Sonnenlicht - Josephine Prinz - E-Book

Sonnenlicht E-Book

Josephine Prinz

4,7

Beschreibung

Beth ist 17 Jahre alt, geht zur Highschool, hasst Hausaufgaben und ist ein Zucker-Junkie. Zusammengefasst ein ganz normaler Teenager. Ja, das dachte sie bis dato auch - ist aber nicht so. Beth ist eine Saltar, ein Kind der Sonne, mit einer ganz besonderen Gabe. Laut einer jahrhunderte alten Prophezeiung ist sie dazu bestimmt, die Menschheit vor einer dunklen Macht zu bewahren. Da das natürlich alles andere als ungefährlich ist, wird ihr Luke zur Seite gestellt. Er ist ein Schützer, ihr ganz persönlicher Bodyguard, der Beth von nun an nicht mehr von der Seite weichen darf. Doch in ihren Augen ist er keine Hilfe. Luke ist arrogant, ungehobelt und stur. Und irgendwann raubt er ihr garantiert noch den letzten Nerv!

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Seitenzahl: 407

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Über die Autoren:

"Sonnenlicht - Die Macht der Gedanken" ist das Debutwerk des Autorenduos Josephine und Marie Prinz. Tante und Nichte haben schon früh ihre Liebe zum Schreiben entdeckt und freuen sich, umso mehr, dass mit dieser Veröffentlichung ihr Traum in Erfüllung geht. Beide sind hauptberuflich im kaufmännischen Bereich tätig und leben mit ihrer Familie in Menden, NRW.

Some say love, it is a river

That drowns the tender reed

Some say love, it is a razor

That leaves your soul to bleed

Some say love, it is a hunger

An endless aching need

I say love, it is a flower

And you, its only seed

It's the heart afraid of breaking

That never learns to dance

It's the dream afraid of waking

That never takes the chance

It's the one who won't be taking

Who cannot seem to give

And the soul, afraid of dyin'

That never learns to live

When the night has been too lonely

And the road has been too long

And you think that love is only

For the lucky and the strong

Just remember in the winter

Far beneath the bitter snows

Lies the seed that with the sun's love

In the spring becomes the rose

(The Rose /Bette Midler)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Epilog

Prolog

Es ist Nacht und ich stehe mutterseelenallein auf einem Waldweg. Es ist stockfinster und ich kann nicht sehen, wohin er mich führt. Sogar den Boden, auf dem ich stehe, kann ich kaum erkennen. Die Sterne sind meine einzige Lichtquelle. Doch, anstatt, dass sie ein wenig Sicherheit geben, wirken sie bedrohlich auf mich. Sie machen mir Angst. Wie auf brüchigem Glas bewege ich mich vorwärts. Die Blätter der Bäume rascheln im Wind. Es ist eisig. Die Kälte schneidet mir wie ein scharfes Messer ins Gesicht. Plötzlich höre ich eine Stimme, ein Flüstern, aber es ist so leise, dass ich nichts verstehen kann. Ich möchte schneller gehen, rennen, aber ich weiß nicht in welche Richtung. Es fängt an zu donnern, der Wind wird immer stärker. Ein Sturm zieht auf. Schließlich ist mir die Richtung egal, ich laufe einfach drauf los. Ich will nur raus aus diesem dunklen Gefängnis. “…Sternenkind…”, flüstert plötzlich eine Stimme direkt hinter mir. Schlagartig drehe ich mich um - kann aber niemanden sehen.

Eins

Es ist dunkel.

Der Boden schwankt. Alles dreht sich.

Mein Herz rast, als wäre es eine olympische Disziplin und ist fest entschlossen diesen Wettbewerb zu gewinnen, dicht gefolgt von dem Pochen in meinem Schädel. Unfähig mich zu bewegen, liege ich auf dem Boden. Aus der Ferne nehme ich Stimmen war. Nach und nach kommen sie näher, bis dieses Stimmenwirrwarr direkt über mir ist. Sie reden auf jemanden ein. Einige schreien diesen armen Jemand sogar fast an. Moment mal, dieser “Jemand” bin ich!

“Beth, wach auf! Sie ist weiß wie eine Wand.” Das war die Stimme meiner besten Freundin, Jodie. Sie ist völlig aufgelöst. Was um alles in der Welt ist passiert?

“Elisabeth, kommen Sie Kleine. Jodie legen Sie mal ihre Beine hoch, am besten auf den Stuhl hier vorne.” Das ist die Stimme von Mr. Parker, meinem Geschichtslehrer. Er hört sich wesentlich ruhiger an als Jodie, aber ebenfalls besorgt. Mein Arm wird hochgehoben und irgendwer drückt mein Handgelenk! Nein, diese Person fühlt meinen Puls.

“Der Pulsschlag wird etwas kräftiger!” So fürsorglich habe ich meinen Geschichtslehrer ja noch nie erlebt, aber irgendwann… Sekunde, Mr. Parker? Das heißt, ich bin in der Schule! Oh nein, bitte nicht, lass mich bitte, bitte nicht mitten im Unterricht ohnmächtig geworden sein. Das ist ja so peinlich! Morgen weiß es bestimmt die ganze Schule. Ich sehe schon Stacie Winter geradezu vor mir, wie sie den Vorfall mit ihren eigenen, für sie typischen (gelogenen) Einzelheiten, ausschmückt.

Zum Glück hat die Karussellfahrt langsam ein Ende und der Boden hört nach und nach auf sich zu bewegen. Ich versuche mich aufzurichten, aber meine Glieder wollen dabei noch nicht richtig mitmachen. Lediglich meine Augen habe ich unter Kontrolle und kann sie öffnen. Über mir sind mindestens ein Dutzend Gesichter, die mich fragend anstarren. Jetzt kann ich zu den Stimmen auch die dazugehörigen Gesichter erkennen. Meine komplette Klasse, sogar Stacie, hat sich um mich versammelt.

“Hey Leute, sie kommt wieder zu sich. Beth, kannst du mich hören? Hast du Schmerzen? Ist dir schwindelig?…”

“Hey, hey, hey, Jodie, eins nach dem Anderen. Lass sie sich erst mal richtig sammeln!”

“Ist schon in Ordnung Mr Parker”, wenigstens meine Stimme funktioniert. “Um deine Fragen zu beantworten: klar und sehr deutlich. Nur im Kopf. Geht so!”

“Jep, da ist sie wieder!” Das kam von Josh in seiner typisch charmanten Art und Weise, die mich hin und wieder in den Wahnsinn treibt. Meiner Meinung nach hat er es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Strapazierfähigkeit der Nerven seiner Mitmenschen zu testen. Und ich muss zugeben, dass er das wirklich gut macht. Mein ganzer Körper fängt an zu kribbeln und langsam aber sicher bekomme ich wieder Kontrolle über ihn. Jodie hilft mir mich aufzusetzen, mit Kopf und Rücken lehne ich mich an die Wand. Meine Arme habe ich fest um meine angewinkelten Knie geschlungen.

“Was ist passiert?” Meine Stimme wird kräftiger.

“Sagen Sie es uns!” Während Mr. Parker das sagt, sieht er mich merkwürdig an. Etwas verwirrt erwidere ich seinen Blick.

“Wir hörten nur einen Knall und dann lagst du auch schon neben deinem Stuhl“, sagt Jodie noch immer ein wenig aufgelöst und unterbricht somit unseren Blickkontakt. „Beth, du hast uns einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Wäre es nicht besser, wenn wir die Schulschwester verständigen?”

