Negation von Bildsamkeit als pädagogischer Leistung nicht allein ein nationales, sondern offenbar zuerst ein professionelles Syndrom« gewesen sei (ebd.). Es habe im 20. Jahrhundert auch das sonderpädagogische Selbstverständnis in der Schweiz bestimmt. Die Distanz zur Eugenik sei primär über die Konfession und ihre Handlungsregulative, nicht über das Ethos der Profession befördert worden. Erst im 20. Jahrhundert habe sich die »pädagogische Theorie des Zöglings« geändert. Die Entwicklungspsychologie habe sich von der scheinbar unauflöslich fixierten Dualität von Anlage und Umwelt getrennt und zu einer handlungsbezogenen Theorie des »Begabens« gefunden. Alle nur konstatierenden oder biologisierenden Anthropologien seien zugunsten einer Renaissance historischer Anthropologie zu problematisieren. Die Lehre von den Kinderfehlern sei bereits früh reformpädagogisch und praktisch dementiert worden, exemplarisch ablesbar an der Karriere des Begriffs Eigensinn (ebd.). Noch um die Jahrhundertwende als Makel des Kindes, also ein »Kinderfehler«, sei Eigensinn in der schulkritischen Literatur seit Hermann Hesse zum Indiz für das Drama des begabten Kindes geworden, das sich gegen den bornierten Lehrer und die subjektbedrohende Schule behaupte. »›Bildsamkeit und Bestimmung‹ des Menschen werden schließlich nach 1968 in einer Weise resümiert, dass es zur Aufgabe der Pädagogik und des Pädagogen wird, den ›Spielraum‹ zu nutzen, der sich in der Entwicklung des Kindes für seine Förderung durch Erziehung auftut« (ebd., 520).

3 Der Wandel des Begriffs der Bildsamkeit

Es ist nicht möglich, in einem kurzen Aufsatz alle angesprochenen Fragen aufzunehmen. Zunächst einige Vorfragen zum Begriff einer geschichtswirksamen Idee. Kann eine Idee sich selbst destruieren? Ideen können veralten; ihre Gewalt über die Menschen kann nachlassen; sie können durch neue Ideen überwunden und durch fehlerhafte Auslegung und Zusätze vergiftet werden. Ideen verkehren sich unter Umständen, wenn sie umgesetzt werden, in ihr Gegenteil. Für den Missbrauch politischer und religiöser Ideen gibt es in der Geschichte Europas genügend Beispiele. Auch die Idee einer allgemeinen, öffentlichen Erziehung in Schulen ist nicht eindeutig, sondern hat – trotz der Behauptung »allgemein« zu sein – unterschiedliche, separierende Schultypen entstehen lassen. »Transformation« und »Deformation«, zwei Begriffe, die Tenorth ebenfalls gebraucht, treffen Vorgänge, wie unerwünschte Nebenwirkungen, Wandel zum Schlechteren, Verfall, Vernachlässigung oder Missverstand wohl besser als »Selbstdestruktion«. Ideen werden in ihren Trägern fassbar. Tenorth spricht von der Wirksamkeit der Idee der Bildsamkeit auch dort, wo sie noch nicht ausformuliert worden war. Als handlungsleitende Idee ist sie in der Gehörlosen- oder Blindenerziehung nicht verkündet worden, so wie aufgeklärte Staaten Gesetze zur allgemeinen Schulpflicht erließen.

