Sonnenstrahl im Nebel - Andre Mairock - E-Book

Sonnenstrahl im Nebel E-Book

Andre Mairock

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Beschreibung

Die Söhne des Thalrainerbauern könnten verschiedener nicht sein: Peter, der ältere, ist tüchtig, aber verschlossen und wirkt oft fast unfreundlich; der lebenslustige Simon dagegen versteht es, seine Mitmenschen für sich zu gewinnen und ist der Liebling des Vaters. Nur bei Gina, der bezaubernden Tochter des Bahnwärters, hat der junge Herzensbrecher keinen Erfolg. Und das ausgerechnet, als Peter seinem Vater eine Braut vorstellt, wie man sie sich nur wünschen kann: reich, charmant und aus gutem Hause. Simon sieht seine Hoffnungen schwinden, dass der Vater den Hof vielleicht ihm übergeben könnte, die schwelenden Rivalitäten zwischen den Brüdern brechen offen aus. Da geschieht in dem einsamen Tal ein Unglück, das das Leben der ganzen Familie für immer verändern wird.

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Veröffentlichungsjahr: 2016

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LESEPROBE zuVollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2000

© 2016 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com Titel der Originalfassung: »Einöde Zedertal«

Titelfoto: Michael Wolf, München Bearbeitung und Lektorat: Dr. Elisabeth Hirschberger, München Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN 978-3-475-54595-5 (epub)

Worum geht es im Buch?

Andre MairockSonnstrahl im Nebel

Die Söhne des Thalrainerbauern könnten verschiedener nicht sein: Peter, der ältere, ist tüchtig, aber verschlossen und wirkt oft fast unfreundlich; der lebenslustige Simon dagegen versteht es, seine Mitmenschen für sich zu gewinnen und ist der Liebling des Vaters. Nur bei Gina, der bezaubernden Tochter des Bahnwärters, hat der junge Herzensbrecher keinen Erfolg. Und das ausgerechnet, als Peter seinem Vater eine Braut vorstellt, wie man sie sich nur wünschen kann: reich, charmant und aus gutem Hause. Simon sieht seine Hoffnungen schwinden, dass der Vater den Hof vielleicht ihm übergeben könnte, die schwelenden Rivalitäten zwischen den Brüdern brechen offen aus. Da geschieht in dem einsamen Tal ein Unglück, das das Leben der ganzen Familie für immer verändern wird.

Der Thalrainer, ein Bauer von etwa sechzig Jahren, eine breite, wuchtige Gestalt, trat vor die Tür seines Hauses und schaute die Straße entlang, die von seinem einsamen Hof hinüber zum doppelgleisigen Bahnkörper führte. Noch immer war das Geräusch des Motorrads nicht zu hören, das die Heimkehr seiner beiden Söhne angekündigt hätte. Nichts war zu sehen, nichts war zu hören.

Ungeduldig fuhr der Thalrainer sich durch das graue, struppige Haar, das seinen breiten Schädel noch dicht bedeckte. Sein zerfurchtes Gesicht verzog sich unmutig. Er hasste dieses lange vergebliche Warten.

Die frühe Dämmerung und die spürbare Abkühlung der Luft verrieten, dass der Höhepunkt des Sommers bereits weit überschritten war. Der Herbst stand vor der Tür. Darüber konnten auch die schönen Sonnentage nicht hinwegtäuschen: Das Jahr ging seinem Ende zu und brüstete sich noch einmal mit einem freundlichen Altweibersommer, als wollte es Menschen und Natur für die Hochsommermonate entschädigen, die wieder einmal viel zu nass und zu kalt gewesen waren.

Vom Bahnwärterhäuschen herüber ertönte jetzt das »Bim-Bam« der Signalglocke, das in der Stille der einbrechenden Nacht weithin zu hören war.

Gleich darauf ging das Licht drüben an und schimmerte einsam in die Nacht. Der Thalrainer stellte sich vor, wie der Streckenwärter jetzt die Schranken am Bahnübergang herabließ und dann in voller Ausrüstung vor seinem Haus Aufstellung nahm, bis der Expresszug, der um diese Zeit die Strecke passierte, an ihm vorbeigebraust war.

Es war einsam geworden im Zedertal, seitdem über die so genannte Kofelgruppe eine neu gebaute Passstraße führte, die von allen Fernfahrern benützt wurde. Allein der Zug fuhr noch seinen alten Weg durch das Tal, freilich ohne anzuhalten. Trotzdem war er immer der Begleiter im Leben der Bauern des einsamen Hofes im abgelegenen Zedertal gewesen, das einzige Ereignis in den Tagen der Arbeit auf den Feldern oder in der Einsamkeit der sonntäglichen Ruhe.

Der Thalrainer schaute auf das Licht, das vom Bahnwärterhäuschen herüberschimmerte. Der Streckenwärter vom Zedertal war immer der einzige Nachbar gewesen, es gab sonst kein Haus in der Umgebung des Hofes. Doch, noch ein drittes Haus war da, aber erst seit vorigem Jahr, das Landhaus eines Architekten aus der Stadt. Es lag jedoch ein Stück über dem Talgrund und wurde von Bäumen versteckt. Außerdem stand es die meiste Zeit leer und dunkel. Nur hin und wieder wurde es von seinem Besitzer zum Wochenende benützt, wenn er für ein paar Tage seinen Geschäften in der Stadt entfliehen wollte.

Der Bauer hob den Kopf; jetzt hörte er das Rattern des herannahenden Expresszuges. Feurigen Augen gleich kamen jetzt die Lichter der Maschine hinter dem vorgestellten Fuß des Berges hervor und zogen die Lichter der beleuchteten Waggons hinter sich nach. Wie ein rasselnder Geisterzug fegte der Express durch das Tal, vorbei an dem Bahnwärterhäuschen und hinein in das nachtschwarze Gebirge, wo er von einem Tunnel verschluckt wurde. Nur ganz kurz leuchteten noch einmal die roten Schlusslichter im schwarzen Felsschlund auf.

Der Bauer atmete heftig und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, als wollte er den Schweiß abtrocknen, den Angst und Entsetzen hervorbrachten. Aber es war nichts geschehen, als dass ein Zug mit rasendem Tempo in den Bergtunnel gefahren war. Man hörte noch das Dröhnen im Fels und dann war der Spuk vorbei.

Aber der Thalrainer schien noch etwas anderes zu hören. Es war nicht wirklich da, sondern lebte schon seit zwanzig oder mehr Jahren in seinem Inneren, eine Stimme des Gewissens, die keine Ruhe gibt, solange der Mensch lebt.

Sooft dieser letzte Abendexpress in den Tunnel donnerte, wurde der Thalrainer an ein weit zurückliegendes Geschehen erinnert, das heute noch an seinen Nerven zehrte.

Immer wieder wurde er von Entsetzen erfüllt, immer wieder überkam ihn dieselbe Angst.

Ruhig und unbekümmert schimmerte das Licht vom Bahnwärterhaus herüber, ein zweites Licht tauchte auf und kam näher. Man konnte an ihm genau die Schleifen und Windungen der Straße verfolgen.

Das waren sie, die beiden Söhne! Sie kamen!

Er hörte bereits den pumpernden Motor des schweren Motorrads, ging noch ein paar Schritte weiter und wartete, bis es herankam.

Aber es sprang nur einer vom Motorrad ab, der Peter, sein Älterer, ein kräftiger, derber Bauernbursch.

»Was ist? Wieder nicht gekommen?«, fragte der Alte enttäuscht.

Peter schüttelte den Kopf. »Gestern nicht, heute nicht! Wie oft soll ich noch umsonst zur Bahn fahren?«, sagte er unmutig.

»Wo bleibt er denn bloß?«

»Was weiß ich? Er wird sich schon irgendwo herumtreiben.«

»Sonst noch was!«, höhnte der Alte. »Als ich seinerzeit vom Militär entlassen wurde, gab es für mich und alle anderen nur eine Parole und die lautete: Heim! Warum sollte das heute anders sein? Jeder ist froh, wenn er dem Haufen entronnen ist und wieder sein gewohntes Leben aufnehmen kann. Ist er vielleicht bei einem Freund?«

»Beim Simon ist alles möglich, Vater, bloß kein Heimweh, das wollt ich dir noch sagen.«

Peter schob jetzt sein Motorrad auf den Schuppen zu und gab durch seine mürrische, trotzige Haltung zu verstehen, wie wenig Freude ihm dieses Gespräch über seinen jüngeren Bruder bereitete.

Der Alte schaute ihm nach, kratzte sich am Kopf und kehrte ins Haus zurück. Es verdross ihn, wenn der Peter über seinen Lieblingssohn Simon eine abfällige Bemerkung machte.

Die Stube war so großräumig, als wäre sie seinerzeit eigens für den breiten, wuchtigen Mann geschaffen worden, damit er genügend Platz fände, um sich in Ärger oder in Unruhe darin auslaufen zu können, ohne von dem dickbauchigen Kachelofen, dem mächtigen Wandschrank und den anderen Möbeln behindert zu werden.

Mit schweren Schritten ging nun der Bauer in seiner Stube auf und ab, öffnete dann die Tür und rief einen Namen hinaus in den Gang, worauf sogleich eine ältere Magd aus der Küche herbeieilte und den Kopf zum Türspalt hereinsteckte.

