Sonnendeck - Gisa Pauly - E-Book
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Gisa Pauly

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Beschreibung

Hauptgewinn! Mamma Carlotta ist überglücklich, als sie einige Tage an Bord eines Kreuzfahrtschiffs gewinnt. Ihr Schwiegersohn, der Sylter Kriminalhauptkommissar Erik Wolf, kann ihre Freude jedoch nur bedingt teilen, denn seit einiger Zeit vermutet er einen Dieb an Bord der »Arabella«. Als sie das letzte Mal vor Anker lag, wurde gar der Besitzer eines Wenningstedter Restaurants ermordet. Wird Mamma Carlotta dem Täter an Bord näher kommen, als ihnen allen lieb ist? Perfekte Cozy Crime für Ihre Strandlektüre – machen Sie Urlaub mit Mama Carlotta!  Bücher für den Urlaub gibt es viele. Hervorragende Regionalkrimis ebenso. Doch kaum ein anderer Nordsee-Krimi bringt das Lebensgefühl auf Sylt mit so viel Charme und Situationskomik auf den Punkt wie die Mamma Carlotta-Reihe. Lassen Sie die Seele baumeln und schmökern Sie nach Herzenslust –  die Romane von Gisa Pauly sind ein pures Vergnügen und ein perfekter Tipp für Ihre Urlaubslektüre.  »Man muss sie einfach mögen, die italienische Miss Marple von Sylt.« Brigitte

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

ISBN 978-3-492-97017-4

Mai 2015

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Covergestaltung & Artwork: Eisele Grafik-Design, München

Covermotiv: Martina Eisele, unter Verwendung der Bilder von Winnie Au/GettyImages (Reling), adamson (Rettungsring), nmedia (Flugzeug), Life of White (Schaf), Olegkalina (Brille), kunertuscom (Leuchtturm)/alle Bigstock

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Der Bäcker stand …

Der Bäcker stand vor seinem Laden und blickte die Straße hinab. Vielleicht war er mit jemandem verabredet, vielleicht wollte er auch nur die Sonne genießen oder aber seinen Kunden zeigen, dass sie erwartet wurden und auf freundliche Bedienung, leckeren Kuchen und duftende frische Brötchen hoffen durften. Erik kam es auch so vor, als präsentierte er sich. Das Gefühl, das ihn überkam, wenn er mit Klaas Poppingas Attraktivität konfrontiert wurde, war noch das gleiche wie zu Schulzeiten. Neben ihm war jeder andere Junge fade und unscheinbar geworden. Auch jetzt kam Erik sich prompt alt und reizlos vor. Ihm schoss sogar der Gedanke durch den Kopf, dass er seine ausgebeulte Cordhose gegen die neue Jeans hätte eintauschen können und den Pullunder gegen ein flottes Sweatshirt. Aber er hatte sich mal wieder für das Bequemste entschieden. Klaas würde sich immer für das entscheiden, was seine Figur am besten zur Geltung brachte. Er war groß und schlank, Erik dagegen nur von mittelgroßer Statur. Was sich an Klaas in die Höhe reckte, ging bei Erik in die Breite. Sein kantiger Schädel sorgte für dieses Breite, zusätzlich unterstrichen wurde sie von seinem Schnauzer und letzten Endes auch von der Breitcordhose, die er so gern trug, und den Pullundern, die er ebenfalls liebte, besonders wenn sie über der Brust quer gestreift waren.

Schon als Halbwüchsiger war Klaas auf jeder Party der umschwärmte Mittelpunkt gewesen. Die Mädchen liebten ihn, die Jungs beneideten ihn, und so war es geblieben. Sowohl im dunklen Anzug als auch im lässigen Freizeitdress und sogar in seiner Arbeitskleidung sah er blendend aus. Die schwarz-weiß karierte Hose saß knapp, die weiße Jacke war blütenrein, Klaas’ Haut war gebräunt, seine hellen Augen leuchteten, sein dunkles, leicht gewelltes Haar glänzte in der Sonne. Ein stattlicher Mann! Auch dadurch, dass er eine sympathische Ausstrahlung hatte. Neider und Rivalen hatten es nie geschafft, lange an ihrer Abneigung festzuhalten. Sobald sie Klaas näher kennenlernten, mussten sie zugeben, dass er ein netter Kerl war. Auch das noch!

Erik warf einen Blick zur Seite und ließ sich bestätigen, was er schon vermutet hatte: Seine Schwiegermutter war auf Klaas aufmerksam geworden. So war es eben. Alle Frauen, egal welchen Alters, wurden aufmerksam, wenn Klaas Poppinga auftauchte.

Erik fuhr an den Straßenrand, kam direkt vor den Füßen des Bäckers zum Stehen und ließ die Scheibe herunter. »Moin.«

Poppinga beugte sich herab. »Moin, Erik!« Er lächelte in Mamma Carlottas Gesicht und reckte den Hals, um die Kinder zu begrüßen. Die siebzehnjährige Carolin blinzelte durch die Haarsträhnen, die vor ihrem Gesicht baumelten, und reagierte mit einem kaum hörbaren Murmeln, während ihr zwei Jahre jüngerer Bruder ein lässiges »Hi, Klaas« von sich gab.

»Familienausflug?«, fragte Klaas Poppinga lachend. »Ein Fischfilet bei Gosch? Den Kaffee könnt ihr anschließend bei mir trinken. Ich lade euch ein.«

»Gute Idee«, gab Erik zurück, obwohl die drei Stehtische, an denen in der Bäckerei Poppinga der Kaffee eingenommen wurde, nicht besonders einladend wirkten. »Dann können wir noch kurz über das Treffen schnacken.«

Klaas richtete sich auf und machte lachend eine zackige Handbewegung an die Stirn. »Aye, aye, Sir! Die Hotelzimmer sind mir bestätigt worden. Ein kleines Wunder in der Hauptsaison. Immer gut, wenn man Beziehungen hat.«

Erik fiel auf, dass seine Schwiegermutter noch kein Wort gesagt hatte. Es schien sogar, als hätte ihr Klaas’ geballte Attraktivität die Sprache verschlagen. Erik legte den ersten Gang ein und blickte in den Außenspiegel. »Bis später also!«

Als er die Fahrt fortsetzte, fand seine Schwiegermutter ihre Worte wieder. »Dio mio, was für ein attraktiver Mann! Schön wie ein Filmstar!«

Erik ärgerte sich prompt, wie er sich schon als Sechzehnjähriger geärgert hatte, wenn in seiner Gegenwart von Klaas Poppinga geschwärmt wurde. »Okay, er sieht ganz gut aus«, brummte er. »Aber was hat er davon? Obwohl er jede Frau haben konnte, hat er sich nie für eine entscheiden können. Und beruflich läuft’s auch nicht so toll. Die Bäckerei wirft nicht viel ab, die Billigbäcker machen die alten Meisterbetriebe kaputt. Klaas braucht dringend ein neues Konzept. Doch was soll er machen? Er hat kein Geld für An- und Umbauten.«

Felix mischte sich ein. »Aber er spielt supergeil Gitarre.«

»Super ... come?« Seine Großmutter war immer an neuen Vokabeln interessiert. »Was war das für ein Wort, Felice? Was meinst du damit?«

»Wunderschön«, korrigierte Felix und grinste breit, ohne dass Mamma Carlotta es bemerkte.

»Ah, bello!«

Felix hatte sich selbst zum Musikexperten ernannt, seit er eine Gitarre besaß und Unterricht bekam. Für ihn war klar, dass er es anders machen würde als Klaas Poppinga. Gitarrist in einer Schulband und im Alter seines Vaters in einer Oldie-Band, die außerhalb von Sylt niemand kannte? Nein, Felix Wolf hatte höherfliegende Pläne. Dass er einmal Fußballstar und sogar Rennfahrer werden wollte, war inzwischen vergessen. Jetzt übte er täglich auf seinem neuen Instrument, damit er später so berühmt wurde wie sein Idol: Breiti, der Gitarrist der Toten Hosen.

»Klaas hätte es in irgendeiner tollen Band versuchen sollen«, meinte er, »statt in List kleine Brötchen zu backen.«

»Warum versucht er es nicht mit großen Brötchen?«, fragte seine Nonna arglos, die sich weder mit Jugendsprache noch mit deutschen Sprichwörtern auskannte. »Wenn der Panettiere in unserem Dorf kleinere Panini backen würde als sein Kollege in Città di Castello, würde ich sie auch nicht kaufen.«

»Es sei denn, sie wären billiger«, warf Carolin ein und legte den Kopf in den Nacken, sodass ihre Haarsträhnen zurückfielen und sie einen freien Blick auf die Welt hatte.

Mamma Carlotta beglückwünschte sie zu diesem belangvollen Einwand. Nicht nur, weil sie grundsätzlich jeden halbwegs vernünftigen Satz eines Enkelkindes mit Lob bedachte, sondern vor allem, weil sie sich freute, dass Carolin sich überhaupt äußerte. Die Wortkargheit ihrer Enkelin, die so ganz nach ihrem Vater kam, brachte sie oft genug zur Verzweiflung. Nach wie vor hoffte sie, dass ständiger Zuspruch und viel Ermutigung in Carolin irgendwann das italienische Erbe wecken könnte, das Felix im Übermaß erkennen ließ.