Es ist eine eigene Leistung Tenorths, wenn er nach Abschluss eines Forschungsprogramms zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den Anfängen der Heilerziehung die Idee der Bildsamkeit am Werk sieht und damit eine Grundlage für eine Diskussion zu den Grundbegriffen auch der Heilerziehung anbietet. Bei Herbart ist »Bildsamkeit« ein Begriff der Beschreibung. Tenorth weist selbst darauf hin, wie weit Herbart »Bildsamkeit« fasst (ebd., 500 f.). Herbarts Bildungsbegriff enthält keinen universellen Imperativ zur Erziehung aller Kinder. Es ist keine Schule für gehörlose oder für blinde Kinder bekannt, die im Namen der Bildsamkeit gegründet worden wäre. Tenorth zitiert aus einem Briefwechsel zwischen Roch Ambroise Sicard in Paris und Walther Eschke in Berlin. Beide waren Direktoren von Taubstummenanstalten und beide waren Heilerzieher in der zweiten Generation. Sie rangen um eine anthropologische Begründung ihrer Methoden und gingen hierbei von der Sprache der Menschen aus (ebd., 509 ff.). Universell war in der Aufklärungszeit die Idee der Humanität, in deren Namen die angeborenen und unveräußerlichen Menschenrechte verkündet wurden. Im Namen der Humanität entstanden Emanzipationsbewegungen, zum Beispiel der Juden, der leibeigenen Bauern, der Taubstummen, der Blinden. Die Philanthropen, die »Menschenfreunde«, bekannten sich zur Humanität. Weil gehörlose und blinde Kinder Menschenkinder waren, verdienten sie unterrichtet zu werden.

Bildsamkeit, wie Herbart später formulierte, erhält nur dann eine auf die Erziehung aller Kinder abzielende Bedeutung, wenn die Idee der Humanität als Imperativ hinzugedacht wird. Das widerspricht den Ausführungen Tenorths nicht, setzt jedoch den Akzent an anderer Stelle. Bildsamkeit war der Sache, nicht dem Begriff nach schon in der Zeit der Aufklärung eine »strategische Ressource professionell-pädagogischen Handelns und ein Instrument« (ebd., 518) im Dienst der Menschlichkeit – nur leider für die Initiierung der Erziehung behinderter Kinder wirkungslos.

Ideen aber können wachsen. Ein Beispiel dafür ist die Verkündigung der Menschenrechte im Jahre 1776. Die Verfassungsväter der Vereinigten Staaten dachten damals nicht an eine Emanzipation der Sklaven. Rund 70 Jahre später führten die Nordstaaten Amerikas gegen die Südstaaten einen Krieg, und es ging hierbei auch um die Abschaffung der Sklaverei. »Bildsamkeit« im Sinne einer universellen, geistigen Kraft wuchs der Erziehung durch die Heilerziehung im Laufe von zweihundert Jahren zu, nicht umgekehrt. Dieser Prozess kommt erst zu einem Abschluss, wenn die Erziehungswissenschaft ihre Grundbegriffe so weit elaboriert, dass sie jedes beliebige soziale Thema untersuchen kann, bei dem »Ungleichzeitigkeit« in »Gleichzeitigkeit« überführt werden muss. Die ersten Taubstummen- und Blindenanstalten entstanden in philanthropischer Absicht, aber nicht einmal »flächendeckend«. Die philanthropische Absicht war kein Politikum wie die damals geforderte allgemeine Schulpflicht. Keine Regierung in Europa dachte an eine Schulpflicht gehörloser, blinder oder gar geistig behinderter Kinder. Man hielt sie vor der Erfindung der Spezialschulen für bildungsunfähig. Bildsamkeit hatte im 18. Jahrhundert allerseits akzeptierte Grenzen und schloss bestimmte Personen aus. Den Status ihrer Vernachlässigung ohne Unterricht rechnete man der Natur gehörloser und blinder Kinder zu. Tenorth selbst weist darauf hin, dass die ersten heilpädagogischen Institutionen gegen den Augenschein der Bildungsunfähigkeit entstanden.

Das Berliner Forschungsprogramm zur Geschichte der Heilerziehung unter dem Aspekt Bildsamkeit begann im Jahre 1999. Dem Projekt war eine lange schulpolitische und pädagogische Diskussion zur »Integration«, zur »Normalisation« und zur »Valorisation« vorausgegangen. Sie kulminiert heute in der Forderung der »Inklusion«, und der Begriff der Bildsamkeit erreicht damit eine neue Qualität. Die an Rückschlägen reiche Geschichte der Heilerziehung ist auch der Weg einer Idee über Umwege zu sich selbst. Erst jetzt glauben – vermutlich gar nicht einmal alle – Erziehungswissenschaftler daran, dass die Universalität von Bildsamkeit Konsequenzen für ausnahmslos alle Kinder haben muss und beginnen ihrer Arbeit einen neuen, weiten und differenzierten Begriff zu Grunde zu legen, der auch schwer geistig behinderte Kinder mit einbezieht.