»Brauchst nicht länger zu warten, Susi, und kannst ins Bett gehen«, sagte der Bauer. »Er ist nicht gekommen. Vielleicht wird er erst morgen entlassen.«

Die Magd nickte, wünschte eine gute Nacht und verzog sich. Vor dem Haus rasselte die Kette des Hofhunds, der offenbar wilde Sprünge machte und losgelassen werden wollte. Nachts lief das Tier frei herum, denn da hatte kein Fremder etwas in der Nähe des Gehöftes zu suchen. Der Bauer ging hinaus und wollte den Hund loslassen, aber Peter hatte es bereits getan und stand da wie ein Baum, wenn der Hund in seinem Übermut ihn spielerisch ansprang.

»Komm noch zu mir in die Stube!«, rief der Bauer seinem Sohn zu.

Peter wandte sich nach ihm um und folgte ihm ins Haus.

»Was wolltest du vorhin damit andeuten, dass beim Simon alles möglich sei, bloß kein Heimweh?«, fragte der Alte mit gerunzelter Stirn.

»Das weißt du sehr genau, Vater, und brauchst mich eigentlich nicht zu fragen.«

Der Alte schaute seinen Sohn eine Weile schweigend an. »Ich weiß, ihr habt euch noch nie gut vertragen«, sagte er dann unzufrieden. »Ich habe gehofft, dass es sich ändern könnte, wenn der Simon nun längere Zeit von daheim weg war und seinen Militärdienst gemacht hat. Aber es scheint, als hätte ich mich geirrt. Das tut mir Leid, Peter!«

»Es ist nicht meine Schuld, Vater!«, wandte der Sohn trotzig ein.

»Vielleicht meine?«, höhnte der Alte.

»In gewissem Sinn – ja! Mir hast du das nicht durchgehen lassen, was der Simon tut. Ich bin dir aber nicht bös deswegen, im Gegenteil, ich bin dir für diese Strenge sogar dankbar. Man braucht nur ein gewisses Alter, um es zu verstehen. Du kannst mich jederzeit vom Haus jagen, ich finde mich überall zurecht und komme überall durch; denn ich habe das Arbeiten gelernt! Man hat mich daheim nicht verwöhnt und das ist gut, wenn man vom Leben einmal rau angefasst wird.«

»Wie gescheit du daherredest!«, höhnte der Alte und ließ sich schwer auf einen Stuhl nieder. »Damit willst du also sagen, dass ich dich wie einen Knecht eingespannt habe, während dein Bruder das junge Herrchen spielen durfte?«

»Du wirst doch nicht das Gegenteil behaupten wollen, Vater?«

Abermals schauten sie sich eine Weile schweigend und trotzig an.

»Ich will dir etwas sagen, Peter«, begann dann der Alte. »Dein Bruder ist der Jüngere und die jüngeren Geschwister haben es immer leichter als die älteren, die als Erste mitanpacken müssen. Es ist einmal so bei uns Bauern: Man wartet ungeduldig darauf, dass man Hilfe hat von seinen Kindern. Ich gebe zu, dass du immer mehr eingespannt worden bist als dein Bruder. Aber glaube mir, diese achtzehn Monate Dienstzeit, von der du verschont geblieben bist, haben den Ausgleich geschaffen!«

»Das ist deine Meinung, Vater, aber ich bezweifle, dass es so ist. Dem Simon war es immer zu einsam und zu eng daheim, ihn hat es in die weite Welt getrieben. Er ist sehr gern eingerückt und bedauert wahrscheinlich, dass die Zeit vorbei ist. Du siehst ja selbst, dass er es mit dem Heimkommen gar nicht so eilig hat. Du hast nach ihm mehr Sehnsucht als er nach dir. Das darfst du mir glauben!«

»Du bist eifersüchtig, Peter, das ist alles!«

»Ich gebe zu, dass es mir nicht gleichgültig ist, wer von uns beiden einmal den Hof übernehmen wird. Schließlich habe ich seit meiner Jugend mitgearbeitet wie ein Knecht. Aber was der eine nicht erarbeiten kann, fällt dem anderen mühelos in den Schoß. So ist es nun einmal im Leben. Ich bin heut bald dreißig Jahre alt und weiß immer noch nicht, wofür ich eigentlich arbeite!«

Der Alte zog finster die Brauen hoch. »Vorläufig bin ich noch der Bauer auf dem Hof!«, brummte er gefährlich.

»Sicher, und das kannst du meinetwegen noch lange bleiben. Aber jeder junge Mensch möchte wissen, wofür er sich plagt. Die meisten meiner Schulfreunde sind heut längst verheiratet und haben bereits Kinder. Ich kann meinem Mädchen nicht einmal sagen, zu welchem Zeitpunkt wir eventuell ans Heiraten denken können. Ich weiß nicht einmal, ob mir überhaupt der Hof übergeben wird!«

»Ich war schon über dreißig Jahre alt, als mein Vater übergeben hat!«, warf der Alte dazwischen.

»Aber wahrscheinlich hast du gewusst, dass du einmal der Bauer sein würdest. Das ist ein Unterschied, Vater! Ich muss mir sagen, dass es vielleicht mein Bruder sein wird, der dir immer der Liebere gewesen ist!«

»Unsinn!«, brummte der Alte und zog die Stirn hoch.

»Man spürt das schon als Kind, Vater, wenn man hinter seinem Bruder zurückgestellt wird! Ich mache dir keinen Vorwurf, denn es ist wahr, der Simon hat ein freundlicheres und zugänglicheres Wesen. Das ist eine Gabe der Natur. Aber Fleiß und Aufrichtigkeit sind auch wertvolle Eigenschaften, Vater! Sogar die wertvolleren, aber sie werden gewöhnlich übersehen.«

»Willst du damit sagen, dass der Simon ein Lump ist?«, fuhr der Alte auf.

»Nein! Aber ein Fuchs ist er, der mit List und Schlauheit sein Ziel angeht.«

»Hör auf damit!«, knurrte der Alte.

»Gern! Dann also – gute Nacht, Vater!«

Als Peter die Tür hinter sich zugezogen hatte, blickte der Alte finster hinter ihm drein. Es war das erste Mal, dass er an ihm diese Auflehnung entdeckt hatte.

Er fing wieder an, in der Stube auf und ab zu wandern. Sein jüngerer Sohn war noch nicht einmal da und schon spitzte sich die Lage zu. Wie würde es erst werden, wenn er da war und sich vielleicht nicht mehr in das wohl geordnete Leben auf dem Hof einfügen wollte …

Schwarz und still lag die Nacht über dem Zedertal, weit und breit kein Licht, kein Laut. Der Hund umschlich den einsamen Hof, aber wie sollten hierher Menschen kommen, die durch seine Wachsamkeit vom Haus fern gehalten werden mussten?

Nur im Bahnwärterhäuschen leuchtete aus einem Fenster noch ein einsames Licht. Gina, die hübsche Tochter des Streckenwärters, arbeitete noch an einer Stickerei. Es war ein großer Wandteppich, den sie wie eine Malerei mit farbigem Garn anfertigte, ein Hobby, dem sie sich nicht nur aus Langeweile im einsamen Zedertal, sondern mit Leidenschaft verschrieben hatte.

Der Vater begab sich gewöhnlich schon früh zur Nachtruhe. Er musste täglich die weite Bahnstrecke abgehen und den Schienenstrang überprüfen, soweit er durch den dunklen Bergtunnel führte. Davon kam er jeweils sehr müde heim, so dass ihm bald nach dem Abendessen die Augen zufielen.

So war Gina an den Abenden viel allein. Waren die letzten Arbeiten im Haushalt getan, griff sie zu ihrer Stickerei und arbeitete daran oft noch bis tief in die Nacht hinein. Ein Glück, dass sie an dieser Beschäftigung so viel Freude hatte. Sie liebte dieses Alleinsein mit ihrer Arbeit und mit ihren Gedanken und Erinnerungen, die sie dann zurückführten in die Stadt, wo sie einmal zu Hause gewesen war.

Sie liebte ihren Vater, der genauso einsam war wie sie, seit die Mutter gestorben war. Mit den einzigen Nachbarn hier, mit den Thalrainern, kam sie nur so weit in Berührung, als sie dort Milch und Eier holte oder einen Wunschzettel hinübertrug, wenn der Bauer oder einer seiner Söhne ins nächste Dorf oder in die Stadt fuhren und dies und jenes für sie besorgten.

Das war eigentlich der einzige menschliche Kontakt, der in dieser Einöde zu finden war, aber er bedeutete wenig. Der Bauer war ein mürrischer, wortkarger Mann, der keinen Wert auf nachbarliche Beziehungen legte. Er hütete seinen Besitz wie ein Geizhals, der in jedem Geräusch einen Einbrecher und in jedem Menschen einen Dieb vermutete. Ebenso wortkarg und verschlossen war der Peter, der täglich unermüdlich seiner Arbeit nachging. Ein kurzer Gruß, vielleicht noch ein scheues Andeuten von einem Lächeln war alles, was man von ihm erwarten konnte. Allein von seinem jüngeren Bruder Simon ging etwas Freundlichkeit aus. Aber sie hatte ihn nur noch kurz gesehen, dann war er zum Militärdienst eingerückt.