Die Geschwister unterschieden sich auch äußerlich stark voneinander. Felix hatte dunkle Locken und braune Augen, Carolin dagegen hatte die blasse Haut und die hellen Augen ihres Vaters geerbt, und auch ihre aschblonden Haare waren sein Erbteil. Zurzeit war sie entschlossen, sie wachsen zu lassen, bis sie ihr zur Taille reichten. Ihre Nonna begrüßte diese Idee mit viel Zuspruch, wenngleich sie auch versuchte, ihre Enkelin in der Auswahl ihrer Frisuren zu mäßigen. Aber wenigstens entwickelte Carolin sich endlich zu einer reizvollen jungen Frau! Lucia war früher daran verzweifelt, dass ihre Tochter sich so unauffällig wie möglich kleidete und partout keinen bunten Haarschmuck haben wollte. Noch am Tag vor dem schrecklichen Autounfall hatte Lucia ihrer Mutter am Telefon erzählt, dass sie einen Haarreif für ihre Tochter gekauft habe, den diese jedoch kategorisch zurückgewiesen hatte. Lucia hatte geklagt, dass sie als Mädchen in Carolins Alter alles für einen solchen Haarreif gegeben hätte. Aber Carolin hatte sich mit dem Gummiband begnügt, mit dem sie ihre Haare im Nacken zusammenfasste, und alles andere abgelehnt. Nun aber trug sie eine derart abenteuerliche Frisur, dass Mamma Carlotta in jedem Laden, den sie gemeinsam betraten, ein paar entschuldigende Worte fallen ließ, weil sie fürchtete, dass sie in Begleitung eines jungen Mädchens mit einem schwarzen Vogelnest auf dem Kopf und blond gefärbten Haarspiralen vor den Augen nicht bedient werden könnte.

Seit Carolin siebzehn geworden war, bemühte sie sich darum, anderen Siebzehnjährigen ähnlich zu sein. Sie fand, dass sie nun endlich einen festen Freund brauchte, benutzte Make-up und trug keine andere Kleidung als die, die unter allen Siebzehnjährigen als der letzte Schrei galt. Die Sache mit dem festen Freund war bis jetzt allerdings trotzdem ein unerfüllter Wunsch geblieben. Das lag vielleicht daran, dass sich die Schlichtheit ihres Temperaments nicht verwandelt hatte und sie trotz ihrer auffälligen Frisur unauffällig geblieben war. Wo ihr Bruder Sorglosigkeit ausstrahlte, umgab Carolin Ernsthaftigkeit. Während Felix die Türen schlug und das Radio aufdrehte, damit das Haus mit Leben gefüllt wurde, setzte Carolin sich zu ihrem Vater und genoss mit ihm das Schweigen. Das blieb auch so, nachdem Carolin erfahren hatte, dass sie unter den gleichaltrigen Jungen in ihrer Schule langweilig genannt wurde. Sie kam einfach nicht aus ihrer Haut.

Erik bog in den Kreisverkehr vor dem Lister Hafen ein. Carolin war bereits wieder verstummt, Felix dagegen überlegte laut, welche berühmte Band mit einem Gitarristen wie Klaas Poppinga noch erfolgreicher geworden wäre, und Mamma Carlotta fiel prompt ein Bewohner ihres italienischen Dorfes ein, der trotz seiner außergewöhnlichen Attraktivität nicht glücklich geworden war. »Eine Ehefrau hatte Romero zwar, aber er konnte einfach nicht treu sein. Wie auch, wenn die Frauen ihm ständig schöne Augen machten? Irgendwann wurde es Rosita zu viel, und sie hat ihn rausgeworfen. Kurz darauf hat er sich von der Frau seines Chefs verführen lassen, und damit verlor er auch seine Anstellung. Madonna, er soll am Ende auf der Straße gelandet sein! Und wie man hört, ist das seinem Aussehen gar nicht gut bekommen.«

Erik warf einen Blick zur Seite auf die vibrierenden dunklen Locken seiner Schwiegermutter, ihre braunen Augen, in denen stets Neugier und Abenteuerlust blitzten, und sah schnell wieder nach vorn, als er die kurzen, schnellen Bewegungen ihres Kopfes wahrnahm, die flinken Blicke, die überall und ständig woanders waren. Dass Mamma Carlotta pausenlos in Bewegung war, machte ihn nervös. Eigentlich war er es ja von Lucia gewöhnt. Auch seine Frau hatte nicht still sitzen können und in den ersten Jahren ihres Zusammenlebens sogar versucht, auch ihn zur Eile anzutreiben. Richtig glücklich war seine Ehe erst geworden, als Lucia endlich einsah, dass ein Friese sein Tempo nicht veränderte, nur weil die Zeit knapp war. Danach hatte nicht nur Lucia sein Phlegma, sondern er auch ihr quirliges Temperament ertragen können, was ihm bei Mamma Carlotta nach wie vor schwerfiel. Lucia war eben seine Frau gewesen, die Frau, die er liebte, an der er alles liebte, auch das, was ihm bei seiner Schwiegermutter auf die Nerven ging. Lucia hatte nichts falsch machen können. Das italienische Temperament, das Erik bei Mamma Carlotta anstrengte, hatte zu Lucia gehört wie ihre schönen dunklen Augen und ihre überwältigende Emotionalität.

Wie immer, wenn Erik nachdenklich war, fuhr er sehr bedächtig, denn Grübeleien und hohes Tempo passten für ihn nicht zusammen. Noch etwas, das Lucia erst nach Jahren hatte akzeptieren können, die mit Brüdern aufgewachsen war, die ihre Männlichkeit über die Pferdestärken ihrer Autos bezogen. Auch seine Schwiegermutter wurde gelegentlich nervös, wenn er nicht, wie jeder italienische Macho, das Gaspedal durchdrückte. Aber jetzt war sie zufrieden, weil sie Zeit hatte, sich umzusehen, denn List, den nördlichsten Ort von Sylt, kannte sie noch nicht.

Im Kreisverkehr blitzte das Meer hinter der Mauer der Strandpromenade auf, blau gewellt, unter einem ebenso blauen Himmel, der mit weißen Wolken betupft war. Der Blick war hier ohne Grenzen, er konnte bis zum Horizont fliegen, wo das Meer sich mit dem Himmel verband.

Mamma Carlotta begann prompt zu jubeln. »Meraviglioso, dieses eisige Licht! Und das im Hochsommer! So kalt ist das Sonnenlicht in Umbrien nur im Winter!« Sie wies mit überschäumender Geste zum Meer. »Das Ende der Welt! Nur noch il mare!«

Erik wurde von den fuchtelnden Armen seiner Schwiegermutter durcheinandergebracht, wollte einwenden, dass der nördlichste Zipfel Deutschlands nicht das Ende der Welt bedeute, musste aber gleichzeitig rechts abbiegen und bewies, dass Multitasking nicht sein Ding war. Er erwischte prompt die Ausfahrt aus dem Kreisverkehr, die den Reisebussen vorbehalten war.

»Nächste Ausfahrt!«, schrie Felix, was Erik derart erschreckte, dass er auf die Bremse trat. Der Kleinbus, der hinter ihnen abgebogen war, hatte nicht mit der Vollbremsung rechnen können und kam nur mit quietschenden Reifen zum Stehen. Allerdings nicht rechtzeitig. Der Ruck, der durch Eriks Wagen ging, ließ Böses vermuten.

Der Fahrer des Kleinbusses war kein gebürtiger Friese. Er sprang mit einer Behändigkeit aus dem Wagen, die Erik selbst als Zwanzigjähriger nicht aufgebracht hätte, und stand schon neben der Fahrertür, als Erik sich gerade abgeschnallt hatte. Von dem Redeschwall, der auf ihn herabprasselte, als er die Tür öffnete, verstand er kein Wort. Er war nur froh, dass der Mann durch das Öffnen der Tür zurückgedrängt wurde und ihn so nicht tätlich angreifen konnte, was Erik andernfalls befürchtet hätte.

Wortlos ging er nach hinten, betrachtete das Heck seines Wagens, das ihm unversehrt erschien, dann die Stoßstange des Kleinbusses, die ihm ebenso unversehrt erschien, und kam zu dem Schluss, dass er an jemanden geraten war, der aus einer Lappalie einen größeren Schaden machen wollte, um sein überaltertes Fahrzeug auf Kosten einer Versicherung gründlich überholen lassen zu können. Dem Kerl war anscheinend nicht klar, dass er schuld an diesem Unfall war. Schließlich hatte er den nötigen Sicherheitsabstand nicht eingehalten.

Erik fingerte in der Innentasche seiner Jacke nach seinem Dienstausweis, um den aufgeregten Mann in seine Schranken zu weisen, ehe dieser auf die Idee kam, mit der Polizei zu drohen.

