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Pädagogik trifft auf Krimi 2: Panikattacken, Auffinden einer Leiche und heftige Wutausbrüche ihres Schutzbefohlenen. Die Arbeit nimmt auf Schloss Sonnheser nicht ab. Michaela Ritter jongliert zwischen den Bedürfnissen ihrer Bezugs-Kinder, dem Rätsel ihrer Vergangenheit und zwei ganz gegensätzlichen Männern, die sie beide für sich gewinnen wollen. Wird sie Ordnung in dieses Chaos bringen und Ermittlungen anstellen können, ohne den Mörder auf sich aufmerksam zu machen? Die Buchreihe um Schloss Sonnheser erzählt die Geschichten eines Kinder- und Jugendheims mit angeschlossener Reha-Abteilung. Die dort lebenden Pädagoginnen und Pädagogen, Kinder und Jugendlichen sehen sich mit den unterschiedlichsten Problemen, Aufgaben und Herausforderungen konfrontiert, die es zu bewältigen gibt. In Band 1 und 2 der Reihe taucht Michaela Ritter in die Geheimnisse des Schlosses ein, stolpert in einen Kriminalfall und löst kleine und große Rätsel.
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Seitenzahl: 584
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Sonnheser
Lebendige Vergangenheit
Ein Krimi von Irene Krämer
Für all meine begeisterten LeserInnen, die mich immer wieder aufs Neue motivieren. Danke!
Sie tastete mit der rechten Hand nach dem nächsten Vorsprung und zog sich hoch. Sand rieselte durch ihre Finger, streifte ihre Wange und fiel hinab. Ihre Hand glitt jäh ab. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Die Welt um sie herum schien still zu stehen.
Dann stürzte sie. Der Wind pfiff ihr um die Ohren. Ihre Gedanken überschlugen sich. Konnte sie noch Halt finden? Würde sie gleich sterben? Was würden ihre Bezugs-Kinder ohne sie tun? Hatte sie im Leben alles erreicht, was sie wollte?
Ein dumpfer Schmerz am Oberkörper riss sie aus ihrer Lethargie. Die Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst. Sie schnappte keuchend auf und blinzelte verwirrt. Der Absturz hatte ein plötzliches Ende gefunden.
„Geht es dir gut?”, schallte es zu ihr hinab.
Sie hob den Kopf. Ein kantiges, gebräuntes Gesicht blickte zu ihr hinunter, welches von einem dunkelroten Kopftuch eingerahmt wurde. Das war Dan, ihre beste Freundin.
Plötzlich rutschte ihr langer Zopf aus dem Tuch heraus und baumelte frei in der Luft. Genau wie Michaela selbst, wie sie jetzt registrierte. Alles, was sie von einem Rollstuhl oder gar dem Tod trennte, war dieses dünne Seil, an dem sie hing. Wie hatte sie sich nur zu dieser Unternehmung überreden lassen können? Hatte sie etwa den Verstand verloren!? Sie war nicht wie ihre Freunde, die jede neue Sportart als willkommene Herausforderung betrachteten! Sie mochte mehr die gemütlichen, normalen Sachen und doch hatte sie in den letzten Monaten so einiges ausprobiert.
„Michaela!”, erklang es im besorgten Ton. „Was ist denn mit dir?” Dan verschwand aus ihrem Sichtfeld und sprach mit jemandem, den Michaela nicht sehen konnte: „Ob ich zu ihr hinunterklettern soll?”
Ein zweiter Kopf schob sich über die Felskante. Es war Chidera, eine 37-Jährige Nigerianerin, die genau wie Michaela und Dan im Kinderheim-Flügel von Schloss Sonnheser arbeitete. „Ist wohl das Beste”, äußerte sich diese nun. „Vielleicht steht sie unter Schock!”
„Nein, schon gut”, schüttelte Michaela den Kopf und rief laut: „Bleibt oben! Ich komme!” Sie sah sich suchend um, umfasste eine geeignete Stelle, setzte ihre Füße in eine Felsspalte und schob sich hoch. Bei ihrem Absturz hatte sie gar nicht an die Sicherung gedacht, aber ihre Freundinnen waren Profis. Natürlich hatte sie nie ernsthaft in Gefahr geschwebt. Trotzdem konnte sie gut auf dieses Gefühl des Fallens verzichten. Ob man sich daran gewöhnen konnte?
An ihrer Absturzstelle angekommen, suchte sie nach einem anderen Stein zum Hochziehen und testete vorsichtig, ob er ihr Gewicht halten würde. Ihr Ziel war nicht mehr weit entfernt, doch schien es hier oben sandiger zu sein. Auch diesmal glitt ihre Hand ab. Sie atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen.
„Da, links von dem Grasbüschel. Den habe ich vorhin auch benutzt!”, hörte sie Dan rufen und gehorchte. Der restliche Weg war ein Kinderspiel.
Minuten später zog sie sich keuchend über die Felskante. Chidera packte einen ihrer Arme und stützte sie dabei.
„Glückwunsch zu deiner ersten, richtigen Kletterpartie!”, sagte Dan überschwänglich, während sie Michaela verstohlen musterte.
“Oh, ja, danke!”, rollte diese mit den Augen und griff nach der Wasserflasche, die ihr gereicht wurde. „Du wirst nicht abstürzen, hast du gesagt. Es ist eine Sportart wie jede andere, hast du gesagt!” Sie nahm ein paar schnelle Schlucke. „Ich bin durch damit, ich klettere nie wieder!”, schwer ließ sie sich auf eine der ausgerollten Isomatten fallen.
„Ach komm schon -”, begann Dan zu sprechen und klappte den Mund zu, als sie Michaelas finsterem Blick begegnete.
„Machen wir erst eine Pause und essen in aller Ruhe”, schlug Chidera vor. Sie setzte sich ebenfalls und öffnete ihren Rucksack.
„Gute Idee!”, nickte Dan schnell.
Während Michaela ihr, mit Chorizo belegtes, Brötchen genoss und dabei abwechselnd in eine saftige Tomate biss, beruhigte sie sich wieder. Wie anstrengend der Weg auch gewesen sein mochte, die Aussicht war es allemal wert.
Sie atmete tief durch und nahm einen Schluck Wasser. Selbst im Sitzen konnte sie zu ihrer Rechten die Berge sehen. Doch was sie viel mehr interessierte, war die Aussicht zu ihrer Linken. Da lag das Schloss. Sie hatte es noch nie aus der Entfernung gesehen. Es war ein großer, rechteckiger Bau mit einem geräumigen Innenhof und mehreren Stockwerken. Die gelblich-weiße Fassade und das fleckige, dunkelbraune Dach zeugten von seinem Alter, genau wie die, teils unidentifizierbaren, Steinfiguren.
Ihre Augen wanderten weiter. Sonnheser wäre nichts ohne sein Außengelände. Die blühenden Gärten, die weiten Rasenflächen, Springbrunnen, die weitläufige Allee, Wälder, Sportplätze, Spielplätze und sogar ein See. Es gab hier kaum etwas, das man nicht tun und ausprobieren konnte. Wer hier lebte, konnte die Welt drumherum schnell vergessen.
„Und, noch böse auf mich?”
Michaela blinzelte und wandte sich Dan zu, die sich nun neben ihr niederließ.
Sie seufzte und packte ihre Dose ein, bevor sie ihre Freundin ansah. „Ich bin nicht böse”, sagte sie langsam. „Es war meine Entscheidung, mitzukommen. Schließlich hast du mich nicht genötigt oder so.”
„Das ist wahr!”, nickte Dan schnell. “Du bist ja auch nicht richtig abgestürzt. Jeder hängt mal am Seil. Mit der Zeit sieht man das lockerer und reagiert einfach darauf. Hätte beim ersten Mal nur nicht so hoch oben sein müssen.”
„In der Kletterhalle bin ich auch schon abgerutscht”, wandte Michaela ein.
„Das ist nicht dasselbe”, mischte sich jetzt Chidera ein. „In der Halle fühlt man sich sicherer als beim Geländeklettern. Du hast es bestimmt selbst bemerkt. Es ist ein riesengroßer Unterschied.”
Michaela nickte. „Stimmt”, gab sie zu. „Ich wollte es nicht so ganz glauben, als ihr mir das vorher gesagt habt.” Da sie und ihre Freundinnen im Moment Urlaub hatten, waren sie seit ein paar Wochen fast jeden Tag in der Halle klettern gewesen. Und laut deren Aussage kletterte sie ganz gut für eine Anfängerin. Deshalb hatte sie geglaubt, es auch im Gelände problemlos zu schaffen.
„Wie sieht es mit dem Rückweg aus?”, fragend hob Dan eine Augenbraue. „Traust du es dir zu, allein zu klettern? Oder soll ich in deiner Nähe bleiben? Denn klettern müssen wir auf jeden Fall! Das ist dir doch klar, oder? Es gibt keinen anderen Weg hinunter!”
„Ich weiß”, brummte Michaela. Und so tief war es auch nicht. Als sie unten gestanden hatte, waren die 20 Meter gar nichts gewesen. Von hier oben, sah die Sache allerdings anders aus. „Ich schaffe das schon” , murmelte sie.
„Hm”, ihre beste Freundin schien nicht überzeugt. „Vergiss nicht, dass es runter leichter für dich ist. Du kannst dich einfach abseilen. Das haben wir in der Kletterhalle bis zum Umfallen geübt. Chidera ist die Einzige, die tatsächlich klettern wird, weil sie die Letzte ist. Wir dürfen schließlich nichts von der Kletterausrüstung zurücklassen. Das war die Bedingung des Besitzers, sonst hätten wir hier nicht hoch gedurft.”