Sie war dankbar dafür geworden, dass täglich Züge durchfuhren, und wenn sie auch weiter nichts davon hatte, als dass sie ein paar Menschen darin sitzen oder am geöffneten Fenster stehen sah und der Lokführer beim Vorbeibrausen grüßend an seine Mütze tupfte, wenn sie an Stelle ihres Vaters vor dem Haus den Posten bezog. Sie freute sich, wenn der Architekt Ammon in seinem Wagen vorbeikam und ein paar freundliche Worte zu ihr sagte, bevor er den Weg hinauf zu seinem Landhaus fortsetzte.

Einöde Zedertal. Man musste einmal hier ein paar Jahre gelebt haben, auch den langen, unbarmherzigen Winter über, wenn Berg und Tal von den Schneemassen verschüttet lagen, um eine Vorstellung davon gewinnen zu können.

Welchen Wert bekamen da die so genannten kleinen Freuden! Die stille abendliche Tätigkeit im warmen Stübchen, das Lesen eines Buches! Wie freute man sich auf das Frühjahr, wenn hinter dem Haus die Kirschbäume blühten und der Garten bestellt werden konnte! Auf den Sommer, wenn in den taufrischen Nächten das Geläute des weidenden Viehs vom Thalrainerhof herüberklang!

Gina beugte sich über ihre Stickarbeit, stellte einen kritischen Vergleich mit der Vorlage an. Sie horchte auf, als sie ein Auto vorbeifahren hörte. Nur ganz kurz dauerte das Geräusch, dann kehrte wieder die Stille ein.

Vielleicht war es der Architekt, der zu seinem Landhaus hinauffuhr.

Sie erschrak, als plötzlich ans Fenster geklopft wurde. Was in aller Welt konnte das zu bedeuten haben? Hatte sich gar jemand in der Nacht verirrt und wollte sich nach dem richtigen Weg erkundigen?

Sie legte ihre Arbeit aus der Hand, ging zum Fenster und öffnete es einen Spalt.

Im Schein des Lichts, das hinausfiel, tauchte ein lachendes Männergesicht auf, das sie im ersten Augenblick gar nicht zu erkennen vermochte. Sie hörte einen laufenden Motor, ganz in der Nähe musste ein Auto stehen.

»Guten Abend, Gina!«, sagte eine bekannte Stimme. »Hoffentlich habe ich dich nicht erschreckt! Aber ich habe noch Licht bei euch gesehen und wollte wenigstens grüß Gott sagen.«

Jetzt erkannte sie den jungen Mann vor dem Fenster: Es war Simon, der jüngere Thalrainersohn.

Er reichte ihr die Hand, die sie etwas zögernd ergriff.

»Frisch aus der Kaserne!«, lachte er.

»Dein Bruder wollte dich schon seit ein paar Tagen von der Bahn abholen, auch heute Abend war er wieder dort«, sagte sie.

Er winkte gleichgültig ab. »Das wird mein Bruder nie verstehen, dass man nach Monaten Drill und Gehorsam einmal nicht nach der Pfeife tanzt und sich nicht nach der Uhrzeit richtet. Wie geht’s dir, Gina?«

»Danke, mir geht’s gut.«

»Und deinem Vater?«

»Auch gut.«

»Das hört man gern. Ich hätte eine große Bitte, Gina!«

»Wenn ich sie erfüllen kann, gern«, antwortete sie.

»Mit Leichtigkeit! Wir möchten nämlich heute noch ein bisschen feiern. Die Entlassung vom Militär ist ein Grund zum Feiern. Meinst du nicht auch?«

»Sicher.«

»Du kennst doch den Roland, den Sohn des Architekten Ammon?«

»Nur vom Sehen.«

»Wir waren auf der gleichen Stube. Er ist ein echter Kamerad. Ich war noch ein paar Tage bei ihm zu Besuch, nun wollen wir im Landhaus droben ein wenig feiern. Sein Vater hat es erlaubt.«

Sie lachte. »Was hat das mit mir zu tun?«

»Sehr viel. Der Roland hat wohl sein Mädchen dabei -«

»Auch mit ausdrücklicher Genehmigung seines Vaters?«, spöttelte sie.

»Ich denk schon, sonst hätte er es ja nicht mitnehmen können.«

»Man tut viel, was der Vater nicht weiß.«

»Aber er hat bestimmt nichts dagegen. Schau, und ich stehe nun ganz einsam und verlassen da und da habe ich gemeint, wenn du auf ein Stündchen oder zwei mitgehen würdest, dann würde ich mich sehr freuen!«

»Warum hast du denn nicht ein Mädchen aus der Stadt mitgenommen?«, fragte sie. »Das wäre dir bestimmt nicht schwer gefallen!«

»Wo denkst du hin! Du wirst mich doch nicht für einen Windbeutel halten?«

»Na, – ich weiß nicht!«

»Bitte, Gina, komm auf ein Stündchen mit! Bist doch auch noch jung und sitzt das ganze Jahr hier in diesem Nest herum wie ein Vogel im Käfig. Bitt schön, mach mir die Freud!«

»Ich weiß nicht, was du vorhast, Simon!«

»Wir wollen gar nichts, als ein bisschen lustig sein, ein bisschen tanzen, wie jeder es macht, wenn er die Bundeswehr hinter sich hat und wieder ein freier Mensch ist!«

»Ich verstehe bloß nicht, wie du ausgerechnet auf mich kommst!«

»Weil du das netteste Mädchen bist, das ich kenne!«

»Das ist übertrieben, Simon! Erstens reißt dein Vater dir den Kopf ab, wenn er es hört -«

»Im Gegenteil! Er hat die größte Freud, wenn er es erfährt! Und zweitens?«

»Mein Vater schläft schon, ich könnte es ihm nicht einmal sagen!«

»Wozu denn? Bist auch schon volljährig!«

»Allerdings!«, lachte sie. »Aber das schützt einen nicht davor, Dummheiten zu machen!«

»Geh, Gina! Lass dich doch nicht so lange betteln! Du kennst doch den Architekten! Glaubst du, dass sein Sohn ein Wüstling ist? Oder ich vielleicht?«

Er merkte, dass sie allmählich nachgab. Wie sollte es auch anders sein? Sie war doch auch ein junger Mensch, der sich im Zedertal vorkommen musste wie im Gefängnis.

»Ich geh nicht eher von deinem Fenster weg, bis du mitkommst!«

»Ich kenne den Sohn des Architekten ja kaum und seine Freundin erst recht nicht!«

»Du wirst sie bald kennen gelernt haben! Und wenn es dir nicht gefallen sollte, bringe ich dich sofort wieder heim. Das verspreche ich dir!«

Sie blickte sich nach der Uhr um und sah, dass es schon sehr spät war. »Ich bin gar nicht dazu angezogen«, wandte sie noch ein.

»O doch! Viel hübscher kannst du dich gar nicht herrichten!«

Er ließ nicht mehr locker, bis sie dann doch zusagte, rasch noch ihr Haar frisierte und sich noch etwas hübscher machte.

Als sie dann leise das Haus verließ und die Tür absperrte, meldete sich ihr Gewissen. Es war das erste Mal, dass sie sich heimlich, ohne dem Vater etwas zu sagen, fortstahl.

Aber da hatte Simon schon ihre Hand ergriffen und zog sie mit sich fort. Am Auto ging eine Tür auf. Sie konnte jetzt nicht mehr zurück und stieg ein.

Roland saß am Steuer, neben ihm ein schwarzhaariges Mädchen mit großen goldenen Ohrringen. Beide drehten sich lachend nach ihr um und begrüßten sie mit Händedruck.

Langsam kletterte der Wagen die schmale Bergstraße hinauf. Die Scheinwerfer leuchteten hinein in den nächtlichen Wald. Es war ein zauberhaftes, fast unheimliches Bild.

Simon Thalrainer, der neben ihr saß, erzählte einen derben Witz, worauf herzhaft gelacht wurde.

Das Landhaus des Architekten stand auf freier Höhe und war viel größer, als es, von unten gesehen, vermuten ließ. Der Baustil war ganz der idyllischen Umgebung angepasst und machte einen märchenhaften Eindruck.

Roland sperrte die Tür auf, machte Licht und ließ seine Gäste eintreten. Er war ein schmaler, hoch aufgeschossener Bursche mit etwas länglichem blassem Gesicht, das durch einige Pickel verunziert war. Der dünne Bart an seinem Kinn, den er offenbar erst seit kurzem wachsen ließ, und die etwas zu langen Haare machten auf Gina keinen guten Eindruck.

Sie wurden in ein elegantes Zimmer geführt. Eine Tür führte hinaus auf eine Terrasse, die ebenfalls beleuchtet werden konnte. Mehrere komfortable Sessel standen da, in denen man jetzt Platz nahm, während der Gastgeber das Fest vorbereitete, Getränke herbeischleppte und einen Plattenspieler in Betrieb setzte.

Simon half ihm dabei, er entkorkte die Flaschen und füllte die Gläser. Darauf wurde gegenseitig angestoßen und getrunken.

Gina beobachtete unauffällig das Mädchen, das mit »Lola« angesprochen wurde. Es schien sich in diesen Kreisen gut auszukennen und benahm sich bald so ungeniert, als wäre es hier längst zu Hause.