Aber er kam nicht dazu. Seine Schwiegermutter hatte sich der Angelegenheit bereits angenommen, und erst jetzt wurde ihm klar, warum er den Fahrer des Kleinbusses nicht verstanden hatte. Wie alle Italiener hatte der Mann in seiner Aufregung vergessen, dass er sich im deutschen Sprachraum aufhielt, und seiner Wut Ausdruck verliehen, als hätte sich der kleine Unfall im Hafen von Neapel oder Palermo zugetragen. Dass ihm mit gleichen Vokabeln heimgezahlt wurde, schien er zunächst gar nicht zu bemerken. Als es ihm schließlich klar wurde, war er derart verblüfft und gleichzeitig hocherfreut, dass die Wut von ihm abfiel, als hätte es sie nie gegeben. »Una italiana?«

Erik steckte seinen Dienstausweis zurück, sah zu, wie die beiden, die als Kontrahenten aufeinander zugegangen waren, sich verbrüderten, schritt nicht ein, als seine Schwiegermutter an der breiten Brust des Busfahrers landete, lehnte sich gegen seinen Wagen, während die beiden sich über ihre Geburtsorte informierten, und stöhnte nur ganz leise, als seine Schwiegermutter feststellte, dass der Busfahrer in einem Ort das Licht der Welt erblickt hatte, in dem der Pfarrer ihres Dorfes das Wort Gottes verkündet hatte, ehe er nach Panidomino versetzt worden war. Die beiden kamen in Sekundenschnelle überein – das verstand Erik trotz seiner dürftigen Italienischkenntnisse –, dass der Pfarrer mit großer Wahrscheinlichkeit die fromme Familie des Busfahrers kannte und diese Tatsache unbedingt zur Sprache kommen musste, wenn Mamma Carlotta nach Umbrien zurückgekehrt war. Denn natürlich würden sich alle wahnsinnig freuen, wenn eine alte Bekanntschaft aufgefrischt werden konnte, und dass dies ausgerechnet am nördlichsten Zipfel von Deutschland in Gang gebracht worden war, würde in jedem der beiden Dörfer für Ergriffenheit sorgen. Dass diese sich erst nach mehrtägigen Freudenfesten auf der Piazza auflösen würde, erschien beiden, Mamma Carlotta und dem Busfahrer, sehr wahrscheinlich.

Erik machte sich nun nicht mehr die Mühe, seine Ungeduld zu verbergen. Immer diese Übertreibungen! Jeder der beiden wusste, dass Mamma Carlotta den Fahrer vergessen haben würde, wenn sie nach Italien zurückkehrte, und der Busfahrer musste sich darüber im Klaren sein, dass das Interesse des Pfarrers an der Wiederbelebung einer längst vergessenen Bekanntschaft möglicherweise gering war. Warum also dieses Theater? Erik betrachtete kopfschüttelnd die beiden, die sich aufführten, als schnappten sie vor Freude über. Schrecklich, diese Italiener! Ein Friese meinte, was er sagte, und sagte, was er meinte. Dass Italiener sich gegenseitig etwas vormachten und darüber auch noch glücklich waren, würde er nie verstehen. Aber zum Glück war nicht mehr die Rede davon, dass Eriks Bremsmanöver derart unerwartet gekommen war, dass kein Autofahrer damit hatte rechnen können und er deswegen schuld an dem Unfall war.

Mamma Carlotta wickelte …

Mamma Carlotta wickelte sich in ihre Strickjacke und ließ sich freudestrahlend vor der Fischhalle unter einem roten Sonnenschirm nieder. Neben ihr Erik, der erst umständlich seine Hose glatt strich, ehe er sich setzte, ihre Enkel auf der anderen Seite des schmalen Tisches. Sie genoss die Situation so sehr, dass sie sogar darauf verzichtete, Felix zu ermahnen, nicht mehr an seinem Ohrring zu drehen, und Carolin zu bitten, die Haarsträhne von ihrem linken Auge zu entfernen, damit sie nicht irgendwann zu schielen begann. Mamma Carlotta bekam selten die Gelegenheit, auswärts zu essen, und an Ausflügen konnte sie sich auch nicht oft erfreuen. Beides vermisste sie nicht, weil sie mit ihrem Alltag zufrieden war und nie mehr hatte haben wollen, als sie tatsächlich besaß. Vielleicht konnte sie es deswegen mit so großer Freude genießen, wenn ihr das Leben etwas bot, und dann sogar von unverdientem Luxus sprechen.

Der große Platz dehnte sich vor ihr aus, der Blick nach rechts auf die alte Tonnenhalle wurde nur durch die vielen Urlauber gestört, die über den Platz flanierten.

»Was sind das für Tonnen, Enrico«, fragte Mamma Carlotta, »die in der Tonnenhalle gelagert wurden? Für Matjes oder Rum?«

Erik lachte, Carolin öffnete den Mund, um zu antworten, aber Felix war schneller. »Tonnen sind Seezeichen, Nonna! Sieh doch, vor dem Eingang von Gosch! Die alte, verrostete Tonne!«

Mamma Carlotta betrachtete sie ausgiebig, lobte Felix’ Sachverstand und entdeckte dann direkt gegenüber, in der flachen Ladenzeile, ein italienisches Eiscafé. Links wimmelte es von Menschen, die zum Fähranleger wanderten oder auf ein Ausflugsboot warteten. »Fantastico!«

Die Menschen, die sie beobachtete, waren alle gut gekleidet, und sie war froh, sich für das neue rote Kleid entschieden zu haben, für das sie sich in Panidomino bei ihren gleichaltrigen Nachbarinnen würde entschuldigen müssen. In ihrem Dorf trug eine Frau ihres Alters kein rotes Kleid. Sie würde lange reden müssen, bis man ihr glaubte, dass auf Sylt andere Regeln galten, dass man dort in einer schwarzen Kittelschürze genauso auffiel wie auf der Piazza eines umbrischen Bergdorfes in einem roten Kleid.

Die Weite, die Sonne, der kühle Wind, all das, was Sylt ausmachte und was sie inzwischen lieben gelernt hatte, gab es hier im Übermaß. Mamma Carlotta fragte sich nicht, warum es trotz der vielen Menschen so still war, warum der Akkordeonspieler durch die Reihen ging, ohne dass jemand mitsang oder zu seiner Musik tanzte, und Fremde nebeneinandersaßen, ohne sich bekannt zu machen und darüber zu debattieren, welche Zutaten der Koch für das Scampi-Risotto verwendet hatte. Sie wusste mittlerweile, dass die Deutschen anders waren als ihre Landsleute, erst recht die Norddeutschen, die wie Erik schmerzhaft das Gesicht verzogen, wenn in ihrer Gegenwart laut gelacht wurde. Aber schön war es hier trotzdem. »Magnifico!«

Felix und Carolin erklärten sich bereit, zur Theke zu gehen und für Getränke zu sorgen, während Mamma Carlotta und ihr Schwiegersohn die Speisekarte studierten.

Erik brauchte nicht lange zu überlegen. Seine Wahl fiel auf ein gebratenes Fischfilet mit Kartoffelsalat.

Mamma Carlotta verzog das Gesicht. »Panierter Fisch? Und Patate mit matschiger Mayonnaise?« Sie schüttelte sich.

Aber Erik grinste nur. »Lucia wollte mir auch nie Fischfilet mit Kartoffelsalat machen. Nur, wenn ich beim Fisch auf die Panade verzichtete und sie den Kartoffelsalat auf italienische Art zubereiten durfte.«

Mamma Carlotta nickte. »Mit Aceto e Olio.«

Sie waren unterschiedlicher Meinung, aber dennoch zufrieden. Mamma Carlotta fühlte sich sogar derart wohl, dass sie auf die mimische Darstellung ihres Ekels verzichtete, als ihre Enkel sich für Fischbrötchen entschieden. Ein feuchter Brathering, zusammen mit riesigen Zwiebelringen in zwei Brötchenhälften eingeklemmt, das war für sie beinahe noch schlimmer als Labskaus oder Grünkohl.

Kurz darauf pries sie die Spaghetti mit Lachs und Basilikums0ße und vermied es, Erik beim Verzehr des Kartoffelsalates und Felix bei dem Versuch zuzusehen, von seinem Fischbrötchen abzubeißen, ohne dass ihm die Zwiebelringe in den Schoß fielen. Sie verzichtete sogar auf eine Bemerkung, als sie sah, dass Carolin eine der Haarsträhnen zwischen die Zwiebelringe geriet, die sie morgens sorgfältig aus ihrer aufgetürmten Frisur löste und unter Zuhilfenahme von viel Gel vom Haaransatz zur Kinnspitze bog, als wären sie mit Blumendraht verstärkt worden.

»Delizioso!«, rief Mamma Carlotta. Und ohne ihren Schwiegersohn anzusehen, fragte sie: »Warst du mit Lucia häufig hier?«

Erik strich sich den Schnauzer glatt, das einzig Extravagante an ihm. Er starrte eine Weile sein Fischfilet an, dann erst sagte er: »Noch am Tag vor dem Unfall. Das Wetter war nicht so gut wie heute. Deswegen haben wir auf dem Hafendeck gegessen. Lucia hatte es das erste Mal mit Sushi versucht. Aber es hat ihr nicht geschmeckt.«

Zwischen den weißen Wölkchen am Himmel tauchte eine dunkle auf, senkte sich über den Tisch und ließ die Familie verstummen, deren Erinnerungen ihr fünftes Familienmitglied in ihre Mitte geholt hatte. Erik stocherte in seinem Kartoffelsalat herum, Carolin zupfte die Zwiebelringe aus ihrem Fischbrötchen, während Felix so lange hustete, bis alle glaubten, dass er sich verschluckt hatte. Keiner von ihnen sprach aus, was er dachte, niemand erwähnte den Lkw-Fahrer, der die Gewalt über sein Fahrzeug verloren hatte, als Lucia ihm zwischen Niebüll und der Verladerampe entgegengekommen war. Jeder von ihnen war froh über die Ablenkung, als jemand rief: »Die Arabella liegt auf Reede!«

Mamma Carlotta ließ die aufgewickelten Spaghetti sinken und machte einen langen Hals. »›Arabella‹? Was soll das sein?«

»Ein Kreuzfahrtschiff«, antwortete Erik. »Es kommt von Hamburg und legt alle zwei Wochen vor Sylt an. Jedenfalls in der Hochsaison. Danach fährt es nach Amsterdam, Southampton und Guernsey, dann weiter bis Lissabon.«

»Das Schiff ist zu groß für den Lister Hafen?«, fragte Mamma Carlotta mit fachkundiger Miene.