“Nein Jodie, das ist nicht nötig. Wenn man mit dem Hinterkopf so gegen eine Wand knallt, sind die Kopfschmerzen und der Schwindel ganz normal. Sollte allerdings noch Übelkeit hinzukommen, melden Sie sich sofort!”

Mr. Parker sitzt mittlerweile auf dem Stuhl, auf dem eben noch meine Beine lagen. Mit einem Arm lehnt er auf der Stuhllehne und auf dem Tisch stützt er mit dem anderen seinen Kopf. Er sieht schon wieder wesentlich entspannter aus. Da dieses Missgeschick schon ausgerechnet in der Schule geschehen musste, bin ich froh, dass es wenigstens im Unterricht von Mr. Parker war. Bei ihm ist es mir nicht ganz so unangenehm, wie es mir bei einigen anderen gewesen wäre. Er ist nicht so steif und verknöchert wie viele andere Lehrer an dieser Schule. Für seine Schüler hat er immer ein offenes Ohr, egal ob es sich um ein schulisches oder privates Problem handelt. Schließlich unterrichtet er mich schon, seit ich an dieser Schule bin. Erst hatte ich Englisch, dann Sport und nun Geschichte bei ihm. Als ich zu ihm aufblicke, sieht er mich erneut nachdenklich an. Ich glaube, er hat sich wirklich Sorgen um mich gemacht.

“Aber ein Schluck Wasser tät ihr vielleicht ganz gut”, meint er dann.

“Nein, danke, es geht schon wieder, ich würde nur gerne mal kurz an die frische Luft.”

Gestützt von Jodie und Josh kann ich vorsichtig aufstehen. Ich hake mich bei Jodie ein und gemeinsam verlassen wir schlendernd Schritt für Schritt den Klassenraum in Richtung Schulhof.

Erst jetzt fällt mir auf, wie sehr ich friere und schiebe meine Hände in die Hosentasche.

“Mir ist kalt.”

“Hier ist es doch immer kalt, das liegt an diesem alten Bunker.”

Gut möglich, die Wände bestehen aus grauem Gestein, so wie auch die Außenfassade. Daher ist es im Sommer zwar immer schön kühl, im Winter dafür aber auch viel zu kalt. Selbst ein Pinguin würde nur mit Strickpulli freiwillig hier bleiben. Die Rechnung für die Heizkosten möchte ich jedenfalls nicht bezahlen. Die Scheiben der meisten Fenster, vor allem die der Klassenräume, wurden durch neue ersetzt, aber einige sind noch im Originalzustand. So auch diese Flurfenster. Es sind dicke Buntglasscheiben, daher ist es hier auch nie richtig hell. Es werden verschiedene Motive gezeigt, kein Fenster gleicht den anderen. Wer nicht weiß, dass es sich bei diesem Gebäude um eine Schule in Portland handelt, könnte meinen, es wäre eine alte, restaurierte Burg. Der Architekt muss ein Faible fürs Mittelalter gehabt haben.

“Nun sag doch mal. Was war eigentlich los?” Jodie sieht mich immer noch besorgt an.

“Wenn ich das nur wüsste.” Ich weiß es wirklich nicht. Ich saß auf meinem Stuhl und lauschte gespannt (ha, ha) den Worten von Mr. Parker, der über die entscheidende Schlacht des Bürgerkrieges berichtete. Dann wurde mir plötzlich schwindlig und dann… nichts, absolut nichts! “Ich kann mich an nichts erinnern. Das Letzte, was ich noch weiß, ist die Schlacht von Petersburg und…”

“Beth, das war bestimmt zehn Minuten bevor du in Ohnmacht gefallen bist. Wir waren schon bei dem Friedensvertrag.”

”Der Friedensvertrag? Nein, davon weiß ich nichts mehr. So etwas ist mir bisher nie passiert.” Entnervt lasse ich den Kopf hängen. “Klar, hier und da mal ein kleiner Schwindelanfall, das weißt du ja. Aber ich bin noch nie ohnmächtig geworden.”

“Dann solltest du das besser mal abklären lassen, damit ist echt nicht zu spaßen. Tante Phyllis, die Cousine meines Vaters, hatte die gleichen Beschwerden wie du und hat auch nichts dagegen unternommen. Das Ende vom Lied war, dass sie ein halbes Jahr im Krankenhaus verbringen musste.” Fürsorglich sieht sie mich an.

“Ach quatsch, das liegt bestimmt nur am Wetter.” Hoffentlich klinge ich überzeugender, als ich mich fühle. Ihrem Blick nach zu urteilen nicht, aber sie erwidert nichts.

“Kann mein kleines Nickerchen erst mal unter uns bleiben, ich möchte niemanden beunruhigen.”

“Dafür ist es zwar ein bisschen spät, aber meine Lippen sind versiegelt. Vorerst!”

Die Sonne steht im Zenit. Es ist ein warmer Frühlingstag, fast schon zu warm für April. Aber ich liebe es, wenn die beißenden Sonnenstrahlen durch eine leichte Brise abgekühlt werden. Leider sind diese Tage viel zu selten, Sonnenschein ist in Portland bedauerlicher Weise Mangelware. Wir setzen uns auf eine Bank in der Nähe des Parkplatzes. Eine riesige Eiche spendet uns Schatten. Ein paar Mal atme ich tief ein. Den Kopf habe ich in den Nacken gelegt und meine Augen sind geschlossen. Endlich verschwindet auch der Schwindel.

Eine Weile sitzen wir schweigend auf der Bank und genießen die Ruhe. Jodie ist zwar eine wahrhaftige Quasselstrippe, aber sie weiß auch, wann es Zeit ist den Mund zu halten. Nach ein paar Minuten wird unsere Ruhe leider durch ein Motorengeräusch gestört. Ein schwarzer Van, der ganz bestimmt schon bessere Tage erlebt hat, biegt in eine Parklücke. Es dauert eine Ewigkeit bis sich die Fahrerseite öffnet und ein Mann um die Fünfzig aus dem Wagen steigt. Während der Fremde die Autotür schließt, schaut er sich suchend um. Als er Jodie und mich sieht, lächelt er und kommt auf uns zu.

“Kennst du den?” Mit meinem Ellbogen stoße ich Jodie in die Seite und deute auf unseren Ruhestörer.

“Nein, den habe ich hier noch nie gesehen! Vielleicht ein neuer Lehrer oder ein Vater, der auf sein Kind wartet.”

“Sport unterrichtet er jedenfalls nicht, der humpelt ganz schön.” Der Mann zieht sein linkes Bein ein wenig nach, scheint aber keine Schmerzen dabei zu haben. In seinem Gesicht ist jedenfalls nichts zu sehen.

“Guten Tag Ladies, wären Sie so freundlich mir zu sagen, wie ich zum Direktor gelange?” Mit einer angedeuteten Verbeugung begrüßt er uns. Obwohl ich diesen Mann zum ersten Mal sehe, ist er mir sofort sympathisch, vielleicht liegt das an den Lachfältchen und den verschmitzten Augen. Durch die graumelierten Haare und trotz, dass er einen leichten Drei-Tage-Bart trägt, wirkt er irgendwie aristokratisch.

“Wie könnten wir eine so freundliche Bitte abschlagen?”

Als ich aufstehen will um den Weg zu beschreiben, komme ich wieder ins Wanken. Noch bevor ich mich an der Bank abfangen kann, hält mich der Fremde am Arm fest und stützt mich.

“Ist alles in Ordnung?”

“Ja, danke Mr. …”, fragend blicke ich den Fremden an. Erst jetzt fällt mir auf, wie groß dieser Mann eigentlich ist.

“Al. Nennen Sie mich einfach Al.”