Gina dagegen war voller Hemmungen und bereute sehr, mitgegangen zu sein. Was hatte sie hier unter diesen fremden Menschen zu suchen? Wer war sie denn? Die Tochter des Streckenwärters vom Block Zedertal …

Nun begann Roland Ammon mit seiner Freundin einen Tanz, der das Neueste vom Neuen war, sodass Gina nichts damit anzufangen wusste. Aber da wurde sie schon von Simon aufgefordert, sie musste mitmachen, ob sie wollte oder nicht.

Es wurde immer lauter und feuchtfröhlicher, denn der starke Wein tat bald seine Wirkung. Die beiden Freunde und auch die attraktive Lola tranken davon ununterbrochen und große Mengen. Simon wollte auch Gina dazu bringen, aber sie hielt sich sehr zurück und nippte nur hin und wieder einen kleinen Schluck. Trotzdem glaubte sie, die Wirkung des Weins zu spüren. Ihr Gesicht wurde heiß, ihre Glieder befiel eine gewisse Schwere – und da bekam sie plötzlich Angst. Es kam ihr immer deutlicher zum Bewusstsein, dass sie sich heute zum ersten Mal in einer so gewagten Situation befand. Ihre Begleiter waren betrunken und enthemmt, das Haus war abgelegen und überdies wusste niemand, dass sie hier war. Sie sah, wie das Mädchen Lola in den Armen Rolands lag und von ihm wild und hemmungslos geküsst wurde. Sie hatte sich eine Liebesbeziehung immer anders vorgestellt. Diese Art von Beziehung zwischen Mann und Frau weckte in ihr ein Gefühl des Widerwillens und der Ablehnung.

Sie erkannte, dass die zweideutigen Reden und das enthemmte Treiben nicht mit ihrer Lebensauffassung vereinbar waren.

Sie sah den Augen Simons an, was sich hinter seiner scheinbaren Fröhlichkeit verbarg. Und als er anfing, ihr Zärtlichkeiten zuzuflüstern, als wäre sie bereits zu seiner Geliebten geworden, da fragte sie sich, was sie denn hier noch zu suchen habe.

»Ich muss heimgehen, Simon!«, sagte sie und stand entschlossen auf.

Aber er hinderte sie daran. »Wär ja noch schöner! Jetzt, wo es erst anfängt, zünftig zu werden!«

»Vielleicht für dich und die anderen. Mir aber macht das keinen Spaß!«, erwiderte sie abweisend.

»Und gerade du bist die Hauptperson, wenigstens für mich! Was fange ich ohne dich an, Gina? Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich nach diesem Tag meiner Rückkehr gesehnt habe, nur um dich wieder zu sehen und mit dir zusammen sein zu können!«

Sie war überrascht. »Dann war das also von dir vorausgeplant?«

»Natürlich, und nicht erst seit heut oder gestern. Die ganze Zeit waren meine Gedanken bei dir!«

»Das hört sich an, als wären wir schon ein Liebespaar. Davon ist mir nichts bekannt, Simon!«, sagte sie schroff.

»Dann soll es für dich eine Überraschung sein, Gina. Ja, ich liebe dich. Vielleicht wäre ich gar nicht mehr zurückgekommen aus der Stadt, wenn es mir nicht um dich gegangen wäre. Oder glaubst du, ich hätte in der Stadt kein anderes Mädchen gefunden, wenn ich das gewollt hätte? Jeden Tag eine andere! Aber – wie gesagt – meine Gedanken waren immer bei dir. Ich bin glücklich, es dir endlich sagen zu können. Und da willst du einfach davonlaufen?«

»Auch wenn ich dir glauben könnte, Simon, würde ich mich dennoch sehr unwohl fühlen, wenn ich auch nur eine Minute länger hierbliebe. Schau dir doch die beiden an! Wie sie sich aufführen, das ist geschmacklos! Herr Ammon wäre damit sicher nicht einverstanden, das glaubst du doch auch? Und dein Vater auch nicht! Es wäre besser gewesen, du hättest zuerst deine Leute begrüßt! Dein Bruder wollte dich schon seit ein paar Tagen an der Bahn abholen.«

»Meine Leute daheim sehe ich noch früh genug!«, entgegnete er missmutig. »Ich wollte dich zuerst sehen.«

Sie tanzten zu einer lärmenden Musik. Sie versuchte, sich von seiner Umarmung zu lösen, aber er hielt sie fest und gab sie nicht frei.

»Glaubst du an meine Liebe oder nicht, Gina?«, fragte er erregt und leidenschaftlich.

»Nein!«

»Dann muss ich deutlicher werden!«

Ehe sie sich vorsehen konnte, riss er sie an sich und küsste sie.

Sie hörte noch das freche Lachen der beiden anderen, was ihre letzten Zweifel auslöschte. Von Wut und Furcht überwältigt, schlug sie Simon so heftig ins Gesicht, dass er in seiner Bestürzung einen Augenblick ratlos dastand und nicht wusste, was er tun sollte. Er vermochte ihr erst zu folgen, als sie das Haus bereits verlassen hatte.

»Gina!«, rief er in die Nacht. »Gina!«

Aber das Mädchen floh, wie gejagt, auf der nächtlichen Waldstraße hinab zum Bahnwärterhaus. Auch wenn er ihr gefolgt wäre, hätte er sie nicht einholen können.

Einöde Zedertal. Es waren nur wenige Menschen, die hier in einer weltverlassenen Gegend ausgeliefert an die Gewalt der Natur lebten, und dennoch traf man in ihnen alles an, was es an menschlicher Tugend, Schwäche und Leidenschaft gibt. Vielleicht war es gerade die Einsamkeit, die in diesen Menschen die Leidenschaften besonders stark hervorbrechen ließ. Man konnte jedoch die Gefühle dieser Menschen auch messen an den trotzigen, ungestümen Kräften der Natur, von der sie sich umgeben sahen und gegen die sie ständig kämpfen mussten.

Das zeigte sich am deutlichsten im Haus des Thalrainer.

Dass sich die beiden Brüder nie gut verstanden hatten, daran war nicht zuletzt der Vater schuld, weil er ihre Eigenschaften, Anlagen und Fehler mit zweierlei Maßstäben maß. Von jeher war der Simon sein Lieblingssohn gewesen, der tun und lassen durfte, was er wollte, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Er genoss größere Freiheit als der Peter, er fand Nachsicht und Entschuldigung, was er auch angestellt hatte, man glaubte an seine Lügen, auch wenn sie so faustdick aufgetragen waren, dass man sie greifen konnte. Der Peter musste schon in früher Jugend hart arbeiten, während sein Bruder, schon bald erwachsen, noch herumlungern durfte. Der Vater hatte nichts dagegen, wenn er mitten am Tag alles liegen und stehen ließ, nur weil ihm die Arbeit nicht behagte oder das Wetter zu schlecht war.

Der Ältere hätte sich so etwas einmal erlauben sollen! Er hätte den ganzen Zorn seines Vaters auf sich geladen.

Diese unterschiedliche Behandlung durch den Vater erzeugte in Peter eine Abneigung gegen seinen Bruder, die im Lauf der Zeit zunahm und zu immer heftigeren Zwistigkeiten und Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern führte.

Als dann Simon zum Militärdienst einberufen wurde, trat ein Waffenstillstand ein. Zwischen den beiden Brüdern bestand ein Altersunterschied von fast acht Jahren. Vielleicht besserte sich das Verhältnis zwischen den beiden, wenn nun auch der Jüngere herangewachsen und vernünftiger geworden war. Jedenfalls war damit zu rechnen, dass durch den Kasernendrill manches an ihm nachgeholt wurde, was der Vater in seiner Nachsicht versäumt hatte.

So dachte der Peter.

Die Spekulationen des Alten richteten sich freilich auf ganz andere Erwartungen. Sein Jüngster war Soldat gewesen, er hatte sich in der Stadt und in der Welt umgesehen, kam nun geschliffen und lebenserfahren heim. Aus dem Holzfuchs vom Zedertal war ein bewanderter und brauchbarer junger Mann geworden, der mit allen Menschen umzugehen verstand. Darauf war der alte Thalrainer stolz. Deshalb freute er sich auf die Heimkehr seines Sohnes.

Die Ernte war im Großen und Ganzen bereits unter Dach, nur Kartoffeln und Rüben waren noch einzubringen. Hier und dort dörrte noch eine Lage Heu in der milden Herbstsonne.

Nachdem die Stallarbeit besorgt und das Vieh zur Weide getrieben war, befand Peter sich draußen auf den Feldern beim Roden und Einmieten der Hackfrüchte. Es war still um das Haus. Eine Anzahl Hühner bevölkerte gackernd und scharrend den verlassenen Hofraum, der große Hund zog seine lange Laufkette, an die er wieder angehängt war, klirrend am Haus auf und ab. An einem Fenster des Oberstocks erschien dann und wann die Magd, wenn sie ein Betttuch ausschüttelte.

Der Bauer saß noch in der Stube, rauchte seine Morgenpfeife und blätterte in einer Zeitung.

Er schaute nicht auf, als er ein paar Mal den Hund anschlagen und dann die Tür gehen hörte. Um diese Zeit holte die Bahnwärterstochter gewöhnlich die Milch, die die Magd ihr mit einem Messbecher in die Kanne goß.

Aber da ging zu seiner Überraschung die Stubentür auf und beinahe wäre ihm die Pfeife aus dem Mund gefallen, als er so plötzlich und unerwartet den Simon vor sich stehen sah.