Erik bestätigte es. »Die Passagiere, die die Insel besichtigen wollen, kommen mit Tenderbooten an Land.«

»Und heute Abend«, ergänzte Felix, »gibt’s in der Sansibar eine wilde Party. Nur für die ›Arabella‹-Passagiere.«

Mamma Carlotta hielt es nicht lange auf ihrem Platz. Als sie gegessen und getrunken hatte, wurde sie unruhig und rutschte auf der Bank hin und her. »Wo legen die Tenderboote an? Ich würde gerne die Menschen sehen, die sich eine solche Kreuzfahrt leisten können.«

Erik seufzte und stemmte sich in die Höhe. »Das sind ganz normale Leute. Die Zeiten sind vorbei, in denen auf Kreuzfahrtschiffen nur Millionäre saßen.«

Aber Mamma Carlotta weigerte sich, ihm zu glauben. Und damit Erik das prächtige Bild nicht zerstören konnte, das sie sich vom Kreuzfahren machte, seit sie von der Titanic gehört hatte, ließ sie ihn einfach nicht mehr zu Wort kommen. »Lasst uns nachschauen, wo die Tenderboote anlegen. Prego!«

Erik konnte sich …

Erik konnte sich nicht einmal über die Aufregung seiner Schwiegermutter amüsieren. Darüber, dass sie tatsächlich ernüchtert war, als Passagiere aus dem Tenderboot stiegen, die weder nach Adel noch nach Reichtum aussahen, konnte er nur den Kopf schütteln. Dann aber sagte er sich, dass es kein Wunder war, dass sie die Welt, die sie nicht kannte, mit den Augen eines großen Kindes sah. Sie war in einem winzigen Bergdorf in Umbrien geboren und aufgewachsen, hatte dort mit sechzehn Jahren geheiratet und sieben Kinder zur Welt gebracht. Dann war sie durch die jahrelange Pflege ihres Mannes ans Haus gefesselt gewesen und hatte sich schließlich, erst nach seinem Tod, das erste Mal aus ihrem Leben herausgetraut, indem sie nach Sylt reiste, um die Familie ihrer verstorbenen Tochter zu besuchen. War es da ein Wunder, dass in ihr noch die Märchen schlummerten, an die erwachsene Frauen eigentlich nicht mehr glaubten?

Er zog seine Pfeife heraus und setzte sie umständlich in Brand. Dass er dabei die Augen überall hatte, fiel niemandem auf. Dann trat er einen Schritt zurück, um heimlich die Besatzungsmitglieder zu beobachten, die die Passagiere an Land gebracht hatten und ihnen nun beim Aussteigen halfen. Auch diejenigen betrachtete er genau, die unter dem kleinen Pavillon warteten, der an der Stelle aufgebaut worden war, an der die Tenderboote anlegten und wieder abfuhren. Dort fanden sich bereits die ersten Passagiere wieder ein, um an Bord zurückzukehren, mussten ihre Bordkarten vorzeigen und ihre Hände desinfizieren. Warum das nötig war, konnte Erik seiner Schwiegermutter nicht erklären, aber er wusste, dass es üblich war, denn er hatte es schon häufig beobachtet. »Vermutlich, damit niemand eine Krankheit an Bord schleppt.«

Die ›Arabella‹ lag seit dem frühen Morgen auf Reede, viele Passagiere waren gleich nach dem Frühstücken zu einer Fahrt über die Insel aufgebrochen und kamen jetzt zurück, um das Mittagessen an Bord einzunehmen. Weder die Kinder noch Mamma Carlotta wussten, dass Erik aus gutem Grunde gerade heute mit ihnen diesen Ausflug gemacht hatte. Jedes Mal, wenn das Kreuzfahrtschiff vor List auf Reede ging, läuteten im Polizeirevier die Alarmglocken. Noch immer war der ›Arabella-Dieb‹, wie er polizeiintern genannt wurde, nicht gefasst worden. Und vermutlich würde es auch diesmal so sein, dass während der Zeit, in der Passagiere und Besatzungsmitglieder der ›Arabella‹ sich auf Sylt aufhielten, Wertsachen und große Geldbeträge gestohlen wurden. Schon seit dem Morgen galt erhöhte Aufmerksamkeit unter den Beamten.

Am Abend zuvor hatte Erik einen Anruf von der Staatsanwältin erhalten. Wie immer hatte sie darauf verzichtet, sich mit ihrem Namen zu melden oder das Telefongespräch zumindest mit einem kurzen Gruß zu beginnen. »Es ist wieder so weit, Wolf! Ich hoffe, Sie finden endlich eine Spur.«

Erik hatte geseufzt. Nicht nur, weil er mit den Ermittlungen nicht weiterkam, sondern auch, weil ihm der militärisch knappe Redestil der Staatsanwältin zusetzte. »Ich wäre schon froh, wenn sich ein Indiz ergäbe, das eindeutig auf die ›Arabella‹ weist. Dann könnten Sie endlich einen Durchsuchungsbeschluss ausstellen.«

Aber dazu war es bisher nicht gekommen. Und die Staatsanwältin hatte natürlich recht, wenn sie sagte, dass die Beweislage nicht ausreichte. Der Kapitän weigerte sich verständlicherweise, das Schiff durchsuchen zu lassen, denn er wollte keine Unruhe unter den Passagieren stiften und vor allem die Abfahrtszeiten nicht verzögern. Er war auch nicht bereit, Auskünfte über die Besatzung zu geben, und behauptete, er könne für seine Leute die Hand ins Feuer legen. Allein die Tatsache, dass es auf Sylt immer dann zu Einbrüchen kam, während die ›Arabella‹ vor List auf Reede lag, war kein hinreichendes Indiz, erst recht kein Beweis.

»Der Kerl weiß genau, wo was zu holen ist. Das muss einer sein, der sich auf Sylt auskennt.«

Damit hatte sie Erik nichts Neues gesagt. Und wenn er der Staatsanwältin versicherte, dass längst alle infrage kommenden Inselbewohner gecheckt worden waren, so war das ebenfalls nicht neu. »Aber da wir keinen Einblick in die Besatzungsliste der ›Arabella‹ nehmen können, hilft uns das nicht weiter. Manchmal frage ich mich sogar, ob es reiner Zufall ist, dass die Diebstähle immer dann geschehen, wenn die ›Arabella‹ auf Reede liegt.«

»Unsinn, Wolf!« Die Stimme der Staatsanwältin hatte ungehalten geklungen. »Irgendeinen Zusammenhang muss es geben. Und es wird Zeit, dass Sie endlich dahinterkommen.«

Erik hatte ihr schon oft vorgeschlagen, die Bevölkerung zu warnen, damit sie in diesen Tagen besonders vorsichtig war, aber Frau Dr. Speck hatte davon nichts hören wollen. »Die Pferde scheu machen? Unmöglich! Und was meinen Sie, was uns der Kapitän erzählt, wenn er das hört? Verleumdung wäre noch das freundlichste Wort, das er uns an den Kopf werfen würde!«

Bevor er mit der Familie nach List aufgebrochen war, hatte Erik mit Sören Kretschmer, dem jungen Kommissar, mit dem er schon seit Jahren zusammenarbeitete, über den Fall gesprochen. »Es muss einen Zusammenhang mit der ›Arabella‹ geben«, hatte auch Sören gesagt. »Das kann kein Zufall sein.«

Anfang April war es zum ersten Mal geschehen. Im A-Rosa-Hotel war aus dem Büro ein beträchtlicher Geldbetrag verschwunden, der ein paar Minuten später in den Tresor gewandert wäre. Zwei Wochen später hatte ein Gast desselben Hotels den Diebstahl von zwanzigtausend Euro angezeigt. Nach dem nächsten Einlaufen der ›Arabella‹ war, nur eine Stunde nachdem das erste Tenderboot angelegt hatte, in den Zweitwohnsitz eines reichen Berliners eingebrochen und alles, was nicht niet- und nagelfest war, entwendet worden. Damals war der Name Arabella-Dieb entstanden, dem der Gesuchte seitdem alle Ehre machte. Auch in dieser Woche hatte es einen Einbruch in eine Ferienvilla gegeben. Drei kostbare Armbanduhren, zwei Fotoapparate, ein Handy und jede Menge Bargeld waren gestohlen worden. Und die Spuren, die gesichert werden konnten, hatten keine Hinweise auf den Täter gegeben. Alles wie immer!

Sören war Eriks Meinung gewesen. »Wir müssen endlich was finden, womit sich der Verdacht gegen die Arabella-Besatzung erhärtet. Wir brauchen ein handfestes Indiz, das einen Durchsuchungsbeschluss rechtfertigt. Der Kapitän muss gezwungen werden, uns die Arbeitspläne der Besatzung vorzulegen. Wir müssen endlich wissen, wer wann von Bord geht, wenn das Schiff vor Sylt liegt.«

Erik stellte sich vor, was passieren würde, wenn ein Dutzend Polizisten an Deck der ›Arabella‹ aufmarschierte. »Das Indiz muss schon sehr handfest sein«, hatte er gesagt, und seine Stimme hatte verzagt geklungen.