“Ok, danke…Al. Wissen Sie was, unsere nächste Stunde beginnt sowieso gleich. Wir kommen mit Ihnen, dann können Sie sich nicht verlaufen.”

Die letzten zwei Schulstunden vergehen wie im Flug - und so gut wie ohne Schwindelgefühl. Kunst. Ich liebe Kunst. Dadurch bekomme ich den Kopf jedes Mal frei. Dinge zeichnen, mit Farben spielen, das hab’ ich schon immer gerne gemacht. Am liebsten zeichne ich jedoch Portraits mit Bleistift. Man achtet auf jede Schattierung, auf jede noch so kleine Falte. Ein einziger Strich kann dem Gesicht einen ganz anderen Ausdruck verleihen. Genauigkeit ist dabei sehr wichtig. Schon als kleines Mädchen habe ich mich oft auf die Fensterbank in meinem Zimmer gesetzt und die Leute beobachtet. Das konnte ich stundenlang, auch heute noch. Man staunt, wie viel ein Gesicht preisgibt, wenn man es genau betrachtet. Es ist wie ein Buch, in dem man lesen kann.

Auf dem Heimweg ist der Schwindel dann vollständig verschwunden. Die frische Luft hat bestimmt geholfen. Langsam muss ich mich beeilen, dass ich nach Hause komme. Es ziehen dunkle Wolken am Himmel auf, aber wenn man in Portland Main lebt, hat man leider keine andere Wahl als sich an Regen zu gewöhnen.

Gerade fährt ein Möbelwagen an mir vorbei und ist kurze Zeit später auch schon wieder um die nächste Ecke verschwunden. Der hat es gut, der kommt immerhin trocken an sein Ziel.

Ich bin auf der Clifton Street angekommen und gehe einen Schritt schneller, aber leider nicht schnell genug. Die ersten Regentropfen fallen vom Himmel. Es dauert nicht lange, da sind es schon ganze Sturzbäche. Mittlerweile renne ich, zum Glück ist es nicht mehr weit. Um das Schlimmste zu verhindern, halte ich mir meine Schultasche über den Kopf. Endlich biege ich in unsere Straße ein, ich kann kaum noch etwas erkennen, da…

“Autsch!”

Rücklings und alle Viere von mir gestreckt, liege ich auf dem Gehweg. Genau in dem Moment, als ich an einem Lastwagen vorbeirannte, tauchte jemand hinter dem Wagen auf. Da keiner von uns den anderen sehen konnte, kam der Zusammenstoß für uns beide sehr überraschend. Glücklicherweise wurde durch die Schultasche der Aufprall von meinem Hinterkopf abgeschwächt. Mein Arm hatte leider nicht so viel Glück, er hat direkten Bodenkontakt. Gegenüber von mir höre ich ein Stöhnen und ein paar leise, aber ich glaube sehr ernst gemeinte Flüche.

“Ahr, man, kannst du denn nicht aufpassen, jetzt liegt alles auf der Erde. Die Bücher sind sehr wertvoll, sieh sie dir an, die sind ruiniert. Ich bin ein toter Mann, Al bringt mich um.” Ein Junge meines Alters, vielleicht ein oder zwei Jahre älter, kniet auf der Erde und verstaut mindestens ein Duzend Bücher wieder in einen Karton. Langsam, ich bin mittlerweile nass bis auf die Haut, stehe ich auf und halte meinen schmerzenden Arm.

“Danke der Nachfrage, es ist nichts gebrochen.” Denke ich jedenfalls, der Typ muss aus Stahl sein.

“Um das klarzustellen, du bist wie eine Geisteskranke in mich reingerannt.“ Eine dunkle Strähne hängt ihm nass in der Stirn und seine Augen funkeln mich böse an, aber nur ganz kurz, dann wirkt er eher verwirrt. Scheinbar verlegen fährt er sich mit der Hand durch die Haare und greift dann nach dem Karton, der ihm bei unserem Zusammenprall vom Arm gerutscht ist.

Wie hat er mich genannt, Geisteskranke? Was bildet der Kerl sich eigentlich ein?

“Falls es dir nicht aufgefallen ist: Es regnet! Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber ich steh nicht so darauf pitschnass zu werden. Und wenn du nur ein bisschen vorsichtiger gewesen wärst, und nicht einfach hinter so einem Ungetüm auftauchen würdest, wären deine blöden Bücher und ich ohne Schaden davongekommen”, sage ich und deute auf den LKW. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich neben dem Umzugswagen stehe, der vor ein paar Minuten noch an mir vorbeigefahren ist. Wir stehen vor dem Haus unserer unmittelbaren Nachbarn. Soweit ich weiß, sind die Handersons nicht ausgezogen, jedenfalls nicht bis heute Morgen, da habe ich mir von Clara noch meine Lieblingswaffeln abgeholt. Daher kann es sich nur um die leer stehenden Zimmer unter dem Dach handeln, aber die stehen schon seit einer Ewigkeit leer, eigentlich schon immer. Da Clara und Phil mir gar nichts davon erzählt haben, dass sie die Zimmer vermieten wollen und so ein Geheimnis daraus gemacht wurde, bin ich auf die neuen Nachbarn ganz schön neugierig. Hoffentlich sind die nett. Plötzlich kommt mir ein schrecklicher Gedanke. Ich schaue in das Gesicht des Fremden, der immer noch mit seinem Karton beschäftigt ist. Oh nein, lass ihn bitte für das Umzugsunternehmen arbeiten. Charmant taste ich mich heran.

“Ich hoffe nicht, dass dir die beschädigten Bücher von deinem Lohn abgezogen werden.”

“Was?” Ist das alles, was er dazu sagt?

Ok, das könnte dauern, ein Shakespeare ist er nicht gerade. Da ich aber keine Lust habe noch länger im Regen zu stehen, laufe ich schnell zu unserer Treppe am Hauseingang und stelle mich unter dem Vordach unter.

“Oh, dann hoffe ich, dass du nicht direkt deinen Job verlieren wirst.” Ich gebe zu, vielleicht war das ein wenig zu viel Sarkasmus!

“Gut möglich.” Mit seinem Ärmel wischt er den Schmutz von den Büchern. Er sieht echt verzweifelt aus. Fast beginnt er mir ein wenig leid zu tun.

“Bist du endlich fertig mit glotzen?”

Da ist mein Mitgefühl auch schon wieder verflogen. Verärgert schließe ich die Haustür auf. So ein Idiot! Sollte der wirklich bei den Handersons eingezogen sein, muss ich mit denen noch ein ernstes Wörtchen reden. Meine Schultasche werfe ich erst einmal achtlos auf den Boden, um meine nassen Sachen im Badezimmer aufhängen zu können. Anschließend gehe ich in die Küche. Am Kühlschrank klebt ein Zettel: LASS ES DIR SCHMECKEN SCHATZ, BIS SONNTAG - MOM U. DAD. Meine Eltern sind heute Morgen nach Minnesota zu der Schwester meiner Mutter gefahren. Tante Sally hat erst vor Kurzem mit ihrem Mann dort ein nettes Einfamilienhaus gekauft, weil Onkel Ray in eine andere Stadt versetzt worden war, wieder einmal. Die beiden ziehen ungefähr alle zwei Jahre um, als Herzspeziallist sind die ruhigen Hände meines Onkels nun mal sehr gefragt. Nun aber hoffen sie dort wohnen bleiben zu können. Sie haben uns für ein langes Wochenende eingeladen. Eigentlich sollte ich auch mitkommen, dann hätten wir allerdings erst Freitagabend fahren können. Da meine Mutter ihre Schwester jedoch so selten sieht, habe ich vorgeschlagen, dass sie ruhig schon heute aufbrechen sollen. Obwohl meinen Eltern die Vorstellung, ihre halbwüchsige, siebzehnjährige Tochter ganze fünf Tage allein zu lassen, gar nicht behagt, haben sie sich letzten Endes doch dazu entschlossen allein nach Minnesota zu fahren. Nach meinem Argument, dass ich schließlich ihre Tochter bin und sie mich verantwortungsvoll erzogen haben, waren sie entwaffnet. Die Tatsache, dass Clara und Phil versprochen haben ein Auge auf mich zu werfen, war vielleicht auch nicht ganz unerheblich.