Pädagogik hat erst nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen, eine Referenzwissenschaft der Heilerziehung zu werden. Für die erste und zweite Phase der Periodisierung der Geschichte der Heilerziehung nach Tenorth lässt sich das nur mit Einschränkungen sagen. Die Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens. Von einer Gesellschaft praktischer Erzieher (Campe 1785 bis 1792) beweist das. Auch die Berufe der ersten Heilerzieher in der Pioniergeneration zeigen an, dass Erziehungswissenschaft keine Referenzwissenschaft der Heilerziehung war. Der Anspruch aller behinderten Kinder auf Unterricht und Erziehung hat zwar eine lange Vorgeschichte, aber erst die Schweizer Schule der Heilpädagogik machte seit 1930 Erziehungswissenschaft zu einer Referenzwissenschaft der Heilerziehung, die mehr war als ein gelegentliches Zitieren.

Die Anmerkung Tenorths, wonach Lehrer für geistig behinderte Kinder im 19. Jahrhundert beginnen, sich von der Idee der Bildsamkeit abzuwenden und sich an medizinischen, psychologischen und psychiatrischen Vorstellungen auszurichten, trifft die historische Wirklichkeit nicht. Besonders wichtig ist die Frage, was die Sonderpädagogen bei den Medizinern und Psychologen suchten. Es gab in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keinen Vertreter einer wissenschaftlichen Pädagogik, der die Erfahrungen der Praktiker in der Gehörlosen- und in der Blindenpädagogik hätte bündig für die öffentlichen Schulen zusammenfassen und die Möglichkeit der Erziehung geistig behinderter Kinder praxiswirksam formulieren können. Am nächsten kamen dem Johann Heinrich Pestalozzi und Vinzenz Eduard Milde. Edouard Séguin in Paris, Jan Daniel Georgens und Heinrich Marianus Deinhardt in Wien mussten sich die grundlegende Pädagogik, die sie zum Unterricht geistig behinderter Kinder brauchten, selbst erarbeiten. Es gibt eine Reihe von Lehrern geistig behinderter Kinder in dieser Zeit, die in ihrer Ratlosigkeit nachträglich Medizin studierten. Die Erziehung geistig behinderter Kinder verdankt sich sogar einem produktiven Irrtum. Von einer pädagogischen Referenzwissenschaft, welche die Idee der Bildsamkeit geistig behinderter Kinder im Sinne eines wirksamen Gegengewichts gegenüber den Einseitigkeiten der Psychiatrie (Damerow 1858) hätte vertreten können, war der Vormärz weit entfernt. Die Idee der Bildsamkeit mag stillschweigend am Werk gewesen sein; eine Argumentationshilfe im Streit der Fakultäten um die richtige Sicht auf behinderte Kinder war sie nicht. Es wäre auch ungerecht, von den heilpädagogischen Praktikern der damaligen Zeit eine historisch-systematische Leistung zu erwarten, welche die Erziehungswissenschaft an den Universitäten am Anfang des 21. Jahrhunderts einzulösen beginnt.