Dass Sören Kretschmer den Verdacht geäußert hatte, es könne sich beim Arabella-Dieb auch um einen Passagier handeln, hatte Erik gegenüber der Staatsanwältin unerwähnt gelassen. Wenn er ihr auch gern möglichst viele Überlegungen präsentierte, so hatte er Sörens Einwand genauso unwillig abgeschüttelt, wie Frau Dr. Speck es getan hätte. »Kein Passagier fährt Woche für Woche dieselbe Strecke. Es muss sich um ein Besatzungsmitglied handeln.«

Erik löste sich von seinen schweren Gedanken, als er mitbekam, dass in seiner Nähe ein Streit entbrannte. Felix war davon überzeugt, dass Michael Breitkopf, der Gitarrist der Toten Hosen, dem er nacheiferte, niemals eine Kreuzfahrt antreten würde. »Das ist dem viel zu dekadent.«

Carolin zog ihre Haarsträhnen zur Seite, als wollte sie einen Vorhang öffnen und ihrer Miene einen großen Auftritt verschaffen. »Punkrock wollen Kreuzfahrer sowieso nicht hören.«

»Auch privat würde Breiti niemals einen Fuß auf ein Kreuzfahrtschiff setzen«, beharrte Felix.

»Mit zerrissenen Jeans käme der auch gar nicht in den Speisesaal.« Carolin wies auf Felix’ Jeans mit den Löchern auf dem rechten Oberschenkel, die er zum Entsetzen seiner Großmutter cool nannte und ihr auf keinen Fall in den Flickkorb legen wollte. »Du übrigens auch nicht.«

»Als wenn ich das wollte«, gab Felix verächtlich zurück. »Kreuzfahrten sind ja so was von megaspießig.«

»Finito!«, ging seine Großmutter dazwischen. »Ihr könnt davon halten, was ihr wollt, ich würde gerne mal auf der ›Arabella‹ mitfahren.«

Erik sah auf die Uhr. »Ich muss zurück.« Er hängte seine Pfeife in den rechten Mundwinkel, stieß kleine Rauchwolken aus und wartete auf verständnisvolle Zustimmung.

Mamma Carlotta strich sich ihr rotes Kleid glatt und ordnete mit ein paar Handgriffen ihre Frisur. »Aber wir machen noch einen Besuch bei diesem attraktiven Bäcker? Der uns zum Kaffee eingeladen hat?«

Erik brummte etwas Bejahendes und schob Schwiegermutter und Kinder Richtung Parkplatz. In den nächsten Tagen würde Klaas Poppinga vermutlich öfter bei ihm zu Hause auftauchen. Nur Klaas und er selbst waren auf der Insel geblieben, ihre vier Freunde, mit denen sie als Jungen Fußball gespielt hatten, waren aufs Festland gezogen. Jetzt aber wollten sie sich wiedersehen, nachdem sie sich vor fast zwanzig Jahren aus den Augen verloren hatten. Mamma Carlotta würde noch häufig die Gelegenheit haben, sich an der Attraktivität des Bäckers zu erfreuen. Hoffentlich vergaß sie darüber das Kochen nicht.

Erik fühlte Unruhe in sich aufsteigen. Er hatte Urlaub beantragt, damit er Zeit haben würde, mit seinen früheren Freunden etwas zu unternehmen. Schon die Abende, an denen er gemeinsam mit Klaas Poppinga Adressen herausgesucht und viele Telefonate geführt hatte, waren voller lustiger Erinnerungen gewesen. Es würde Spaß machen, mit den anderen in den Andenken zu kramen, die sie in ihren Herzen oder in alten Fotoalben trugen, von denen jeder eins im Gepäck haben würde. Sören würde währenddessen allein wegen des Arabella-Diebs ermitteln müssen. Blieb nur zu hoffen, dass er die Hilfe seines Chefs nicht brauchte.

Klaas Poppinga winkte …

Klaas Poppinga winkte ihnen von der Theke aus zu, als sie die Bäckerei betraten. Freundlich lächelnd fertigte er eine Kundin ab, überließ die nächste seiner Verkäuferin und lief zu einem der Stehtische, um ihn abzuwischen und den winzigen Tischschmuck in die Mitte zu rücken. »Kaffee? Oder Espresso? Und für die Kinder Kakao?« Schon verschwand er im Hintergrund des Ladens und hantierte an einem großen Kaffeeautomaten herum.

»Wie in einer italienischen Bar«, stellte Mamma Carlotta fest, als sie bemerkte, dass Erik vergeblich nach einer bequemen Haltung suchte und schließlich den rechten Ellbogen auf den Stehtisch stützte und die Beine überkreuzte. »Italiener sind es gewöhnt, den Espresso im Stehen einzunehmen.«

Sie sahen sich schweigend um. Weder Erik noch Mamma Carlotta kommentierten die unbehagliche Umgebung. Auf dem schwarz-weiß gefliesten Fußboden gab es viele abgetretene Stellen, das helle Holz der Theke und der Regale passte nicht zum Boden. Was für den Bäckerladen gereicht hätte, war für das Café, wenn es auch nur ein Stehcafé war, zu wenig. Die drei Stehtische waren in eine Ecke gedrängt, in der sich kein Gast wohlfühlen konnte, Zuckerdose und Milchkännchen bestanden aus Plastik, die Papierservietten gehörten zu den billigsten, die im Gastronomie-Großhandel zu haben waren.

»Hier fehlt die Hand einer Frau«, sagte Carlotta leise.

Als Klaas Poppinga zu ihnen zurückkehrte, hatte er nicht nur die gewünschten Getränke dabei, sondern auch einen großen Kuchenteller, der voller Berliner war. Mit seinem sympathischen Lächeln erkundigte er sich, ob jemand lieber ein Stück Friesentorte hätte oder gar ein belegtes Brötchen. Erst als Mamma Carlotta ihm versichert hatte, dass seine Gastfreundschaft vorbildlich sei und die Berliner köstlich schmeckten, wandte er sich an Erik: »Ich freue mich schon darauf, mit den anderen im neuen Gosch am Kliff zu essen und dann einen Zug durch Westerland zu machen. So wie früher! Wie wär’s, wenn wir alle Kneipen noch einmal besuchen, in denen wir uns die Nase begossen haben, als wir den FC Amrum besiegt hatten?«

Erik lachte. »Aber nur, wenn wir nicht wieder so heillos betrunken durch die Stadt stolpern wie damals. Ich habe einen Ruf zu verlieren. Weißt du noch, dass Erasmus vors Rathaus gekotzt hat?«

Klaas lachte mit ihm. »Damals konnten wir nichts vertragen.«

»Was für ein Zufall«, sagte Erik, »dass es im Kliffkieker mal wieder ›Tanz op de Deel‹ gibt. So wie früher.«

»... und meine Band da spielen darf«, ergänzte Klaas. »Obwohl ... eigentlich würde ich lieber mit euch zusammensitzen und schnacken.«

Das konnte Erik verstehen. »Aber die anderen werden sich freuen, dich mal wieder mit deiner Gitarre zu erleben.«

Klaas wehrte bescheiden ab. »Die sind längst was Besseres gewöhnt. Die ›Hungerhaken‹ werden sie nicht vom Stuhl reißen.«

Felix mischte sich ein. »Habt ihr auch was von den Toten Hosen im Programm?«

Klaas schüttelte zu seiner Enttäuschung den Kopf. »Wir spielen Musik aus den Siebzigern und Achtzigern. Wir sind ja eine Oldie-Band.« Er wandte sich wieder an Erik. »Ob Coord immer noch mit Geeske zusammen ist? Und hast du eigentlich mitbekommen, dass Remko seinen Doktor gemacht hat?«

Die Kinder fingen an sich zu langweilen, nachdem sie zunächst interessiert zur Kenntnis genommen hatten, dass ihr Vater all das in seiner Jugend erlebt hatte, was in ihrem eigenen Erfahrungsschatz auf keinen Fall vorkommen sollte. Mamma Carlotta dagegen hörte weiter aufmerksam zu und freute sich über Klaas’ Begeisterung, als sie den Vorschlag machte, an einem Abend ein schönes italienisches Essen für die Freunde zu kochen. »Das wäre wunderbar, Signora!«

»Wir können auch im Garten grillen«, wehrte Erik ab, als hätte er Angst, dass der Abend statt mit den gemeinsamen Erinnerungen mit Geschichten aus Panidomino enden könnte.

Aber Mamma Carlotta, die Klaas Poppinga auf ihrer Seite wähnte, machte eine verächtliche Geste. »Verkohltes Fleisch! Das ist doch kein richtiges Essen.«

Bevor sie erörtern konnte, wie für eine Italienerin ein richtiges Essen aussah, klingelte Eriks Handy. Er machte eine entschuldigende Geste, als er sah, dass der Anruf von seinem Mitarbeiter kam. »Tut mir leid, da muss ich rangehen.«

Als er das Handy wieder wegsteckte, sah er bedrückt aus. »Wieder der Arabella-Dieb«, murmelte er.

Klaas runzelte die Stirn. »Arabella-Dieb? Du meinst die Raubserie, von der du neulich erzählt hast?«

Mamma Carlotta sah, dass Erik erschrak. Der Name, der ihm herausgerutscht war, sollte wohl polizeiintern bleiben.

»Vergiss bitte sofort wieder, was du gehört hast, Klaas.«

Der Bäcker machte eine wegwerfende Handbewegung. »Keine Sorge, ich kann schweigen.«

Trotz dieser Zusicherung blieb Erik angespannt. »Hoffentlich streicht mir die Staatsanwältin das freie Wochenende nicht.«

Klaas Poppinga sah ihn bestürzt an. »Der Job könnte dir einen Strich durch die Rechnung machen?«

Erik zuckte mit den Schultern. »Mal sehen«, erwiderte er vage.

Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen, was Mamma Carlotta überhaupt nicht gefiel. Noch weniger gefiel ihr, dass Klaas Poppinga sogar mehr wusste als sie. Während Erik die Toilette aufsuchte, tuschelte er ihr zu: »Als ich kürzlich bei Erik war, rief gerade die Staatsanwältin an. Da habe ich was mitbekommen von diesen Diebstählen. Immer, wenn die ›Arabella‹ auf Reede liegt! Aber von mir erfährt keiner was.«

Mamma Carlotta war verstimmt. »Davon weiß ich nichts.«

Klaas legte einen Finger auf die Lippen. »Pscht, Dienstgeheimnis! Nicht, dass Erik noch sauer auf mich ist.«

Natürlich wollte Mamma Carlotta den attraktiven Bäcker auf keinen Fall in Schwierigkeiten bringen und würde kein Wort über diese Diebstähle verlieren. Außerdem war sie davon überzeugt, dass sie über kurz oder lang durch gezielte Fragen auch ohne Poppingas Hilfe herausbekommen würde, was es damit auf sich hatte. Das wäre ja noch schöner, wenn ein Freund mehr über Eriks Arbeit erfuhr als sie, seine Schwiegermutter!

Doch sie riss sich zusammen, als Erik zurückkehrte, und lächelte, als hätte sie mit Klaas Poppinga nur ein wenig übers Kreuzfahren geplaudert, über die Passagiere der ›Arabella‹, die mit denen der Titanic nicht viel gemein hatten, und über ihren Wunsch, auch einmal ein paar Tage auf einem Kreuzfahrtschiff zu verbringen. »Aber das ist natürlich nur ... un castello in aria. Wie sagt man hier?«

Erik konnte die Frage beantworten: »Ein Luftschloss.« Er stürzte den Kaffee herunter und ging zur Tür, wo Carolin und Felix schon warteten. »Darüber kannst du mit Klaas bei anderer Gelegenheit reden. Jetzt muss ich los.«

»Vielleicht heute Abend?«, schlug Mamma Carlotta vor. »Ich koche uns was Schönes.«

»Was für eine wunderbare Idee!«, rief Klaas.

Auch Erik lächelte erfreut, wenn seine Miene auch schnell wieder zusammenfiel. »Könnte aber sein, dass ich heute länger zu tun habe und nicht pünktlich Feierabend machen kann ...«

»Macht nichts«, meinte Klaas. »Ich werde mit deiner Schwiegermutter so lange am Aperitif nippen, bis du da bist.«

»Che bello!« Mamma Carlotta schob hocherfreut den Rest des Berliners in den Mund und stand schon neben Erik, als sie von Klaas noch einmal aufgehalten wurden. »Eine Sekunde, Signora!« Er lief zu einem Regal und kehrte mit einer Postkarte zurück. »Ein Preisausschreiben! Jemand vom Touristenbüro hat diese Karten vor ein paar Tagen gebracht. Die ›Arabella‹ ist anscheinend nicht ausgebucht. Einige Kabinen werden verlost. Wer morgen als Gewinner gezogen wird, kann übermorgen an der Reling stehen und winken.«

Erik wartete geduldig, bis seine Schwiegermutter die zuckrigen Finger abgeleckt und feierlich ihren Namen auf die Karte gesetzt hatte. Sie gab sie erst zurück, nachdem sie ihr einen innigen Kuss verpasst hatte, der das Glück anlocken sollte.

Während Klaas sie in dieser Hoffnung bestärkte, verdrehte Erik die Augen. »Was für ein Blödsinn!«

Aber Mamma Carlotta ließ sich nicht beirren. »Habe ich dir nie von Signora Andreotti erzählt, Enrico? Sie wollte, dass der Mann, mit dem ihre Tochter schon seit drei Jahren zusammen war, endlich einen Heiratsantrag machte.«

»Was hat das mit diesem Preisausschreiben zu tun?« Erik verabschiedete sich von Klaas und schob erst die Kinder und dann seine Schwiegermutter aus der Bäckerei.

Carlotta beschwor Klaas noch schnell, die Karte so einzuwerfen, dass sie ganz oben zu liegen kam, und rief ihm sowohl deutsche als auch italienische Abschiedsworte zu. Dann erst fuhr sie fort: »Bei der nächsten Lotterie hat sie es so gemacht wie ich. Sie hat den Tippschein geküsst und ihm zugeflüstert, dass er ihr die Tochter verheiraten soll.«

Erik schloss das Auto auf und nötigte sie zum zügigen Einsteigen. Als er neben ihr saß, gab er sich interessiert. »Danach wurde Verlobung gefeiert?«

»No, no! Signora Andreotti hat eine Menge Geld gewonnen, die Tochter hat damit ein Geschäft eröffnet und ihrem Freund den Laufpass gegeben. Einen Ernährer brauchte sie von da an nicht mehr. Was Signora Andreotti erreicht hatte, war zwar ganz anders, aber viel besser.«

Erik gab Gas und kümmerte sich nicht um Höchstgeschwindigkeiten. »So, als hätte jemand die Abfahrt der Titanic verpasst und sich sehr geärgert.«

»Sì! Das Unglück war in Wirklichkeit ein großes Glück.« Mamma Carlotta versicherte, dass sie unter diesen Umständen zunächst warten wolle, ob die ›Arabella‹ in einer Woche unversehrt wieder vor Sylt ankommen werde. »Erst danach werde ich mich darüber ärgern, dass ich nicht im Preisausschreiben gewonnen habe.«

Die beiden Enden von Eriks Schnurrbart, die ihm in die Mundwinkel wuchsen, hoben sich, und Mamma Carlotta war erfreut, dass er sich nicht nur auf dieses Gespräch einließ, sondern sich sogar darüber amüsierte. Er kümmerte sich eigentlich lieber um Tatsachen, wenn sie auch noch so unerfreulich waren. Luftschlösser, falsche Hoffnungen, überspannte Wünsche und ausufernde Phantasie wehrte er sonst ärgerlich ab. Trotzdem wurde ihr erst auf Höhe der Norddörfer Halle klar, aus welchem Grund er sich erzählen ließ, dass seine Schwiegermutter den Film ›Titanic‹ im Kino von Città di Castello gesehen hatte, sie nicht unterbrach, als sie ihm einen Überblick über die Handlung gab, und nur mit einem milden Lächeln reagierte, als sie vermutete, dass auch auf der ›Arabella‹ die Passagiere der teuren Kabinen vor denjenigen in die Rettungsboote kommen würden, die sich nur die Innenkabinen leisten konnten. Er erklärte ihr sogar mit großer Ausführlichkeit, warum er sicher sei, dass sämtliche Passagiere im Ernstfall gleich behandelt würden, und damit begriff sie endlich, dass er vor allem nicht mit ihr darüber reden wollte, warum Sören Kretschmer ihn angerufen hatte.

So kam ihre Frage viel zu spät: »Was ist eigentlich passiert, Enrico? Etwa ein Mord?«

Sie waren im Süder Wung angekommen, Erik hielt vor dem Haus und trieb seine Schwiegermutter und die Kinder an, so schnell wie möglich auszusteigen, damit er schleunigst weiterkam. Mamma Carlottas Frage ignorierte er.

»Wiebke kommt heute Abend aus Hamburg«, rief er noch, ehe er wieder anfuhr. »Ich hoffe, dass ich bis dahin fertig bin und sie vom Bahnhof abholen kann. Wenn nicht, rufe ich Klaas an. Der hat sicherlich nichts dagegen, einen Abstecher nach Westerland zu machen.«

Verärgert sah Carlotta ihm nach. Da war sie also das Opfer ihrer eigenen Redseligkeit geworden! Nun würde es wohl noch eine Weile dauern, bis sie herausbekam, was auf Sylt geschehen war! Nicht, dass sie neugierig war! No! Sie hatte nur Interesse an dem spannenden Beruf ihres Schwiegersohns, das war alles. Und ihr Lehrer hatte früher immer gesagt, dass ein Mensch, der neugierig war und Interesse am Unbekannten hatte, am Ende seines Lebens gebildeter sei als diejenigen, die sich abspeisen ließen oder gar nicht erst fragten. Also tat sie etwas für ihre Bildung, wenn sie sich nach Eriks neuem Fall erkundigte. Ein schöner Gedanke! Es gab kein Enkelkind, das nicht stolz auf eine gebildete Großmutter war!

Das Restaurant ›Silberner …

Das Restaurant ›Silberner Hering‹ lag an der Nordmarkstraße, eines der ersten Häuser hinter dem Norderplatz. Ein flacher, lang gestreckter Bau, der jahrelang weiß verputzt gewesen, vor Kurzem jedoch rot verklinkert worden war. Aber das war nicht die einzige Modernisierung. Als Erik mit Lucia gelegentlich in den ›Silbernen Hering‹ zum Fischessen gegangen war, hatte es noch dunkle Holzvertäfelungen und Butzenscheiben an Türen und Fenstern gegeben, die wenig Licht hereinließen. Nicht schön, aber doch behaglich. Als der Wirt aus Altersgründen das Lokal verkauft hatte, verschwand alles Dunkle. Die Wände wurden weiß gestrichen, die neuen Möbel bestanden aus hellem Holz, Tischdecken und Stuhlpolster leuchteten mintgrün. Auch bei der Dekoration hatte der neue Besitzer streng auf die vorgegebene Farbauswahl geachtet. Während vorher kunterbunte künstliche Blumen die Tische geziert und Leuchttürme neben bemalten Muscheln auf den Fensterbänken gestanden hatten, gab es nun überall frische Blumen, und jedes farblich abgestimmte Accessoire war sorgsam ausgesucht und platziert worden. Der alte Wirt dagegen hatte einfach alles an die Wände gehängt, was ihm im eigenen Wohnzimmer nicht mehr gefiel.