Diesmal musste Michaela schmunzeln. Ausgerechnet sie, die Neue, war eine der Wenigen, die den wahren Besitzer von Sonnheser kannte. Land und Schloss gehörten offiziell einem geheimnisvollen Mann, der nie selbst in Erscheinung trat, sondern seinen Willen durch Briefe äußerte. Nur Michaela und einer der älteren Kollegen wussten um seine Identität. Er war ein Kindheitsfreund von ihr.
„Ich gehe zuerst”, unterbrach Dan ihre Gedankengänge. „Solltest du noch mal den Halt verlieren, bin ich da und helfe dir.”
„Gut”, nickte Michaela und stand langsam auf. Die beiden anderen Frauen hatten schon alles zusammengepackt. „So machen wir es!”
Gesagt, getan. Kurze Zeit später befand sie sich wieder an einem Seil in der Luft. Das Abseilen in der Halle hatte ihr immer Spaß gemacht, aber diesmal war sie sehr vorsichtig. Es half auch nicht gerade, den Blick gen Boden zu richten. Er schien so weit entfernt. Schnell sah sie weg.
„Hab Vertrauen”, sagte Dan plötzlich, die auf sie gewartet zu haben schien. „Dir kann nichts passieren. Du hast vorhin doch selbst an der Sicherung gerüttelt. Die hält!”
„Ja, hast recht”, mit frischem Mut gab Michaela Seil nach. Sie verstand zwar nicht genau, wie die Sicherung funktionierte, aber sie hatte sich ziemlich stabil angefühlt.
Bald darauf spürte sie schon Felsen unter ihren Füßen und atmete erleichtert auf.
Dan war vor ihr angekommen und half ihr nun, sich vom Seil zu lösen.
„Seil ein!”, rief ihre Freundin gleich darauf.
Chideras Kopf erschien über der Felskante, dann wurde eines der Seile hochgezogen. „Seil fällt!”
„Komm weiter nach hinten!”, sagte Dan und ergriff ihren Oberarm.
Als sie sich vom Felsen entfernt hatten, fiel eines der Seile zu Boden.
„Sollen wir es aufheben?”, wollte Michaela wissen.
„Ich mach das”, winkte ihre beste Freundin ab. „Halte du lieber Abstand!”
„Wie du meinst”, zuckte Michaela die Achseln. Die große Frau mit den breiten Schultern und der tiefen Stimme konnte manchmal bevormundend sein. Das Michaela vor ein paar Monaten von einer Kollegin und einem Kollegen angegriffen worden war, tat sein Übriges dazu.
Mit einem Seufzen nahm sie ihren Sonnenschutz ab und wischte sich damit über die schweißnasse Stirn. Es war Hochsommer und auch wenn es heute nur 25 Grad waren, war das beim Klettern mehr als genug! Als sie sich durch die kurzen, welligen Haare strich, stellte sie fest, dass diese ebenfalls feucht waren. Sie würde sie heute Abend wohl waschen müssen.
Gedankenverloren blickte sie zu Chidera hinüber, die sich nun auf der Hälfte der Felswand befand. Auch wenn sie mit dieser Frau keine große Freundschaft verband, hatte sie sie doch gern. Sie war ehrlich, hilfsbereit und geradlinig. Außerdem war sie, genau wie Dan, ziemlich sportlich. Gemeinsam mit ihrem Freund Leander leitete sie in ihrer Freizeit das Boxtraining im Schloss.
Plötzlich hatte Michaela einen Kloß im Hals. Beim Gedanken an Chideras Lebensgefährten, musste sie unwillkürlich an Angelo denken, Leanders besten Freund. Der Halb-Holländer, Halb-Italiener schlich sich fast täglich in ihre Gedanken, ob sie es nun wollte oder nicht. Dabei befand sich der charismatische Mann derzeit nicht einmal auf dem Gelände. Seit Anfang der Sommerferien war Angelo verreist und hatte eine verwirrte Michaela zurückgelassen. Auch sie beide waren Freunde, doch der Sozialpädagoge wollte mehr. Und an manchen Tagen ging es Michaela genauso.
Mit einem Seufzen hob sie ihren Rucksack vom Boden auf. Chidera war unten angekommen, gleich würden sie weiter gehen. Angelo, schoss es ihr wieder durch den Kopf. Sie würde versuchen, nicht an die verfahrene Situation zwischen ihnen zu denken.
Ärgerlich schüttelte sie den Kopf und folgte ihren Freundinnen. Sogar ihr Herz schlug schneller, wenn sie an ihr Wiedersehen dachte. Wann war das eigentlich passiert? Sicher, es hatte von Anfang an diese Anziehung zwischen ihnen gegeben. Aber sie hatte sich bisher erfolgreich dagegen gewehrt und ihn auf Abstand gehalten. Beziehungen waren nichts für sie. Das hatte sie durch einige schmerzhafte Erfahrungen lernen müssen.
Sie biss sich auf die Unterlippe. Es war egoistisch von ihr, sich zu wünschen, er würde trotzdem keine andere Frau finden. Und was würde sie tun, wenn er es doch irgendwann tat?
Mit einem Schnauben zog sie den Schirm an ihrer Mütze tiefer ins Gesicht. Sie würde sich damit abfinden müssen, was sonst? Ihm war schließlich auch nichts anderes übrig geblieben, als sich nach ihren Wünschen zu richten.
Plötzlich stolperte sie über einen großen Stein und wäre beinahe gestürzt.
„Michaela, alles in Ordnung?” Dan drehte sich zu ihr herum und blieb stehen.
„Ja, alles gut!”, nickte Michaela schnell. Sie sollte wirklich mehr auf den Weg achten! Geröll, gab es auf ihrer Route häufiger und sie war echt nicht scharf darauf, sich ein Bein zu brechen.
„Leute, ich brauche einen Ratschlag”, sagte Chidera plötzlich und drehte sich halb zu ihnen um.
„Ach?”, neugierig hob Michaela die Augenbrauen und schloss zu den anderen auf. Ihre Kollegin fragte eigentlich nie um Rat. „Um was gehts denn?”
Ein Schulterzucken. „Leander. Er kommt heute Abend zurück. Ich habs dir noch nicht erzählt, Michaela: Bevor er abgereist ist, hat er mich gefragt, ob wir zusammenziehen.”
„Wirklich? Das ist doch toll, oder?”, fragte Michaela, während sich Chideras Miene verdüsterte.
„Nicht unbedingt, nein!”, schnaubte diese. „Ich verstehe nicht, warum er das überhaupt will? Wir sehen uns sowieso jeden Tag und verbringen Zeit miteinander. Und wenn ich mir vorstelle, mit ihm dieses kleine Zimmer zu teilen, in dem er wohnt”, sie schnaubte. „Und wir wären nie richtig ungestört. Ständig wären seine Bezugs-Jugendlichen da! Ich kenne das doch schon!”
„Oh”, betroffen schwieg Michaela, daran hatte sie gar nicht gedacht. „Und wenn ihr in deine Wohnung zieht?”, fragte sie mit erlahmender Stimme.
„Das kann ich nicht von ihm verlangen!”, schüttelte Chidera den Kopf. „Die Jugendlichen brauchen ihn! Er ist derjenige, auf den seine Gruppe hört! Wenn er auszieht, wäre er längst nicht mehr so präsent.” Sie seufzte. „Deshalb verstehe ich auch nicht, warum er das will! Ich meine”, ein Achselzucken, „wenn wir heiraten würden, wäre das was anderes.”
„Heiraten?”, Dan wirkte überrascht. „Ich wusste gar nicht, dass du das willst.”
„Ich weiß nicht”, brummte Chidera. „Hab bisher noch nicht so viel darüber nachgedacht, aber ich würde schon ja sagen, wenn er fragen würde.”
„Aha!”, grinste Dan nun breit. „Wenn das so ist… Ich kann bei ihm ein bisschen vorfühlen.”
„Nein! Bloß nicht!”, winkte Chidera sogleich ab. „Keine Manipulationen! Die Entscheidung muss von ihm selbst kommen.”
„Außerdem wird es euer Problem nicht lösen”, mischte sich Michaela ein. „Was hat er denn gesagt, wie er sich das mit dem Zusammenwohnen vorstellt?”
Ihre Freundin seufzte: „Keine Ahnung, darüber haben wir noch nicht gesprochen. Er wollte mir Zeit geben, um darüber nachzudenken.”
„Dann macht doch einen Schritt nach dem anderen“, schlug Michaela vor. „Sprecht erst mal darüber, wie er sich das konkret gedacht hat. Vielleicht hat er eine ganz andere Vorstellung davon. Danach kannst du immer noch deine Bedenken äußern.”
„Du hast recht!”, nickte Chidera schnell. Sie schien erleichtert. „Das nimmt mir jetzt echt eine Last ab, danke, Michaela!”
„Kein Problem”, zuckte diese die Schultern.
Längere Zeit blieb es still zwischen ihnen. Sie sprachen nur, wenn sie an einer schwierigen Stelle ankamen und sich gegenseitig helfen mussten. Zwar gab es keine Kletterpartien mehr, doch ihr Weg führte steil bergab und nicht nur Michaela kam ins Stolpern.
Als sie schließlich in einen Waldweg einbogen, drückte Dan den Rücken durch. „Wir schaffen das ohne Pause, oder? Ich möchte noch ein paar freie Stunden, bevor mein Dienst beginnt.” Die große Frau arbeitete genau wie Michaela und Chidera mit den jüngsten Kindern und lebte mit ihnen in der Gruppe neben Michaela. Da ihr Urlaub schon ein paar Tage eher begonnen hatte, würde sie heute Abend wieder im Dienst sein.