Man kann daher auch nicht sagen, dass die »Einheit einer antizipierenden, in der universalen Idee der Bildsamkeit begründeten Technologie« sich aufgelöst habe. Es sei, schreibt Tenorth, an die Stelle der »Antizipation einer besseren Zukunft die Klassifikation der schlechten Gegenwart des Klienten« getreten. Das könnte den Eindruck erwecken, als habe es eine, die heilpädagogische Innovationen befördernde universelle Idee der Bildsamkeit und eine dieser Idee entsprechende pädagogische Wissenschaft im 18. Jahrhundert gegeben. Die wissenschaftliche Pädagogik an den Universitäten und die Pädagogik der Lehrerseminare im 19. Jahrhundert schufen keine neuen heilpädagogischen Methoden und Institutionen und sie boten auch keine Instrumente zur Beschreibung der Schulwirklichkeit. Die Herbartianer, die sich erfolgreich um eine an allen Schulen anwendbare Unterrichtsmethode bemühten, förderten den heilpädagogischen Unterricht höchstens ohne Absicht. Sie sahen nicht einmal das Problem, das der gelungene Unterricht unheilbar behinderter Kinder für eine Theorie der Pädagogik aufwarf.[5] Das behauptet Tenorth auch nicht, aber seine Bemerkung setzt voraus, dass es im 18. und 19. Jahrhundert ein pädagogisch-wissenschaftliches Referenzsystem für die Heilerziehung und den Heilunterricht gegeben habe. Der Hinweis auf einen Wechsel der Referenz wäre sonst sinnlos. Neben der Medizin und der Psychologie stand keine wissenschaftliche, pädagogische Lehre zur Wahl, welche die heilpädagogische Praxis hätte pädagogisch begründen können, es sei denn man hält die Heilkunde der Erziehung für einen universellen Ansatz.

Die Jugendpsychiatrie war ein Profiteur der pädagogischen Heilerziehung und keine Stütze oder Orientierungsgröße. Noch Otto Friedrich Bollnow beklagte die Dürftigkeit der Theoriebildung in der Psychiatrie in Bezug auf ihr pädagogisches Handeln. Das gilt auch für alle von Medizinern verfasste Werke mit dem Titel »Heilpädagogik«. Es ging im 19. Jahrhundert nicht um den Zerfall eines anthropologisch begründeten technisch-methodischen Systems oder um einen Abfall der heilpädagogischen Praktiker von einem pädagogisch bewährten Verfahren. Die Schwächen sowohl von Pädagogik als auch von Heilpädagogik lagen gerade darin, dass es weder den sonderpädagogischen Praktikern noch den Pädagogen an Universitäten und Lehrerseminaren gelang, eine für die heilpädagogischen Institutionen relevante Lehre aufzubauen, die interdisziplinär fruchtbar und in Kontroversen mit Nachbarwissenschaften, besonders mit der Medizin, belastbar gewesen wäre. Die Philanthropen hätten die Paradoxie einer »Pädagogik der Bildungsunfähigen« oder die »Pädagogik der Unheilbaren« thematisieren müssen. Davon ist die damalige Pädagogik weit entfernt.

Das Problem des heilpädagogischen Niedergangs in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist in der sonderpädagogischen Fachgeschichte beschrieben worden (z. B. Rudnick 1990; Möckel 1998; 2007; Ellger-Rüttgardt 1998; 2008). Aber es waren nicht »statuspolitische Kämpfe«, die dazu führten, wie Tenorth meint, wenn Heilpädagogen die eigenen Wahrnehmungen und die Vorstellungen und die Versprechen anderer Wissenschaften auf ihre berufspolitische Verwertbarkeit hin prüften. Die Versuchung, Statusfragen wissenschaftlich zu begründen, kennen viele Berufsgruppen – auch die Sonderschullehrer. Aufstiegswille kann übrigens auch zur Verbesserung der Berufsarbeit führen. Die drei bewundernswerten Bibliotheken der organisierten Volksschullehrerschaft vor dem Ersten Weltkrieg in Leipzig, Hamburg und München sind der Ausdruck eines starken Fortbildungswillens und zugleich der Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung. Das gleiche gilt für die Fachzeitschriften und -publikationen und für die Kongresse der Sonderschullehrer. Der Deutsche Lehrerverein war ihnen hierbei Vorbild. Der Wille zum gesellschaftlichen Aufstieg und zur Fortbildung ging seit 1948/49 Hand in Hand. Die Achillesferse der Lehrer wie der Sonderschullehrer war ihr unkritisches Vertrauen in die Universitäts-Wissenschaften. Sie suchten Anlehnung, wo sie diese fanden – und das war nicht immer bei der Pädagogik. Die interdisziplinären Anleihen brachten die Pädagogik nicht weiter, sondern führten in Sackgassen und zu einer freiwilligen Entmündigung in Grundfragen der eigenen Profession. Darin ist Tenorth zuzustimmen.

