Sonnheser - Irene Krämer - E-Book

Sonnheser E-Book

Irene Krämer

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Beschreibung

Pädagogik trifft auf Krimi: Fehlende Erinnerungen, ein Mädchen, das nicht spricht und anonyme Briefe. Neu auf Schloss Sonnheser angekommen, hat Michaela Ritter alle Hände voll zu tun. In ihrer Funktion als Pädagogin arbeitet sie im Heim-Flügel und leitet eine Sondergruppe traumatisierter Kinder. Mit viel Einfühlungsvermögen, Zeit und Kreativität unterstützt sie ihre Schützlinge bei ihren Entwicklungsschritten. Doch ihre eigene Vergangenheit lässt sie nicht los, Erinnerungen und Albträume vermischen sich. Was kann sie als Kind nur erlebt haben, um so viele Jahre zu vergessen? Und gibt es einen Zusammenhang zu dem mysteriösen Stuhl, der sie regelmäßig in Panik versetzt? Ihre Nachforschungen scheinen ergebnislos, doch dann bekommt sie Drohbriefe und die Ereignisse nehmen ihren Lauf ...

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sonnheser

Verlorene Erinnerungen

Ein Krimi von Irene Krämer

Ich danke meiner Familie für ihre Unterstützung und Ermutigung zum Schreiben!

1. Ankunft

Das Auto holperte über die schlecht ausgebaute Straße und sie fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sie sich wirklich noch auf dem richtigen Weg befand. Das letzte Straßenschild war schon eine Weile her.

Um sie herrschte Dunkelheit, da die Straßenlaternen hier rar gesät waren. Auch befand sich weit und breit kein Haus, an welchem sie sich hätte orientieren können.

Weshalb war sie nicht früher losgefahren? Sie hätte zumindest eine Navi-App benutzen können ...

Mit einem Seufzen beugte sie sich vor und spähte aus der Windschutzscheibe. Leider war sie zur Zeit knapp bei Kasse und hatte sich das Internet sparen wollen, da es in ihrem neuen Zuhause WLAN geben sollte. Deshalb hatte sie sich die wichtigsten Punkte auf einem Notizzettel notiert. Wie ärgerlich, dass die Realität dem nur gelegentlich entsprach! Nichts hatte sie auf eine schlecht asphaltierte Straße vorbereitet, die meilenweit zwischen Feldern hindurch führte!

Halt, war das dort vorne ein Grundstück? Auf jeden Fall wurde eine hohe Mauer sichtbar, die von ein paar Straßenlaternen notdürftig beleuchtet wurde.

Sie blinzelte. Abgesehen von der Mauer selbst war nicht mehr viel zu sehen. Weit und breit gab es keine Autos oder eine Menschenseele. Die Straße verzweigte sich vor einem breiten Tor. Das musste ihr Ziel sein! Hineinfahren, schien jedoch nicht möglich. Das Tor war verschlossen. Was sollte sie jetzt tun?

Moment, da! Ein kleines Pförtnerhäuschen wurde ein paar Meter hinter der Mauer sichtbar und in ihm brannte Licht. Zumindest würde sie also Einlass finden. Ob sie ihr Auto wohl vor dem Tor abstellen konnte?

Beim Näherfahren erkannte sie ein Schild: Parkplatz 200 Meter weiter rechts.

Also folgte sie der Straße, bis sie kurz darauf auf einen kleinen Parkplatz stieß. Er war ausschließlich für Personal und Gäste des angrenzenden Kinderheims und der Reha-Abteilung.

Tief durchatmen. Allein das Wort „Kinderheim” machte sie nervös.

Sie schloss für einen Moment die Augen und versuchte, sich auf das vorzubereiten, was sie in den nächsten Stunden erwartete. Ihr Leben würde sich grundlegend verändern. Dafür hatte sie sogar ihre gut bezahlte Stelle in einer Gemeinschaftspraxis aufgegeben und ihre komfortable Wohnung gekündigt. Jetzt gab es kein Zurück mehr! Ein Glück nur, dass sie vor Arbeitsbeginn noch ein paar freie Tage hatte …

Entschlossen beugte sie sich nach hinten und griff nach zwei großen Taschen, welche sie auf den Vordersitz stellte. Danach öffnete sie die Tür und stieg aus dem Auto.

Die kalte Luft wirkte belebend und sie füllte ihre Lungen gierig mit Sauerstoff. Sie hatte mehr als 24 Stunden in ihrem Fahrzeug verbracht und war froh, die lange Reise endlich hinter sich gebracht zu haben.

Mit geübten Handgriffen packte sie die Taschen, verschloss ihr Auto und ging mit schnellen Schritten den Gehweg entlang, Richtung Eingang.

Dort angekommen, sah sie sich genauer um. Das schwarze, schmiedeeiserne Tor war breit und sehr hoch. Direkt neben der Sprechanlage befand sich eine Kamera, in die sie nun unsicher hinein lächelte, während sie den Knopf drückte.

„Ja?“, meldete sich eine tiefe, raue Männerstimme.

„Guten Abend, mein Name ist Michaela Ritter. Ich wurde für die Sondergruppe der Jüngsten eingestellt. Eigentlich hat man mich wohl gestern erwartet, aber die Hinfahrt gestaltete sich schwieriger als geplant.“

Es wurde still. Unruhig trat Michaela von einem Fuß auf den anderen und zog die Schultern hoch. Ein kalter Wind pfiff ihr um die Ohren. So langsam begann sie in ihrem dünnen Mantel zu frieren. Es war zwar schon Frühling, aber gerade die Nächte waren noch recht kühl.

Plötzlich summte es laut. Im ersten Moment war ihr nicht klar, woher das Geräusch stammte, dann beeilte sie sich jedoch, das Tor zu öffnen. Es war schwer, glitt allerdings völlig mühelos auf.

Als sie eintrat, leuchteten einige Laternen auf, die den kleinen Platz direkt hinter dem Eingang erhellten. Kaum hatte sie das Tor losgelassen, begann es sich hinter ihr zu schließen und fiel schlussendlich mit einem leisen Klicken ins Schloss. Sie war angekommen.

Neugierig blickte sie sich um. Leider war nur wenig zu sehen. Das große Gebäude lag im Dunkeln verborgen. Lediglich den Anfang der langen Allee, die zum Schloss führte, konnte sie erkennen. Von ihrer Recherche her wusste sie allerdings, dass es noch ein guter Fußmarsch bis dorthin sein würde. Rings, um den ehemaligen Herrschaftssitz, gab es einen riesigen Park, den sie heute wohl teilweise durchqueren musste.

Doch vorher wandte sie sich noch dem kleinen Pförtnerhäuschen in ihrer Nähe zu. Laut der Schulleiterin würde sie hier einen eigenen E-Scooter erhalten und von jemandem mit einem E-Auto zum Heim gefahren werden. Anscheinend ein Versuch, die Umwelt zu schonen und unnötigen Verkehr zu vermeiden.

Mit energischen Schritten ging sie auf das Häuschen zu, durch dessen Fenster ein heller Lichtschein fiel. Da sie auf die Schnelle keine Klingel erkennen konnte, klopfte sie kurzerhand an die Fensterscheibe.

Ein Mann betrat das schmale Zimmer. Er war eher klein und kräftig gebaut, sein Alter schwer abzuschätzen. Sie würde ihn zwischen 60 und 70 Jahren einordnen. Gemächlich setzte er sich an einen Schreibtisch ihr gegenüber und drückte auf einen Knopf. Erst danach blickte er auf. „Guten Abend. Bitte halten Sie Ihren Ausweis an die Glasscheibe, damit ich Ihre Identität prüfen kann“, brummte er, während er sich die Hand vor den Mund hielt und herzhaft gähnte.

Erst jetzt konnte Michaela die Sprechanlage erkennen, weil nun ein kleines rotes Licht neben dem Fenster aufleuchtete. Hastig durchsuchte sie ihr Gepäck. Wo hatte sie nur ihren Geldbeutel hingesteckt?

Zu ihrem Ärger rutschte eine der Taschen aus ihren Händen auf den Boden. Sie seufzte auf. Das war natürlich mal wieder typisch. Wenn sie es eilig hatte, ging immer etwas schief! Energisch hob sie die Tasche auf, klopfte den Staub ab und wollte sie gerade wieder beiseite nehmen, als ihr einfiel, dass sich der Geldbeutel in genau dieser Tasche befinden musste! Und tatsächlich, kaum hatte sie den Reißverschluss aufgezogen, erblickte sie den gesuchten Gegenstand.

Erleichtert kramte sie ihren Ausweis hervor und hielt ihn an die Fensterscheibe. Da der Pförtner in der Zwischenzeit damit beschäftigt war, sich einen Tee zu kochen, klopfte sie erneut an das Glas.

Er drehte sich zu ihr herum, kam näher und musterte den Ausweis ausgiebig. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht, er nickte ihr zu.

Irritiert beobachtete sie daraufhin, wie er sich umdrehte und verschwand. Kurze Zeit später hörte sie irgendwo das Geräusch einer sich öffnenden Tür und seine Stimme ertönte: „Frau Ritter? Kommen Sie doch bitte links um das Haus herum. Ich gebe Ihnen ihre Sachen.“

Meine Sachen? Meint er den E-Scooter? fragte sie sich, während sie ihre Taschen fester an sich drückte und seiner Anweisung Folge leistete.

„Ah, da sind Sie ja!", meinte er kurz darauf und lächelte sie an. „Kommen Sie herein.“ Dabei trat er zurück und ließ sie eintreten.

Sie folgte ihm durch einen schmalen, dunklen Flur in ein helles Zimmer. Es schien sich um eine Art Büro zu handeln.