Mom hat vorgekocht, im Kühlschrank befindet sich Essen für mindestens eine Woche. Neben vielen verschiedenen nahezu erschreckend gesunden Gerichten, finde ich daneben natürlich auch meine Lieblingsleckereien aus Moms Konditorei. Für ihre Schoko Cupcakes mit Himbeer-Limetten Topping begehe ich bedingungslos jeden Mord. Ich lehne mich an den Küchentisch und starre auf die vielen verschiedenen Frischhaltedosen im Inneren des Kühlschranks. Esse ich erst etwas, oder mache ich erst Hausaufgaben? Da ich noch keinen allzu großen Hunger habe, schnappe ich mir meine Schultasche und gehe rauf in mein Zimmer. Ich öffne meine Zimmertür, die wie immer ganz furchtbar quietscht. Sie muss unbedingt geölt werden.

Mein Zimmer wurde zwar erst vor einem Jahr renoviert, aber die alte weiße Tür wollte ich unbedingt behalten. Ich finde, sie verleiht meinem Zimmer einen besonderen Charme. Außerdem passt sie perfekt zu meinen restlichen Möbeln. Auch sie sind schon etwas älter und ebenfalls weiß. Letzten Sommer ist eine Großtante von mir gestorben. Sie lebte ganz allein und hatte keine direkten Erben, daher mussten wir ihren gesamten Haushalt aufteilen oder verkaufen. Als ich die Möbel das erste Mal sah, habe ich mich sofort in sie verliebt. Sie sind nicht verschnörkelt oder so, aber trotzdem sehen sie aus wie aus einer anderen Zeit.

Mein Zimmer ist zwar schon sehr hell, da ich einen eigenen kleinen Balkon und einen Erker mit großem Fenster habe, aber durch diese Möbel wirkt es noch freundlicher. Da die Möbel schon weiß sind, habe ich die Wandfarbe mit einem sehr hellen Grün abgetönt. Es ist nur ein ganz feiner grüner Hauch, sticht jedoch trotzdem ab.

Mit Schultasche setze ich mich auf mein Bett und sehe nach, was heute an Hausaufgaben anfällt. Am besten ich fange mit Geschichte an, dann hab ich das Schlimmste schon mal hinter mir. Aber vorher ziehe ich die Gardine zu. Trotz des Regens werde ich von der Sonne geblendet. Gerade als ich mich wieder umdrehen und zum Bett gehen will, trifft mich der Schlag: Von der Balkontür aus kann ich genau in das Fenster nebenan sehen. Die Häuser in dieser Straße sind alle gleich gebaut, einige nur seitenverkehrt. So auch das Haus von Clara und Phil. Das heißt, dass mein Balkon fast an den Balkon unseres Nachbarn stößt. Das allein ist ja noch nicht dramatisch. Ob es ein Drama wird, hängt einzig und allein vom Nachbarn ab, und der kam soeben zum Vorschein.

Er hat doch gesagt, dass er für das Unternehmen arbeitet, oder nicht? Wegen der Bücher verliert er vielleicht seinen Job. Aber wieso räumt er dann jetzt die Schränke ein. So viel Service bietet doch keiner. Die Arme vor der Brust verschränkt, stehe ich halb hinter der Gardine und beobachte mein Gegenüber. Vielleicht will er den Ausrutscher mit den Büchern wieder ausgleichen, indem er zusätzliche Arbeiten leistet. Als er jedoch sein T-Shirt auszieht, nass wie es ist, auf das Bett wirft und sich im Anschluss einen (trockenen) Pullover aus einem Karton nimmt, ist auch der letzte Funke Hoffnung verpufft. Es sind eindeutig seine Sachen und sein Zimmer. Noch steht er mit dem Rücken zu mir, der, wie ich leider zugeben muss, verdammt gut aussieht. Nicht übermäßig muskulös, aber ziemlich durchtrainiert. Wenn der Rücken keinen Kopf hätte, könnte ich mich mit meinem neuen Nachbarn abfinden. Da dem aber nicht so ist und ich an dieser Tatsache (auf legalem Wege) auch nichts ändern kann, muss ich mich meinem Schicksal ergeben und tapfer sein. Na ja, wenn er in seinem Zimmer bleibt und ich in meinem, dürften wir uns ja nicht allzu oft über den Weg laufen.

Um etwas frische Luft ins Zimmer zu lassen, öffne ich leicht das Fenster, ziehe aber die Vorhänge zu, schließlich will ich ja nicht, dass mich jeder beobachten kann.

Ich nehme mir die Schulbücher, setze mich an meinen Schreibtisch und versuche mich voll und ganz dem Bürgerkrieg zu widmen. Obwohl mir nicht mehr schwindelig ist, fällt es mir dennoch schwer mich zu konzentrieren. Vielleicht sollte ich auf Jodie hören und wirklich mal zum Arzt gehen. Nachdem ich denselben Satz fünf Mal gelesen habe, gelingt es mir endlich ihn zu verinnerlichen. Nach zwei Stunden, drei Tassen Capuccino und einer Endlosschleife von Always (keiner singt es so schön wie Bon Jovi), muss ich nur noch die letzten drei Schlachten zusammenfassen. Da mir mein Handgelenk vom vielen Schreiben schon weh tut und ich auch überhaupt gar keine Lust mehr auf Geschichte habe, wird Lincoln den Krieg nie wieder soll schnell wie in meinem Aufsatz gewinnen.

Völlig erledigt schlage ich für heute das letzte Buch zu. Der Tag war ohne jeden Zweifel sehr lang. Erst die Aufregung in der Schule, dann die nette Bekanntschaft mit meinem neuen Nachbarn und zum Abschluss drei Stunden Hausaufgaben. Wer freut sich da nicht auf sein Bett?

Mr. Harrison kommt wie immer fünf Minuten zu spät zum Unterricht. Mit zerzausten Haaren und völlig außer Atem öffnet er die Klassentür und schenkt uns, bis er am Lehrerpult ist, nicht die geringste Aufmerksamkeit. An diesem Morgen ist irgendetwas anders. Er wirkt zwar, wie sonst, ein wenig konfus, aber sein Gesichtsausdruck ist nicht so gehetzt. Seine Züge sehen weicher aus, als wäre er über Nacht um mindestens zehn Jahre jünger geworden. Man könnte fast sagen, dass er lächelt. Mr. Harrison legt seine Aktentasche vor sich auf das Pult, öffnet sie und sortiert in aller Ruhe seine Unterlagen. Im Anschluss geht er um den Tisch herum, lehnt sich mit der Rückseite an und verschränkt die Arme vor der Brust. Endlich nimmt er von uns Schülern Notiz.