»Wo kommst denn du in aller Herrgottsfrühe her?«, rief er und stand schwerfällig auf, um dem Heimkehrer seine breite Hand entgegenzustrecken.

»Direkt aus der Kaserne!«, antwortete Simon, nach der Hand des Vaters greifend. »Grüß Gott, Vater!«

»Aber wie bist du denn gekommen? Es geht doch jetzt kein Zug!«, wollte der Alte wissen.

»Einfach! Der Sohn vom Ammon, der Roland, war mit mir auf der gleichen Stube. Er wollte ein paar Tage im Landhaus verbringen. Er hat mich im Auto mitgenommen.«

»Das ist ja großartig!«, meinte der Alte.

Er gab ihm mit seiner schweren Hand einen Schlag auf die Schulter, der ihn beinahe in die Knie gehen ließ.

»Lass dich anschauen! Recht gut und frisch siehst ja gerade nicht aus! Man könnt meinen, du hättest schon zehn Nächte nicht mehr geschlafen.«

Simon grinste. »Wir haben die vergangene Nacht ein bisschen gefeiert, Vater. Man wird ja nur einmal im Leben aus dem Militärdienst entlassen!«

Der Alte schaute ihn zwinkernd an. »Ich meine, ihr habt öfter gefeiert als einmal!« Abermals klopfte er ihm wohlwollend auf die Schulter. »Hast schon Recht! So etwas muss gefeiert werden. Jetzt – setz dich nur hin, ich werde der Susi gleich sagen, dass sie dir eine Brotzeit bringt!«

Er öffnete die Tür einen Spalt und rief laut nach der Magd.

Während Simon dann den kräftigen Imbiss verschlang, musste er dem Vater endlose Fragen beantworten und sich auf Herz und Nieren prüfen lassen. Schließlich überkam ihn eine solche Müdigkeit, dass ihm die Augen zufielen.

Der Alte lachte dröhnend auf. »Ich sehe, für dich ist jetzt das Bett der richtige Platz. Also – schlaf dich aus, Bub!«

»Dank schön, Vater, für dein Verständnis!«

»Ach was! Ich bin auch einmal jung gewesen und habe über den Durst getrunken oder mir ein paar Nächte um die Ohren geschlagen! Schlafe also, so lange du willst; es wird dich niemand stören!«

Wohlwollend schob er ihn zur Tür hinaus und rieb sich glücklich die Hände.

Als bald darauf abermals die Haustür ging, schaute er hinaus und begegnete dem Streckenwärter, der heute an Stelle seiner Tochter die Milch holte. Obwohl Rommig noch viel jünger war als der Bauer, sah er beinahe älter aus. Das mochte vielleicht an den hageren, vergrämten Gesichtszügen liegen. Man merkte auch an seiner Kleidung, dass er einmal kräftiger und stärker gewesen war, denn sie schlotterte ein wenig an seinem Körper. Er musste in seinem Leben viel mitgemacht haben.

»Dass du heute die Milch holst?«, wunderte sich der Bauer. »Ist deine Tochter nicht da, oder ist sie krank?«

»Da ist sie schon und krank ist sie auch nicht …«

»Aber?«

»Sie hat halt gemeint, ich könnt die Milch auch einmal holen.«

»Freilich, weil du noch nicht genug zu gehen hast!«, höhnte der Bauer. »Verzieh sie nur recht, deine Tochter, Rommig!«

Der Streckenwärter furchte die Stirn, aber er konnte keine Antwort mehr geben, weil Thalrainer sich bereits wieder in seine Stube zurückgezogen hatte.

Simon verschlief auch das Mittagessen. Peter bekam ihn erst am Abend zu sehen, aber nicht lange, denn, kaum aufgestanden, war er schon wieder auf dem Sprung, das Haus zu verlassen.

»Wo gehst denn hin?«, fragte Peter.

»Hinauf zum Landhaus.«

»Was hast du denn dort verloren?«

Simon grinste angeberisch. »Ich habe eben Freunde, Peter!«

»Was das für Freunde sind, kann ich mir denken, sonst würden sie nicht zu dir passen!«

»Geht’s dich etwas an? Und damit du gleich im Bild bist: Ich nehme jetzt ein paar Wochen Urlaub. Verstanden?«

»Ich kann dich nicht daran hindern!«

Schon die erste Begegnung zeigte, wie weit die Ansichten der beiden Brüder auseinander gingen und welche Kluft sich zwischen ihnen aufgetan hatte.

Als über dem Hof die feierabendliche Stille lag, suchte Peter noch den Vater in der Stube auf.

»Habt ihr euch jetzt getroffen?«, fragte der Alte. »Ja. Aber er scheint sich daheim nicht besonders wohl zu fühlen.«

»Warum?«

»Weil er schon wieder wegläuft, hinauf zum Landhaus.«

»Lass ihn doch!«, sagte der Alte. »Ich habe nichts dagegen.«

»Und gegen ein paar Wochen Urlaub auch nicht, nicht wahr?«

»Er kommt von der Bundeswehr heim und hat einen Urlaub nötig. Das darfst du mir glauben!«

»Ich bestreite das nicht, Vater. Nur frage ich mich wieder, warum ausgerechnet er Urlaub bekommt. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass er strenger eingespannt war als wir hier bei der Arbeit. Wer denkt aber da an einen Urlaub?«

»Das verstehst du nicht; du warst nie Soldat!« Das Gesicht Peters nahm einen harten Ausdruck an. »Darum also geht es! Wieder eine Lobpreisung mehr auf den geliebten Sohn!«

»Hör auf!«

»Ich weiß, das magst du nicht hören, Vater, und außer mir ist niemand da, der dir die Wahrheit sagt!«

Der Alte lachte laut auf. »Er ist eben jung und nimmt alles auf die leichte Schulter! Warum soll er es nicht tun? Der Ernst des Lebens kommt auch für ihn noch früh genug! Sag doch gleich, dass er das Zeug zu einem Verbrecher hat!«, fügte er brüllend hinzu.

»Vom Tagdieb zum Verbrecher ist ein kurzer Weg!«

»Aufhören sollst du!«

»Ich weiß, dass du es nicht hören magst. Du kannst mir auch den Mund verbieten und dann muss ich eben schweigen. Aber meine Ansicht änderst du damit nicht!«

Der Bauer ging jetzt zum Fenster, öffnete es und schaute in die Dämmerung hinaus.

In diesem Augenblick donnerte droben der Express in den Tunnel.

Der Alte stieß einen schweren Seufzer aus, griff sich mit beiden Händen an den Kopf, als wollte er sich die Ohren zuhalten. Über seinen Körper lief ein Schauer.

Peter beobachtete ihn. »Was hast du?«

Der Alte wandte sich nach ihm um. »Nichts.«

»Bist du krank, Vater?«

»Ich? Nein, warum?«

»Es tut mir Leid, wenn ich dich gekränkt haben sollte. Aber versuche mich doch auch zu verstehen, Vater! Von Kindheit an arbeite ich auf dem Hof und ich habe es gern getan und werde es weiter tun. Aber ich ahne, es wird einmal zwischen mir und dem Simon zu einer Rivalität kommen um den Hof. Gerechterweise müsste er ja einmal mir zukommen, nicht nur, weil ich der Ältere bin, sondern weil ich mich mit meiner ganzen Kraft bei der Arbeit eingesetzt hab.

Ich wäre erleichtert, wenn du einmal erklären würdest, Vater, was du vorhast. Ich weiß, du könntest sagen, dass ich zu alt werde, bis du übergeben wirst; denn du bist noch sehr rüstig. Bis der Simon so alt ist wie ich, hättest du gerade das rechte Alter für den Austrag. Das verstehe ich alles, aber es täte mir weh, wenn ich eines Tages hier meine Sachen packen müsste. Ich glaube nicht, dass ich das verdient hätte. Und wenn ich dir noch sage, dass ich Angst habe, der Simon könnte eines Tages Anspruch auf den Hof erheben, wirst du mich verstehen.«

Der Alte winkte ab. »Vorläufig bin ich noch der Bauer auf dem Hof und denke auch noch gar nicht daran, ihn zu übergeben.«

»Diese Antwort kenne ich schon auswendig, Vater. Etwas anderes hast du mir wohl nicht zu sagen?«

»Nein.«

»Gut, dann hat alles weitere Reden keinen Sinn.

Ich wünsche eine gute Nacht!« Peter wandte sich der Tür zu.

»Wart noch!«, befahl der Alte.

Peter drehte sich nach ihm um. »Ja? Was ist noch?«

»Bring mir einmal diese Sennhofertochter. Ich will sie sehen und mit ihr sprechen.«

Das Gesicht Peters hellte sich auf. »Gern. Wann ist es dir recht? Vielleicht am Sonntag?«

Der Alte nickte.

»Danke, Vater! – Gute Nacht!«

Der alte Bauer schaute noch eine Weile mit gefurchter Stirn auf die Tür, die sich hinter seinem Ältesten geschlossen hatte.

Jeden Nachmittag um die gleiche Zeit machte sich der Streckenwärter auf den Weg hinauf zum Tunnel, ausgerüstet mit dem Schraubenschlüssel, dem langstieligen Hammer und der Laterne vor der Brust. Es war die Zeit, in der kein Zug durchging. Gewöhnlich dauerte es ein paar Stunden, manchmal sogar länger, bis er seine Strecke abgelaufen hatte. Er musste es bei jedem Wetter tun, im Sommer bei drückender Gewitterschwüle, im Winter, wenn der Schienenweg verschneit und vereist war.