Aber was suchten die Sonderschullehrer, als sie so kräftig irrten? Sie suchten eine Verankerung ihrer Arbeit in der Wissenschaft. Die kreativen heilpädagogischen Anfänge auf der Sophienhöhe bei Jena unter der Leitung Johannes Trüpers beispielsweise, eine »pädagogische Heilpädagogik«, waren theoretisch schwer zu fassen. Pädagogen und Heilpädagogen ließen Trüper im Stich, als er theoretisch verarbeiten wollte, was er praktisch tat. Er arbeitete nicht nur mit dem Neurologen Otto Binswanger, sondern auch mit dem Pädagogen Wilhelm Rein zusammen. Sein aufsehenerregendes Heim befruchtete die Kinder- und Jugendpsychiatrie, die Universitätspädagogik nahm seine Arbeit nur im Rahmen der unzureichend systematisierten, reformpädagogischen Bewegung zur Kenntnis. Die Verwalter der Idee der Bildsamkeit an den Universitäten und an den Lehrerseminaren gaben Sonderschullehrern nur selten kritische oder ermutigende Gesichtspunkte an die Hand.

Bezeichnend dafür ist der Umgang der Schulen für Gehörlose mit schwerhörigen Kindern und der Schulen für Blinde mit sehbehinderten. In beiden Fällen kamen die Anstöße zur Verbesserung der Unterrichtsorganisation von medizinischen Untersuchungen. Das galt nicht nur für die diagnostische Unterscheidung von Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit, sondern auch für die Entdeckung der Bedeutung des Restgehörs und der verbliebenen Sehkraft sehschwacher Kinder für den Unterricht. In beiden Fällen wirkten Einsichten, die auf empirische Wahrnehmung und auf Statistik gegründet waren, tief in das pädagogische und sonderpädagogische Kerngeschäft hinein (Möckel 2007, 149 ff.). Wenn Erziehungswissenschaftler an den Universitäten die Vorgänge überhaupt wahrnahmen, nickten sie diese ab. Heute dröhnt das pädagogische Schweigen der Universitätspädagogik zum interdisziplinären Thema Legasthenie, das medizinisch und psychologisch seit einem runden Jahrhundert bearbeitet wird.

Die heilpädagogischen Anstalten des 18. Jahrhunderts markieren eine Wende. Sie nahm die von Heinrich Roth eingeleitete realistische Wende in der Pädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg vorweg. So verstand auch Wilhelm Flitner die Anfänge der Heilerziehung (Flitner 1957); doch er führte sie nicht auf genuin pädagogisch-praktische Leistungen zurück, sondern auf die Naturwissenschaften. Tenorth stellt völlig zu Recht fest, dass die Pädagogik für geistig behinderte Kinder ihre eigene Arbeit im 19. Jahrhundert nicht ausreichend reflektierte. Nur trifft das für die Pädagogik der Aufklärungszeit ebenfalls zu. Ihr fehlte beispielsweise der Gedanke des Negativen Wissens und seiner Funktion in der Erziehung (Oser/Spychiger 2005) oder die Einsicht in die Ambivalenz der Erziehungsgewalt, wie Tenorth das am Begriff des »Kinderfehlers« Eigensinn zeigt. Die Pädagogik unterschätzte und unterschätzt bis heute das existentielle Entsetzen, welches Kinder erfasst, die hilflos dem Ereignis des für sie selbst unüberwindlichen Fehlers und zugleich dem Druck der allgemeinen Schulpflicht ausgeliefert sind − zwei drohende Mahlsteine, zwischen die Schulkinder geraten können. Sowohl die Wunden im Erziehungsalter, die Erziehung den Kindern zufügt, wie auch die Selbstheilungskräfte sind sehr spät in den Blick der Erziehungswissenschaft gekommen. Wie lange dauerte es, bis die Erziehungswissenschaft die Bedeutung der frühen Kindheit erkannte? Ist Bildsamkeit nur ein Beiwerk zum Menschsein oder gehen Kinder der Menschheit verloren, wenn sie wie sog. Wolfskinder im Wolfsrudel, ohne menschliche Erziehung sozialisiert werden?