“Guten Morgen Kinder, bevor wir mit unserem neuen Thema beginnen, möchte ich Ihnen Ihre neuen Mitschüler vorstellen.” Kinder? Seit wann bezeichnet uns unser Englischlehrer als Menschen? Wenn er sonst über uns spricht, fallen Worte wie Alien oder Monster, und dann ist er noch gut gelaunt. Sein Blick schweift durch die Klasse, er sieht jeden einmal flüchtig an. Jeden, außer mich. Als seine Augen bei mir zum Stehen kommen, bin ich diejenige, die unruhig und nervös wird. Er schaut mich nicht nur an, sondern fixiert mich regelrecht. Dann, als will er sich aus einer Art Trance oder Tagtraum lösen, schließt er kurz die Augen und schüttelt kaum wahrnehmbar den Kopf.

“Wo bin ich stehen geblieben? Ach ja, wie ich euch gestern schon gesagt habe, werden ab heute zwei neue Schüler unsere Schule besuchen und da wir der Deutsch-Kurs mit den wenigsten Schülern sind, wer… wi… s…

Oh nein, nicht schon wie…

Ich falle seitlich von meinem Stuhl und reiße meine Schreibmappe sowie mein Etui mit zu Boden. Ich warte auf den Aufprall, aber er kommt nicht. Jedenfalls nicht so hart wie ich gedacht habe. Meine Beine liegen eindeutig auf dem Boden, aber mein Oberkörper wird von irgendetwas gehalten, als wenn, mich jemand aufgefangen hätte Moment mal, wieso weiß ich das alles, ich bin doch ohnmächtig, oder nicht? Aber was soll das sonst sein? Ich bin auf jeden Fall eindeutig wach. Ich habe nur keine Kontrolle über meinen Körper. Auch meine Sinne sind eigentlich alle funktionsfähig. Ist das so etwas wie ein Wachkoma? Nein, das kann nicht sein. Langsam bekomme ich wieder Gefühl in meine Glieder, alles fängst an zu kribbeln - genau wie gestern. Ich lege meine linke Hand auf die Stirn und versuche meine Augen zu öffnen, was gar nicht so einfach ist. Es fühlt sich an, als ob meine Wimpern durch Kaugummi zusammen gehalten werden. Letztendlich reißt es und ich sehe direkt in ein Gesicht. Um genau zu sein in ein atemberaubend schönes Gesicht, aber es ist mir vollkommen fremd. Das muss einer der neuen Schüler sein. Und da falle ich schon wieder, oder besser gesagt ich versinke. Ich versinke in haselnussbraune Augen, in denen kleine goldene Sterne tanzen. Meine Umgebung habe ich völlig ausgeblendet. Abgesehen von den Augen nehme ich nur noch sein bezauberndes Lächeln war, das mir fast die Luft abschnürt.

“Kannst du aufstehen?” Er redet mit mir. Normalerweise würde ich antworten, aber mein Gehirn hat ein paar Übertragungsprobleme. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, geschweige denn einen grammatikalisch richtigen Satz formulieren. Der Schwindel breitet sich nun in meinen ganzen Körper aus. Es kribbelt überall. Zum ersten Mal bin ich froh, dass ich ohnmächtig geworden bin, denn meine Beine würden mich in diesem Augenblick garantiert nicht tragen.

“Mr. Harrison, das ist das zweite Mal in zwei Tagen, das so etwas passiert“, wendet sich Jodie an unseren Lehrer. “Dann ist es besser, wenn sie jemand ins…

“…zur Schulschwester bringt!”, ertönt eine energische Stimme hinter mir. Es muss der zweite neue Schüler sein. Irgendwie kommt mir seine Stimme seltsam bekannt vor, kann sie momentan allerdings nicht genau einordnen. Aber wieso mischt der sich überhaupt ein? Was geht ihn das an? Ich drehe meinen Kopf über die Schulter nach hinten und versuche einen Blick auf meinen neuen, vorlauten Mitschüler zu werfen. Aber erstens steht er so, dass es für mich unmöglich ist ihn zu sehen und zweitens, will ich mein Blickfeld eigentlich auch gar nicht ändern.

Mein Retter sieht mir direkt in die Augen und wartet noch immer auf eine Antwort. Da ich einer allgemein verständlichen Sprache zurzeit nicht mächtig bin, nicke ich nur.

“Gut, dann hoch mit dir. Ganz langsam, ich halte dich.” Seine Stimme ist butterweich und fließt wie süßer Honig durch meine Ohren. Oh man, wie soll ich meinen Schulabschluss zu Stande bringen, wenn er mit mir in einem Raum sitzt? Ich kann nur hoffen, dass wir nicht viele gemeinsame Kurse belegt haben. Obwohl, wenn ich mir das genau überlege, wäre das furchtbar, wenn ich ihn nicht so oft sehen würde. Sehr vorsichtig zieht er mich auf die Beine. Die eine Hand hat er um meine Taille gelegt und mit der anderen stützt er mich am Arm. Überall, wo er mich berührt, scheinen winzige Stromschläge von seiner Haut auszugehen. Ich weiß selber nicht, was mit mir los ist, aber ich fühle mich im wahrsten Sinne des Wortes “elektrisiert”.

“Setzt euch bitte alle wieder. Jodie du auch! Mr. Hithrone wären Sie so nett und begleiten Miss Gabel zur Schulschwester. Nur für den Fall, dass sich ihr Zustand wieder verschlechtert.” Wie soll sich mein Zustand in seiner Gegenwart je wieder verbessern? Mein Hirn hat soeben seinen Dienst quittiert.

“Selbstverständlich Mr. Harrison.” Mein Retter ist ein wahrer Gentleman. Damit die anderen nicht merken, dass ich mich in den letzten Minuten in einen von diesen völlig verkitschten, liebeskrank starrenden Groupies verwandelt habe, wende ich schnell den Blick von ihm ab und schaue stattdessen auf meine Hände, die meine Nervosität leider verraten. Er hingegen sieht mich unverblümt an. Verlegen streiche ich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr. Jetzt stell dich bloß nicht dämlich an!! Immer ruhig ein- und ausatmen! Mr. Harrison wendet sich an mich.

“Schaffen Sie es ihm den Weg zu zeigen?” Dieses Mal versuche ich zu antworten.

“Mh.” Ok, das war für den Anfang nicht schlecht.

Zum zweiten Mal in dieser Woche werde ich aus diesem Klasseraum geführt.

“Gehe ich zu schnell?” Fürsorglich sieht er mich an. Sein Blick durchforscht mich und das Kribbeln wird immer stärker. Ich habe das Gefühl, dass eine Armee von Ameisen meinen ganzen Körper bevölkert hat.

“Nein, ist schon ok.” Dass er meinen Arm eigentlich auch wieder los lassen kann, sage ich ihm aber noch nicht.

Obwohl der Weg zum Krankenzimmer im Prinzip ein Katzensprung ist, kommt er mir im Moment vor wie ein Gewaltmarsch durch die halbe Schule. Allerdings finde ich das in dieser Gesellschaft alles andere als unangenehmen. Wenn es nach mir geht, kann der Weg gar nicht lang genug sein. Damit jedoch kein peinliches Schweigen aufkommt, verbinde ich das Notwendige mit dem Praktischen. Ich erkläre ihm, was sich hinter jeder Tür verbirgt, an der wir vorbeikommen.

“In diesem Flur werden die naturwissenschaftlichen Fächer unterrichtet. Zum Glück muss ich nur einmal am Tag hierhin, Bio in der Dritten.”

“Genau wie ich. Wir haben anscheinend mehrere Fächer gemeinsam.” Wieder dieses vernichtende Lächeln. Wenn das so weiter geht, kann ich mich von meinem Schulabschluss verabschieden.