„Setzen Sie sich doch“, sagte er höflich, zog ihr einen Stuhl zurecht und ging dann um einen Schreibtisch herum, um sich selbst dahinter niederzulassen. „Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt“, meinte er und kratzte sich am Ohr. „Mein Name ist Peter Lou Winslow. Ich bin hier der hauptverantwortliche Pförtner und wohne in diesem Haus. Es gibt noch zwei andere Personen, die mich vertreten. Ihre Namen und Gesichter finden Sie in dieser Mappe“, er legte einen Schnellhefter vor ihr auf den Tisch. „Darin befinden sich auch einige Telefon-, sowie Handynummern, damit Sie immer jemanden von uns erreichen können, wenn Sie mal Besuch erhalten.“

Er erzählte noch mehr, doch sie konnte ihm schon seit einer Weile nicht mehr folgen. Unauffällig blickte sie auf ihre Uhr. Mitternacht. Kein Wunder also, dass ihre Konzentration nachließ.

Die Taschen in ihren Händen schienen jede Minute schwerer zu werden, sie schwitzte und war todmüde. Schließlich schaffte sie es, ihn zu unterbrechen: „Herr Winslow, können wir alles weitere nicht in den nächsten Tagen besprechen? Ich bin furchtbar müde und möchte wirklich gerne in mein Zimmer.“

„Oh. Äh, ja“, meinte er aus dem Konzept gebracht und starrte sie ein paar Sekunden schweigend an. „Dann wäre es vielleicht besser, Sie holen Ihren E-Scooter morgen ab und ich fahre Sie heute mit dem Auto zum Schloss.“

Jetzt war sie diejenige, die ihn anstarrte. Sie hatte morgen frei, wollte ausschlafen und sich erst einmal einrichten. „Können wir den Scooter nicht mit dem Auto mitnehmen? Ich weiß nicht, ob ich morgen die Zeit dafür haben werde, hierher zu kommen.“

„Schon ja“, wiegte Herr Winslow den Kopf hin und her. „Aber das bedeutet weiteren Papierkram und ich muss Ihnen zeigen, wie und wo Sie den Scooter drüben unterbringen. Sie sagten doch gerade, dass Sie zu müde dafür sind.“

Sie drückte ihren Rücken durch und lächelte. „Das ist richtig. Aber wenn ich morgen schon wieder vorbeikommen müsste, möchte ich doch lieber heute alles erledigen.“

Herr Winslow runzelte die Stirn. „Frau Ritter, sind Sie sich sicher? Es wäre kein Problem für mich -“

Sie hob die Hand. „Nein, Herr Winslow. Bitte.“ Wieder lächelte sie, wie sie hoffte, gewinnend. „Ich möchte es so.“

Er sah immer noch skeptisch aus, nickte aber, um gleich darauf wortlos im Nebenzimmer zu verschwinden.

Ein paar Sekunden später erschien er wieder mit dem E-Scooter in den Händen. „Hier bitte, das ist ihrer. Aufladen können Sie ihn hier, im Häuschen am Waldrand und drüben im Schloss. Für die Scooter gibt es dort einen Raum, in dem alle Fahrzeuge geparkt werden. Es ist ein Keller in der Nähe der Eingangstreppe.” Der Scooter wurde abgestellt.

“Der Raum ist leicht zu finden. Aber den zeige ich Ihnen später trotzdem.“ Er machte eine kurze Pause und nahm einen Schluck von einer Tasse, die auf dem Schreibtisch stand. „Auf diesem Plan können Sie alle Ladestellen nachsehen“, fuhr er schließlich fort und öffnete den Schnellhefter, der immer noch auf dem Tisch lag. Er zog ein Blatt hervor.

Michaela blinzelte ein paar Mal, versuchte wieder wacher zu werden und beugte sich dann über den Plan. Der Pförtner hatte Recht. Es sah relativ einfach aus.

„Danke“, sagte sie gleich darauf, während sie das Blatt wieder zurück in den Ordner schob. Umsichtig zog sie einen der Reißverschlüsse an ihrer Aktentasche auf und verstaute alle Unterlagen darin. „Das wäre dann alles, oder?“, wollte sie hoffnungsvoll wissen und erhob sich.

„Nicht ganz“, sagte ihr Gegenüber zu ihrem Leidwesen. „Sie müssen mir noch eine Bestätigung der Übergabe des Scooters quittieren.“ Er holte ein Formular aus dem Schreibtisch und machte sich daran, ihre Daten einzutragen. „So, jetzt fehlt nur noch die Nummer des Scooters. Können Sie sie mir bitte diktieren?“

Sie seufzte innerlich auf und tat, wie gewünscht.

Es dauerte noch ganze zehn Minuten, bis sie endlich das Pförtnerhaus verlassen konnten. Entnervt zog Michaela den Scooter neben sich her, während ihr die Taschen wieder und wieder aus den Armen rutschten.

Sie war mehr als erleichtert, als sie das leise Rauschen eines Elektroautos hinter sich hörte. Gleich darauf hielt ein kleines, grünes Fahrzeug neben ihr. Eine Tür öffnete sich. „Steigen Sie ein. Ihre Taschen können Sie auf den Boden zwischen die Sitze legen. Den Scooter lege ich in den Kofferraum.“

Nach einigem Hin und Her hatten sie alles verstaut und setzten sich schweigend ins Auto.

„In nicht ganz 10 Minuten werden wir schon dort sein. Auf dem Gelände sind 15 km/h erlaubt und das ausschließlich auf den Hauptwegen. Auf den anderen Wegen nur 8 km/h.“

„Hm, ok. Damit es zu keinen Unfällen kommen kann?“

„Ja, genau. Und um die Tiere nicht zu verschrecken.“

„Interessant.“ Neugierig blickte sie aus dem Fenster. „Von Tieren auf dem Gelände hat mir die Leitung gar nichts erzählt.“ Zwar konnte sie nicht weit sehen, da sich die Straßenlaternen per Bewegungsmelder einschalteten und so immer nur ein kleiner Teil des Parks beleuchtet wurde, doch auch so gewann sie einen ersten Eindruck.

Der Hauptweg war mit feinem Kies bestreut. Große, alte Eichen und Buchen säumten ihn von rechts und links. Von Zeit zu Zeit passierten sie eine Kreuzung und manchmal stand auch eine geschnitzte Bank am Wegesrand. Blumen entdeckte sie kaum welche, doch konnte sie Wiesen erkennen.

Neue Energie durchflutete sie, als sie kurze Zeit später einen dunklen Schatten in der Frontscheibe vor sich aufragen sah. Der Pförtner schien allerdings wieder müde geworden zu sein. Wortlos hielt er auf einem Platz vor dem Gebäude und stieg aus.

Michaela folgte seinem Beispiel und holte ihre Taschen aus dem Auto. Da sie es eilig hatte, rutschten sie ihr mal wieder aus der Hand, auf die Erde.

Mit einem frustrierten Stöhnen bückte sie sich und klaubte sie vom Boden auf. „Na toll! Wirklich toll!“, schimpfte sie leise vor sich hin und versuchte dabei, ihre Kosmetiktasche vom Schmutz zu befreien.

„Kommen Sie“, sagte Herr Winslow nun, packte mit einer Hand den Scooter und griff mit der anderen nach einer der Taschen. Dann schritt er voraus.

Vorsichtig folgte sie ihm, den Blick auf den Boden gerichtet. Erst als die Schritte vor ihr inne hielten, sah sie auf. Langsam glitten ihre Augen über das Gebäude.

Sie blinzelte ungläubig. Es war ein Schloss. Ein echtes, richtiges Schloss! Sie hatte es gewusst und trotzdem konnte sie es nicht fassen! Hier sollte sie ab jetzt leben? Es war größer als erwartet. 527 Zimmer, wenn sie sich Recht erinnerte. Oder waren es 517? Ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, hierher zu kommen?

Langsam wanderte ihr Blick weiter die Fassade entlang. Der Hauptteil davon lag im Dunkeln und wirkte mit den leeren Baumkronen ringsum, gespenstisch. Eine Eule schrie und ein Schauer lief ihre Wirbelsäule hinunter.

Gleich darauf zuckte sie zusammen, weil plötzlich Bewegungsmelder angingen. Herr Winslow stand neben der Treppe zum Eingangsportal und winkte.

Mit einem tiefen Atemzug marschierte sie auf ihn zu.

„Hier, sehen Sie: Der Keller für die E-Scooter ist direkt neben der Treppe. Ich stelle ihn jetzt für Sie hinein. Den Schlüssel für den Raum bekommen Sie aber erst später vom Kollegen.“ Schon schloss er die niedrige Holztür auf und verschwand im Inneren.

Kurze Zeit später tauchte er wieder auf. „Ich habe ihn in ihr Fach gestellt. Er ist leicht zu finden. Gehen wir weiter!“, deutete er dann auf die Schlosstreppe und machte sich daran, sie zu besteigen.

Michaela folgte ihm. Dabei fiel ihr der schmale Weg auf, der in einem Bogen und einer allmählichen Steigung ebenfalls zur Eingangstür führte. „Gibt es hier auch behinderte Kinder?“, wollte sie wissen.

„Sie meinen wegen diesem Weg?“, fragte Herr Winslow keuchend. „Ja, manchmal. Aber normalerweise nur in der Reha-Abteilung.“

„Ach so.“

Bei der riesigen Eingangstür angelangt, suchte der Pförtner nach den Schlüsseln und öffnete kurz darauf eine der Flügeltüren. Diese gab ein leises Knarzen von sich, während sie langsam aufschwang.