„Wenn wir ein bisschen langsamer gehen, ist es okay für mich”, antwortete Michaela. Zwar hatte sie mit vielen, der ausprobierten Sportarten nicht warm werden können, aber ihre Ausdauer hatte sich, seit ihrer Ankunft vor einem halben Jahr, deutlich verbessert.
„Wer passt eigentlich heute auf deine Bezugs-Kinder auf?”, fragte Chidera, während sie sich nach einem großen Stock bückte. „Du hast die neue Praktikantin doch nicht alleine mit ihnen gelassen, oder?”
„Natürlich nicht!”, winkte Michaela ab und holte ihrerseits ihre Trinkflasche aus dem Rucksack. „Damit würde ich Pamela noch überfordern. Und in ihrem dritten Jahr darf ich sie ja auch gar nicht alleine lassen. Erika ist bei ihr.”
„Stimmt”, schlug sich Chidera gegen die Stirn. „Daran habe ich gar nicht gedacht. Aber wie macht sie sich denn, die Neue?”
Nachdenklich hob Michaela die Flasche und trank. Ja, wie machte sich das Mädchen? Anfangs war sie sich nicht sicher gewesen, ob Pamela für diesen Beruf geeignet war.
„Gut”, entgegnete sie schließlich, als sie die Flasche wieder verstaute. „Sie ist zwar ziemlich still und schüchtern, aber die Kinder haben sie gern. Nur mit Andreas gibt es manchmal Probleme, weil sie sich ihm gegenüber nicht durchsetzen kann. Aber sie bemüht sich sehr und lernt fleißig dazu. Sie kann es schaffen.”
Ihre Freundinnen nickten. Andreas, Michaelas drittes Bezugs-Kind, war für viele Kollegen und Kolleginnen eine Herausforderung. Selbst Michaela musste immer wieder mit ihm kämpfen. Er konnte sehr bockig sein und lief gerne weg.
Gedankenverloren ging Michaela schneller. Es war nicht mehr weit bis zu der Hütte, bei der sie ihre E-Scooter untergestellt hatten. Von dort aus, würden sie mit ihren Fahrzeugen direkt durch die Gärten zum Schloss fahren.
„Geht Felix eigentlich auch mit Pamela oder Erika nach draußen?”, fragte Chidera. Im Gegensatz zu Dan, bekam sie weniger von Michaelas Gruppenleben mit.
„Mit Erika geht er meistens auch raus, aber nicht besonders lange. Und eine halbe Stunde ist ja eh sein Maximum.”
„Armer Junge”, sagte die andere Frau leise. „Ist schwer für ihn. Ich sehe ihn oft, wie er sich die Nase am Fenster platt drückt.”
„Ja”, nickte Michaela. Auch für sie war es nicht einfach. Ihre Bezugs-Kinder lagen ihr sehr am Herzen und gemeinsam kamen sie meistens gut zurecht. Doch trotz deren Fortschritte, taten sie sich mit anderen Bezugspersonen schwer. So musste Michaela selbst in ihrem Urlaub intervenieren, wenn eine Situation aus dem Ruder lief.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. „Noch haben wir frei, Mädels! Schluss mit dem Gerede über die Arbeit!” Dan schob sich zwischen sie. „Lasst uns den Spaziergang genießen. Ich liebe diesen Wald!”
„Ich auch”, murmelte Michaela. Erst jetzt nahm sie das Zwitschern der Vögel wahr, die Sonnenstrahlen, die durch die Blätter der Bäume fielen und die Blumen am Wegesrand. Sie verdrängte die Gedanken an die Arbeit und sah sich um. Ihre Probleme liefen ihr ja nicht davon. Darüber konnte sie später noch genug nachdenken.
„Michaela!” Die Kinder stürzten sich auf sie, kaum, dass sie die Wohnung betreten hatte. Nun ja, fast alle. Tom, ein Dreijähriger aus Dans Gruppe, war ebenfalls dabei, während Andreas lediglich von seinem Tischspiel aufsah.
„Kinder”, schimpfte Erika, eine kleine, mollige Frau in den 50ern. „Gebt Michaela mindestens die Zeit, ihre Schuhe auszuziehen!” Sie erhob sich vom Sofa und kam zu ihnen. „Hallo Michaela, wie war dein Tag?”, dabei packte sie Tom und Felix und zog sie von ihr weg.
Tony, das einzige Mädchen in Michaelas Gruppe, hatte diese schon losgelassen und sich nach ihren Schuhen gebückt.
Sanft griff Michaela ebenfalls nach den Schuhen: „Danke Tony, aber das mache ich selbst.” Sie lächelte das scheue Mädchen herzlich an. „Mein Tag war gut und eurer?”
Sofort wurde sie wieder bestürmt und gleich darauf ließen sich alle auf den Sofas nieder. Selbst Andreas und Pamela gesellten sich zu ihnen. Es wurde gelacht, erzählt und geschimpft.
Einige Tage später klopfte Michaela ungeduldig an eine weiße Tür. Heute brauchte Sebastian ungewöhnlich lange, um zu öffnen. Dabei war er derjenige, der sie schon so früh herbestellt hatte. Sie hob die Hand vor den Mund und gähnte. Zwar schlief sie besser als zu ihrer Anfangszeit auf Sonnheser, aber letzte Nacht war sie lange wach gelegen und hatte über vieles nachgedacht.
Die Tür vor ihr öffnete sich abrupt. Fast wäre sie umgekippt, da sie sich dagegen gelehnt hatte.
„Morgen”, wurde sie knapp von einem schlanken Mann im Rollstuhl begrüßt. Obwohl er zweifelsohne einer der schönsten Männer war, die Michaela in ihrem Leben gesehen hatte, beeindruckte sie das nicht mehr besonders. Es war eine Sache, die ihr nur noch selten auffiel.
„Hey”, entgegnete sie und trat ein. Ihr Blick streifte sein hellbraunes Haar, die gerade Nase und seine aufrechte Körperhaltung. Dann schüttelte sie den Kopf. Wie schaffte der Mann es nur, um diese Zeit so frisch und ausgeruht auszusehen? Sein schneeweißes Hemd, die grüne Krawatte, die genau zu seinen Augen passte und die steingraue Anzughose wiesen keine einzige Falte auf. Er wirkte so perfekt, wie immer.
„Schon gefrühstückt?”, fragte er nun und fuhr voraus in einen großen Raum mit integrierter Küche. „Wir haben eine Stunde Zeit bis zu meinem ersten Termin. Wenn du also was möchtest?” Er deutete auf eine niedrige Kücheninsel, die mit Brötchen, Butter, Käse- und Wurstaufschnitten gedeckt war. Ein Kaffeeduft stieg ihr in die Nase.
„Du hast extra für mich Kaffee gemacht?”, lächelte sie ihn dankbar an. Er selbst trank meistens nur Tee. „Hm, riecht das gut!” Sie ließ sich auf einem Hocker an der Kücheninsel nieder. „Zu einem Kaffee, sage ich sicher nicht nein!”
Gedankenverloren betrachtete sie die Brötchen und entschied sich für eines mit Haferflocken obenauf. Obwohl sie Sebastian schon als Kind gekannt hatte, hatten sie sich nach einem Mordanschlag auf sie beide, aus den Augen verloren. Michaela hatte sich lange Zeit nicht einmal an ihre Vergangenheit erinnern können. Ein Brief führte sie schlussendlich nach Sonnheser und hier hatte sie ihn neu kennengelernt. Auch viele Erinnerungen waren zurückgekehrt.
„Hier, bitte”, Sebastian hob eine dampfende Tasse von dem Tablett auf seinem Schoß und stellte sie auf den Tisch.
„Danke.” Anfangs war es ihr ziemlich schwer gefallen, ihm nicht bei allem zu helfen oder sich, wie gerade, etwas bringen zu lassen. Aber Sebastian gehörte nicht zu den Menschen, die schwiegen, wenn ihnen etwas gegen den Strich ging. Und so hatte sie sich daran gewöhnt, ihn wie jeden anderen Erwachsenen zu behandeln.
„Warum hast du mich eigentlich schon um diese Uhrzeit herbestellt? Konnte das nicht bis später warten?”, fragte sie, nachdem sie ihr Brötchen mit Butter bestrichen hatte.
„Ich musste es dir so bald wie möglich erzählen! Es gibt Neuigkeiten!” Sebastian rollte schräg neben sie, ans eine Ende der Kücheninsel. Eine Mappe landete zwischen ihnen auf der Tischplatte. „Schau mal, was mein IT-Spezialist gefunden hat!”
„Sebastian”, begann Michaela langsam, eine dumpfe Ahnung stieg in ihr hoch. „Hast du unsere Abmachung vergessen?” Sie hob die Augenbrauen, versuchte jedoch, nicht wütend zu werden. Noch wusste sie nicht, ob er getan hatte, wessen sie ihn verdächtigte. Andererseits gab es bei seinen Worten nicht viele andere Möglichkeiten.
„Nein!”, sagte er schnell und sie erkannte schon an seinem Tonfall, dass sie sich nicht geirrt hatte. „Aber ich kann nichts dafür, ehrlich!”, beschwörend hob er die Hände. „Ich habe dem ITler nur das Passwort von Herrn Lindau gegeben. Er hat ganz allgemein im digitalen Archiv gestöbert. Wem soll das schon auffallen? Meines Wissens gibt es niemanden, der die Log-ins im Archiv überprüft.”