“Für die künstlerisch Begabten unter uns, sind da vorne die Kunst- und Musikräume. Wir bezeichnen die Räume als unsere Musen.” Ich zeige auf die Klassen rechts von uns.

“Werde ich dich dort finden, wenn ich dich suche, Miss Gabel?”

Was ist denn jetzt kaputt?

“Ähm, ich weiß ja nicht wie das an eurer Schule war, aber hier reden wir Schüler uns untereinander mit dem Vornamen an”, sage ich leicht irritiert.

“Wir auch, aber für mich wäre es einfacher, wenn ich deinen Namen wüsste”, er grinst mich verschmitzt an.

“Oh.” Ich merke, wie mir die Röte in Gesicht schießt.

“Ich heiße Beth.”

“Ethan.”

“Ja, wirst du Ethan. Und wie sieht es bei dir aus?”

“Wohl eher nicht, ich bin eher der sportliche Typ.” Zur Verdeutlichung macht er einen auf Bodybuilder und spannt mit einem übertrieben ernsten Gesicht seinen Bizeps an. Darüber müssen wir beide lachen. Doch das bereue ich sofort, denn augenblicklich kehrt der altbekannte Schwindel mit voller Wucht zurück. Ich spüre noch wie sich der Griff um meine Taille verstärkt - Dunkelheit.

Zwei

“Luke, es wird immer schlimmer, sie muss so schnell wie möglich lernen, es zu kontrollieren.”

“Jetzt werde ich also offiziell zum Babysitter degradiert?”

Langsam öffne ich meine Augen. Was ist passiert? Was für ein Babysitter? Und wo bin ich überhaupt? Nach einem kurzen Blick zur linken und zur rechten Seite wird mir klar, dass ich mittlerweile im Krankenzimmer angekommen bin. Die Frage ist nur - wie? Vorsichtig setze ich mich auf.

“Psst, sie ist wach.” Mrs. Norris, die Schulkrankenschwester kommt auf mich zu. “Fühlst du dich besser?”, fragt sie.

“Das weiß ich noch nicht so genau! Hat Ethan den Weg zu Ihnen allein gefunden?” Ich deute auf die Person vor dem Fenster, ohne sie genau anzusehen. Hatte er eben auch schon eine Motorradjacke an?

“Er ist ein neuer Mitschüler und…”

“Nein Schätzchen, Mr. Hithrone hat Sie nicht hergebracht.” Sie setzt sich zu mir auf die Krankenliege. “Das war Mr. Catrall.” Sie beugt sich zu mir und beginnt zu flüstern. “Das ist der andere neue Mitschüler in Ihrer Klasse, das haben Sie bestimmt alles nicht mehr so richtig mitbekommen.” Ich sehe zu dem Neuen, der mit verschränkten Armen an der Fensterbank lehnt, um ihn endlich zu begutachten. Da ich von der Sonne geblendet werde, ist es nicht so leicht alles sofort zu erkennen. Meine Augen müssen sich erst an das grelle Licht gewöhnen. OH! MEIN! GOTT! Das darf doch nicht wahr sein.

“Shakespeare!” Muss ich mich jetzt jeden Tag mit diesem Typen rumschlagen? Mrs. Norris und Luke schauen mich sehr verwirrt an.

“Geht es Ihnen gut Miss Gabel?” Da ich mir da selber nicht so sicher bin, lasse ich die Frage unbeantwortet.

“Du!”

“Die meisten nennen mich Luke.”

“Verfolgst du mich? Womit habe ich das nur verdient?”

Ich versuche so viel Abscheu, wie ich in meinem momentanen Zustand aufbringen kann, in meine Stimme zu legen. Anstatt etwas zu erwidern, sieht… Luke! mich an.

“Ihr kennt euch schon?” Unsere Schulkrankenschwester sieht verwirrt von einem zum anderen.

“Ja, leider!” Böse funkel ich ihn an, bin allerdings nicht die Einzige. Ebenso starrt Mrs. Norris zu ihm rüber, als warte sie auf eine Erklärung von Shakespeare. Warum sie automatisch auf meiner Seite ist, weiß ich nicht, ist mir aber auch egal. Er verdreht die Augen.

“Na gut, ich gebe zu, unsere erste Begegnung verlief ein wenig unglücklich.”

“Das kann man wohl sagen!” Gerade wollte ich noch etwas hinzufügen, da kommt Jodie ins Zimmer gestürmt.

“Ihre Sachen hab ich, wie geht es ihr?” Als sie mich sieht, fällt sie mir um den Hals.

“Oh Beth, du bist endlich wieder wach!”

“Wenn du jedes Mal so ausflippst, nur weil ich ohnmächtig geworden bin, bist du bald die nächste, die auf dieser Liege liegt”, sage ich und schiebe sie wieder von mir, da mich ihre Locken im Gesicht kitzeln.

“Du bist gut, du hättest dich mal sehen sollen, wie du da lagst. Du warst weiß wie eine Wand. Ich habe mich so erschrocken!”

“Ethan scheinbar auch. Wo ist er?”, frage ich ein wenig enttäuscht.

“Das kann Ihnen Miss Sawyer später alles in Ruhe erzählen. Wir sorgen jetzt erst einmal dafür, dass Sie unbeschadet nach Hause kommen.” Na klasse, Ethan habe ich schon nach einer halben Stunde vergrault. Das ist neuer Rekord. Kann der Tag noch schlimmer werden?

“Mr. Catrall war so freundlich und hat sich bereit erklärt, Sie nach Hause zu fahren.” Er wird noch schlimmer!

“Das ist wirklich nicht nötig, ich fühle mich schon viel besser!”

“Keine Widerrede Miss Gabel! Er sagt, dass er direkt nebenan wohnt. Wollen Sie etwa extra jemanden bitten, Sie zu fahren, der dann nur Ihretwegen den Unterricht unterbrechen müsste?” Ja, da würde jeder sofort in Tränen ausbrechen. “Oder wohnt noch ein anderer Mitschüler in Ihrer Nähe?” Fragend sieht sie mich an.

Schnell gehe ich in Gedanken meine gesamte Klasse durch, sogar Stacie ziehe ich in Betracht. Aber nein, in meiner Nähe wohnt keiner.

“Nein.”

“Sehen Sie Schätzchen, außerdem wollen sie Mr. Catrall doch nicht zurückweisen, indem Sie sein Angebot ablehnen.” Sofort!

“Das würde mir im Traum nicht einfallen.” Ohne mich eines Blickes zu würdigen, geht Shakespeare alias Mr. Catrall alias Luke an uns vorbei.

“Ich muss kurz was klären, bin gleich wieder da!” Shakespeare verlässt die Bühne. Jodie und Mrs. Norris helfen mir aufzustehen und wir gehen gemeinsam auf den Flur, um meinen Kreislauf wieder in Schwung zu bekommen. Unsere Schultaschen wirft Jodie sich über die Schulter. Von ihrer Meinung, dass ich noch zu schwach sei drei Bücher zu tragen, kann ich sie nicht abbringen. Nach ein paar Minuten, als Luke die Treppe, die zum Verwaltungstrakt führt, wieder runter gelaufen kommt, klingelt im Krankenzimmer das Telefon. Mrs. Norris geht und nimmt das Gespräch an.

“Sieht der gut aus. Was haben wir für ein Glück, dass gleich zwei solche Sahneschnittchen in unserer Klasse untergebracht werden. Aber ich muss sagen, Luke gefällt mir noch besser.” Jodies Blick nach zu urteilen, geht es ihr, aus mir völlig unerklärlichen Gründen, mit ihm nicht anders als mir mit Ethan.