Michaela betrat die Eingangshalle. Ihre Schritte hallten laut auf dem schachbrettartigen Marmorboden wieder, was sie nur am Rande wahrnahm. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem imposanten Treppenaufgang, der sich spiralförmig nach oben zog. Selbst im diffusen Licht der Notbeleuchtung war das Bild beeindruckend.

Während sie bedächtig einen Fuß vor den anderen setzte, wurde ihr plötzlich mulmig zumute. Sie war schon einmal hier gewesen. Da war sie sich sicher! Woher diese jähe Eingebung kam, konnte sie nicht sagen, doch sie wusste es genau!

Ihr schnürte es die Kehle zu und sie musste bewusst durchatmen, um wieder klar denken zu können. Erinnerungen, sie waren der eigentliche Grund ihres Hierseins. Schon so viele Jahre war sie auf der Suche nach ihrer Vergangenheit, wollte unbedingt herausfinden, was vor ihrem achten Lebensjahr geschehen war.

Müde strich sie sich mit dem Ellenbogen den Schweiß von der Stirn und machte gedankenverloren einen weiteren Schritt nach vorne. Es hatte sie viel Mühe gekostet, ihren Aufenthaltsort zur damaligen Zeit herauszubekommen, da alle Unterlagen dazu verschwunden waren.

Erneut musste sie eine Beklemmung abschütteln. Sie schien ihr Ziel tatsächlich erreicht zu haben! Und doch machte der Gedanke ihr eher Angst, als dass er sie erfreute. Was war damals nur mit ihr geschehen?

Energisch schüttelte sie den Kopf. Es musste die Müdigkeit sein! Eine Mütze voll Schlaf würde ihre Gefühle schon wieder ins Lot bringen.

„Frau Ritter, ich verabschiede mich“, unterbrach Herr Winslow ihren inneren Monolog. „Sie müssten bald abgeholt werden. Man gibt Ihnen dann die Schlüssel und zeigt Ihnen ihr Zimmer. Alles Gute! Wir sehen uns.“

Weil sie schon so müde war, rauschten seine Worte an ihr vorbei. „Danke“, murmelte sie lediglich.

Er lächelte, stellte ihre Tasche ab und ging.

Nachdem die Eingangstür wieder ins Schloss gefallen war, hörte sie, wie er von draußen abschloss. Da stand sie nun. Allein.

Um sie herum war alles still. Auch hier drinnen schien man Strom zu sparen, weshalb die Flure ringsum ins Dunkel getaucht waren. Lediglich bei ihr in der Eingangshalle brannte ein schwaches, gelbliches Licht. Vielleicht sollte sie sich schon über die Räumlichkeiten im Haus informieren? Wo lag ihr Zimmer noch gleich?

Umständlich kramte sie den Plan hervor.

Gerade als sie sich anschickte, die winzige Schrift zu lesen, hörte sie ein Geräusch und fuhr herum. Von links, aus dem Gang im Erdgeschoss, kam jemand auf sie zu. Noch war die Person ein gutes Stück entfernt und daher schlecht zu erkennen. Es schien sich um einen Mann zu handeln. Seine Schritte hallten laut in der Stille der Nacht wieder.

Plötzlich hielt er an und hantierte an der Wand herum. Kurze Zeit später flammten im Gang einige Wandleuchten auf. Interessiert stellte sie fest, dass es sich dabei um Kerzenimitate handelte. Nicht zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass der Eigentümer dieses Schlosses viel Geld haben musste. Schließlich hatte er diese Stiftung ins Leben gerufen und kam, soweit sie wusste, ganz alleine für alle Kosten auf, welche das Kinderheim verursachte.

Mit einem Stirnrunzeln wandte sie sich wieder dem Mann zu, der jetzt auch besser zu erkennen war und sich immer noch näherte.

Weil sie das Warten leid war, hob sie ihre Taschen auf und ging ihm entgegen. Dabei musterte sie ihn unauffällig. Er war ein gutes Stück größer als sie und hell gekleidet. Sein langes, schwarz-graues Haar trug er in einem Pferdeschwanz. Ein Piercing und ein kleiner Ohrring blitzten im Licht auf. Als er noch näher kam, stellte sie fest, dass er wohl die Mode mit den Löchern in den Hosen bevorzugte.

„Guten Abend“, grüßte er gleich darauf freundlich und hielt ihr die Hand hin. „Ich bin Angelo, Angelo van der Velden. Herzlich Willkommen auf Schloss Sonnheser!“ Ein breites Lächeln folgte.

Michaela schluckte. Mit diesem Lächeln sah der Mann verboten gut aus! „Guten Abend. Michaela Ritter“, entgegnete sie verlegen und versuchte eine Hand frei zu machen.

„Ah, schon gut“, winkte ihr Gegenüber ab und grinste. „Soll ich dir vielleicht lieber was abnehmen?“ Dann schlug er sich plötzlich an die Stirn und verdrehte die Augen. „Entschuldigung. Ist es in Ordnung, wenn wir uns duzen? Die meisten KollegInnen handhaben es so, aber falls nicht, ist das selbstverständlich in Ordnung.“

Unweigerlich stieg ihr die Röte in die Wangen, während sie nickte. Sie hatte nicht damit gerechnet, sich um diese Zeit noch ausgiebig unterhalten zu müssen. Mit Herrn Winslow war es eine Sache gewesen, doch mit diesem attraktiven Mann? Ihr wollten keine vernünftigen Worte einfallen. Sie war einfach zu müde! Und wie du aussiehst! Schlabberklamotten und fettige Haut. Wollen wir wetten?

Trotzdem nahm sie sich zusammen. Schließlich war Schweigen keine Option, das würde einen noch schlechteren Eindruck machen. „Ja, klar. Ich bin Michaela“, sagte sie endlich und lächelte zögerlich. „Vielleicht könntest du mir zeigen, wo mein Zimmer ist? Falls du das weißt?“ Bei den letzten Worten runzelte sie die Stirn und suchte den Gang hinter ihm mit den Augen ab.

Daraufhin lachte er leise auf, was ihre Aufmerksamkeit erneut auf ihn lenkte. „Du bist bestimmt müde. Sorry, ich habe Nachtdienst. Da vergesse ich manchmal, dass andere um diese Zeit schlafen. Dein Zimmer, beziehungsweise die Wohnung, ist ein Stock höher.“ Er deutete mit dem Finger nach oben.

Entsetzt riss sie die Augen auf, das konnte er nicht ernst meinen? Jetzt musste sie auch noch den ganzen Weg zurück und die endlosen Treppen nach oben steigen?

Wieder lachte er, was sie ein wenig ärgerte. „Keine Sorge“, sagte er schließlich, „ein Stück weiter gibt es einen Aufzug. Du musst also nicht wieder zurückgehen.“ Er stockte. „Soll ich dir vielleicht beim Tragen helfen?“

„Nein! Nein, danke. Nicht nötig“, wehrte sie schnell ab und fügte hinzu, „aber nett, dass du fragst.“

„Okay, wie du meinst“, zuckte er die Schultern, um sich gleich darauf abzuwenden und in die angegebene Richtung zu gehen.

Sie folgte ihm. Tatsächlich sah sie kurz darauf den angekündigten Lift. Erleichtert blieb sie neben ihm stehen und starrte benommen auf die kleinen Lichter. Sie war so müde! Wenn sie hier noch länger stehen blieb, würde sie an Ort und Stelle einschlafen. Mit Mühe unterdrückte sie ein Gähnen.

Plötzlich öffnete sich der Aufzug mit einem leisen „Pling“. „Nach dir“, sagte Angelo mit einer einladenden Geste und trat beiseite.

Ein wenig verwundert murmelte sie ein „Danke“ und ging hinein.

„Kein Problem“, erwiderte er und folgte auf dem Fuß. „Eine wichtige Info“, er zückte einen Schlüssel, der an einem Band befestigt war, „mit diesem Aufzug kommt man nur in dein Stockwerk, wenn man es freischaltet.“ Er steckte den Schlüssel in ein Loch, welches sich neben der Zahl 1 befand und drehte ihn zweimal herum. „Es ist eine Sicherheitsmaßnahme, damit nur Befugte direkt in den Flur eurer Wohnungen kommen können." Sein Finger betätigte den Knopf neben dem Stockwerk. „Wenn man von euer Etage aus diesen Aufzug benutzen will, muss man von außen den Schlüssel ins Schloss stecken. Ich zeige es dir gleich.“

„Ok“, nickte sie. Bevor sie mehr sagen konnte, öffneten sich die Türen wieder.

„Nach dir“, ließ Angelo ihr erneut den Vortritt, bevor er folgte. „Hier siehst du“, deutete er draußen auf das Schloss unter dem Rufknopf. „Es funktioniert genau wie drinnen. Erst aufschließen, dann auf den Knopf drücken.“

„Ah. Gut zu wissen“, nickte Michaela. „Aber was, wenn jemand die Treppen nimmt?“

Angelo schmunzelte. „Folge mir einfach und du wirst es gleich sehen. Es gibt gläserne Sicherheitstüren in den Gängen, die eure Wohnungen komplett vom Rest abschirmen.“ Er deutete nach links und ging voraus.

Nun hatte sie Muße, ihn von hinten zu betrachten. Seine breiten Schultern, die kräftigen Arme und die muskulösen Waden ließen darauf schließen, dass er viel Sport trieb.

Gedankenverloren fragte sie sich, wann sie zuletzt einen Mann seines Alters, sie schätzte ihn auf Ende 30, mit Shorts gesehen hatte. Sicher, im Sommer war dies keine Seltenheit, aber Anfang Frühling? Sie selbst fror in ihrer dicken Jeans und dem dünnen Mantel, wohingegen sich der Mann vor ihr in seinen löchrigen Shorts äußerst wohl zu fühlen schien.