Michaela seufzte tief und nahm einen Schluck Kaffee. Ihr Kindheitsfreund war schon sein halbes Leben daran gewöhnt, alleine nach Antworten zu suchen, genau wie sie selbst. Als Team dagegen, arbeiteten sie erst seit wenigen Monaten zusammen. Trotz ihrer Freundschaft war es nicht leicht, alte Gewohnheiten abzulegen. Sie sollte daher nicht so streng mit ihm sein.
„Ich hoffe nur, dadurch wurde niemand aufgeschreckt. Wir wollten es schließlich eine Weile lang ruhig angehen, damit sich die Wogen glätten können.”
„Haben wir doch”, Sebastians Augen glänzten fiebrig, er beugte sich zu ihr vor. „Zwei Monate sind genug, finde ich. Kaum einer redet mehr über die Vorfälle im Frühling.” Ein Schulterzucken. „Zumindest nicht ständig. Und dein Name fällt in dem Zusammenhang auch immer seltener.” Er schob ihr in einer versöhnlichen Geste ihren Lieblingsaufschnitt zu. „Du wolltest doch nicht ewig warten. Erinnerst du dich? Und das, was ich gefunden habe, ist ein echter Fortschritt!”
„Du meinst dein IT-Spezialist”, warf Michaela trocken ein und öffnete die Mappe.
„Ja, ja”, tat Sebastian ihren Einwurf ungeduldig ab. Und weil er es wohl nicht mehr aushielt, sprach er weiter: „Nach dem Mordanschlag auf uns Kinder, sind wir doch einfach verschwunden und wurden nicht mal gesucht -”
Michaela sah auf. „Ja?” Plötzlich schlug ihr das Herz bis zum Hals. An diese Nacht und den Mordversuch, erinnerte sie sich bis heute nur bruchstückhaft. Jemand hatte damals tatsächlich versucht, zwei kleine Kinder in einem See zu ertränken. Sebastian und sie waren erst sechs und sieben Jahre alt gewesen.
„Ich weiß, wer dafür verantwortlich war!”
„Wer?”, fragte sie, ihre Stimme brach. Sollten sie endlich in ihren Nachforschungen weiterkommen? Damals war schließlich noch mehr passiert, als ein Mordanschlag auf sie beide. Auch Sebastians Eltern, die Schlossbesitzer, waren einem Unfall zum Opfer gefallen. Bis heute gab es Gerüchte, jemand hätte dabei nachgeholfen. Und nachdem Sebastian deswegen einen Detektiv eingeschaltet hatte, flatterte diesem eine anonyme Drohung ins Haus. Leider wussten weder Michaela noch er, wer in all dies verwickelt war.
„Es war nur eine kleine Bemerkung”, wollte Sebastian es plötzlich spannend machen.
Michaela stieß ihm gegen den Arm. „Komm auf den Punkt!”
Er seufzte und blickte sie dann fest an. „Herr Lindau. Er wars. In mehreren Berichten von damals heißt es, er hätte von unserer Verlegung in ein anderes Heim gehört, weil es für mich zu schmerzhaft wäre, hier weiterzuleben. Aber es gibt nirgendwo Belege für eine Verlegung.”
„Herr Lindau?”, Michaela war geschockt. Zwar mochte sie den stellvertretenden Leiter nicht besonders, aber einen Mordversuch hätte sie ihm nicht zugetraut. „Warum sollte er das tun? Was hätte er denn davon? Und warum behauptet er das, obwohl in meiner Akte eindeutig die Rede von toten Kindern ist? Man hat sogar alle zum Schweigen verpflichtet!”
„Das weiß ich nicht”, Sebastian nahm sich ein halbes Brötchen. „Aber welche Erklärung gibt es sonst für seine Behauptungen? Er würde das wohl kaum gesagt haben, wenn er nicht mehr weiß.” Seine Augen starrten in die Ferne.
“Er muss die Tat nicht begangen haben. Vielleicht war er nur ein Helfer. Es könnte eine Fehlkommunikation zwischen ihm und jemand anderem gegeben haben. Das würde auch die unterschiedlichen Aussagen über unseren Verbleib erklären. Da er damals nur ein gewöhnlicher Erzieher war und längst nicht so gute Kontakte wie heute hatte, muss eine Person mit Einfluss darin verwickelt sein. Allein mit diesen Gerüchten hätte er unser Verschwinden schließlich nicht vertuschen können.”
Plötzlich schienen ihre Kräfte zu schwinden und Michaela sank in sich zusammen. Sie hatte nie an Sebastians Theorie mit mehreren TäterInnen glauben wollen. Aber es stimmte, was er sagte. Wenn Herr Lindau alleine herumspaziert wäre und dieses Gerücht verbreitet hätte, wäre man ihm auf die Schliche gekommen. Zumindest die Schulleitung hätte so einem Gerücht einen Riegel vorgeschoben und die verschwundenen Kinder suchen lassen. Außerdem hatte jemand dem Personal verboten, über den Vorfall zu sprechen und dafür hatte Herr Lindau damals nicht die Befugnis gehabt.
Sie atmete tief durch. „Es hilft alles nichts! Wir müssen mit ihm reden, sonst kommen wir nicht weiter!”
„Was”, fuhr Sebastian in seinem Rollstuhl hoch, „bist du verrückt? Kommt gar nicht in Frage! Damit würdest du unseren Vorteil aufgeben!” Er packte ihren Arm: „Das kannst du nicht machen, Michaela!”
Sie legte ihre Hand auf die Seine und drückte sie. „Schon gut, beruhige dich. Ich werde ihm sicher nicht verraten, wer ich wirklich bin. Wer wir sind! Es wird nur wieder Zeit für ein weiteres Projekt meiner Bezugs-Kinder. Sie hatten viel Spaß beim letzten Theaterstück und werden sicher gerne eine Fortsetzung spielen.”
Ihr Gegenüber beruhigte sich. „Und wie soll uns das weiterhelfen?”, fragte er dann zweifelnd.
„Ganz einfach”, lächelte Michaela ihn an. „Ich bitte ihn darum, im digitalen Archiv nach Material suchen zu dürfen. Angeblich hat mir jemand erzählt, dort würde ich noch besser geeignete Geschichten für die Kinder finden.”
„Ich weiß ja nicht”, brummte Sebastian.
Michaela fuhr fort: „Und nach meiner Recherche spreche ich ihn auf die Geschichte an. So wirkt alles ganz natürlich.”
Sebastian verzog das Gesicht: „Das ist trotzdem nicht ungefährlich. Auch wenn er dich nicht im Verdacht hat, das Mädchen von damals zu sein, wird er sich nicht über deine Nachforschungen freuen!”
Sie holte Luft. „Das mag sein, aber Sebastian, er könnte die Antworten haben! Ich habe es dir schon einmal gesagt, ich kann so nicht ewig weitermachen! Immer diese Heimlichtuerei, das Verstecken, die Lügen.”
Sebastians Gesicht verhärtete sich. „Angelo. Es geht um ihn, nicht wahr? Unsere Freundschaft ist ihm ein Dorn im Auge!”
Bei jedem seiner Worte kochte es in Michaela hoch. Sie stand auf, bemühte sich aber um Beherrschung. „Ich habe das so satt! Wann wirst du es endlich gut sein lassen?! Niemand, außer mir selbst hat zu entscheiden, mit wem ich Umgang habe! Außerdem kümmert es ihn gar nicht. Du bist derjenige mit dem Problem!” Sie machte einen Schritt von ihm weg und begann schließlich unruhig im Zimmer umherzugehen.
„Und bei meinem Unwillen geht es nur bedingt um ihn”, erklärte sie. „Weißt du, wie oft ich gefragt werde, was wir ständig in deiner Wohnung machen? Die Hälfte aller Schlossbewohner glaubt inzwischen, dass wir ein Paar sind."
„Na und?”, brummte Sebastian. „Was ist daran so schlimm?”
Michaela blieb stehen und presste die Lippen aufeinander. Vielleicht sollte es ihr egal sein, aber das war es nun mal nicht! Und natürlich lag das in erster Linie an Angelo. Was sie Sebastian selbstverständlich nicht auf die Nase binden würde! Seine Eifersucht machte ihr schon Sorgen genug. Er zeigte einerseits kein romantisches Interesse an ihr, reagierte aber übermäßig stark, wenn es um Angelo ging. Lag es daran, weil er so wenig Freunde hatte? Fürchtete er etwa, er würde viel mehr alleine sein, wenn sie und Angelo ein Paar wurden?
„Ich möchte keine Lügnerin sein", beantwortete sie schließlich seine Frage. Das entsprach auch der Wahrheit. „Es ist ein furchtbares Gefühl, wenn die eigenen Freunde einem glauben, obwohl man sie anlügt.” Sie senkte den Kopf. Wie sehr sie sich wünschte, andere Möglichkeiten haben zu können.
Sie hörte das leise Surren von Sebastians Rollstuhl. Plötzlich war er neben ihr. „Hey”, sagte er beschwichtigend und berührte ihre Hand. „Du hast doch keine andere Wahl. Wenn wir nach der Wahrheit suchen, bringen wir jeden in Gefahr, der etwas darüber weiß. Und selbst wenn wir es nicht täten, glaubst du etwa, der Täter würde uns am Leben lassen, wenn er unsere wahre Identität herausfindet? Deshalb tun wir, was wir tun müssen.”
Sie sah zu ihm hinüber. Wie intensiv seine grünen Augen sie musterten. Gegen seine aufrichtige Besorgnis und sein Mitgefühl war sie nicht immun. „Ich muss los”, murmelte sie und entwand ihm ihre Hand.
„Ist gut”, sagte er leise. „Bitte sei vorsichtig. Und sag Bescheid, wenn du mich brauchst.” Eindringlich fuhr er fort: „Was immer du auch tust, ich stehe hinter dir. Vergiss das nicht! Egal, wohin das Gespräch letztendlich führt, du bist nicht alleine!”