Der silberne Hering allerdings, das Wahrzeichen des Hauses, war geblieben. Seine silbernen Schuppen und die mit goldener Farbe bemalten Kiemen glänzten, wie nach Eriks Meinung nur Talmi glänzen konnte. Über das menschliche Gesicht des Herings amüsierten sich diejenigen, die ihn genauer betrachteten, allen anderen fiel zumeist gar nicht auf, dass der Schöpfer des Fisches sich diese Besonderheit hatte einfallen lassen. Das menschliche Gesicht des Herings hatte eine wulstige Nase, einen fast lippenlosen Mund und schielende Augen, die ausdruckslos zur Decke glotzten. Dieser etwa sechzig Zentimeter große Hering schmückte den Gastraum auch nach der Renovierung und hatte sogar seinen alten Platz behalten: in einer Vitrine in der hinteren Ecke des Raums, die beleuchtet wurde, sobald das Restaurant seine Tür für die Gäste öffnete.

Obwohl alles viel schöner geworden war, hatte Lucia dafür gesorgt, dass sie ihren Fisch von da an woanders aßen. Als Erik auf die Eingangstür zuging, fragte er sich, warum. Er erinnerte sich daran, dass die Küche nach wie vor gut war und die Preise sich nur geringfügig erhöht hatten. Es lag wohl daran, dass Lucia sich das Alte hatte bewahren wollen, obwohl das Neue viel schöner war.

»Moin, Herr Hauptkommissar!«

Erik fuhr herum, als er von hinten angesprochen wurde. Felix’ Gitarrenlehrer sah ihn freundlich an. Eckhard Diekmann war ein junger Mann von Mitte zwanzig, blass, mit strähnigen blonden Haaren, die er nervös aus dem Gesicht strich. Anscheinend eine Angewohnheit, denn er strich sie sich auch nach hinten, wenn sie ihm gar nicht in die Stirn gefallen waren.

»Ist hier was passiert?«

Nun fiel Erik ein, dass Felix in dem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite seinen Gitarrenunterricht erhielt. Am liebsten hätte er mit einem lapidaren Satz geantwortet, aber dann entschloss er sich doch, dem jungen Musiklehrer die Wahrheit zu sagen.

Eckhard Diekmann war entsetzt, als er vom Tod des Restaurantbesitzers erfuhr. »Das ist ja schrecklich.«

»Kannten Sie Gregor Imhoff?«, fragte Erik.

Diekmann schüttelte den Kopf. »Ich war hier nie essen.«

Erik lächelte aufmunternd, als wollte er zu verstehen geben, dass Eckhard Diekmann sich irgendwann vielleicht auch ein Fischrestaurant dieser Qualität würde leisten können. »Sollten Sie etwas hören, würden Sie mir dann Bescheid sagen?«

»Natürlich, Herr Hauptkommissar!«

»Danke.« Erik wandte sich wieder der Eingangstür zu. Es waren keine Stimmen dahinter zu vernehmen, aber er spürte dennoch die Unruhe, die dort herrschte. Stühlerücken war zu hören, Schritte, das Klappern von Gerätschaften. Sein Assistent, Kommissar Sören Kretschmer, bemerkte ihn sofort, als er eintrat, und kam auf ihn zu, während die Mitarbeiter der kriminaltechnischen Untersuchungsstelle weitermachten, ohne ihn zur Kenntnis zu nehmen. Alle steckten sie in ihren weißen Overalls, suchten den Gastraum ab und sicherten Spuren.

»Moin, Chef!« Sörens rundes Gesicht mit den stets roten Wangen glänzte, sein schütteres helles Haar klebte am Schädel. Es war sehr warm im Raum, Sören trug nur Jeans und ein T-Shirt. In vielem war er seinem Chef ähnlich geworden. Auch für Sören gab es nur wenige Kleidungsvarianten, im Sommer Jeans und T-Shirt, in der Übergangszeit Jeans und Hemd und im Winter Jeans und Pullover. So ähnlich hielt es auch Erik. Seine geliebten Cordhosen tauschte er nur bei schönstem Sommerwetter gegen eine leichte Baumwollhose aus, ansonsten reagierte er auf die Wetterlage, indem er, wenn der Tag kühl begann, einen Pullunder über sein Hemd zog und, wenn es kalt und stürmisch war, eine Strickjacke.

Erik nickte zu der zusammengekauerten Gestalt am Fuß der Theke, halb liegend, halb sitzend, den Kopf auf die linke Schulter gesunken, die Beine abgewinkelt. Die Arme waren kraftlos zur Seite gefallen, die Handflächen zeigten nach oben. Die Lider hatten sich gesenkt, waren aber nicht ganz geschlossen.

Erik merkte nicht, dass er das Gesicht verzog, als er sich vorbeugte, um den Verlauf der Blutspur zu betrachten, die über die rechte Schulter gesickert und in dem T-Shirt des Toten geronnen war. Ein Teil des Blutes war auch an der Theke heruntergelaufen, hatte den Boden erreicht und war dort in einer kleinen Lache erstarrt.

Dr. Hillmot, der dicke Gerichtsmediziner, der sich über den Toten beugte, richtete sich auf. »Moin, Wolf! Die Sache ist eindeutig. Von hinten erschlagen.« Er wies auf den Kopf des Toten. »Die Wunde am Hinterkopf ist beachtlich. Und lange ist das noch nicht her. Vor etwa drei bis vier Stunden, würde ich sagen. Die Totenstarre ist noch nicht ganz ausgeprägt.«

»Eine Tatwaffe ist nicht gefunden worden«, ergänzte Sören.

»Ich tippe auf ein scharfes Werkzeug«, sagte Dr. Hillmot. »Etwas Metallenes. Die Verletzung ist tief, fast wie bei einer Stichverletzung, aber die Tatwaffe ist nicht zum Schneiden oder Stechen, sondern zum Schlagen benutzt worden. Etwas Scharfkantiges! Daher ist die Wunde nicht so klar wie nach einem Stich, sondern wüster. Der Schädelknochen wurde zertrümmert.«

»Fällt eine Frau damit als Täterin aus?«, erkundigte sich Erik.

Dr. Hillmot zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Zwar sieht es bei einer solchen Verletzung so aus, als wäre der Täter besonders brutal vorgegangen. Aber wenn die Hemmschwelle erst einmal überwunden ist, schlägt ein Täter meist mehrmals zu und richtet dann ein solches Gemetzel an.« Er seufzte tief auf. »Eine Frau genauso wie ein Mann. Jemand, der so etwas tut, will Blut sehen. Er ist zu allem entschlossen. Frau wie Mann!« Der Gerichtsmediziner betrachtete den Toten, als könnte sich an seiner Einstellung zum Tatverlauf etwas geändert haben. Dann aber bekräftigte er: »Anscheinend ist das Opfer überrascht worden. Sieht so aus, als hätte er mit diesem Angriff von hinten nicht gerechnet. Ich stelle mir das so vor ...« Er drehte sich zur Theke, fuhr dann plötzlich zusammen, als würde er von hinten attackiert, drehte sich um wie jemand, der seinem Angreifer ins Gesicht sehen möchte, schloss dann aber die Augen, um zu demonstrieren, dass dem Opfer in diesem Augenblick die Sinne geschwunden sein mussten. »Dann ist er auf dem Boden zusammengesackt.«

Erik machte einen Schritt auf den Toten zu und versuchte den Blick auf die schreckliche Kopfwunde zu vermeiden, die sich in ihrer ganzen Grausamkeit zeigte, wenn man über dem Toten stand und auf ihn herabsah.

Gregor Imhoff, der Besitzer des ›Silbernen Herings‹, war ein Mann von Anfang dreißig, groß und kräftig, mit zupackenden Händen und ausgeprägter Muskulatur. Auch der Tod hatte ihm keine Schwäche gegeben, sein lebloser Körper wirkte noch immer stark. Er trug schwarze Jeans, dazu ein blasses, verwaschenes T-Shirt, als wäre es ihm an diesem Tag nicht auf gute Kleidung angekommen. An den Füßen trug er heruntergetretene alte Turnschuhe, in die er nach dem Aufstehen hineingeschlüpft sein musste, ohne sich Strümpfe anzuziehen.

»Jemand hat sich also von hinten angeschlichen?«, murmelte Erik.

Sören bestätigte es. »Der Doc hat es ja gerade demonstriert. Er stand an der Theke, drehte dem Gastraum den Rücken zu. Er scheint sich noch nach seinem Angreifer umgesehen zu haben ... dann brach er zusammen, fiel rücklings gegen die Theke und rutschte dann zu Boden.«

»Der Täter könnte durch die Küche gekommen sein?«

»Oder Imhoff war mit jemandem zusammen, und dann ...« Sören machte eine Bewegung mit dem rechten Arm, die jedes weitere Wort erübrigte.