“Bei Ethan stimme ich dir zu! Aber Luke? Zugegeben, er sieht gut aus” verdammt gut sogar, “aber trotzdem, den wollte ich geschenkt nicht haben!” Jodie sieht mich verständnislos an.

“Wie kannst du so etwas sagen? Schau ihn dir doch mal richtig an!” Jodie deutet mit dem Kinn in seine Richtung.

“Er sieht so gut aus, so verwegen. Allein seine wachen Augen, die gleichzeitig so sanft wirken. Und diese Farbe hab ich noch nie gesehen.”

“Grau.”

“Ach, das ist nicht nur grau. Die Iris ist außen so dunkel und wird nach innen immer heller, das ist zum Dahinschmelzen. Dann die gerade Nase und die geschwungenen Lippen. Er ist so natürlich, nicht so ein aufgeblasener Machotyp, der morgens länger im Bad braucht als ich. Allein schon, wie ihm die eine Haarsträhne in die Stirn fällt.”

“Wenn du mir gleich noch einen Vortrag über seine Haarfarbe hältst, klatsch‘ ich dir eine!”

“Nein, die sind dunkelbraun. Aber wenn sich die Sonnenstrahlen…”

“Jodie!” Ich stoße ihr mit dem Ellbogen in die Seite.

“Schon gut, schon gut, ich bin ruhig. Aber du musst zugeben, dass er wirklich athletisch ist.”

“Von mir aus, aber das habe ich gestern schon festgestellt, als er sich das Sweatshirt ausgezogen hat”, sage ich beiläufig, ohne daran zu denken, wie sich das für Jodie anhören muss. Sie sagt nichts. Sie starrt mich nur mit offenem Mund an. Da Luke schon fast bei uns ist, werde ich sie später aufklären müssen. Ich reiße mich von ihr los, (Jodie starrt mich immer noch an) und will ins Krankenzimmer gehen, um mich von Mrs. Norris zu verabschieden. Kurz vor dem Eingang bleibe ich stehen. Sie telefoniert noch. Weil ich sie nicht lange stören will, will ich mich gerade in die Tür stellen um ihr zuzuwinken, als ich einen Gesprächsfetzen aufschnappe.

“Nein, mach dir keine Sorgen, der Junge ist doch von nun an bei ihr. Er weiß, was er zu tun hat.” Es hört sich so an, als versuche sie das andere Ende der Telefonleitung zu beruhigen. Über wen spricht sie und…

“Bist du fertig?” Luke steht auf einmal hinter mir. Erschrocken drehe ich mich um.

“Äh, ja, Mrs. Norris, wir gehen.”

“Warte einen Moment!” Sie legt den Telefonhörer auf einem Schränkchen ab und eilt zu uns.

“Gute Besserung Schätzchen, ruhen Sie sich jetzt zu Hause aus. Miss Sawyer, Sie achten darauf, dass Sie es auch wirklich macht!”

“Keine Sorge Mrs. Norris, wir passen auf sie auf, versprochen.”

Hab ich etwas nicht mitbekommen? Mrs. Norris wirft Luke nur einen Blick zu, der mit einem stummen Nicken beantwortet wird. Was läuft da zwischen den beiden und wie lange war ich eigentlich bewusstlos? Ich kann es gar nicht erwarten, endlich zu Hause zu sein, damit Jodie mir alles erzählen kann.

Auf Anweisung von Mrs. Norris geht Shakespeare hinter Jodie und mir her, falls ich noch mal schlapp machen sollte. Auf dem Parkplatz allerdings lassen wir ihm den Vortritt, damit er uns zu seinem Wagen führen kann. Er steuert auf einen etwas heruntergekommenen, schwarzen Van zu und schließt ihn auf. Moment mal, den kenne ich doch!

“Das ist nicht dein Auto”, sage ich vorwurfsvoll.

“Was du nicht sagst.” Lässig steigt er ein und schließt die Tür. Nachdem Jodie und ich fassungslos stehen bleiben, öffnet er das Fenster.

“Keine Panik, ich habe nicht vor ein Auto zu stehlen. Es dürfte sich jedoch schwierig gestalten zu dritt auf einem Motorrad zu fahren. Der Wagen gehört meinem Onkel. Ich war eben bei ihm und habe mir seine Schlüssel geholt.”

“Al ist dein Onkel?”, frage ich. Jetzt ist es Luke, der erstaunt aufblickt.

Ohne ihm eine Erklärung zu liefern, setze ich mich auf die Rückbank.

Jodie legt unsere Schultaschen in den Kofferraum und nimmt natürlich auf dem Beifahrersitz Platz.

Die Autofahrt verläuft schweigend, keiner sagt etwas. Die einzige Stimme, die wir hören, ist der freundliche Mann aus dem Radio, der uns gerade mitteilt, dass die derzeitigen Föhnwinde vereinzelt zu Kreislaufproblemen führen können. Aha, ich hab’s doch gewusst! Jodie und ihre Paranoia, damit macht sie mich und die Welt noch ganz verrückt. Da haben wir doch die logische Erklärung, was mit mir los ist. Auf einen Kommentar von Jodie wartend, blicke ich nach vorne - umsonst. Sie ist mit Anhimmeln beschäftig. Sie sitzt da, wie eine Vierjährige, die gemeinsam dem Weihnachtsmann die Geschenke ausliefern darf. Sie hat es wirklich erwischt. Der Flirt mit Bobby Miller letztes Jahr im Sommercamp war nichts dagegen. Und da hat sie schon nach den ersten drei Worten die Sitzordnung der Hochzeitsgäste geplant. Leider hatte sich herausgestellt, dass Bobby eine merkwürdige Definition von Treue vertrat. Wenn ich mir ihren neuen Auserwählten so anschaue, muss ich feststellen, dass meine beste Freundin irgendwie kein glückliches Händchen bei der Auswahl „Mann“ hat. Aber Luke ist entweder so sehr auf sich fixiert, dass er davon wirklich nichts mitbekommt, oder er ist ein verdammt guter Schauspieler. Als ich ihn allerdings durch den Rückspiegel kurz beobachte, scheint er das sofort zu bemerken. Unsere Blicke treffen sich, aber nur flüchtig, da ich mich sofort wieder abwende und aus dem Fenster schaue. Die Häuser fliegen an mir vorbei und ich lasse den heutigen Tag noch einmal Revue passieren. Irgendwann bin ich mit meinen Gedanken bei Ethan angekommen. Was ist nur geschehen, dass er mich nicht ins Krankenzimmer gebracht hat? Aber eigentlich ist das mal wieder typisch für mich. Endlich lerne ich einen netten Jungen kennen, der dazu auch noch umwerfend aussieht, muss ich es natürlich direkt vermasseln, indem ich einfach aus den Latschen kippe. Habe ich ihn etwa mit zu Boden gerissen und er hat sich dabei verletzt? Dann wäre Ethan doch erst recht mit zu Mrs. Norris gekommen. Völlig in meine Überlegungen versunken, klopft plötzlich jemand an die Scheibe. Erschrocken fahre ich zusammen und blicke auf. Es ist Jodie.

“Komm schon Schlafmütze, aussteigen, wir sind da!”