„Ja. Schon gut”, krächzte Michaela. Sie musste jetzt wirklich gehen! „Ich melde mich!”, und sie eilte hinaus.
Im Aufgang zum Treppenhaus blieb sie stehen und atmete ein paarmal tief durch. Es kam noch oft genug vor, dass sie glaubte zu träumen. So kompliziert ihr Leben manchmal auch sein mochte, würde sie es nicht gegen ihr früheres eintauschen. Vor Sonnheser hatte sie keine richtigen Freunde gehabt und ihre Pflegefamilie war auch nicht sonderlich an ihr interessiert. Seit man sie als Kind von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht hatte, war sie immer alleine gewesen. „Du bist nicht alleine!” Sie schluckte. Das hatte sie in den letzten Monaten öfters gehört und es richtete jedes Mal ein Gefühlschaos bei ihr an.
Ein letztes Mal atmete sie durch, packte das schmiedeeiserne Geländer und begann die gewundene Treppe emporzusteigen.
Herr Lindau hatte nicht ohne Termin mit ihr sprechen wollen und so dauerte es ein paar Tage, bis Michaela an seine Tür klopfte. Wenn der Mann einem schwierigen Thema aus dem Weg gehen wollte, hatte er immer eine Menge Ausreden. Und sie hatte ihm leider schon am Telefon sagen müssen, um was genau es in ihrem Gespräch gehen würde.
„Hallo, Herr Lindau?”, erneut klopfte Michaela und drückte dann die Türklinke hinunter. Die Tür schwang auf, sie trat ein. Während sie im Kopf noch mal ihre Argumente durchging, schloss sie die Tür hinter sich und griff nach ihrer weißen Tasche. Es machte ihr ein wenig Angst, allein mit diesem Mann zu sein, jetzt, da sie eine seiner Geheimnisse kannte.
„Also, Herr Lindau”, begann sie und drehte sich um. „Was?”, runzelte sie verwirrt die Stirn. Der stellvertretende Leiter lag halb auf seinem Schreibtisch. Sein Gesicht war von ihr abgewandt, die goldene Brille baumelte von einem seiner Ohren hinab. Die Arme lagen auf der Tischplatte. Ob er etwa schlief? Seltsam. Sie hätte ihn für pflichtbewusster gehalten. Sollte sie einfach gehen? Er wäre bestimmt sauer, wenn sie ihn wecken würde.
Nein! entschied sie sich dann dagegen. Sonst würde sie nur noch länger auf Antworten warten müssen. Sie trat näher. Er schlief außergewöhnlich ruhig, wenn man seine unbequeme Liegeposition bedachte. Seltsam. Wie konnte ein Mensch so tief schlafen, wenn er nur auf der Stuhlkante saß? Eigentlich hing er nur darauf. Trotzdem schnarchte er kein bisschen.
Eine Gänsehaut überkam sie. Hier stimmte etwas nicht! Sie schluckte, hielt den Atem an und lauschte. Alles war still. Sehr still! Eine ihrer Hände begann zu zittern, sie würde ihn noch mal ansprechen. Das, was ihre Sinne ihr mitteilten, konnte einfach nicht wahr sein! „Herr Lindau, wachen Sie auf!”, rief sie. Ihre Stimme klang seltsam belegt in ihren Ohren. „Herr Lindau!”, diesmal musste er doch aufwachen!
Da er immer noch nicht reagierte, überwand sie ihre Furcht und beugte sich über ihn, um seinen Puls am Hals zu fühlen. Bestimmt war er bewusstlos! Seine Haut fühlte sich kalt an, weiter fühlte sie nichts. Während sie ihre zunehmende Panik niederkämpfte, fiel ihr Blick auf sein Gesicht. Seine blauen Augen waren weit geöffnet, starr. Sie schrie.
Wie sie an die gegenüberliegende Wand gekommen war, wusste sie nicht mehr. Immer noch panisch, drückte sie sich dagegen. Sie zitterte wie Espenlaub. Ihr wurde übel. Ohne weiter darüber nachzudenken, rannte sie in den Waschraum und erbrach sich in die Kloschüssel.
Sie konnte nicht sagen, wie lange es gedauert hatte, aber irgendwann kam nichts mehr aus ihr heraus. Mit wackeligen Knien ging sie zum Waschbecken und wusch ihre Hände. Vor allem die Hand, mit der sie den Toten angefasst hatte. Den Toten. Die Bedeutung sickerte erst jetzt in ihren Verstand. Sie riss die Augen auf. Tot. Herr Lindau war tot. Wieder würgte sie, sie spuckte Magensäure aus. Erneut wusch sie ihre Hände und schließlich auch das Gesicht. Ihr Verstand klärte sich langsam. Was sollte sie jetzt tun?
Scheu trat sie an die Tür zum Büro und spähte hinüber. Da lag er genau so, wie sie ihn verlassen hatte. Natürlich. Was hatte sie erwartet? Ihr Blick glitt durch den Raum. Die Tür zum Gang war noch geschlossen. Hatte niemand ihren Schrei gehört? Sie sah wieder zu Herrn Lindau hinüber. Und wenn er doch noch lebte? Wäre das möglich? Sie hatte selbst während ihres Psychologiestudiums nie den Tod eines anderen Menschen feststellen müssen und wollte keinen Fehler machen.
Zögernd verließ sie den Waschraum und näherte sich ihm wieder. Diesmal allerdings von der anderen Seite. So konnte sie ihm direkt ins Gesicht sehen. Vielleicht hatte er nun die Augen geschlossen? Gleich darauf zuckte sie zusammen, als sie aufs Neue sein Gesicht erblickte. Es hatte sich nichts geändert. Konnte er doch noch am Leben sein? Vielleicht ist er gelähmt?! Sie versuchte sich zu beruhigen. Sollte es eine Möglichkeit geben und er noch zu retten sein, musste sie alles in ihrer Macht stehende tun!
Vorsichtig kam sie näher, kämpfte kurz mit sich und streckte erneut die Hand aus, um seinen Puls zu fühlen - Da war nichts. Weder an seinem Handgelenk, noch am Hals. Selbst als sie ihre Hand knapp über seinen Mund und Nase hielt, um seinen Atem zu spüren, bemerkte sie nichts. Er war also wirklich tot! Sie schluckte und machte einen Schritt zurück. Einen Arzt, ja genau, sie musste einen Arzt rufen!
Sie griff nach dem Telefon auf dem Tisch und tippte auf das grüne Hörersymbol. Nichts tat sich. Der winzige Bildschirm zeigte Leere. Komisch, es war wohl nicht geladen. Sie legte es wieder zurück und griff nach ihrem Handy. Und wenn es Mord war?, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Ist es nicht verdächtig, dass er ausgerechnet dann gestorben ist, als du ihn wegen dem digitalen Archiv sprechen wolltest? Sie zögerte, der Mann war tot, kam es da auf ein paar Minuten mehr oder weniger an? Vielleicht konnte sie Beweise sichern, bevor sie seinen Tod offiziell meldete? Natürlich ohne diese zu zerstören. Später würde sie dazu sicher keine Gelegenheit mehr haben.
Weil sie nicht länger darüber nachdenken wollte, rief sie Sebastian an. Er versprach, so schnell wie möglich zu ihr zu kommen und so machte sie sich mit klopfendem Herzen auf die Suche nach Hinweisen.
Es pochte an der Tür. Michaela zuckte zusammen. Einmal, zweimal, dreimal. Sebastian!
Schnell eilte sie hinüber und öffnete.
„Hallo”, sagte er gehetzt und rollte an ihr vorbei. „Mach schnell wieder zu, bevor uns jemand sieht!”
Michaela schloss die Tür hinter ihm und drehte sicherheitshalber den Schlüssel herum. „Ist denn noch jemand auf dem Flur gewesen?”
„Denke nicht, nein. Aber lass uns trotzdem schnell machen, das Ganze gefällt mir nicht!” Er sah sich im Zimmer um.
„Glaubst du mir?” Michaela wankte, ihr war ganz schwindelig.
Im Nu war Sebastian neben ihr und griff nach ihrem Arm. „Gehts dir gut?” Er blickte sie besorgt an. „Vielleicht sollten wir einfach gehen. Du klappst noch zusammen!”
„Nein!”, wehrte sie ab, „ich schaffe das! Wir müssen uns beeilen! Eine andere Gelegenheit, seine Sachen zu durchsuchen, werden wir wohl kaum bekommen!” Ihre Augen wanderten über die Möbelstücke, wo könnte es ein Versteck für Dokumente geben? „Besonders viel habe ich bisher nicht gefunden. Dafür habe ich Fotos gemacht.” Sie wedelte mit ihrem Handy und schüttelte dann gequält den Kopf. „Hoffentlich wurde er nicht umgebracht! Wenn nämlich doch, könnte es mit uns zusammenhängen.”
Er hob die Schultern: „Wenn du dir sicher bist …”, und fuhr neben den Toten. „Es ist aber nicht unsere Schuld, vergiss das nicht.”
„Ich weiß,” murmelte sie. Das war nur leichter gesagt, als es auch zu glauben. Es war schließlich Michaela gewesen, die über das digitale Archiv gesprochen und sich mit ihm verabredet hatte. „Pass wegen Fingerabdrücken auf”, murmelte sie, während sie ihm den Rücken zukehrte und ein Regal entlang schritt. „Wir werden auch so schon genug zu erklären haben!”
„Ist klar”, brummte Sebastian.