Was Tenorth mit »Erfindung« in der Heilerziehung bezeichnet, ist die Entdeckung der Kompensation, die eine wichtige heilpädagogische und zugleich allgemein pädagogische Kategorie ist. Der Ausfall eines Sinnes macht den Unterricht nicht unmöglich. Das beschrieb Diderot in seinem Brief über Blinde zum Gebrauch für die Sehenden. Die Kompensation in der Heilerziehung hat ihre Parallele im Lernen aus Fehlern im täglichen Unterricht aller Schulen (Althof 1999; Weingardt 2004; Oser/Spychiger 2005). Die Kompensation und ihre Relevanz für ausnahmslos jede Erziehung hat ihre Entsprechung im alltäglichen Phänomen des »Fehlermachens«. Hier liegt zugleich der Schlüssel zur Inklusion als einer praktischen Aufgabe. Inklusion muss damit beginnen, dass alle am Erziehungsgeschäft Beteiligten die Differenzierungen in der Pädagogik als vernünftige Arbeitsteilung eines einzigen, großen universellen Erziehungsauftrags sehen, zu dem »Bildsamkeit« erst heute wird. Erst heute vereinigt sich die breite Heerstraße der Bildung mit dem schmalen Pfad der Heilpädagogik, um an Hanselmann zu erinnern. Das universelle Verständnis von Bildsamkeit hat seine Bewährungsprobe noch vor sich. Die Erziehungswissenschaftler sollten den Wunsch in der Heilpädagogik nach einer Theorie für die Praxis ernst nehmen. Dann besteht die Gefahr nicht, dass die Forderung der Inklusion ein Anlass für fortgesetzte pädagogische Frustrationen wird, vielmehr kann dann die vernünftige Ausgestaltung der UN-Konvention zu einem Motor für pädagogische Innovationen in und außerhalb der Schule werden.

Literatur

Althof, Wolfgang (Hrsg.) (1999): Fehlerwelten. Vom Fehler machen und Lernen aus Fehlern. Opladen: Leske und Budrich Verlag.

Bollnow, Otto Friedrich (1959): Existenzphilosophie und Pädagogik. Versuch über unstetige Formen der Erziehung. Stuttgart: Kohlhammer Verlag.

Campe, Joachim Heinrich (Hrsg.) (1785 bis 1792): Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens. Von einer Gesellschaft practischer Erzieher. 16 Bände. Wien. Braunschweig: Gräffer.

Caspary, Ralf (Hrsg.) (2008): Nur wer Fehler macht, kommt weiter. Wege zu einer neuen Lernkultur. Freiburg: Herder Verlag.

Damerow, Philipp: Zur Cretinen- und Idiotenfrage. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 15 (1858). Auszüge in: Möckel, Andreas/Adam, Heidemarie/Adam, Gottfried (Hrsg.) (1997): Quellen zur Erziehung von Kindern mit geistiger Behinderung. Band 1: 19. Jahrhundert. Würzburg: Edition Bentheim, 224–231.

Diderot, Denis (1749/1961): Brief über die Blinden. Zum Gebrauch für die Sehenden. Mit einem Nachtrag 1749. In: Diderot, Denis: Philosophische Schriften (deutsch von Theodor Lücke). Erster Band. Berlin: Aufbau-Verlag, 49–108.