So war es oft ein hartes Stück Arbeit, aber Rommig wusste um die Bedeutung dieser Kontrollgänge und die Verantwortung, die jeden Tag aufs Neue auf ihm lastete. Deshalb kam er gewissenhaft seiner Aufgabe nach und hätte keine ruhige Minute gehabt, wenn er einmal aus Bequemlichkeit oder Gleichgültigkeit einen solchen Streckengang unterlassen hätte. Gut, er könnte sagen, dass er den Weg abgegangen sei, er könnte sogar seine Tochter zur Zeugenaussage veranlassen; denn es war ja niemand da, der ihn kontrollierte. Aber sollte doch einmal im Tunnel ein Schienenbruch oder eine abgesprengte Schraube übersehen werden, war das Unglück da und er hätte es verschuldet und müsste es auf sein Gewissen nehmen.

Und davor wollte er sich bewahren.

Während er mit gleichmäßigem Schritt von Schwelle zu Schwelle ging und seine Augen den Schienen folgen ließ, mit dem Hammer gegen die Eisen klopfte und auf den Klang lauschte oder seinen großen Schlüssel an den Schrauben ansetzte, blieb Gina allein im Haus zurück. Sie hatte eigentlich den ganzen Tag zu tun; sie kochte, besorgte die Wäsche, hielt die Wohnung in Ordnung, sie kümmerte sich um den kleinen Garten hinter dem Haus und unterstützte den Vater in seinem Dienst, und wenn sie nur in seiner Abwesenheit die Telefondurchsagen entgegennahm oder die Schranken bediente, wenn ein Güterzug oder eine Lokomotive durchkam.

In den Augen Thalrainers war sie natürlich eine Faulenzerin, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass es im Bahnwärterhaus für einen jungen Menschen überhaupt etwas zu tun gab, gemessen an der schweren sommerlichen Arbeit auf einem Bauernhof. So kam es, dass er sie öfter mit groben Worten bedachte und auf ihr Faulenzerleben anspielte. Aber sie machte sich nichts daraus und ließ ihn reden.

Aus einem groben Holz können keine weichen Töne kommen, war ihre Einstellung.

Sie holte eben die Wäsche von der Leine, die sie am Vormittag zum Trocknen aufgehängt hatte, als plötzlich Simon neben ihr stand.

»Fleißig?«, fragte er und lächelte verlegen.

Sie hatte sein Kommen nicht bemerkt und wandte sich erschrocken nach ihm um.

Aber er ließ ihr nicht lange Zeit, sich eine abweisende Antwort zu überlegen. Mit unschuldiger Miene fuhr er fort: »Einen schönen Frühherbst haben wir heuer. Man kann sich daran direkt freuen.«

Sie setzte ihre Arbeit fort, faltete die Wäsche zusammen und legte sie in den Korb.

»Schau nur, wie blau und herrlich unsere Berge im Sonnenlicht dastehen«, sprach er weiter. »Manchmal packt mich direkt die Lust, zur Kofelspitze aufzusteigen. Ob noch Edelweiß blühen?«

»Warum steigst nicht auf?«, fragte sie kühl.

»Hm – du darfst nicht vergessen, dass ich eben erst aus der Kaserne gekommen bin und einen Drill hinter mir habe, dass einem der Schweiß vom Gesicht getropft ist. Da mag man sich nicht gleich wieder plagen.«

Sie antwortete nicht darauf und dachte sich ihren Teil. Sie wusste ja, was dieser Thalrainersohn von Mühe und Plage hielt.

»Ich möchte mit dir bloß über den Abend sprechen, Gina«, begann er plötzlich. »Es ist nämlich alles ganz anders gekommen, als ich es mir gedacht und gewünscht habe. Ich weiß eigentlich gar nicht, wie es dazu gekommen ist. Mir ging erst ein Licht auf, als du plötzlich davongelaufen bist. Nun lässt es mir keine Ruhe mehr.«

»Ich nehme an, dass du betrunken warst«, antwortete sie.

»Das glaube ich auch.«

»Das entschuldigt einiges. Jedenfalls möchte ich drüber nicht mehr sprechen.«

»Gerade darum wollte ich dich bitten, Gina. Weiß es dein Vater?«

»Nein.«

Er atmete auf. »Schau, ich bin ja selbst hineingezogen worden. Wie gesagt, ich habe etwas ganz anderes gewollt und erwartet. Der Roland war immer ein guter Kumpel, ein anständiger Kerl, aber er war betrunken wie ich auch, und da verliert man die Kontrolle über sich. Verstehst du das?«

Sie horchte jetzt gegen das Haus. Das Telefon läutete. »Ich muss eine Durchsage abnehmen; der Vater ist nicht da«, sagte sie und eilte weg.

Die Sprechanlage befand sich vor dem Haus, gleich neben dem Läutwerk. Sie meldete sich und notierte die Durchsage.

Simon stand neben ihr.

»Was ist noch?«, fragte sie.

»Du sagst doch niemandem etwas davon?«

»Was denn?«

»Ich meine von der Feier droben im Landhaus?«

»Wenn du mich in Zukunft mit solchen Einladungen verschonst, vergess ich es gern.«

»Du kennst doch den Architekten?«

»Natürlich; er kommt oft genug hier vorbei.«

Er drückte ein wenig herum. »Er darf nichts erfahren, Gina! Es ist wegen Roland. Du verstehst mich schon. Er ist nämlich ein strenger Vater, ich möchte nicht haben, dass er den Roland deswegen zur Rechenschaft zieht.«

»Warum sollte er das tun? Ich meine, der Architekt hat doch seinem Sohn erlaubt, sein Landhaus für die Feier zu benutzen?«

»Schon, schon, aber es ist doch besser, wenn er nichts davon erfährt.«

Sie schaute ihn abschätzend an. »Ich glaube, du hast mich damals belogen, Simon!«

»Wieso?«

Sie winkte ab. »Lassen wir das. Ich habe keine Lust, mich in fremde Angelegenheiten einzumischen und ich schäme mich selbst dafür, dass ich überhaupt mitgegangen bin. Ich verstehe heut nicht mehr, dass ich es überhaupt gemacht habe. Manchmal ist es hier im Zedertal halt sehr einsam und da macht man eine Dummheit. Nein, du brauchst nichts zu befürchten; ich werde niemandem etwas sagen, schon weil ich mich selbst dafür schäme. Bist du jetzt zufrieden?«

»Nicht ganz«, lächelte er und kam ein paar Schritte näher. »Zwischen uns hat sich doch nichts geändert?«

»Es kann sich nichts geändert haben, Simon, weil nie etwas zwischen uns beiden war.«

»Bis auf die dumme Geschichte an jenem Abend.«

»Die wollen wir streichen. Und jetzt muss ich Dienst machen! In einigen Minuten kommt eine Lok durch.«

Sie ging ins Haus, um sich dienstfertig herzurichten.

Als sie darauf die Schranken schloss, schlenderte Simon auf der schmalen Fahrstraße dem väterlichen Gehöft zu.

Wenn das Wetter nicht gar zu schlecht war und es auch kein anderes Hindernis gab, ging Gina am Sonntagmorgen zur Kirche. Der Weg ins Dorf war weit und konnte zu einer Strapaze werden, besonders im Winter, wenn Schneestürme alle Gehspuren verwehten. Aber auch im Sommer kam es manchmal zu Unwettern.

Es war ein einsamer Weg, auf dem man kaum einmal einem Menschen begegnete. Hin und wieder kam es vor, dass Peter mit seinem Motorrad hinter ihr herratterte und sie überholte. Gewöhnlich hatte er dann seinen Vater hinter sich auf dem Soziussitz, der mit seinem wuchtigen Körper dem Fahrzeug eine fast erdrückende Schwere verlieh.

Komisch, dachte Gina; der Bauer vom Thalrainerhof galt allgemein als ein schwerreicher Mann, das sah man auch seinem stattlichen Hof und seiner großen Viehherde an. War er zu sparsam und zu geizig, um sich ein Auto zuzulegen? Oder wollte er das aus irgendeinem anderen Grund nicht? Fürchtete er, dass dieses Auto doch nur vom Simon in Beschlag genommen würde und somit nur Streit ins Haus käme?

Gina wusste es nicht und kümmerte sich auch nicht darum. Was gingen sie die Leute vom Thalrainerhof an! Sie schaute dem Fahrzeug nach und wich der Staubwolke aus, die es hinter sich aufwirbelte.

Vater und Sohn machten einen düsteren, mürrischen Eindruck, als käme nie ein freundliches Wort, geschweige denn ein Lachen aus ihrem Mund. Allein der Simon machte da eine Ausnahme, aber man konnte ihm nicht trauen. Hinter seiner Freundlichkeit verbarg sich Hinterlist, ja sogar Gemeinheit. Dieses Gefühl hatte Gina immer, wenn sie mit ihm zusammentraf.