„Aus dem Telefon hat übrigens jemand die Batterien entfernt. Weiß nicht, ob das Zufall oder Absicht war”, sprach Michaela weiter. „Aber zum Aufladen hätte er die Batterien nicht wechseln müssen. Die Ladestation steht auf dem Schreibtisch neben ihm.”
„Hast recht”, Sebastian fuhr zu einem Aktenschrank hinüber. „Er hätte also keine Hilfe rufen können, wenn er nicht mehr aufstehen konnte oder gelähmt war. Ein Handy habe ich nämlich nicht bei ihm gefunden.”
„Du hast ihn durchsucht?”, fuhr Michaela herum und starrte ihn ungläubig an. „Wie konntest du nur -?”, es schauderte sie. Es war schlimm genug, Herrn Lindaus Büro zu durchsuchen, während er tot neben ihnen lag, aber ihm auch noch in die Taschen zu greifen …”
„Klar! Er könnte wichtige Sachen bei sich haben”, zuckte Sebastian lediglich die Achseln. „Außerdem habe ich Proben genommen. Dir sind die Kaffeetasse und das Wasserglas auf dem Tisch bestimmt auch aufgefallen. Wir wünschen es uns zwar nicht, aber falls er vergiftet worden ist, müssen wir das wissen!”
Michaela hob die Augenbrauen und griff nach einem Schlüssel, der in einem Kästchen im Regal lag. „Wie hast du die Proben genommen? Und mit was?”
„Mit einer Spritze”, kam es trocken von Sebastian. „Ich mache so etwas nicht zum ersten Mal. Also Proben nehmen. Nicht die Sache mit dem Toten.”
„Wieso wundert mich das nicht?”, brummte Michaela sarkastisch. Sie traute ihm fast alles zu. Der Mann überraschte sie immer wieder. Und nicht immer im positiven Sinne. Schnell ging sie zum Schreibtisch hinüber. Ihr war schon vorhin die verschlossene Schublade aufgefallen.
Sebastian folgte ihr.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. „Mal sehen, ob wir hier drin etwas Brauchbares finden.” Neugierig zog sie die Schublade auf. Der andere fuhr dicht neben sie und beugte sich hinunter, um Kopf an Kopf mit ihr hineinzuschauen. Ein paar Pralinenschachteln lagen vor ihnen.
Sebastian zog eine Augenbraue hoch. „Und die musste er einschließen?”
„Die sind teuer”, entgegnete Michaela geistesabwesend. Sie war selbst eine Pralinenliebhaberin und kannte sich daher aus. „Da ist was unter den Schachteln”, begriff sie plötzlich und griff nach einer davon.
Vier Schachteln später, kam ein sehr altes Buch zum Vorschein.
„Wow!", stieß Michaela beeindruckt aus. Vorsichtig hob sie es hoch. Es war schwer, hatte einen dicken, ledernen Einband und war mit goldenen Ornamenten verziert. „Ob es aus der Bibliothek stammt?”
„Gib mal her”, Sebastian nahm es ihr ab. Als Eigentümer des Schlosses kannte er natürlich nicht jedes Stückchen Mobiliar, aber die wertvollen Sachen waren ihm durchaus bekannt. „Ja, es sieht ganz danach aus. Es handelt sich dabei um ein Gedichtband aus dem 17. Jahrhundert. Aber er hat es nur geliehen und nicht gestohlen, sonst hätte er wohl die Registriernummer und den Namen des Schlosses auf der letzten Seite entfernt. Du weißt ja, jedes Bibliotheksbuch hat eine.” Er schüttelte den Kopf. „Eigentlich hätte es in seinem Schaukasten bleiben sollen. Wahrscheinlich hat er seinen Status als stellvertretenden Leiter geltend gemacht, um es mitzunehmen.”
„Das bringt uns allerdings nicht weiter”, Michaela seufzte. „Ich sollte den ärztlichen Dienst anrufen.”
„Tu das”, nickte Sebastian, legte das Buch zurück und öffnete eine der angebrochenen Pralinenschachteln.
Stirnrunzelnd sah Michaela zu, wie er eine Praline herausnahm und sie in ein Tütchen steckte. Dann konzentrierte sie sich auf ihre Aufgabe und gab die Nummer des hausinternen Notdienstes ein. Geduldig lauschte sie dem Tuten.
Sebastian verstaute unterdessen das Tütchen in einer seiner Rollstuhltaschen und räumte die Pralinenschachtel und das Buch wieder zurück. Anschließend verschloss er die Schublade. „Wo lag der Schlüssel?”
„Ja, hallo?”, tönte es im selben Moment an Michaelas Ohr. „Hallo”, stammelte sie und deutete dabei auf eines der Regale, „Michaela Ritter hier, ich habe etwas zu melden!”
„Ich kann es nicht glauben, er war herzkrank?”, die Schulleiterin machte eine kummervolle Miene. „Er hat nie darüber gesprochen! Sie glauben also, es war ein Herzinfarkt?”
Doktor Fischer, eine ältere Ärztin, die Michaela inzwischen schon öfter getroffen hatte, nickte: „Ja, davon gehe ich aus. Aber ich werde dennoch die Polizei informieren, da ich andere Todesursachen nicht ausschließen kann.”
Die Schulleiterin riss die Augen auf: „Die Polizei? Nicht schon wieder! Das können wir nicht gebrauchen, Frau Fischer! Denken Sie doch an die Kinder! Das wird sie wieder alle aufwühlen!”
„Frau Salenco”, schüttelte die Ärztin den Kopf, „das bedauere ich sehr, aber ich kann keinen Totenschein ausstellen, wenn ich mir nicht absolut sicher bin!” Ein Seufzen. „Und das bin ich leider nicht.” Nun trat sie näher und tätschelte die Schulter der vollschlanken Dame, die gequält dreinblickte. „Sie wollen doch sicher auch die Wahrheit wissen, immerhin haben Sie eng mit ihm zusammengearbeitet.”
„Ja. Selbstverständlich!”, die Leiterin hob den Kopf. „Dann lassen Sie mich mit der Polizei sprechen. Ich werde sie bitten, sich möglichst diskret zu verhalten und ohne Uniform zu kommen.”
„Wir können das Telefonat gemeinsam führen”, bot nun die Ärztin an.
„Gut, machen wir es so”, Frau Salenco nickte und wandte sich daraufhin Michaela und Sebastian zu. „Sie beide können gehen. Und ich stelle Sie selbstverständlich vom Dienst frei! Kümmern Sie sich ein bisschen um Ihre Kollegin, Herr Branco. Der Schock muss für sie am schlimmsten gewesen sein. Oder soll ich einen der anderen Psychologen aus der Reha-Abteilung holen lassen?”
„Nein”, wehrte Sebastian ab, er strich beim Sprechen über Michaelas Hand, „ich kümmere mich um sie, danke!” Da er behauptet hatte, sie hätte ihn aus ihrem Schock heraus als Erstes angerufen, saß Michaela schweigend neben ihm und starrte scheinbar teilnahmslos vor sich hin. Eine bessere Antwort wäre ihr wohl auch nicht eingefallen und so musste sie ihre Rolle spielen.
„Komm, lass uns gehen!”, sagte er leise und zog an ihrer Hand.
Michaela warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. Er war fürsorglicher als sonst und überhaupt, da war etwas in seinen Augen, das sie ein wenig unsicher machte. Sie stand auf. Wie so oft, wurde sie nicht ganz schlau aus ihm.
Erst als sie den Raum verließen, traf es sie mit aller Wucht: Herr Lindau war gestorben.
Während der Sommerferien gingen die Kinder auch auf Sonnheser nicht in die Schule oder in den Kindergarten. Stattdessen organisierten die BetreuerInnen Ausflüge und verbrachten mit ihnen viel Zeit im Freien. Da gleichzeitig auch Kolleginnen und Kollegen Urlaub hatten, war es nie leicht, diese Zeiten zu überbrücken. Glücklicherweise war Pamela nur eine der Neuen, die für eine Bezahlung und einen Ausgleichsurlaub bereit waren, schon früher mit ihrer Arbeit zu beginnen.
Gedankenverloren öffnete Michaela die Eingangstür zu ihrer Wohnung. Es war ihr erster Arbeitstag nach den Sommerferien und zwei Tage her, dass Herr Lindau tot war. Sie schluckte bei der Erinnerung. Es war schwer, im Alltag so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Sie hatte es heute Morgen beim Frühstück mit den Kindern gemerkt.
„Hallo”, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Es war Susanne, die Kollegin, die man als zweite Springerin eingestellt hatte. Den Großteil des Tages hatten Michaelas Bezugs-Kinder mit ihr verbracht.
„Michaela!”, Felix’ blaue Augen leuchteten auf, schon ließ der blonde Junge die Hand der Erzieherin los und rannte auf Michaela zu. „Stell dir vor, was Andreas heute gemacht hat!” Er ergriff ihre Hand und drehte sich dann zu dem Schwarzhaarigen um, der mit verkniffenem Gesicht neben der neuen Kollegin her ging.
Tony huschte nun ebenfalls zu ihr und hinein in die Wohnung.
„Was ist passiert?”, fragte Michaela besorgt. Seit sie Urlaub hatte, war Andreas wieder aggressiver geworden.
„Vielleicht besprechen wir das in der Wohnung?”, schlug Susanne vor.
„Ja, natürlich!”, nickte Michaela schnell und trat beiseite. „Du kommst auch rein, Andreas!”, sagte sie mit Blick auf den Jungen, der Anstalten machte, an der Wohnung vorbeizulaufen.
Ein zorniges Funkeln aus blitzenden Augen, aber Andreas gehorchte. Er machte einen großen Bogen um alle und zog mit viel Radau seine Schuhe um.