Als er abrupt stehen blieb, wäre sie um ein Haar in ihn hineingelaufen. „Wir sind da“, verkündete er lakonisch und zückte einen Schlüsselbund. „Hier ist deine Wohnung und wie du siehst, genau daneben die Sicherheitstür, die ins Treppenhaus führt.“

Trotz ihrer Müdigkeit sah Michaela sich um. Es gab von innen einen Schalter neben der Tür, auf dem “Öffnen” stand. Zu hoch für Kinder, aber für Erwachsene gut zu erreichen.

„Mehr Infos dazu findest du in deinen Unterlagen. Jetzt zeige ich dir erst einmal deine Wohnung“, wurde sie in ihren Beobachtungen unterbrochen. Er schloss die Tür auf, öffnete sie und trat wieder beiseite, um sie vorbeizulassen.

Nachdem sie beide eingetreten waren, machte er Licht. „Dein Zimmer mit Bad und angrenzendem Büro ist rechts, die Zimmer der Kinder und ihr Badezimmer mit Dusche links. Herr Lindau hat gesagt, wir sollen dir ein paar Möbel in dein Zimmer stellen? Ich hoffe, das ist okay?“, dabei öffnete er die Tür zu ihrem Zimmer, knipste das Licht an und machte eine allumfassende Geste.

Michaela trat näher und sah sich um. Es war nicht sonderlich groß, doch überraschend gemütlich eingerichtet. An den Wänden war eine moosgrüne Tapete in einem eher dunkleren Farbton angebracht, welche hier und da von winzigen, goldenen Blüten aufgehellt wurde. Der Fußboden schien aus Eichenholz zu bestehen und glänzte frisch gewachst. Eigentlich war es ihr ein wenig zu dunkel, doch die hellen Möbel schufen einen gewissen Ausgleich.

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie die hellgelben Vorhänge mit Goldschimmer und den hellgrünen, flauschigen Teppich begutachtete. Hier hatte sich jemand Gedanken um die Einrichtung gemacht. „Danke, ja. Es gefällt mir gut. Sind meine Koffer schon angekommen?“

Angelo runzelte die Stirn und kratzte sich dann am Kopf. „Das weiß ich nicht. Mir hat niemand etwas davon gesagt.“ Er streckte den Kopf ins Wohnzimmer. „Hm, hier sind sie nicht. Lass mich mal sehen, vielleicht hat sie jemand in ein Kinderzimmer gestellt“, mit diesen Worten verschwand er.

Erschöpft ließ sich Michaela auf den Sessel neben ihrem Bett fallen. Sie atmete tief ein und aus, schloss kurz die Augen und ließ ihre Taschen zu Boden gleiten.

„Gefunden!“, hörte sie schon ihren Kollegen aus dem Nebenzimmer rufen. Ein leises Poltern war zu hören und kurz darauf erschien er, zwei schwere Koffer hinter sich her ziehend, im Türrahmen.

Mit letzter Energie stand sie wieder auf und lächelte ihn an. „Vielen Dank! Ich habe zwar das Wichtigste dabei, aber wenn ich sie die nächsten Tage hätte suchen müssen ...“ Sie seufzte.

Daraufhin schenkte er ihr wieder eines seiner entwaffnenden Lächeln. „Kein Problem. Gerne.“ Er übergab ihr die Koffer und beobachtete sie eine Weile dabei, wie sie einen Platz dafür suchte.

Plötzlich schien ihm etwas einzufallen und er klopfte seine Taschen ab. „Bevor ich es vergesse und wiederkommen muss ... Wo hab ich es nur?“ In seiner hinteren Hosentasche wurde er fündig und streckte ihr ein Formular entgegen. „Du musst mir noch die Übergabe der Schlüssel quittieren. Danach verspreche ich auch, dich alleine zu lassen“, fügte er mit einem Schmunzeln hinzu.

Sie konnte nicht anders und stöhnte gequält auf. Diese Bürokratie! An manchen Tagen ging sie ihr unglaublich auf die Nerven!

„Tut mir echt leid, aber ich verspreche, das war alles!“, sagte Angelo mit einem bedauernden Schulterzucken.

„Du kannst ja nichts dafür“, brummte sie und nahm sich einen Kugelschreiber vom Schreibtisch. Zu ihrem Glück war das Schriftstück kurz gehalten. Sie musste nur die einzelnen Schüssel überprüfen und für jeden unterschreiben.

Auch Angelo vergewisserte sich, bevor er ebenfalls unterschrieb.

Danach straffte er seine Gestalt. „So, ich lasse dich jetzt alleine. Gute Nacht!“ Noch ein schnelles Lächeln und er verließ die Wohnung.

Ein paar Minuten blieb sie einfach nur sitzen, genoss es, endlich allein und angekommen zu sein. Dies würde also ihr neues Zuhause werden.

Dann seufzte sie erneut, quälte sich hoch und verschloss zuerst die Wohnungs-, sowie die Zimmertür. Ob sie auch die Tür zum Büro abschließen sollte? Nicht, dass von dort jemand hereinkam!

Als sie so an der Tür stand, packte sie die Neugier und sie beschloss, noch einen schnellen Blick hineinzuwagen. Mit frischer Energie drückte sie die Klinke herunter und stieß die Tür auf. Auch das Büro war mit einer moosgrünen Tapete ausgestattet, allerdings handelte es sich um einen helleren, freundlicheren Farbton. Ganz anders der Fußboden, der überall derselbe zu sein schien.

Kaum hatte sie einen weiteren Schritt getan, stolperte sie über eine Unebenheit. Im letzten Moment konnte sie noch nach dem Türgriff greifen und sich so auf den Beinen halten. „Echt jetzt? Muss das sein?“, schimpfte sie genervt und umrundete die verantwortliche Diele. Sie kam direkt vor dem Schreibtisch zum Stehen.

Interessant, stellte sie gleich darauf fest. Die Möbel hier waren von deutlich besserer Qualität als in ihren Privaträumen. Sie vermutete, einige könnten tatsächlich über hundert Jahre alt sein! Viele schienen aus Kirschholz zu bestehen und sie fragte sich unwillkürlich, weshalb der Eigentümer ihr solche wertvollen Möbel anvertraute.

Nachdenklich nahm sie hinter dem massiven Schreibtisch Platz. Er war wunderschön. Blank polierte Oberflächen, elegant geschwungene Griffe und feine Intarsien.

Sie zog einige Schubladen auf. Alle ließen sich problemlos öffnen. Dann sah sie wieder hoch. Ob es noch weitere, derartige Schmuckstücke gab?

Neugierig blickte sie sich im Zimmer um. Im hinteren Bereich stand ein Sammelsurium an Stühlen und Sesseln. Auch eine Liege in verschiedenen Grün- und Gelbtönen war dabei.

Gerade wollte sie sich wieder erheben, um endlich duschen zu gehen, als ihr ein kleiner, heller Stuhl besonders ins Auge sprang. Er war vergleichsweise einfach, lediglich ein paar wenige Schnitzereien zierten ihn. Trotzdem konnte sie den Blick nicht lösen.

Jäh begann ihr Magen zu schmerzen. Ihr wurde übel. Schließlich wurde es so schlimm, dass sie ins Bad rennen musste und sich erbrach. Ein Schwindel erfasste sie, sie atmete keuchend, erbrach sich erneut.

Nach einer Weile ließ die Übelkeit nach, sie bekam wieder mehr Luft und sank auf die grünen Fließen hinab, lehnte sich an die Wand hinter ihr und versuchte durchzuatmen.

Was war das gerade gewesen? Sie hatte wohl eine heftige Panikattacke gehabt, aber wieso? Natürlich war sie hauptsächlich hierher gekommen, um mehr über ihre Vergangenheit herauszufinden. Aber diese Reaktion auf einen Stuhl war schon sehr extrem.

Sie schloss die Augen.

Ein sanfter Luftzug ließ sie hochfahren. Wo war sie? Was war geschehen? Richtig, sie hatte sich auf den Boden im Badezimmer gesetzt und musste wohl eingenickt sein.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie eine ganze Weile geschlafen haben musste. Es war schon nach drei.

Mühsam erhob sie sich und beschloss, sich einfach ins Bett zu legen und zu schlafen. Sie hatte absolut keine Energie mehr, auch nur einen einzigen Handschlag zu tun!

Kaum hatte sie die Bettdecke über sich gezogen, schlief sie ein.

2. Der erste Tag

Dunkelheit umgab sie. Vorsichtig streckte sie die Hände aus und versuchte auf diese Weise ihre Umgebung zu erkunden. Da war ein weicher, schwerer Stoff. Er schien von der Decke herabzuhängen.

Sie griff danach und zog. Durch den so entstandenen Spalt drang ein schwacher Lichtstrahl herein. Neugierig zog sie den Stoff nun ganz beiseite und wollte hinaussehen.

Plötzlich ging alles sehr schnell. In dem Augenblick, als sie ihren Kopf herausstreckte, wurde sie gepackt und hochgehoben.

Wild um sich schlagend, versuchte sie sich wieder zu befreien. Sie schrie und tobte. Aber es war vergebliche Liebesmüh. Wer auch immer es war, hielt sie fest im Griff. Ihr Kopf und die Arme hingen einer Puppe gleich, hinab.

Irgendwann gab sie das Kämpfen auf, starrte nur noch teilnahmslos nach unten. Ihre Sicht begann zu verschwimmen und es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass sie weinte.