Diderot, Denis (1751/1967): Brief über die Taubstummen. Zum Gebrauch für die Hörenden und Sprechenden. 1751. In: Diderot, Denis: Ästhetische Schriften. Band I und II. Hrsg. von Friedrich Bassenge und Theodor Lücke. Band I, 28–69. [Anmerkungen dazu in Band II, 693–702.] Berlin: Aufbau-Verlag.

Ellger-Rüttgardt, Sieglind (1997): Frieda Stoppenbrink-Bucholz (1897–1993). Hilfsschulpädagogin, Anwältin der Schwachen, Soziale Demokratin. 2. überarbeitete Aufl. Weinheim: Deutscher Studienverlag.

Ellger-Rüttgardt, Sieglind (1998): Der Verband der Hilfsschulen Deutschlands auf dem Weg der Weimarer Republik in das »Dritte Reich«. In: Möckel, Andreas (Hrsg.): Erfolg Niedergang Neuanfang. 100 Jahre Verband Deutscher Sonderschulen – Fachverband für Behindertenpädagogik. München: Reinhardt Verlag, 50–95.

Ellger-Rüttgardt, Sieglind (2008): Geschichte der Sonderpädagogik. Eine Einführung. München: Reinhardt Verlag.

Flitner, Wilhelm (1957): Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft in der Gegenwart. Heidelberg: Quelle und Meyer.

Hanselmann, Heinrich (1932): Was ist Heilpädagogik? Antrittsvorlesung Universität Zürich. Am 30. Januar 1932. (Sonderdruck) Arbeiten aus dem heilpädagogischen Seminar Zürich.

Möckel, Andreas (1990): Die Annahme behinderter Kinder, wissenschaftliches Denken und herzlose Wissenschaft. In: Rudnick, Martin (Hrsg.): Aussondern – Sterilisieren – Liquidieren. Die Verfolgung Behinderter im Nationalsozialismus. Berlin: Edition Marhold, 42–54.

Möckel, Andreas (Hrsg.) (1998): Erfolg Niedergang Neuanfang. 100 Jahre Verband Deutscher Sonderschulen – Fachverband für Behindertenpädagogik. München: Reinhardt Verlag.

Möckel, Andreas (2004): Geschichte der besonderen Grund- und Hauptschule. 4. erweiterte Aufl. Heidelberg: Winter Verlag »Edition S«.

Möckel, Andreas (1988/2007): Geschichte der Heilpädagogik. Oder: Macht und Ohnmacht der Erziehung. 2. völlig überarbeitete Neuaufl. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.

Moor, Paul (1965): Heilpädagogik. Ein pädagogisches Lehrbuch. Bern, Stuttgart: Verlag Huber.

Oser, Fritz/Spychiger, Maria (2005): Lernen ist schmerzhaft. Zur Theorie des negativen Wissens und zur Praxis der Fehlerkultur. Weinheim, Basel: Beltz Verlag.

Pfeffer, Wilhelm (1988): Die Förderung schwer geistig Behinderter. Eine Grundlegung. Würzburg: Edition Bentheim.

Raphael, Lutz/Tenorth, Heinz-Elmar (Hrsg.) (2006.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. München: Oldenbourg Verlag.

Rudnick, Martin (Hrsg.) (1990): Aussondern – Sterilisieren – Liquidieren. Die Verfolgung Behinderter im Nationalsozialismus. Berlin: Edition Marhold, Spiess Verlag.

Strümpell, Ludwig von (1890): Die pädagogische Pathologie oder die Lehre von den Fehlern der Kinder. Leipzig: Ungleich.

Tenorth, Heinz-Elmar (2006): Bildsamkeit und Behinderung – Anspruch, Wirksamkeit und Selbstdestruktion einer Idee. In: Raphael, Lutz/Tenorth, Heinz-Elmar (Hrsg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. München: Oldenbourg Verlag, 497–520.

Weingardt, Martin (2004): Fehler zeichnen uns aus. Transdisziplinäre Grundlagen zur Theorie und Produktivität des Fehlers in Schule und Arbeitswelt. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Verlag.