Michaela schloss die Tür hinter sich. „Felix und Tony, geht bitte in eure Zimmer. Wenn ihr wollt, könnt ihr zusammen spielen. Macht aber die Tür hinter euch zu!”
Felix nickte schnell. „Komm”, sagte er an Tony gerichtet, „gehen wir in dein Zimmer!”
Das stille Mädchen nickte, die Kinder verschwanden. Lediglich Andreas blieb zurück.
“Wie wäre es, wenn wir uns setzen?”, deutete Michaela auf die Sofalandschaft. „Du auch Andreas. Da es ja um dich geht, möchte ich dich beim Gespräch dabei haben!"
Der Kiefer des Jungen mahlte, er hob das Kinn an und setzte sich mit einiger Entfernung zu den Frauen hin.
„Na, schön”, seufzte Michaela, nachdem sie alle Platz genommen hatten. „Was ist denn eigentlich passiert?”
Susanne machte ein bekümmertes Gesicht: „Wir haben mit den Kindern Fußball gespielt. Wie du weißt, ist das Andreas Lieblingssport und er ist darin ziemlich gut. Aber die gegnerische Mannschaft war besser und deshalb hat er wohl angefangen, andere Spieler zu foulen.”
Ein zorniges Schnauben kam aus Andreas Richtung.
„Irgendwann musste ich ihn deswegen vom Spiel ausschließen. Salih und ein paar andere Jungs aus der gegnerischen Mannschaft haben sich lautstark darüber gefreut und gejubelt. Und dann -”, ihre Kollegin blickte zu Andreas hinüber. „Ist er völlig ausgerastet. War wie ein Blitz bei Salih und hat auf ihn eingeprügelt.” Ein Kopfschütteln. „Pamela und ich haben ihn kaum von ihm herunterbekommen. Salih hat einige Verletzungen davongetragen. Zwar nichts Lebensgefährliches, aber wir mussten ihn ärztlich versorgen lassen.” Ihre Kollegin ließ die Schultern hängen. „Deshalb haben wir Andreas für einen Monat vom Fußball ausgeschlossen.”
„Verstehe”, sagte Michaela leise. Sie hatte bei der Erzählung Andreas Gesicht beobachtet. Wut und Angst hatten sich in ihm abgewechselt. „Andreas, was hast du dazu zu sagen?”
Der Kopf des Jungen ruckte hoch, er blickte Michaela in die Augen. Wie sehr er sie gerade an ihr erstes Zusammentreffen erinnerte. Auch damals hatte er nicht sprechen wollen und war so voller Zorn gewesen. Und trotzdem hatte sie seine Angst sehen können.
„Na schön”, sagte sie leise, da seine Augen zwischen Susanne und ihr hin und her huschten. Er schien nicht vor ihrer Kollegin sprechen zu wollen. „Wir unterhalten uns später darüber, Andreas. Geh in dein Zimmer!”
Er erhob sich sofort und verschwand wortlos.
Michaela stieß einen tiefen Seufzer aus. Und sie hatte geglaubt, ihr Maß an Problemen wäre voll. „Vielen Dank für die Info!”, wandte sie sich Susanne zu. „Ich bespreche das noch mit ihm, verlass dich darauf! Er braucht einfach ein bisschen Zeit, um in Ruhe über alles nachzudenken.”
„Ist ok”, die andere Frau lächelte. Michaela hatte sich mit ihr von Anfang an gut verstanden. Obwohl Susanne erst wenige Wochen da war, hatte sie sich schon gut eingelebt. Die etwa dreißigjährige Frau mit den rotblonden, kurzen Locken und der randlosen Brille, hatte gemeinsam mit Sonja, der anderen Springerin, die Hauptverantwortung für das Ferienprogramm der unter Achtjährigen übernommen. Und sie machte ihre Sache ziemlich gut!
„Wir sprechen morgen noch mal”, Michaela erhob sich vom Sofa und begleitete Susanne zur Tür. „Ich gebe noch Bescheid, ob Andreas überhaupt mit nach draußen gehen wird. Vielleicht bleibt er auch mit Felix drinnen.”
„Ok”.
Nachdenklich blickte Michaela ihrer Kollegin hinterher. Wie sollte sie diese Sache am besten angehen? Sie wandte sich um und schloss leise die Wohnungstür zu. Als Erstes musste sie wohl nach Felix und Tony sehen. Danach würde sie sich nach Salihs Verletzungen erkundigen.
Nachdem sie alles erledigt hatte, klopfte sie an der Tür des Jungenzimmer. Da sie keine Antwort erwartete, drückte sie die Klinke hinunter und trat ein. Andreas saß an seinem Schreibtisch und arbeitete an einem Logikwürfel. Einer seiner Arme zuckte, seine Anspannung war mit Händen greifbar.
Michaela kam näher, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. Andreas war eines der Kinder, die schon sehr früh hatten auf eigenen Beinen stehen müssen. Soviel war ihr klar, obwohl sie kaum etwas über ihn wusste. Nach dem er von der Polizei bei einem Diebstahl ertappt worden war und sich partout geweigert hatte, seinen echten Namen oder den seiner Eltern zu nennen, war er im Heim gelandet. Viel mehr, hatte sie bis heute nicht von ihm erfahren. Dazu war er viel zu sehr auf der Hut.
„Was passiert jetzt mit mir?”, fragte er plötzlich.
Aufseufzend lehnte sich Michaela im Stuhl zurück und betrachtete ihn. Der schmale Junge legte den Würfel weg und sah nun zu ihr.
„Das kommt ganz auf dich an”, entgegnete sie schließlich. „Ist dir eigentlich klar, was du da getan hast, Andreas? Ich habe gerade mit dem Arzt gesprochen, der Salih behandelt hat. Er musste zwei seiner Verletzungen nähen und hat außerdem eine Gehirnerschütterung. Das ist eine schlimme Sache, weißt du?”
Sie hielt ihm ihr Handy hin und zeigte ihm ein Foto von dem verletzten Jungen. „Dafür bist du verantwortlich.”
Andreas Augen wurden groß bei dem Anblick, er wurde bleich. Kein Wunder, bei Salih zeichneten sich die ersten blauen Flecken ab. Zusammen mit den genähten Verletzungen sah er ziemlich mitgenommen aus. „Das, das hab ich nicht gewollt”, stammelte er.
„Das glaube ich dir”, nickte Michaela. „Warum hast du es dann getan?”
Schnell blickte Andreas weg, sein Gesicht verschloss sich wieder. „Er ist selber schuld!”, presste er heraus und kniff die Lippen zusammen.
„Selber schuld, aha”, Michaela schüttelte den Kopf. „Warum das? Hat Susanne vergessen, mir etwas zu erzählen? Hat er dich zuerst geschlagen? Und wollte er, dass du immer weiter schlägst, obwohl er schon längst am Boden lag?”
Ein Schnauben. Andreas Augen funkelten zornig auf. „Er ist selbst schuld!”, beharrte er weiter auf seiner Meinung, klang jedoch ein wenig unsicher dabei.
„Warum?”, bohrte Michaela weiter. Es musste einen Grund für diesen Wutausbruch geben. So hatte sie ihn noch nie erlebt.
Ein Schulterzucken.
„Andreas”, versuchte sie es erneut, „solange ich die Ursache dafür nicht kenne und nicht absolut sicher bin, dass du so etwas nicht wieder tust, kann ich dich nicht mehr mit anderen Kindern alleine lassen!”
Zu ihrer Verwunderung nickte er. „Muss ich jetzt für immer im Zimmer bleiben?”, fragte er so ruhig, als wäre das kein Problem für ihn.
Michaela hob die Augenbrauen. „Nein, natürlich nicht! Das ist doch hier kein Gefängnis!”
Jäh wurde er wieder blass, schluckte. „Was machst du mit mir?”, fragte er leise.
„Erzähl mir doch einfach, was passiert ist!”, bat Michaela. „Ich verspreche dir auch, es niemandem sonst zu erzählen, wenn du das möchtest!” Bittend blickte sie ihn an: „Du bist mir wichtig, Andreas! Und ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um dir zu helfen, aber dafür musst du mit mir sprechen! Denn weißt du, es geht hier nicht nur um Salih und die Kolleginnen, sondern auch um Felix und Tony. Um unsere Gruppe. Jeder, muss sich hier sicher fühlen können!”
„Was?”, Andreas Kopf schoss hoch. Er wurde wieder blass. „Ich habe Tony Angst gemacht”, stammelte er. Auch wenn er immer so cool tat und keine Freundschaften aufbaute, versuchte er die Kinder aus seiner Gruppe zu beschützen. Vor allem Tony, die sich nie selbst wehrte.
„Ich vermute es”, entgegnete Michaela bedrückt. „Sie hat seitdem kein Wort mehr gesprochen. Und Felix fürchtet sich ebenfalls.”
Es zuckte in Andreas Gesicht, seine Augen glänzten feucht und er drehte sich weg. „Es tut mir leid.”
Abwartend blieb Michaela sitzen, aber er griff nur wieder nach dem Logikwürfel.
„Na schön”, Michaela stieß die Luft aus. „Vorerst bleibst du im Zimmer. Ich werde mit Erika und Pamela sprechen.”
„Ok”, murmelte er lediglich und sah weiterhin stur auf das Spielzeug.
Michaela erhob sich. „Wir sprechen später noch mal.” Dann ging sie.
Die nächsten Stunden beschäftigte sie sich hauptsächlich mit Felix und Tony, besprach den Vorfall und las ihnen ein Buch vor.
Sie hatten sich gerade alle aneinander gekuschelt, sogar Tony lehnte den Kopf an Michaelas Arm, als es an der Wohnungstür klingelte.