Manchmal schon war es vorgekommen, dass ihr auf diesem Weg ins Dorf der Architekt mit seinem Auto begegnet war. Er hielt dann an und ließ sie einsteigen. Es war ein großer Mann mit scharf geschnittenem Gesicht und langen, schütteren grauen Haaren. Er war nicht nur vornehm und klug, sondern auch freundlich und leutselig; er unterhielt sich mit ihr, als wäre sie seinesgleichen. Am Anfang war sie noch schweigsam und scheu gewesen, aber nach und nach freute sie sich, wenn er ihr über den Weg kam.

Auch ihm schien sie zu gefallen, aber er sagte nie ein Wort, das ein Mädchen in Verlegenheit hätte bringen können. Und das rechnete sie ihm hoch an. Sie wusste nicht einmal, ob er verheiratet oder verwitwet war. Sie wusste nur, dass er einen Sohn hatte, der manchmal neben ihm im Auto saß.

Auch an diesem Sonntagmorgen holte er sie mit seinem Wagen gleich draußen vor dem Dorf ein, als sie nach dem Gottesdienst wieder auf dem Heimweg war. Er hielt an und öffnete die Autotür, ihr eine freundliche Aufforderung zum Einsteigen zunickend.

Darauf saß sie wieder in dem eleganten Wagen, den er gemächlich die schmale staubige Strauße entlang steuerte. Vom Motor war fast nichts zu hören.

Es fielen dieselben Worte wie sonst, er fragte, wie es ihr gehe und was sich ereignet habe im Zedertal. Er erklärte, dass er in letzter Zeit sehr viel zu tun gehabt habe und kaum mehr Zeit finde, nach seinem Landhaus zu schauen.

»Ich denke, es wird doch noch stehen?«, fragte er scherzend.

Sie fühlte sich von dieser Frage seltsam berührt. »Warum soll es nicht mehr stehen, Herr Ammon?«

»Nun ja, es könnte inzwischen abgebrannt oder von einem Erdrutsch weggefegt sein«, lächelte er.

»Das hätten wir sicher bemerkt«, meinte sie.

Sie hatte heute kein ganz gutes Gewissen und fürchtete, er könnte ihr das ansehen. Sicher wusste er nichts davon, dass sein Sohn mit seiner Freundin und dem Thalrainer Simon, der bestimmt auch nicht ohne Partnerin war, das einsame Landhaus zu ausschweifenden Partys benützt hatte.

Aber sie durfte ihm ja nicht sagen, dass sie selbst einmal dabei gewesen war.

Sie hatte das Gefühl, als beginge sie an ihm einen Betrug. Hätte sie doch wenigstens dem Simon nicht versprochen, dass sie nichts darüber sagen würde.

»Wenn ich mehr Zeit habe und eine Woche Urlaub nehmen kann, kommen Sie einmal mit Ihrem Vater herauf zu mir, Gina. Dann machen wir uns einen gemütlichen Nachmittag.«

Sie war so überrascht davon, dass sie keine Antwort geben konnte.

Er schaute sie von der Seite an. »Wollen Sie das nicht?«

»Doch – schon, aber …«

Er lachte. »Wir sind doch Nachbarn und ich würde mich freuen, wenn wir uns ein wenig besser kennen lernten«, fuhr er fort. »Warum sollen wir nicht einmal zusammen einen netten Nachmittag verbringen?«

Sie wurde verlegen. »Ich fürchte, wir können wenig dazu beitragen, Herr Ammon; wir sind ganz einfache Leute.«

»Aber nett und ehrlich. Das ist das Ausschlaggebende. Was mir an Ihnen ganz besonders gefällt, das ist das Natürliche, Bescheidene, Aufrichtige an Ihnen, Gina. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich Sie irgendwo treffe oder sehe. Nebenbei aber tun Sie mir auch ein wenig Leid; denn so ein junger Mensch muss sich im Zedertal ja wie begraben vorkommen!«

»O nein! Ich habe den ganzen Tag zu tun und dann habe ich ja meinen Vater und bin nicht allein. Ich freue mich auf jeden neuen Tag!«

»Großartig! Ich sehe, das größte Glück auf Erden ist doch die Zufriedenheit. Aber wer ist heutzutage noch zufrieden?«

»Wir sind es, Herr Ammon, mein Vater und ich.« »Dazu kann man Ihnen beiden nur gratulieren!« Sie hatten mittlerweile das Bahnwärterhäuschen erreicht. Er hielt den Wagen an und sie sprang heraus.

Er reichte ihr noch die Hand und fuhr dann die schmale Bergstraße entlang weiter.

Gina schaute dem Wagen nach, bis er an der ersten Kehre ihren Blicken entschwand.

Der Vater zog eben das Läutwerk auf, als sie um die Ecke kam.

»Du bist früh dran!«, meinte er.

»Herr Ammon hat mich im Auto mitgenommen.

Dafür gibt es nun das Mittagessen eine Stunde früher. Etwas dagegen?«, scherzte sie und eilte ins Haus.

Er freute sich an ihrer guten Laune und schaute ihr lächelnd nach.

Auch am Sonntag musste der Bahnwärter vom Zedertal seine Strecke abgehen. Schon bald nach dem Mittagessen machte er sich dazu fertig.

»So gegen vierzehn Uhr soll heut ein Sonderzug durchkommen«, sagte er zu seiner Tochter. »Soll ich den noch abwarten?«

»Nicht nötig, Vater, das erledige ich«, antwortete sie. »Du kannst schon gehen, damit du etwas früher zu deinem Feierabend kommst. Ich will ja auch etwas zu tun haben!«

Als die Abfahrt des erwarteten Zuges von der Station angeläutet wurde, setzte Gina die Dienstmütze auf und hängte sich das Signalhorn um, wie es die Vorschrift verlangte.

Dann ging sie hinaus, stellte das Signal auf Durchfahrt und ließ die Schranken herab.

In diesem Augenblick ratterte ein Motorrad heran und hielt vor der geschlossenen Schranke an. Peter Thalrainer war es. Hinter ihm saß diesmal nicht sein Vater, sondern ein schönes und selbstbewusstes Mädchen, bekleidet mit einer Windjacke und einem Schutzhelm, an dem sie die Augenklappe herabgelassen hatte.

»Ich würde gern die Schranken öffnen und euch noch schnell durchlassen, aber es wäre gegen die Vorschrift!«, rief Gina den beiden zu.

»Nicht nötig!«, antwortete Peter. »Wir können schon warten.«

Er musste es ebenfalls laut rufen, damit er beim laufenden Motor gehört wurde.

»Der Zug muss jeden Augenblick durchkommen!«

»Schon gut, Gina!«

Während Gina nun in die Richtung schaute, aus der der Zug kommen sollte, überlegte sie, wer wohl die Beifahrerin sein könnte. Sie kannte das Mädchen nicht. Freilich, durch die Schutzbrille vermochte sie das Gesicht nicht zu erkennen. Aber auch sonst war ihr alles fremd an ihr. War es vielleicht eine Verwandte vom Thalrainer? Oder gar so etwas wie die Freundin von Peter?

Die Fremde schob jetzt die Schutzbrille hoch. Ihr Gesicht war jung und schön. Das Einzige, was daran störte, war der kalte Blick, mit dem sie das Bahnwärtermädchen betrachtete.

»Seit wann gibt es im Zedertal eine Bahnwärterin?«, fragte sie ihren Begleiter.

»Es gibt nur einen Bahnwärter, das hier ist seine Tochter. Sie vertritt hin und wieder den Vater, wenn er seine Strecke abgeht«, antwortete Peter.

»Darf denn das sein?«

»Wahrscheinlich. Warum auch nicht?«

Als Gina ihnen wieder ihren Blick zuwandte, traf er mit dem des Mädchens zusammen. Aber fast im gleichen Augenblick rollte der Zug heran und donnerte vorbei.

Darauf öffnete sie die Schranken. Peter setzte sein Motorrad in Bewegung. »Servus, Gina!«, rief er der Schrankenwärterin zu.

»Servus, Peter!«

Das Motorrad ratterte davon.

»Armer Peter!«, flüsterte Gina ihnen leise nach. »Wenn das deine Freundin ist, dann tust du mir heut schon Leid.«

Das Mädchen, das Peter heute das erste Mal seinem Vater vorstellte, stammte aus einem Gutshof, der schon seit mehreren Generationen im Erbpachtrecht vergeben war, das heißt, der Sohn trat jeweils in das Pachtrecht des Vaters ein, wenn dieser die Arbeit aus der Hand legte. Er war also nicht der eigentliche Besitzer, sondern nur Pächter der Ländereien und des Hofes, aber er hatte das verbriefte Recht, alles an seinen Sohn und Nachfolger übergeben zu dürfen, wenn er in den Ruhestand ging.

Sabine hieß dieses Mädchen und wurde kurz Bine genannt. Ihr Vater, der Sennhofer, war ein geachteter und angesehener Bauer, natürlich auch dem Thalrainer vom Zedertal wohl bekannt. Peter hatte dieses Mädchen bei einer dörflichen Hochzeit kennen gelernt, sie hatten aneinander Gefallen gefunden und sich darauf noch öfter getroffen. So war es zu dieser Beziehung gekommen, über die sich so mancher Außenstehende wundern mochte; denn es war ein sehr ungleiches Paar. Peter Thalrainer war ein gesunder, robuster und derber Naturbursche, in seinen Bewegungen ein wenig ungelenk, in seiner Ausdrucksweise unbeholfen. Die Tochter des Sennhofer dagegen war ein Geschöpf ihrer Zeit, das mit der ländlichen und gar bäuerlichen Denkweise nichts mehr gemein hatte, zumal sie auch einige Jahre in einem vornehmen Internat gewesen war.