[1] Die Deutsche UNESCO-Kommission e. V. hat »Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik« ins Netz gestellt mit Angaben zum rechtlichen Rahmen. Verfügbar unter: www.unesco.de/4162.html [28.09.2011].

[2] Dieses berühmte Zitat von Paul Moor steht in der Heilpädagogik, S. 273 im Abschnitt »Möglichkeiten und Grenzen der Heilpädagogik«: »Den Grenzen der Heilpädagogik begegnen wir erst, wenn wir unseren Blick vom Sinn der Erziehung weg und der konkreten Verwirklichung des Sinnes zuwenden. Aus der Tatsache, daß Heilpädagogik Pädagogik ist und nichts anderes, folgt, daß sie im Grundsätzlichen dieselben Möglichkeiten besitzt wie die Normalpädagogik. Aus der anderen Tatsache, daß sie es mit erschwerten Bedingungen zu tun hat, läßt sich erkennen, inwiefern man auch von den Grenzen der heilpädagogischen Arbeit sprechen muß und wie weit man mit Recht von Grenzen spricht.«

[3] Tenorth ist emeritierter Professor für historische Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin und lehrte bis zu seiner Emeritierung an derselben Universität wie Sieglind Ellger-Rüttgardt.

[4] Ich gebrauche Heilpädagogik, Behindertenpädagogik, Sonderpädagogik gleichberechtigt nebeneinander, bin mit jedoch bewusst, dass damit unterschiedliche Aspekt des gleichen Wissenschaftsgebiets bezeichnet werden. Wenn ich von der Praxis spreche, verwende ich die Bezeichnungen wie Heilerziehung, Erziehung behinderter Kinder, Sonderschulunterricht usw. Pädagogik und Erziehungswissenschaft meinen die Reflexion der Praxis.

[5] Klassisch der Buchtitel von Carl Wilhelm Saegert: Die Heilung des Blödsinns auf intellektuellem Wege. Berlin 1846, zwei Bände. Die Erziehungswissenschaft durchschaute nicht, dass es um »die Erziehung geistig behinderter Kinder durch Unterricht« ging und dass gerade darin die Sensation lag.

Walther Dreher

Winds of change – Inklusion wollen

1 Prolog

Szene eins:

Der Festtag ist gekommen und mit ihm auch Gäste, die Erhard Fischer, den Jubilar, lange nicht mehr gesehen haben. Sie freuen sich, ihn wieder zu treffen und gehen vielleicht – so wird das Szenarium hier konstruiert – mit dem wohlmeinenden Kompliment auf ihn zu:

– »Sie haben sich ja gar nicht verändert!«

Wie wird das bei ihm ankommen? Schmeichelt die Beobachtung, weil es ihm gut geht und er erholt aussieht, ist es ein Kompliment, das unbewusst die Antwort provozieren möchte:

– »Sie aber auch nicht!«?

Zumindest verdeckt eine solch knappe Konversation, dass da jemand im Mittelpunkt steht, den das Studium der Sonderpädagogik geprägt und der dem Feld der Sonderpädagogik selbst vielfältige Perspektiven eröffnet hat. Der sich Wandlungsprozessen seiner wissenschaftlichen Disziplin gegenübergestellt sieht und den zugleich die Sorge um das ›Niveau sonderpädagogischer Förderung‹, um das ›uneingeschränkte Interesse der Kinder oder Erwachsenen mit Behinderungen‹ und die ›Veränderungen von Forschung, Lehre, Kultuspolitik, Pädagogik und Didaktik in einem inklusiven Bildungssystem‹ bewegen. Er kennt die Spannungspole ›Integration und Qualität sonderpädagogischer Förderung‹, sodass angesichts des ›Sie haben sich ja gar nicht verändert‹ eher der Atem stocken mag und sich die Augenbrauen fragend hochziehen. Haben ihn doch zurückliegende Jahrzehnte vor immer neue Fragen gestellt, auf die er unermüdlich durch Forschungsprojekte und in Publikationen zu antworten suchte.

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