Tatsächlich, wir stehen in der Einfahrt der Handersons. Mit denen muss ich übrigens noch ein ernstes Wörtchen reden. Mich einfach vor vollendete Tatsachen stellen und neue Nachbarn einziehen lassen. Die Handersons sind ein sehr nettes älteres Ehepaar, die ich schon als Kind als meine persönlichen Großeltern adoptiert hatte, da meine leiblichen leider sehr weit entfernt wohnen und ich sie daher nur selten sehe. Von klein auf bin ich bei ihnen ein- und ausgegangen. Sie haben oft auf mich aufgepasst, wenn meine Eltern arbeiten mussten. Meistens konnten Mom und Dad ihre Arbeitszeiten zwar so einteilen, dass einer von ihnen bei mir war, aber eben nicht immer. Dann war ich bei Granny Clara, wie ich Mrs. Handerson nenne, und wir haben Plätzchen gebacken, waren im Garten oder sind spazieren gegangen. Was man mit seiner Oma eben alles so macht. Und wenn Grandpa Phil abends nach Hause kam, haben wir zusammen noch Karten gespielt (mein Pokerface ist hitverdächtig). Während ich aus dem Wagen aussteige, holt Jodie unsere Schultaschen aus dem Kofferraum. Luke sucht etwas im Handschuhfach. Gerade als Jodie mir meine Schultasche reicht und wir gehen wollen, ertönt Shakespeares Stimme.

“Wartet!” Er scheint das Gesuchte gefunden zu haben. Mit der Vorderseite lehnt er an dem Auto und nutzt das Dach als Schreibunterlage. Mit einem Zettel in der Hand kommt er auf uns zu und streckt mir diesen entgegen.

“Hier meine Handynummer für den Notfall, Anweisung von Mrs. Norris!”, ergänzt er. Wenn ich seinen Gesichtsausdruckrichtig deute, ist er von der Idee genauso wenig begeistert wie ich. Da ich keine Anstalten mache mich zu bewegen, verdreht Luke die Augen und drückt Jodie das Stück Papier in die Hand. Ohne etwas zu sagen, dreht er sich um und geht. Luke fährt sich mit den Händen durch seine Haare und wirft den Kopf in den Nacken. Irgendwie macht er einen verzweifelten Eindruck - ausgerechnet er. Wenn einer ein Recht hat, verzweifelt zu sein, dann bin ich es. Erstens, ich kann mich bei “Höllische Nachbarn” bewerben, zweitens, meine beste Freundin ist hoffnungslos in genau diesen Nachbarn verknallt und drittens, ist da noch die Sache mit meinen Aussetzern.

“Jodie, er ist schon im Haus.” Da sie sich immer noch nicht rührt und ihm nachstarrt, ziehe ich sie einfach hinter mir her.

Als ich die Haustür hinter uns schließe und mich umdrehe, steht Jodie vor mir. Mit in die Hüfte gestemmten Händen und wippendem Fuß sieht sie mich erwartungsvoll an.

“Also, ich höre!”, sagt sie.

“Was genau?”, fragend schaue ich sie an. Ich habe keine Ahnung, worauf Jodie hinaus will.

“Wann, wo und vor allem warum weißt du, wie Luke ohne Sweat-Shirt aussieht?”

Ach, das hatte ich ja total vergessen. Ich hole tief Luft und streiche mir mit der Hand über die Stirn.

“Wo soll ich nur anfangen. Gestern nach der Schule hat es doch angefangen zu regnen, daher bin ich das letzte Stück nach Hause gelaufen…“

Während ich ihr die unliebsame erste Begegnung mit Shakespeare erzähle, gehen wir in die Küche und machen die Pizza warm, die im Kühlschrank darauf gewartet hat, gegessen zu werden. Jodie holt Teller und Gläser aus den Schränken und ich starte die Mikrowelle. Ich erzähle ihr von dem Zusammenprall, die netten Worte und von meiner zerstörten Hoffnung.

“So, jetzt kennst du die ganze Sweatshirt-Story. Wie denkst du nun über deinen Angebeteten?”, frage ich in der Erwartung, dass Jodie ihre Meinung über Luke geändert hat. Mittlerweile räumen wir den Tisch ab und stellen unser Geschirr in die Spülmaschine.

“Ach, er war bestimmt, vom Zusammenprall, auch überrascht.” Ich fasse es nicht - sie versucht ihn tatsächlich in Schutz zu nehmen.

“Oh, Jodie!” Ich schüttele nur mit dem Kopf, es ist hoffnungslos. Oder besser gesagt, sie ist hoffnungslos.

Wir gehen die Treppe hinauf in mein Zimmer.

“So, jetzt bist du dran! Was ist in der Schule passiert?” Ich setze mich im Schneidersitz auf mein Bett und deute Jodie, neben mir Platz zu nehmen.

“Lange stehe ich das nicht mehr durch, du musst zum Arzt gehen!”

“Wenn du während der Autofahrt dem Radio etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt hättest, wüsstest du jetzt, dass das bei der aktuellen Wetterlage durchaus vorkommen kann. Aber jetzt erzähl schon.”

“Ok, ok! Nachdem du mit Ethan den Klassenraum verlassen hast, sollten wir unsere Bücher rausholen. Wir haben mit einem neuen Thema begonnen, berühmte Dichter der Weltliteratur. Eigentlich blöd, so kurz vor den Sommerferien, aber so sind die Lehrer. Wusstest du, dass Goethe eine richtige Identitätskrise durchlitt und deshalb nach Italien floh? Vielleicht sollte ich auch mal…

“Jodie!!!”

“Tschuldigung. Wie gesagt, wir zählten gerade einige bedeutende Dichter auf, da hörten wir schon, dass jemand angerannt kam. Ethan riss die Tür auf, er war kreidebleich. Er war so außer Atem, dass er kaum sprechen konnte. Mir war natürlich sofort klar, was passiert sein musste und ich habe mir schon die schlimmsten Horrorszenarien ausgemalt: Du, blutüberströmt auf dem Boden, da du dir bei dem Sturz den Kopf aufgeschlagen hast, nachdem du mindestens zwei Treppen runtergefallen bist.” Jodie war in ihrem Element. Sie sollte Krimiautorin werden. Sie gestikuliert wild mit ihren Händen.

“Äh, Jodie, du liest eindeutig zu viele Romane.”

“Mag schon sein, aber du hast Ethan nicht gesehen. Mr. Harrison stürmte sofort auf ihn zu und forderte ihn auf sich hinzusetzen. Gerade als ich aufstehen wollte, damit ich Ethan fragen konnte, was passiert war, rannte Luke mich fast um. Wenn wir Glück haben sitzt er ab morgen übrigens direkt vor uns. Er tuschelte kurz mit Mr. Harrison, fragte Ethan, wo er hin muss und lief dann auch schon los.”

“Warum?”

“Ich weiß es nicht. Ich konnte leider nicht verstehen, worüber die beiden gesprochen haben. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die zwei sich kennen. Na ja, auf jeden Fall hat Ethan uns dann gesagt, wo du liegst und Mr. Harrison und ich sind, so schnell es ging, hinter Luke her. Als wir bei dir ankamen…”

“Und wo war das?”

“Kurz hinter den Musen. Also, als wir bei dir ankamen…”

“Dann sind wir ja nicht sehr weit gekommen”, stelle ich fest.

“Richtig, darf ich jetzt weiter erzählen?” Jodie wird langsam ungeduldig.

“Bitte.”

“Danke. Noch mal. Als wir bei dir ankamen, hob Luke dich gerade hoch und fragte uns, wo das Krankenzimmer ist.”

Wieso kann ich mich an all das denn nicht erinnern? Bisher habe ich doch immer alles mitbekommen, wenn ich ohnmächtig geworden bin.

“Als wir dich gesehen haben …, oh Beth es war so schlimm. Bisher hatte es immer ausgesehen, als ob du schläfst, aber dieses Mal?”

Es muss wirklich schrecklich gewesen sein. Nur durch die bloße Erinnerung steigen Jodie Tränen in die Augen.