Aber wie überall, so war es auch den Leuten vom Sennhof bekannt, über welch reichen Grundbesitz der Thalrainer vom Zedertal verfügte. Und da Peter, dessen ältester Sohn, als Hoferbe galt, konnte man ihn so, wie er war, schon in Kauf nehmen. Außerdem musste er ja nicht so bleiben, wenn einmal eine Frau ihren Einfluss auf ihn ausübte und einen anderen Mann aus ihm machte, einen vornehmen Herren, der sich seiner Stellung und seines Vermögens bewusst war, der nicht auf einem Motorrad, sondern in einem eleganten Wagen in der Gegend umherfuhr, der sich so viele Dienstboten hielt, dass er selbst keine niedrigen Arbeiten machen musste, der es sich leistete, das Leben von der schöneren und vergnüglicheren Seite zu nehmen, und sich alles gönnte, was ein reicher Mann sich leisten kann.

Das alles lag am Einfluss einer Frau, wenn sie ihn zu lenken verstand.

So sah Sabine die Zukunft vor sich und sie hatte keinen Zweifel, dass sie es mit diesem Mann schaffen würde. Nun war sie einigermaßen gespannt auf die Begegnung mit dem alten Thalrainer; denn Peter hatte ihr bereits einiges von seinem Vater erzählt, was nicht gerade ermutigend war.

Er nahm hin und wieder eine Hand vom Lenker und deutete hin auf die weiten Wiesen, Felder und Wälder. »Das gehört alles zu unserem Hof! So weit du schauen kannst!«

»Wie viele Angestellte habt ihr denn?«, rief sie ihm ins Ohr.

»Nur ein paar. Man macht heut ja alles mit Maschinen und da sind wir gut eingerichtet.«

»Freilich, und dein Vater ist ja auch noch da und dein Bruder wird sicher ebenso mithelfen.«

»Wenn er gerade mag, dann schon.«

»Was heißt das?«

Er zuckte die Schultern. »Mir wäre wohler, wenn er nicht da wäre; seine Arbeit mache ich noch gerne mit.«

Sie schaute jetzt auf den lang gestreckten, breiten Hof, auf die zahlreichen Fenster der Vorderfront, die ihr wie feindselige Augen entgegenschauten.

Unter der Haustür erschien jetzt die wuchtige Gestalt des Alten. Er schien das Motorrad gehört zu haben und war nun aus dem Haus gekommen, um die Braut seines Sohnes zu begrüßen.

Er streckte ihr seine schwere Hand hin, der man ansah, dass sie ein Hufeisen biegen konnte. »Grüß dich Gott, Dirndl!«, sagte er freundlich und betrachtete sie aufmerksam, ohne zu erkennen zu geben, welchen Eindruck sie auf ihn machte.

»Grüß Gott, Thalrainer!«, entgegnete sie und griff nach der dargebotenen Hand.

»Es freut mich, dass du gekommen bist. Deinen Vater kenn ich gut, aber wir zwei haben uns wohl noch nie gesehen. Wie?«

»Kaum.«

Eine ganze Weile dauerte dieses gegenseitige Mustern und Abschätzen, während Peter sein Motorrad unter das Vordach stellte.

»Jetzt komm nur herein!«, sagte dann der Alte und führte den Gast in die behagliche Bauernstube.

»Leg ab und nimm Platz!«

Sabine schlüpfte aus der Jacke und nahm den Motorradhelm ab. Am Wandspiegel brachte sie geschickt ihre Haare in Ordnung. Sie waren blond und modisch aufgesteckt.

Peter rieb sich die Hände, als er das Staunen des Vaters sah, obwohl er noch nicht wusste, welchen Gefühlen dieses Staunen entsprang.

Darauf setzten sie sich um den Tisch in der Ecke und mühten sich zunächst um eine Unterhaltung. Dann schlug der Alte plötzlich vor, sie solle sich von seinem Sohn im Haus und auf dem Hof herumführen lassen, um alles in Augenschein zu nehmen. Unterdessen sollte die Susi einen guten Kaffee kochen.

Peter führte das Mädchen also herum, zeigte ihr das wohl bestellte Haus, die Küche, die Kammern, er ging mit ihr durch den Stall, der mit erstklassigem Vieh bestückt war, er zeigte ihr die Einlagerungen in den Scheunen und Silos und führte ihr die hochmodernen Maschinen im Schuppen vor.

Alles war in einem ausgezeichneten Zustand.

»Es ist nur ein bissl einsam bei uns«, meinte er. »Aber wenn man es gewöhnt ist, hat man auch daran seine Freude.«

»Da könnte man Abhilfe schaffen«, antwortete sie gelassen. »Mit einem Auto ist man gleich im Dorf und auch in der Stadt. Unser Hof liegt ja auch sehr einsam, aber mit Auto und Fernsehapparat haben wir uns nie einsam gefühlt. Mich wundert, dass ihr nicht längst ein Auto habt!«

»Der Vater ist da ein bisschen eigen«, entgegnete er ein wenig verlegen.

»Oder vielleicht zu geizig?«, lächelte sie.

»Das kann auch sein. Aber eines Tages wird er ja in den Austrag gehen und dann können wir es machen, wie wir wollen.«

»Wann wird das sein? Dein Vater schaut noch recht gesund und rüstig aus!«, meinte sie.

Er zuckte die Schultern. »Vielleicht erfährst du das leichter von ihm als ich. Du gefällst ihm gut!«

»Glaubst du? Jedenfalls werde ich ihm sagen, dass ich erst dann heirate, wenn übergeben ist. Denn ich mache nicht gern die Magd im Haus!«

»Das ist völlig richtig, Bine.«

Darauf kehrten sie wieder in die Stube zurück.

Der Alte wanderte darin hin und her. »Nun, wie gefällt es dir bei uns?«, fragte er.

»Recht gut.«

Der Thalrainer lachte geschmeichelt. »Mein Hof kann sich sehen lassen. Man hat ja schließlich nicht ein Leben lang gefaulenzt!«

Die Magd trug jetzt den Kaffee auf. Während sie nun plaudernd um den Tisch saßen und Kaffee tranken, kam plötzlich Simon zur Tür herein. Er war zum Ausgehen angezogen und hatte sogar einen Hut auf.

»Verzeihung!«, sagte er und nahm den Hut ab. »Da ist ja Besuch da!«

Er wollte wieder gehen.

»Bleib!«, befahl der Bauer. »Das ist die Tochter vom Sennhofer, falls du sie noch nicht kennst!«

Simon kehrte zurück und ging langsam auf das Mädchen zu. »Ach, das ist ja die Bine!«, rief er lachend. »Ich hätte dich beinahe nicht erkannt! Bist eine richtige Dame geworden! Grüß dich!« Er reichte ihr die Hand, die sie etwas zögernd ergriff.

»Ich bin der Simon. Es ist freilich schon lange her, dass wir uns zum letzten Mal gesehen haben«, fuhr er freundlich fort. »Ich glaub, es war beim großen Trachtenfest in Luegen vor vier Jahren. Seitdem hab ich die Bundeswehrzeit hinter mich gebracht. Damals hast du noch einen langen Zopf getragen!«

Sie lachte jetzt und bestätigte, dass es so war.

Peter streifte mit einem Blick das Gesicht seines Vaters, der den Mund jetzt so verzerrte, als wäre ihm ein Brocken im Hals stecken geblieben.

»Hol dir eine Tasse!«, befahl der Alte. »Und setz dich zu uns!«

Simon kam dieser Aufforderung sofort nach. Er brachte nun auch Schwung in die Unterhaltung und auch Bine wurde besser gelaunt und lebhafter.

Es wurde erzählt und viel gelacht. Nur Peter verhielt sich schweigsam. Er beobachtete eifersüchtig die Blicke, die sein Bruder und das Mädchen sich zuwarfen, und hatte das Gefühl, als wäre Simon nun der Mittelpunkt der kleinen Gesellschaft, als hätte der Besuch des Mädchens ausschließlich nur ihm gegolten.

Solche Gedanken verdarben ihm die gute Laune und schürten den Hass gegen seinen Bruder.

Und der Vater lachte über die Angebereien seines Jüngsten.

Die Magd räumte den Tisch ab. Der Alte zündete seine Pfeife an, Simon zog ein Zigarettenpäckchen hervor, bot Bine davon an und sie nahm wirkliche eine Zigarette heraus und ließ sich von ihm Feuer geben.

In diesem Augenblick verwünschte Peter, dass er Nichtraucher war. Sogar darin stand er hinter seinem Bruder zurück; er konnte Bine nicht einmal eine Zigarette anbieten!

Heiter wurde die Unterhaltung fortgeführt und erst, als es in der Stube zu dunkeln anfing, brach das Mädchen auf. Peter war sogleich auf den Beinen. Er war froh, dass die beiden sich jetzt wieder trennen mussten, und er nahm sich vor, dem Mädchen über den wahren Charakter seines Bruders reinen Wein einzuschenken, gleich bei der nächsten Gelegenheit, vielleicht schon jetzt, wenn er sie heimfuhr.

Simon half dem Mädchen in die Jacke und verabschiedete sich herzlich von ihm.

Der Alte begleitete sie noch hinaus.