Plötzlich wurde sie auf einem Stuhl abgesetzt. Doch bevor sie überhaupt die Chance hatte, irgendwie darauf zu reagieren, wurden ihre Arme gepackt und auf ihren Rücken verdreht. Die Person stand hinter ihr und verschnürte ihre Handgelenke.

Erneut schrie sie auf. In einem Anfall von Zorn und Angst, warf sie den Kopf zurück, versuchte sich auf diese Weise zu verteidigen.

Ein lautes Aufheulen.

Sie lächelte zufrieden. Anscheinend hatte sie getroffen!

Allerdings konnte sie ihren Triumph nicht lange genießen. Ein harter Schlag traf sie am Kopf und sie sank in sich zusammen. Wieder wurde es dunkel um sie.

Nach Luft schnappend wachte sie auf und glaubte sich weiterhin im Albtraum gefangen. War doch die Dunkelheit nicht gewichen und sie konnte sich auch jetzt kaum bewegen.

Aber gleich darauf stellte sie erleichtert fest, dass ihr Kopf lediglich unter der Bettdecke steckte und sich eines der Lacken um ihren Körper geschlungen hatte. Keuchend befreite sie sich von den ganzen Decken und atmete erleichtert auf.

Eine Weile lag sie einfach nur da und genoss es, in Sicherheit zu sein und genug Luft zum Atmen zu haben. Nur langsam wichen die Schrecken der Nacht.

Etwas später bemerkte sie ihre Gänsehaut. Sie musste im Schlaf stark geschwitzt haben. Mit einem Seufzen setzte sie sich auf, warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Elf Uhr.

Erschrocken schwang sie die Beine aus dem Bett und blickte sich suchend um. Wo war ihre Kosmetiktasche? Gab es im Bad Handtücher? Sie musste dringend duschen und sich ein wenig zurechtmachen! Zwar hatte sie heute und morgen noch frei, aber ein Gespräch mit dem stellvertretenden Heimleiter stand noch an. Er hatte ihr eingeschärft, sie müsse vor zwölf Uhr in sein Büro kommen, da er danach außer Hauses sei.

Glücklicherweise lagen alle ihre Sachen noch ordentlich beisammen und im Badezimmer waren auch Handtücher vorhanden. Erleichtert atmete sie aus und betrachtete sich prüfend im Spiegel. Ihr kurzes, dunkelbraunes Haar, welches normalerweise leicht gelockt war, stand ihr wirr vom Kopf ab. In weißer Voraussicht hatte sie gestern auf jegliches Make-up verzichtet, doch leider hatte sie trotzdem zwei neue Pickel im Gesicht. Na, großartig!

Einen Moment verweilte ihr Blick noch auf der, eine Spur zu langen Nase und den wenigen Sommersprossen darauf. Ob ihre Mutter wohl wie sie ausgesehen hatte? Vielleicht war es auch ihr Vater, dem sie ihre Nase zu verdanken hatte und der Mutter die dunkelgrauen Augen?

Mit einem Kopfschütteln wandte sie sich schließlich vom Spiegel ab und trat zur Dusche. Solche Überlegungen brachten sie nicht weiter. Sie musste sich beeilen!

Als sie schließlich mit allem fertig war, wäre ihr Herz beinahe stehen geblieben. 11.45 Uhr.

Ein letzter Blick in den Spiegel, sie zupfte ihre hellblaue, gestreifte Bluse zurecht und krempelte die Beine der Jeans hoch, dann hastete sie ins Schlafzimmer. Wo war nur der Schnellhefter vom Portier? Sie musste das Büro des stellvertretenden Leiters finden!

Kurz darauf blätterte sie die Seiten durch. Ach ja, genau. Zwei Etagen über ihr, ganz in der Nähe des Aufzugs.

Mit dem Ordner in der Hand eilte sie zur Wohnungstür und zog noch im letzten Moment den Schlüssel vom Schloss.

Als sie endlich im Aufzug stand und auf die Drei drückte, war es 11.52 Uhr. Sie konnte ihren guten „Ersten Eindruck“ vergessen.

Die Aufzugtüren öffneten sich. Sie wollte gerade hinaus, als sich zwei Kinder hineindrängten und sie daran erinnerten, welchen Job sie hier angenommen hatte.

„Hallo“, schallte es ihr entgegen.

Sie hob die Hand, lächelte bedauernd und sagte: „Hallo und Tschüss.“ Und schon stieg sie aus, sah sich suchend nach dem Büro um. 11.53 Uhr.

Ihr Blick blieb an einer offenen Bürotür hängen, durch die sich jetzt ein kleiner, untersetzter Mann schob.

Kaum hatte er sie gesehen, hob er die Augenbrauen und sagte in genervtem Ton: „Da sind sie ja! Jetzt haben wir kaum noch Zeit für irgendetwas. Warum kommen sie erst so spät?“ Er schob seine goldgerahmte Brille die Nase hoch und trat ein.

Beschämt folgte sie ihm, schloss leise die Tür und setzte sich in den Stuhl vor seinen Schreibtisch. „Entschuldigen Sie. Es ist mir so unendlich peinlich! Das ist ganz und gar nicht meine Art.“ Sie strich sich durchs Haar. „Ich stand gestern ewig im Stau und hatte Schwierigkeiten, den Eingang des Grundstücks zu finden. Deshalb kam ich erst nachts an und habe heute Morgen verschlafen.“

Er hob die Augenbrauen. „Ah, so ist das. Verstehe. Dann will ich Ihnen das noch einmal durchgehen lassen, aber seien Sie nächstes Mal bitte pünktlicher! In einem so großen Haus ist das sehr wichtig!“ Wieder schob er die Brille hinauf, welche erneut die runde Nase hinabrutschte. „Da ich jetzt keine Zeit mehr habe Ihnen etwas zu zeigen, lesen Sie die Informationen in dieser Mappe und wenden Sie sich bei Fragen bitte an ihre Gruppennachbarn.“

Der Mann reichte ihr einen dünnen Ordner, stand auf, griff nach einer grauen Jacke und zog sie über. „Ihre Wohnung und die Zimmer der Kinder dürfen Sie ganz nach belieben einrichten. Dafür können Sie sich Möbel aus dem Lager holen. Wenn Sie sich welche ausgesucht haben, bitten Sie den Hausmeister um Hilfe. Auch Herr van der Velden hilft Ihnen sicher gerne dabei.“

Jetzt öffnete er die Tür und winkte sie hinaus. „In zwei Tagen bin ich wieder im Haus. Bis dahin sollten Sie mich eigentlich nicht brauchen. Wenn Sie Fragen haben, finden sich auch andere Personen, die Ihnen helfen. Melden Sie sich bitte nur im Notfall bei der Leitung. Sie hat auch so schon genug zu tun!“

„Ja, natürlich. Danke. Und nochmal, meine Verspätung tut mir wirklich leid!“, sagte Michaela, während sie eilig sein Büro verließ, die Mappe an die Brust gedrückt.

„Schon gut, schon gut“, brummte der kleine Mann und schloss ab. Gemeinsam gingen sie zum Aufzug.

Während sie warteten, meinte er: „Sie dürfen übrigens immer im Speisesaal essen. Wobei sie an Arbeitstagen ihr Frühstück, Mittagessen und Abendessen gemeinsam mit ihren Bezugs-Kindern einnehmen sollten. Falls diese in ihrer Dienstzeit liegen. Das wussten Sie sicher, nicht wahr?“

„Äh, ja. Das wusste ich. Kostet es mich denn etwas, wenn ich im Speisesaal esse?“

Bevor er antworten konnte, kam der Aufzug und sie stiegen ein.

Nachdem sie gedrückt hatten, fuhr der Mann fort: „Eine geringe Pauschale wird dafür von ihrem Gehalt abgezogen. Sie können es aber auch ganz abbestellen.“

„Gut zu wissen“, sagte sie nachdenklich. Es würde sich wohl noch zeigen, wie sie das handhaben würde.

Kurz darauf verabschiedete sie sich und stieg aus.

In ihrem Zimmer angekommen, machte sie erst mal ein wenig Ordnung in ihrem Schlafzimmer, legte ein dezentes Make-up auf und zog eine blau-grau gefütterte Weste über ihre Bluse an, da es in den Gängen ordentlich zog.

Danach ging sie mit dem Zimmerbelegungsplan auf die Suche nach dem Speisesaal. Unterwegs traf sie immer mal wieder auf ArbeitskollegInnen, die sich ihr vorstellten und einige Kinder, die durch die Gänge marschierten. Doch die Flut an Namen und Gesichtern begannen schon bald zu verschwimmen, und als sie im Speisesaal ankam, hatte sie die meisten von ihnen schon wieder vergessen.

Nachdem sie ihren Namen genannt hatte, durfte sie sich ihr Mittagessen abholen und suchte danach einen Sitzplatz. Die warme Lasagne verströmte einen herrlichen Duft, der ihren Magen knurren ließ und sie ungeduldig machte. Wie lange war ihre letzte Mahlzeit her? Im Auto hatte sie nur Wasser gehabt, weil sie nicht mit einer so langen Fahrt gerechnet hatte.

Als sie sich gerade an einem Tisch mit einigen Erwachsenen niederlassen wollte, wurde sie von hinten angesprochen: „Michaela?“

Verwundert drehte sie sich um. „Ja?“ Es war der shortstragende Mann von gestern Abend. Wie hieß er doch gleich?

„Angelo“, half er mit einem Schmunzeln aus. „Komm mit. Du bist hier am falschen Tisch. Schau“, er deutete auf eine kleine Karte in der Tischmitte, „dieser Tisch ist für die PädagogInnen der Reha-Abteilung reserviert. Unser Tisch ist dort hinten, am Fenster“, er machte eine Kopfbewegung in die entsprechende Richtung.