„Tut mir leid, da muss ich hingehen”, bedauernd nahm Michaela ihre Arme weg und stieg vom Sofa. Die Kinder folgten ihr.
Bei der Wohnungstür angelangt, umklammerte Felix wieder ihr Bein, während Tony sich hinter ihr versteckte. Michaela öffnete.
„Hallo, Frau Ritter”, wurde sie sofort von einem drahtigen Mann in lässiger Kleidung angesprochen. „Wie geht es Ihnen? Ich hoffe, Sie konnten die Vorfälle gut verarbeiten?” Es war Malik, ein Polizist, der ihr vor ein paar Monaten sehr geholfen hatte.
„Äh, ja, danke”, entgegnete sie verwirrt. Was wollte er hier? „Ist etwas passiert?” Sie hatten sich seit damals nicht mehr gesehen.
„Es geht um Herrn Lindau”, er warf einen unbehaglichen Blick auf die Kinder. „Vielleicht können wir das irgendwo anders besprechen? Kann eine Kollegin auf die Kinder aufpassen? Ich möchte Sie gemeinsam mit Herrn Branco befragen.”
„Oh!”, Michaela runzelte die Stirn. Das passte ihr gerade gar nicht, aber wenn sie hier so hereinschneiten, konnte es wohl nicht warten. „Ja, ist gut. Ich werde etwas organisieren. Wo möchten Sie mit uns sprechen?”
„In Herrn Brancos Büro?”
Sie nickte. „In Ordnung. Ich komme so bald wie möglich!”
„Gut”, nickte nun auch er. „Auf Wiedersehen, Kinder.”
Nachdem Michaela die Tür geschlossen hatte, griff sie nach dem Haustelefon.
„Wo gehst du hin?”, fragte Felix, der zwar ihr Bein losgelassen hatte, doch weiterhin einen Zipfel ihres Hosenbeins festhielt.
Michaela strich ihm liebevoll übers Haar. „Das war ein Polizist. Er will nur kurz mit mir sprechen. Ihr müsst euch aber keine Sorgen machen! Ich komme so schnell wie möglich wieder zurück!” Weil sich nun jemand am Telefon meldete, lenkte sie ihre Aufmerksamkeit wieder darauf und bat um eine Ablösung.
„Sie sind also an dem Fall dran. Bedeutet das im Klartext, er wurde tatsächlich ermordet?”, fragte Michaela besorgt. Anscheinend hatte sie recht behalten.
„Ja”, bestätigte Malik, der Polizist mit dem unaussprechlichen Nachnamen, ihren Verdacht. „Wie sich herausgestellt hat, ist er keines natürlichen Todes gestorben.”
„Mord”, Sebastian zog eine Augenbraue hoch. Er saß schräg neben Michaela an seinem Schreibtisch, während die Polizisten ihnen gegenüber Platz genommen hatten. „Also starb er nicht an einem Herzinfarkt?”
„Jemand hat nachgeholfen.” Malik beugte sich vor. „Sagen Sie Frau Ritter, was haben Sie an diesem Tag eigentlich von ihm gewollt?”
Michaela sah zu Sebastian hinüber, sie waren sich darüber uneins gewesen, ob sie der Polizei die Wahrheit sagen sollte. Immerhin war es nicht unwahrscheinlich, dass jemand von dieser Dienststelle in die Ereignisse verwickelt war. Sebastian glaubte außerdem, jemand von dort hätte Beweise für einen Mord an seinen Eltern verschwinden lassen.
„Ich wollte das Archiv einsehen”, sagte Michaela schließlich zögernd. Eigentlich vertraute sie Malik. Er hatte letztes Mal gute Arbeit geleistet und war außerdem zu jung, um an dieser Verschwörung beteiligt gewesen zu sein. Trotzdem erzählte sie ihm nicht alles, so war es sicherer. „Meine Bezugs-Kinder interessieren sich für die Schlossgeschichte. Sie wollten ein neues Stück einstudieren, in dem es um das Leben der Kinder früher geht. Das haben wir schon einmal gemacht.”
„Verstehe”, der andere Polizist notierte sich das in einem Notizbuch. „Erzählen Sie von Anfang an, wie Sie den Verstorbenen gefunden und was Sie getan haben!”
Neben ihr schnaubte Sebastian auf. „Das hat Sie Ihnen doch schon mehrmals erzählt. Warum muss sie das schon wieder tun?”
Michaela musste lächeln. Fürsorge ihr gegenüber, empfand sie immer noch als überraschend. Ein, zugegebenermaßen, angenehmes Gefühl. Trotzdem konnte sie für sich selbst sprechen. Beruhigend legte sie Sebastian eine Hand auf den Unterarm. „Ist schon gut. Ich verstehe das.” Sie sah zu Malik hinüber. „Verzeihen Sie, wenn ich heute ein paar Details vergesse. Immerhin ist es zwei Tage her und ich habe ehrlich gesagt versucht, nicht mehr an die Sache zu denken.” Was ziemlich schwer gewesen war. Herr Lindaus bleiches Gesicht erschien jedes Mal vor ihr, wenn sie die Augen schloss.
Sebastian drehte seinen Arm herum und umschloss ihre Hand mit der seinen. „Deine Entscheidung.”
Die Geste berührte Michaela, sie wurde ruhiger. Ihr Blick wanderte wieder zu Malik und sie begann erneut ihre Geschichte zu erzählen. Wie schon zuvor, verschwieg sie ihnen ihre Durchsuchung der Räume. Glücklicherweise waren sie vorsichtig genug gewesen und schienen keine Fingerabdrücke hinterlassen zu haben.
„Was war es denn nun genau, an was er gestorben ist?”, wollte Sebastian anschließend wissen.
„Tut mir leid, aber darüber können wir keine Auskunft geben!”, sagte der fremde Polizist schnell, als Malik den Mund öffnete.
„Hm”, Sebastian starrte den Mann regelrecht nieder, doch diesen schien das nicht zu beeindrucken.
„Vielleicht erklären Sie mir im Gegenzug lieber, warum Sie so lange gewartet haben, bis Sie einen Arzt gerufen haben?” Sein Blick wanderte zwischen Michaela und Sebastian hin und her.
Sie konnte es Sebastian ansehen, er stand kurz davor, ausfallend zu werden. Schließlich hatte Michaela auch diese Frage schon mehrfach beantwortet. Warnend drückte sie seine Hand und ging die Antwort schnell im Kopf durch.
„Wir haben das mal durchgerechnet: Von ihrer Ankunft im Büro, bis zum Anruf beim ärztlichen Dienst, verging mindestens eine Stunde. Wie erklären Sie das?” Er wandte sich Sebastian zu. „Weshalb haben Sie nicht sofort angerufen? Sie standen nicht unter Schock, oder irre ich mich da? Was haben Sie also in dieser Zeit gemacht?”
Michaela versuchte ruhig zu bleiben. Diese Frage hatten sie erwartet. „Ich aber schon”, sagte sie langsam. Das entsprach auch der Wahrheit. Sie war immer noch dabei, diesen Todesfall zu verarbeiten. „Allein bis ich überhaupt ein wenig nachdenken konnte, brauchte ich Zeit. Wissen Sie, wie es ist, einen Bekannten so plötzlich tot vorzufinden? Ich habe ein paar Stunden zuvor noch mit ihm telefoniert!”
„Tatsächlich?”, die Augen des Beamten leuchteten auf. „Um wie viel Uhr war das genau?”
„Moment”, Michaela griff nach ihrem Handy und sah nach. „Den Termin hatte ich um 11.30 Uhr. Telefoniert habe ich mit ihm um 9.15 Uhr. Sehen Sie”, sie hielt den beiden Polizisten ihr Handy hin. Da hat er noch gelebt.”
„Hm. Und wenn Sie im Nachhinein darüber nachdenken, wie war das Gespräch? Hat er vielleicht irgendwelche gesundheitlichen Beschwerden erwähnt? Hatte er Probleme mit jemandem oder einen Streit?”
Michaela hob die Schultern. „Keine Ahnung. Ich kannte den Mann ja kaum. Wir haben nie über private Dinge gesprochen.”
„Aha”, ihr wurde ein skeptischer Blick zugeworfen, „dann kehren wir zu der ursprünglichen Frage zurück, warum haben Sie so lange gebraucht, um einen Arzt zu rufen?”
Als sie endlich das Büro verließen, konnte Michaela den Ausdruck, durch den Wolf gedreht zu werden, gut nachvollziehen. Genau so, fühlte sie sich gerade.
Eine der großen Flügeltüren der Eingangstür wurde aufgestoßen. Ein heller Lichtstrahl fiel auf die schachbrettartigen Marmorfliesen und ließ den Boden glitzern. Ein großer Mann betrat das Schloss. Seine schulterlangen, schwarzen Haare schimmerten bläulich im Sonnenlicht. Als er den Kopf drehte und zu Michaela blickte, sah sie weiße Strähnen an seinen Schläfen aufleuchten.
Jäh begann Michaelas Herz lauthals zu klopfen. Diese Haare, die durchtrainierte Figur, die braungebrannte Haut und der lässige Gang, sie kannte nur einen solchen Mann. Als der andere näher kam, fiel ihr Blick auf das ärmellose weiße Shirt mit den blauen Schriftzügen und die weiße Cargohose. Ein paar Piercings funkelten auf.
Ihre Blicke trafen sich. Angelo. Ihr wurde erst jetzt klar, wie sehr sie ihn vermisst hatte! Am liebsten wäre sie auf ihn zugelaufen und ihm um den Hals gefallen. Unangebracht. Völlig unangebracht!