Sonntags bei Sophie - Clara Sternberg - E-Book

Sonntags bei Sophie E-Book

Clara Sternberg

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Beschreibung

Freundinnen fürs Leben.

Sophie, Rosa und Melanie sind unzertrennlich. Und dann ist plötzlich ist nichts mehr, wie es war, denn Sophie erfährt, dass sie nur noch wenige Monate zu leben hat. Sie hat sich entschieden: Keine Klinikaufenthalte und qualvollen Behandlungen; Sophie will die Zeit, die ihr noch bleibt, im Kreise ihrer Lieben verbringen. Ab jetzt sind die Sonntage nur noch für die drei Freundinnen reserviert: Sie nehmen Abschied und sie erinnern sich. Und immer häufiger gelingt es ihnen, Sophies Erkrankung kurz zu vergessen.

Sophie steckt voller Lebensmut, denn sie hat ein großes Ziel: die Geburt von Melanies Tochter zu erleben! Auch Rosa und Melanie wollen die Hoffnung nicht aufgeben und machen sich, jede auf ihre Weise, auf die Suche nach einem Wunder, das Sophie retten kann ...

Ein zauberhafter Roman über die Kraft der Freundschaft und den Mut, loszulassen.

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Seitenzahl: 333

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Clara Sternberg

SonntagsbeiSophie

Roman

Impressum

ISBN 978-3-8412-0735-7

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Februar 2014

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2014 bei Aufbau Taschenbuch, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung Mediabureau Di Stefano, Berlin

unter Verwendung eines Motivs von © plainpicture/Etsa

E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig, www.le-tex.de

www.aufbau-verlag.de

Inhaltsübersicht

Cover

Impressum

1

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3

4

5

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8

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

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1

Der letzte Abend des alten Jahres war angebrochen. Ich war ganz kribbelig, weil ich mich so auf die Party freute, und total schick war ich auch: neuer Lippenstift, neues Kleid, die Haare frisch gewaschen. Das neue Jahr konnte kommen, ich war bestens gerüstet. Bevor wir losfuhren, hatte ich sogar noch ein paar Minuten Zeit. Ich nutzte die Gelegenheit und huschte ins Arbeitszimmer, das ich heute Nachmittag zum Jahresabschluss besonders gründlich aufgeräumt und geputzt hatte. Ein bunter Tulpenstrauß schmückte den Schreibtisch mit der nierenförmig geschwungenen Glasplatte, den ich Uwe und mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Die Regale mit Büchern und Aktenordnern glänzten durch Staubfreiheit und Ordnung, ich hatte sogar die Weihnachtskarten meiner Patienten mit dem Staubwedel bearbeitet und neu arrangiert. Meine diesjährige Lieblingskarte stammte von der Rauhaardackel-Hündin Trixi. Sie gehörte einer sehr alten, aber noch recht rüstigen Dame, die mit ihrem Sohn in einer Villa in Grunewald wohnte und immer von ihm in die Praxis chauffiert wurde. Die Karte zeigte Trixi mit Nikolausmütze in ihrem Körbchen und war an einer Flasche Champagner befestigt gewesen, die Frau Schnitzers Sohn mir feierlich überreicht hatte. Ihr Geschenk hatte mich sehr gerührt. Mein Kollege Tom – von allen Dr. Tom genannt, weil er einen unaussprechlichen polnischen Nachnamen hatte – und ich hatten garantiert die wunderbarsten Patienten und Patientinnen in ganz Berlin! Ich las gerade wieder einmal Trixis Gedicht, Bleiben Sie gesund und munter, auch wenn mal alles drüber geht und drunter!, als ich Uwe rufen hörte: »Rosa! Wo bleibst du denn? Ich bin schon seit Stunden startklar!«

Das konnte nicht sein, denn als ich ins Arbeitszimmer gegangen war, hatte noch im Bad die Dusche gerauscht. Jetzt stand Uwe allerdings im dunkelgrauen Anzug und hellgrauen Hemd in der Diele, den Mantel über dem Arm.

»Bin schon da«, sagte ich. »Es kann losgehen!«

Tatsächlich konnte ich es sogar kaum erwarten, dass es losging, denn ich fieberte diesem Abend seit Wochen entgegen. Ich liebte Silvester, die Nacht, in der einem dreihundertfünfundsechzig funkelnagelneue Tage geschenkt wurden. Und ganz besonders liebte ich Silvesterpartys bei Sophie. Während ich in meinen Mantel schlüpfte, bückte sich Uwe nach dem Korb, in dem sich die Buletten, der Kartoffelsalat nach dem Rezept meiner Mutter und die Soleier befanden, die sich Sophie und Stefan fürs Büffet gewünscht hatten. Außerdem nahmen wir noch eine kleine Schachtel mit den feinen belgischen Pralinen mit, die die beiden so gerne aßen, und einen Blumenstrauß. Dabei musste sein Blick auf meine Füße gefallen sein, denn er sagte amüsiert: »Ach, übrigens, Rosa ... die Schuhe passen wirklich super zum Kleid.« Ich schaute nach unten  – auf meine heißgeliebten lila Hausschuhe mit der pinkfarbenen Hirsch-Applikation.