»Wer hat ihn gefunden?«

»Eine Küchenhilfe. Sie wollte das Abendgeschäft vorbereiten. Gemüse putzen, Kartoffeln schälen ... Sie hat die Notrufzentrale verständigt. Die Schutzpolizei ist mitsamt dem Rettungsdienst angerückt, aber beide haben sich nicht lange aufgehalten und stattdessen uns verständigt.«

»Der ›Silberne Hering‹ hat nur abends geöffnet?«

Sören nickte und wies auf die Papiere, die auf einem der Tische lagen. »Sieht so aus, als hätte er an einer neuen Speisekarte gearbeitet.«

»Dann hat er gehört, dass jemand im Haus war, und ist aufgestanden, um nachzusehen?«

»So könnte es gewesen sein.«

»Oder er hatte Besuch und wollte etwas zu trinken holen.«

»Dann geht er hinter die Theke. Imhoff stand aber davor.«

Sören wies auf die Bierdeckel auf der Theke. »Vielleicht wollte er die zunächst holen.«

»Auch möglich.«

»Und dann hat der Besucher die Gelegenheit genutzt ...« Erik sprach den Satz nicht zu Ende, sondern fragte stattdessen: »War die Eingangstür abgeschlossen?«

»Der Schlüssel steckte von innen«, berichtete Sören. »Nicht abgeschlossen. Aber die Tür war ins Schloss gefallen und damit von außen nicht ohne Schlüssel zu öffnen. Edda Bakkers hat einen Schlüssel für den Hintereingang. Sie sagt, Imhoff hätte immer abends nach dem letzten Gast alles sorgfältig verschlossen.«

»Edda Bakkers ist die Küchenhilfe?«

Sören bestätigte es. »Wir können also davon ausgehen, dass Imhoff heute Morgen irgendwann den Schlüssel umgedreht hat.«

»Um jemanden hereinzulassen?«

»Vielleicht seinen Mörder«, antwortete Sören. »Die Kollegen von der Schutzpolizei haben sofort die Nachbarschaft durchkämmt und alle Anwohner befragt. Niemand hat etwas beobachtet.«

Erik ging in die Küche, wo eine Frau auf einem Hocker in der Nähe des Fensters saß und hinausstarrte. »Frau Bakkers?«

Sie blickte auf und nickte. Erik stellte fest, dass sie noch sehr jung war, höchstens Mitte zwanzig. Ihre Körperhaltung, der gebeugte Rücken, die müden Schultern, der hängende Kopf, das alles ließen sie älter wirken. Ihre Augen jedoch waren noch jung, sie sprühten vor Leben, und ihrem Mund sah man an, dass er lachen konnte. Die Tätowierungen auf Armen und Beinen und die Piercings in Ober- und Unterlippe, in den Nasenflügeln und Augenbrauen machten jedoch die Sympathie, die Erik kurz für sie empfunden hatte, wieder zunichte. Er konnte nicht begreifen, was einen jungen Menschen dazu trieb, sich derart zu verunstalten. So nannte er es zwar nur noch heimlich, nachdem seine Kinder ihm vorgehalten hatten, wie intolerant er sei, aber bei seiner Meinung war er dennoch geblieben. Der Anblick von durchstochenen oder tätowierten Körperteilen verursachte ihm eine Gänsehaut.

Er zog einen Hocker heran und setzte sich zu Edda Bakkers. »Wie war das, als Sie heute zur Arbeit kamen?«

Ihre Stimme war leise und verzagt, als sie ihm schilderte, dass sie ahnungslos den Hintereingang aufgeschlossen hatte und in die Küche gegangen war. Sie hatte gleich mit der Arbeit angefangen, das Gemüse aus der Kühlung geholt und damit begonnen, Möhren und Kohlrabi zu schälen und zu schneiden. »Aber dann ist mir irgendwann der Geruch aufgefallen.«

Sie suchte nach Worten, um zu beschreiben, was sie wahrgenommen und warum es sie alarmiert hatte. Aber Erik winkte ab. Er kannte den Geruch des Todes und wusste, was mit dem Körper eines Verstorbenen geschah. Die komplette Erschlaffung der Muskulatur bewirkte irgendwann auch, dass sich Blase und Darm entleerten.

»Sie sind in den Gastraum gegangen?«

Edda Bakkers nickte. »Und da sah ich ihn.«

»Was wissen Sie von Ihrem Chef? Hatte er Feinde?«

Edda Bakkers schüttelte den Kopf, ohne lange zu überlegen. »Ich arbeite erst seit ein paar Wochen hier. Ich kenne ihn nicht besonders gut. Als Chef war er in Ordnung, und sonst ...« Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Ganz normal«, ergänzte sie dann. »Er hat nicht viel geredet.«

»Hat er Familie?«

»Er wohnt allein.« Sie nickte Richtung Garten. »Im Anbau.«

Mit den Angaben zu ihrer eigenen Person waren sie ebenfalls schnell fertig. Sie war vierundzwanzig Jahre alt, verheiratet und bereits Mutter von drei Kindern. Das Einkommen ihres Mannes reichte für ein gutes Leben nicht aus, nur fürs Überleben. So hatte sie sich eine Arbeit gesucht, um etwas dazuzuverdienen, wenn die beiden Ältesten im Kindergarten waren und sie das Baby bei ihrer Schwiegermutter abgeben konnte. Was sie nicht erzählte, war dennoch in ihren Augen zu lesen. Sie war todunglücklich und bereute es vermutlich bitter, so früh geheiratet und Kinder bekommen zu haben. Das Piercing – das verstand Erik nun – sollte allen zeigen, dass sie eigentlich jung und unkonventionell war, nur zurzeit gerade nicht so leben konnte, wie sie es mit ihrem Äußeren ausdrücken wollte. Erik hatte große Zweifel, dass es ihr jemals gelingen würde, sich ihre Jugend zurückzuholen und den Traum vom Glück zu Ende zu träumen.

»Ich habe Zahnarzthelferin gelernt«, fügte sie noch an. »Aber die Arbeitszeiten sind mit Haushalt und drei Kindern nicht kompatibel.« Und nuschelnd ergänzte sie kaum hörbar: »Hat mir meine Mutter gleich gesagt.«

Erik hätte ihr am liebsten auf die Schulter geklopft und ihr Mut zugesprochen, aber das wäre natürlich völlig unangemessen gewesen. So beließ er es bei einem verständnisvollen Nicken und hoffte inständig, dass Carolins Leben einen anderen Verlauf nehmen würde. Und seine dringendste Hoffnung war, dass keins seiner Kinder auf die Idee kommen würde, den Körper mit Piercings und Tätowierungen zu verunstalten.

Er räusperte sich, als wollte er zeigen, dass es nun nicht mehr um Edda Bakkers, sondern um deren Chef gehen sollte, der tot im Gastraum lag. »Haben Sie nie ein privates Wort mit dem Wirt gewechselt? Hat er nicht mal irgendwas erwähnt, was Ihnen unwichtig erschien, was aber jetzt von Bedeutung sein könnte?«

Edda Bakkers dachte nach, dann antwortete sie zögernd: »Da gab’s eine Frau, die ihm ... na ja, gewissermaßen nachstellte.«

Erik horchte auf. »Nachstellte? Was wollte sie von ihm?«

»Liebe.«

Erik war verblüfft. »Sie ist in ihn verliebt, aber er erwiderte ihre Gefühle nicht? Wollen Sie das sagen?«

Edda Bakkers nickte. »Ich habe sie nie gesehen, aber sie rief häufig an. Und jedes Mal war er dann genervt. Anscheinend wollte sie sich mit ihm verabreden, und manchmal hat er sich auch darauf eingelassen, wenn ihm einfach keine Ausrede einfiel. Aber meistens hat er sie abgewimmelt. Mit so fadenscheinigen Gründen, dass eigentlich jede Frau hätte merken müssen, was Sache ist. Er wollte einfach nichts von ihr.«

»Den Namen kennen Sie nicht?«

»Er hat ihn nie genannt. Trotzdem habe ich immer gemerkt, wenn er sie am Ohr hatte. Seine Stimme klang dann sofort gereizt. Einmal hat er sogar gesagt: Nun fang nicht schon wieder an zu heulen, das ist ja nicht auszuhalten.« Sie schüttelte den Kopf. »Eine erwachsene Frau! Heult wie ein kleines Kind, damit sie bekommt, was sie will!«

»Wissen Sie, woher er sie kannte?«

»Wie gesagt, er redete nicht viel. Über Privates schon gar nicht. Aber ... er hat mal erwähnt, dass er sie auf einem Polterabend kennengelernt hat. Er hatte zu viel getrunken und sich auf einen Flirt mit ihr eingelassen. Mir kam es sogar so vor, als hätte er auch die Nacht mit ihr verbracht. Aber mehr als einen One-Night-Stand wollte er nicht.«

»Wohnt die Frau auf Sylt?«

»Vermutlich. Sonst hätte sie doch nicht immer wieder vorgeschlagen, sich zu treffen. Es war nie die Rede davon, dass einer der beiden dann erst über den Hindenburgdamm müsste.«

Erik dachte nach. War die Kränkung einer zurückgewiesenen Frau ein Mordmotiv? Konnte es sein, dass diese Frau Gregor Imhoff im ›Silbernen Hering‹ aufgesucht hatte, um sich für die Ablehnung zu rächen? Er stellte sich vor, dass sie überraschend in der Tür gestanden hatte, mit einer Waffe in der Handtasche. Sie wusste, dass Gregor Imhoff zu dieser Zeit allein war, er war ärgerlich, als er sie sah, wandte sich ab, wischte über die Theke oder machte sich irgendwie dort zu schaffen, um ihr zu zeigen, dass ihr Besuch nicht willkommen war, sie fühlte sich ein weiteres Mal zurückgewiesen, trat hinter Gregor ...

Sören unterbrach seine Gedanken. »Kommen Sie mal rüber, Chef! Ich habe was entdeckt!«