Peinlich berührt, errötete sie, griff nach ihrem Tablett und folgte ihm. Der Tisch, auf den sie zu steuerten, war klein und nur von drei Personen besetzt. Es waren zwei Männer und eine Frau.

Angelo grüßte in die Runde und ließ sich dann am Tischende nieder.

Zögernd nährte sich auch Michaela und sagte halblaut: „Guten Tag.“

Die Männer nickten ihr lediglich zu und setzten danach ihr Gespräch fort.

Die junge Frau lächelte sie an. „Hallo. Ich habe Sie auf Sonnheser noch nie gesehen. Sind Sie neu? Ich bin Vivian Hardwig. Freut mich.“ Sie streckte ihr die Hand hin.

Lächelnd streckte auch Michaela die Hand aus, konnte sich eines seltsamen Gefühls jedoch nicht verwehren. Was war nur an der Frau, dass sie irritierte? „Ich heiße Michaela Ritter“, stellte sie sich vor. „Sie sind die Kollegin, die mich in meiner Familiengruppe unterstützen soll. Nicht wahr?“

Die blonde Frau hob die sorgfältig gezupften Augenbrauen und nickte. „Genau. Wir sind zusammen in Gruppe 3. Ich schlage vor, wir duzen uns, das ist hier so üblich.“

„Wenn das so ist. Ich bin Michaela“, sagte die Angesprochene und steckte ihre Gabel in den Salat.

„Vivian“, erwiderte ihre Kollegin nun und nahm einen Schluck Wasser. „Wie war deine Ankunft? Hast du den Weg gut gefunden?“

„Oh, frag nicht“, stöhnte Michaela gequält auf und erzählte bereitwillig von ihrer abenteuerlichen Reise. Auch Angelo beteiligte sich am Gespräch und schon bald ertönte Gelächter an ihrem Tisch.

Irgendwann stand Vivian auf und verabschiedete sich, ihre Mittagspause war vorbei und sie musste zurück zu der Gruppe, die sie ebenfalls unterstützte.

Angelo erhob sich kurz darauf auch. „Ich muss los. Nachmittagsdienst.“

„Mit welcher Altersgruppe arbeitest du denn? Du bist doch Pädagoge, oder?“, fragte Michaela ihn noch schnell.

Er lachte amüsiert. „Habe ich das gar nicht gesagt? Du hast recht. Heimerzieher und Sozialpädagoge. Meine Bezugs-Jugendlichen sind zwischen 14 und 18 Jahre alt. So, ich muss jetzt aber wirklich.“ Zum Abschied hob er noch die Hand. „Wir sehen uns“, und er verließ den Tisch.

„Bis bald“, murmelte Michaela und starrte ihm gedankenverloren hinterher. Sie fand ihn ja sehr sympathisch, aber sie verstand nicht, weshalb sie ausgerechnet ihn um Unterstützung bitten sollte. Schließlich würden sie in Zukunft kaum etwas miteinander zu tun haben, da er eine völlig andere Altersklasse betreute und auch kein Psychologe oder Therapeut war.

Schade, dachte sie. Gerne hätte sie ihn gegen Vivian eingetauscht, mit der sie, trotz der Unterhaltung gerade, nicht ganz warm geworden war. Dabei konnte sie nicht einmal sagen, was ihr nicht an der Frau passte. Zwar war ihr Kleid ein wenig zu eng gewesen, sie war stark geschminkt und trug ein penetrantes Parfüm, aber das waren nur Äußerlichkeiten. Normalerweise ließ sie sich nicht davon beeinflussen. Und auch die Tatsache, dass sie immer wieder mit Angelo geflirtet hatte, sollte keine Rolle spielen. Schließlich war Michaela die Neue.

Er hat aber nicht zurück geflirtet, sagte ein leises Stimmchen in ihrem Kopf. Doch dann rief sie sich zur Ordnung, es spielte keine Rolle. Sie hatte keine Ahnung, in welchem Verhältnis die beiden zueinander standen und es ging sie auch nichts an! Zur Zeit hatte sie auch so schon genug um die Ohren!

Nun erhob auch sie sich vom Tisch, stellte ihr Geschirr ordentlich zusammen und schob das Tablett auf einen Rollwagen. Im Speisesaal war es noch immer recht voll. Vermutlich lag es an den Stundenplänen der Kinder- und Jugend-Reha, die den anderen Flügel des Schlosses in Beschlag nahm. Soweit sie wusste, wurde der Saal sowieso hauptsächlich von der Reha genutzt, da die Heimkinder gemeinsam mit ihren BetreuerInnen in ihren Wohnungen aßen.

Während dem Hinausgehen hatte sie sich einer Gruppe angeschlossen, die Richtung Ausgang strebte und da sie in Gedanken gewesen war, fand sie sich plötzlich im Garten wieder.

Der Pulk vor ihr hatte sich nun zerstreut und so stand sie jäh alleine da. Ihr erster Impuls war es, wieder hineinzugehen, aber da der Himmel aufgeklart hatte, beschloss sie einen Spaziergang zu machen.

Der Schlosspark war wirklich wunderschön! Staunend schritt sie durch die große Allee mit den alten Eichen am Wegesrand und bog kurze Zeit später aus einer Laune heraus rechts ab, hinein in den Sonnenschein.

Es dauerte nicht allzu lange und sie fand sich in einem bunt blühenden Garten wieder, dessen Frühlingsblumen um die Wette leuchteten. Sie blieb stehen, sog tief den betäubenden Duft der Blüten ein und lauschte dem Gesang einiger Vögel.

Beim Weitergehen traf sie auf flache Springbrunnen, die ihre Umgebung mit einem leichten Sprühnebel benetzten und die Luft erfrischten. Um sie herum herrschte Stille, die Sonne schien hell vom Himmel und die Wärme verleitete sie dazu, sich auf einer Bank niederzulassen.

Eigentlich hätte sie stundenlang hier sitzen können, doch leider hatte sie heute noch einiges zu tun. Zumindest ihre Koffer sollte sie auspacken! Um beim Rückweg noch mehr vom Gelände zu erkunden, bog sie links in einen schmalen Weg ein, der durch hohe Hecken hindurchführte. Sie folgte ihm eine ganze Weile und stieß dann überraschend auf einen Spielplatz, auf dem sich allerdings nur ein paar wenige Kinder mit einer Erwachsenen aufhielten.

Freundlich nickte sie der Frau beim Vorübergehen zu. Hatte sie sich ihr vor dem Mittagessen nicht vorgestellt? Ganz sicher war sie sich nicht.

Als sie schon fast beim Schloss angekommen war, stieß sie erneut auf eine Kindergruppe. Diese interessierte sie schon eher, da die Kinder etwa im selben Alter waren, wie die, die man ihr zuteilen würde.

Neugierig blieb sie stehen. Ein Mann und eine Frau pflanzten gemeinsam mit einigen Kindern Gemüse ein. Ob sie das wohl mit ihren Schützlingen auch machen durfte?

Auf einmal sah die Frau auf und lächelte sie an, winkte. Sie war sehr groß, hatte eine kräftige Schulterpartie und trug schwarze Kleidung. Das bunte Tuch, welches sie seitlich am Kopf zusammengeknotet hatte, verdeckte ihre langen, dunklen Locken nur ungenügend. Ein paar große, goldene Ohrringe blitzten auf, schaukelten bei jeder Kopfbewegung mit.

Für einen Moment überkam sie ein Gefühl, als stünde dort eine stolze Piratenkapitänin. Sie konnte nur starren.

Da sie immer noch wie festgefroren da stand, winkte die Frau erneut, stieß ihren Kollegen in die Seite und deutete zu ihr.

Nun erhob dieser sich ebenfalls und wandte sich ihr zu.

Endlich schaffte es Michaela, sich von diesem Moment zu lösen und schlenderte näher. „Hallo“, rief sie, als sie in Rufweite kam. „Gutes Wetter für eine Aussaat?”

„Hi“, sagte die große Frau warm und streckte ihr sogleich die Hand hin. Ihre Stimme war außergewöhnlich tief, passte jedoch perfekt zu ihr. „Ich bin Dan, das ist Henry“, sie deutete mit ihrem Kopf auf den Mann neben ihr. „Und du bist Michaela“, stellte sie fest.

Überrumpelt lachte diese auf und nickte. „Hier scheinen mich ja alle zu kennen. Dabei dachte ich, bei so einem großen Team wäre das Gegenteil der Fall.“

„Hallo“, meldete sich jetzt auch Henry zu Wort und schüttelte ihr ebenfalls die Hand. „Wir haben natürlich jedes Jahr neue PraktikantInnen, aber die Fluktuationsrate beim übrigen Personal ist relativ gering. Deshalb erkennen wir neue Personen sofort.“ Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. „Außerdem liegt unsere Wohnung direkt neben deiner. Wir teilen uns sogar eine Küche.“

Obwohl Henry mit seiner mittleren Körpergröße, dem sandfarbenen, kurzen Haar und den hellbraunen Augen recht unscheinbar wirkte, fand Michaela sein zögerliches Lächeln und die sanfte Stimme ausgesprochen sympathisch. „Gut zu wissen. Danke für die Info“, sagte sie und nickte ihm zu.

Er nickte ebenfalls, murmelte dann „gerne“ und drehte sich wieder zu den Kindern herum, die fröhlich in der Erde buddelten.

Dan entwand gerade einer Dreijährigen die Schaufel, mit der diese eine Zwiebel wieder ausgegraben hatte und lachte. „Ich kann mir vorstellen, dass das Ausgraben noch mehr Spaß macht, als sie einzugraben. Aber die Pflanze ist müde. Sie will jetzt schlafen.“ Bei diesen Worten nahm sie die Hände der Kleinen und grub mit ihr gemeinsam die Zwiebel wieder ein.

„Ich sehe schon, ich lenke euch nur ab. Dann werde ich lieber gehen. Wir sehen uns bestimmt bald wieder“, sagte Michaela mit einem Lachen.

Die andere Frau hob den Kopf und schmunzelte. „Da hast du wohl nicht ganz unrecht. Wie wäre es, wenn ich dich heute Abend so um 19.30 Uhr abhole? Ich kann dich ein bisschen herumführen oder wir gehen ins Café, dann kannst du mir Löcher in den Bauch fragen.“

Erfreut strahlte Michaela sie an. „Ja, das wäre wirklich schön! Ich habe Fragen ohne Ende.“

„Alles klar. Ich freu mich“, sagte Dan, lächelte nochmal und wandte sich schließlich ganz den Kindern zu.

Interessiert beobachtete Michaela die Gruppe noch einige Minuten und fragte sich, welches der Kinder wohl zu ihr wechseln würde. Die Direktorin hatte ihr in den Vorgesprächen nichts darüber sagen wollen. Was sie natürlich verstehen konnte, da fast alle Gespräche übers Telefon stattgefunden hatten.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es Zeit für den Rückweg wurde und so beeilte sie sich, um noch möglichst viel auszupacken, bevor ihre Kollegin sie abholte.

Zu ihrem Ärger dauerte das Auspacken deutlich länger als erwartet, weshalb sie gerade mal so die Hälfte geschafft hatte, als ihr Wecker um 19 Uhr klingelte.

Da sie sich noch ein wenig zurecht machen wollte, ließ sie alles stehen und liegen. Glücklicherweise hatte sie morgen ja auch noch einen freien Tag und konnte die restlichen Sachen auspacken.

Nach einigem Hin und Her entschied sie sich für einen gestrickten, zartrosa Rock, grauen, dicken Strumpfhosen und Pullover, sowie einer Jacke in Dunkelrosa. So hoffte sie, für alle Eventualitäten gewappnet zu sein.

Pünktlich um 19.30 Uhr klopfte es und Michaela trat in den Flur.

„Hi, können wir?“, wollte Dan sogleich wissen und trat beiseite.

„Ja, bin bereit“, prüfend blickte Michaela sie an. „Ich würde ganz gerne nochmal nach draußen, aber wird es dir da nicht zu kalt?“

Dan zuckte grinsend die Schultern. „Nein, keine Sorge. Ich brauche nur im Winter eine Jacke. Wo möchtest du denn genau hin?“, wollte sie dann wissen.

Mit einem Schulterzucken erwiderte Michaela: „Ehrlich gesagt ist mir das egal. Ich kenne kaum was vom Außengelände. Ich habe die Karte erst letzte Nacht bekommen und hatte bisher keine Zeit, sie mir genauer anzusehen.“

„Ah, verstehe.“ Die große Frau blieb stehen und machte ein nachdenkliches Gesicht. „Was hältst du davon, wenn wir mit den E-Scootern losziehen? Dann könnte ich dir mehr zeigen. Das Schlossgelände ist riesig und zu Fuß bräuchten wir Tage, um alles zu durchqueren. Es sei denn, du möchtest dir dabei viel Zeit lassen?“

„Hm. Vielleicht könntest du mir die wichtigsten Orte zeigen? Alles, was ich kennen sollte“, bat Michaela.

„Ja, na klar. Gute Idee!“, meinte Dan und ging am Aufzug vorbei.

„Du willst die Treppe nehmen?“, versuchte Michaela mit ihr Schritt zu halten.

„Mit den Kindern nehme ich den Aufzug, aber ansonsten ist das doch ein prima Training.“ Dan drückte auf den Summer der Sicherheitstür und ließ ihr den Vortritt.

„Hm, ja. Vermutlich schon“, stimmte Michaela zu und ging zum Geländer hinüber, um hinabzublicken. Obwohl sie nur ein Stockwerk tiefer mussten, wanden sich unzählige Stufen nach unten. Das lag wohl an der Größe des Treppenhauses und der geringen Tiefe der einzelnen Stufen.

„Beeindruckend“, murmelte sie. Das Treppenhaus hatte ein schmiedeeisernes Geländer, welches mit goldenen Blüten und Blättern verziert war. Sie konnte sich kaum daran satt sehen. Auch die Säulen faszinierten sie, die weißen, verschlungenen Ranken glichen.

„Hat der Eigentümer denn keine Sorge, dass das Haus beschädigt wird? Es gibt hier schon sehr viele wertvolle Kunstgegenstände, Bilder, Möbel und dann noch die Architektur an sich“, wandte sie sich fragend an ihre Kollegin.

„Gute Frage“, sagte Dan und begann die Stufen hinunterzusteigen.

Michaela folgte ihr.

Als sie aufgeholt hatte, fuhr ihre Kollegin fort: „Wir haben uns das auch schon gefragt, aber bisher hat er sich noch nie beschwert. Man muss jedoch auch sagen, dass es in vielen Bereichen Überwachungskameras gibt. Räume mit wertvollem Inhalt sind abgeschlossen und wie du gesehen hast, gibt es verschließbare Türen zwischen den Seitenflügeln und dem Treppenhaus.”

Sie nahm zwei Stufen auf einmal.“Der Flügel zur Reha-Abteilung ist, zum Beispiel, fast immer geschlossen, weil die Kinder und  Jugendlichen viel unterwegs sind.”

„Verstehe“, meinte Michaela nachdenklich, „Und unsere Jüngsten sind immer unter Aufsicht. Habe ich das richtig verstanden? Aber was ist mit den Älteren? Da dürfte es doch einige geben, die rebellieren und mit Freuden Schaden anrichten würden.“

Sie waren in der Eingangshalle angekommen und Dan schwieg, bis sie die Stufen in den Garten hinabgestiegen waren. Endlich sagte sie: „Du hast recht. Wir haben ein paar Kinder und Jugendliche, die nichts lieber tun, als Dinge zu zerstören. Bis jetzt haben die Überwachungskameras und die Tatsache, dass die Ein- und Ausgänge der Jugendlichen hinten sind, den Schaden in Grenzen gehalten. Außerdem haben Leander und Angelo einen Schuppen eingerichtet, in dem bestimmte Objekte zerstört werden dürfen. So können sich die Jugendlichen, aber auch Kinder, an unserem Sperrmüll abreagieren. Zusätzlich gibt es viele Sportarten bei uns. Das hilft auch.“

Nachdem sie sich ihre E-Scooter geholt hatten, deutete Dan aufs Gelände. „Hier draußen ist die Aufteilung dieselbe. Die eine Seite wird von der Reha genutzt, die andere Seite vom Heim. Einmal im Monat ist Besuchswochenende für die Reha. In dieser Zeit gehen wir nur in den Innenhof und bleiben sonst im Haus. Den zeige ich dir aber an einem anderen Tag.“

Sie stellte sich auf ihren Scooter und fuhr denselben Weg entlang, den Michaela einige Stunden zuvor schon genommen hatte.

Schnell folgte diese ihr. „Wer ist eigentlich Leander?“, wollte sie wissen, als sie ihre Kollegin eingeholt hatte.

„Leander ist der beste Freund von Angelo und leitet die andere Gruppe der 14- bis 18-Jährigen. Den erkennst du sofort. Ein Typ mit Glatze und ziemlichen Muckis. Er war früher mal Boxer und gar nicht so schlecht.“ Schmunzelnd fuhr sie fort: „Heute gibt er noch Boxunterricht, aber nur zum Freizeitvergnügen. Für mehr hat er keine Zeit.“

„Oh, interessant. Können daran auch Erwachsene teilnehmen? Und wenn ja, kostet es was?“

Dan grinste. „Hast du Interesse? Frag ihn! Er hat bestimmt nichts dagegen und Geld verlangt er keines. Aber ich warne dich, er wird versuchen, dich für sein Training einzuspannen! Ich hatte früher mal Unterricht bei ihm und habe schlussendlich selbst einen Anfängerkurs geleitet.“

Sie hielten an einem Spielplatz. „Diesen Platz nutzen die Drei- bis Sechsjährigen sehr häufig. Vielleicht hast du es bemerkt, er liegt etwas versteckt und ist mit Hecken und Baumreihen vom Schloss abgeschirmt. Sie reduzieren den Geräuschpegel, sodass man bei geschlossenen Fenstern, drüben seine Ruhe hat.“

Begeistert stieg Michaela von ihrem Scooter und begutachtete das große Gelände. Es gab hier unzählige Klettermöglichkeiten, Rutschen, Schaukeln, einen Sandkasten und einige Tische mit Bänken. „Ich hätte in der Nähe des Gebäudes keinen Spielplatz erwartet. Er wirkt ja schon fast deplatziert neben dem Schloss. Aber es macht schon Sinn! Schließlich gibt es außerhalb der Mauern nur Felder weit und breit.“

„Stimmt“, Dan fuhr langsam weiter, „wir haben Glück, dass das Schlossgelände so groß ist. Ansonsten wäre es schwierig, den Kindern Normalität zu vermitteln. Sie gehen auf Sonnheser in den Kindergarten und die Grundschüler gehen in die Schule der Reha. Die älteren Kinder fahren in den Nachbarort zur Schule und wir machen ab und zu Ausflüge in die Stadt. Aber wir sind schon die meiste Zeit hier auf dem Gelände. Komm“, sie beschleunigte das Tempo, „die Gärten hast du schon gesehen. Weiter hinten gibt es einen Wanderweg, der nahe am Schloss entlang verläuft. Manchmal machen wir auch Ausflüge in den Wald hinten. Dort werden wir heute allerdings nicht hingehen. Das dauert zu lange.“

So fuhren die beiden Frauen plaudernd den Weg entlang und irgendwann hatte Michaela das Gefühl, in ihrem Kopf gebe es keinen Platz mehr, um all die Eindrücke zu speichern. Sie besah sich noch die Sportplätze hinter dem Haus, das Schwimmbad und den kleinen Tanzsaal, der zum Turnen für die Jüngsten genutzt wurde.

„Hast du noch Lust, ins Café mitzukommen? Es hat bis 22 Uhr geöffnet. Dann stell ich dir eine Freundin vor“, meinte Dan, als sie ihre E-Scooter im Keller verstaut hatten.

„Oh, du, prinzipiell gerne. Aber heute reicht es mir. Ich bin so K.O.“, stöhnte Michaela, während sie sich den zunehmend schmerzenden Kopf rieb. „Es war ganz schön viel heute.“

Die andere Frau lächelte verständnisvoll. „Das glaub ich dir. Ist anstrengend am Anfang. Melde dich einfach, wenn du Hilfe brauchst oder vorbeischauen möchtest.“

„Ich melde mich, danke!“, sagte Michaela herzlich und winkte zum Abschied.

„Bis dann!“

Sie sah Dan noch kurz hinterher, wie sie zu einem kleinen Häuschen marschierte, dass sich schräg gegenüber dem Schloss befand. Danach stieg sie erschöpft die Stufen hinauf.

In ihrer Wohnung angelangt, stellte sie die Schuhe ordentlich ins Regal, hängte die Jacke auf und warf sich dann erleichtert aufs Sofa. Niemals hätte sie erwartet, von ein paar Stunden auf einem Scooter so erschöpft zu sein!

Ganz automatisch suchten ihre Finger nach der Fernbedienung, welche sie nach längerer Suche im Couchtisch entdeckte. Sie zappte ein wenig herum, blieb bei einer Dokumentation hängen und ließ sich so für eine Weile vom Alltag und den Geschehnissen ablenken.

Als die Folge zu Ende war, fiel sie regelrecht ins Bett. Schon im Dämmerschlaf, fiel ihr plötzlich der Albtraum wieder ein. Sie hatte es den ganzen Tag erfolgreich vermieden, ihr Büro mit diesem Stuhl zu betreten, den sie für ihren Traum verantwortlich machte.

Jetzt, da sie wieder daran dachte, war sie hellwach. Ob der Traum wohl auch echte Erinnerungen beinhaltete oder war er lediglich ein Hirngespinst gewesen?

Mit einem tiefen Aufseufzen griff sie nach ihrem Handy und suchte nach beruhigenden Klängen zum Einschlafen.

3. Vorbereitungen 

Ihr Kopf tat schrecklich weh und sie stöhnte unwillkürlich auf. Als sie den Blick senkte, sah sie etwas Rotes aus ihrer Nase tropfen und folgte ihm mit den Augen. Ein beigefarbener Rock, der knapp über die Knie reichte. Aber Moment - Das war nicht ihr Körper! Was war hier los? Sie war eine erwachsene Frau, dieser Körper jedoch, er schien einem Kind zu gehören!

Verwirrt versuchte sie nachzudenken. Hatte sie nicht gestern ihre neue Stelle auf Schloss Sonnheser angenommen?

Ein Traum. Ja, es musste sich um einen Traum handeln!

Wohl eher ein Albtraum, wenn man bedachte, dass sie sich nicht rühren konnte! Man hatte sie gefesselt.

Aufwachen! befahl sie sich selbst. Aufwachen!  Es funktionierte nicht. Also schrie sie so laut, wie sie nur konnte. Wie dünn ihre Stimme klang. Weil ihr Hals zu schmerzen begann, verstummte sie und rutschte stattdessen auf ihrem Stuhl herum. Sie würde es schon schaffen, sich zu befreien!

Mehr und mehr verschmolz die Realität wieder mit dem Albtraum und die Zeit schien endlos. Von einem Moment zum anderen fiel sie. Stürzte immer schneller. Dunkelheit umgab sie. 

 

 

Als sie am nächsten Morgen erwachte, schwirrten Traumfetzen durch ihren Kopf. Nichts davon ließ sich greifen. Einzig ein ungutes Gefühl blieb zurück.

Sie bemühte sich den ganzen Tag um Ablenkung, packte aus und verstaute ihre Sachen. Am späten Nachmittag war schließlich alles untergebracht. Im Laufe des Tages hatte sie es sogar geschafft, ihr Büro zu betreten. Lediglich die Ecke mit dem Stuhl mied sie, sah nicht einmal hinüber. So feige sie sich dabei vorkam, sie fürchtete sich vor erneuten Albträumen.

 

Nach getaner Arbeit beschloss sie, hinüber ins Café zu gehen, um es sich dort mit ein paar Skizzen der Kinderzimmer gemütlich zu machen. Eigentlich hoffte sie ja, dort auf Dan oder Angelo zu treffen, wollte aber keinen von beiden direkt besuchen. Da sie in der Anfangszeit sicher häufiger um Hilfe bitten musste, wollte sie deren Zeit nicht überstrapazieren. Wenn sie jedoch zufällig aufeinandertreffen sollten, sähe die Sache anders aus.

Neugierig betrat sie das kleine Häuschen. Obwohl es erst einige Jahre alt zu sein schien, passte es sich architektonisch gut dem Schloss an. Zwar konnte man beim näheren Hinsehen erkennen, dass die Inneneinrichtung nicht besonders wertvoll war, doch schön war sie allemal. Das Café strahlte elegant in Cremeweiß, Gold und Silber, während die grünen Stühle im Barockstil und die samtigen, braunen Vorhänge an den Fenstern Gemütlichkeit verbreiteten. 

Im Moment war allerdings wenig los. Vermutlich würde sich das gegen Nachmittag oder Abend ändern. Da sie freie Platzwahl hatte, suchte sie sich einen Tisch direkt am Fenster. Er bot einen wundervollen Ausblick auf grüne Wiesen und einen Springbrunnen.

Gedankenverloren beobachtete sie die Wassertropfen, die im Sonnenlicht schimmerten.

Erst ein leises Räuspern ließ sie aus ihren Betrachtungen hochfahren. Sie wandte sich der Person zu.

Ein junger Kellner hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schenkte ihr ein freundliches Lächeln. „Willkommen im Schlosscafé! Wissen Sie schon, was Sie trinken wollen?“

„Ehrlich gesagt, habe ich noch nicht in die Karte gesehen“, gab sie zu. „Aber einen Espresso gibt es bestimmt, oder?“

Er nickte eilfertig. „Kommt sofort. Falls Sie gerne Kuchen oder Torte essen, empfehle ich frischgebackenen Erdbeer-Rhabarber-Kuchen oder die Walnusstorte. Die Gäste sagen, beide wären besonders gut.“

„Das klingt verlockend“, sagte Michaela schmunzelnd. „Aber eine Torte wäre heute wohl zu viel des Guten“, dabei klopfte sie sich spielerisch auf den Bauch. „Den Kuchen, probiere ich dagegen gerne.“

„Wie Sie wünschen“, lächelte der Kellner. „Möchten Sie sonst noch etwas?“

„Nein, danke.“

„Kommt sofort!“ Er eilte davon.

Nachdenklich sah Michaela ihm hinterher. Ob er wohl ein Heimkind war? Auf jeden Fall wirkte er jünger als 18. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand nur für einen Aushilfsjob den weiten Weg auf sich nahm. Allein die Fahrtkosten würden dies nicht rechtfertigen.

Bald darauf erhielt sie ihre Bestellung und wandte sich dann der Einrichtung der Kinderzimmer zu. Eigentlich könnte sie sich auch erst morgen damit befassen, da sie heute noch frei hatte, aber eine bessere Beschäftigung fiel ihr gerade nicht ein. Dabei brannte sie darauf, das Gelände und die Räumlichkeiten weiter zu erkunden, doch sie fürchtete sich auch davor.

Als sie vor einem Jahr den Brief mit einem Foto von Schloss Sonnheser darin geöffnet hatte, überfiel sie sofort eine gewisse Ahnung. Die beigefügten Zeilen bestätigten ihren Verdacht. Kurz und knapp stand da geschrieben: „Sie wollen doch sicher mehr über ihre Vergangenheit erfahren ...“ 

Ihre Vergangenheit, sie seufzte. Es machte ihr schwer zu schaffen, nichts darüber zu wissen. Fast zwei Monate hatte es sie gekostet, allein die Adresse des Gebäudes herauszufinden, da es keine Informationen im Internet dazu gab. Diesen Umstand fand sie bis heute merkwürdig. Wie konnte ein ganze Reha-Abteilung in der heutigen Zeit ohne Internetpräsenz auskommen? Und weshalb posteten die Kinder oder Erwachsenen keine Bilder vom Schloss oder Gelände?

Sie schüttelte innerlich den Kopf über sich selbst. Es war ja prinzipiell nicht schlecht, sich weniger abhängig vom Internet und elektronischen Geräten zu machen, was laut Direktorin auch die Philosophie des Hauses war. Persönlich war ihr diese Erklärung allerdings nicht glaubhaft genug. Es war einfach schwer vorstellbar, dass die Jugendlichen sich trotz Verbot, immer an die Regeln hielten.