»Ich wusste, dass sie dir gefallen!«, hatte Melanie gekräht, als ich ihr entzückt um den Hals fiel. Das war im letzten Jahr an meinem fünfundvierzigsten Geburtstag gewesen. Melanie, Sophie und ich hatten mit einem Freundinnen-Wochenende in einem kleinen, kuscheligen Hotel an der Ostsee gefeiert. Dieser Geburtstag war der schönste und glücklichste meines Lebens gewesen, denn Sophie hatte die allerbesten Nachrichten der Welt für uns. Jedes Mal, wenn ich daran dachte, sah ich die Szene vor mir, die auf ihre Glücksbotschaft gefolgt war: Wir drei, warm eingemummelt gegen den schneidenden Wind, am Strand, wie wir vor Freude in die Luft sprangen und kreischten, was die Stimmbänder hergaben. Wir hatten uns halb kaputtgelacht, als ein altes Ehepaar kopfschüttelnd an uns vorbeiging.

Kurz darauf saßen Uwe und ich im Auto. Ich trug jetzt Pumps, die leider nicht annähernd so bequem waren wie meine Puschen. Uwe saß am Steuer. Er war auch derjenige, der uns nach der Party nach Hause fahren würde. Ich konnte also ganz beruhigt Wein trinken und um Mitternacht mit dem leckeren Crémant de Loire anstoßen, den Stefan servieren würde.

Das kleine, gelb angestrichene Haus mit der smaragdgrünen Tür und den gleichfarbigen Schlagläden im Potsdamer Stadtteil Babelsberg, in dem Sophie und Stefan zur Miete wohnten, war weihnachtlich dekoriert: Auf den Fensterbänken lagen Tannenzweige und Lichterketten, und neben der Haustür stand ein Weihnachtsbäumchen im Kübel, an dem goldene Engel, Vögel und Trompeten hingen. Im Wohnzimmer ragte eine kunterbunt geschmückte, prächtige Nordmanntanne bis fast unter die Decke.

Ich hatte damit gerechnet, dass wir die ersten Gäste sein würden, denn ich hatte mit Sophie ausgemacht, dass wir früher kommen würden, damit ich bei den letzten Vorbereitungen noch ein bisschen zur Hand gehen konnte. Aber Melanie war schon da, sie hatte die gleiche Idee gehabt und war vor einer Stunde mit zwei selbstgebackenen Kuchen und viel Elan eingetroffen. Stefan und Uwe verschwanden in der Küche, um die Tulpen ins Wasser zu stellen und unsere kulinarischen Mitbringsel ins kalte Büffet zu integrieren.

So hatten wir ein bisschen Zeit für uns, bevor die Party losging.

»Euer Baum ist ganz besonders schön bunt dieses Jahr«, sagte ich zu Sophie, nachdem wir es uns zu dritt auf dem hellgrauen Sofa gemütlich gemacht hatten. Es war angeschafft worden, nachdem Stefans uralter Kater Lancelot sich im vergangenen Jahr in den Katzenhimmel verabschiedet hatte. Lancelot hatte im Laufe seines langen, glücklichen Lebens zwei Sofas mit der Pflege seiner Krallen zerpflückt, dieses hier hätte ihm bestimmt besonders gut gefallen. Es war groß, enorm bequem, und die kleinen Seidenkissen in allen Regenbogenfarben und die zusammengefaltete orangefarbene Kuscheldecke auf der Armlehne luden zum Schlummern ein.

»Stimmt«, sagte Melanie. »Ein richtiger Gute-Laune-Baum ist das. Besonders süß finde ich die roten Eulen. Wo habt ihr die denn gefunden?«

»Auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Schloss Charlottenburg«, antwortete Sophie.

»Ach, ja, der ist toll. Ich war neulich mit Heiko da, wir haben Glühwein getrunken, das heißt, Heiko hat Glühwein getrunken, ich alkoholfreien Apfelpunsch ...«

Ich kannte Melanie lange genug, um zu merken, dass ihr etwas aufs Herz drückte, auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen wollte, und ich ahnte schon, was los war. Heiko hätte heute Abend mit uns feiern sollen, aber er glänzte durch Abwesenheit. Das war nichts Neues. Melanie hatte ihn uns schon öfter vorstellen wollen, aber irgendwie war dem Mann, der sich seit fast drei Jahren nicht zwischen Melanie und seiner langjährigen Lebensgefährtin, mit der er zusammenwohnte, entscheiden konnte, im letzten Moment immer etwas ungeheuer Wichtiges dazwischengekommen. Sophie und ich kannten Heiko also nur aus Melanies Erzählungen und von Fotos, die einen schlanken, blonden Mann mit einem sympathischen Lächeln zeigten. Wir glaubten Melanie aufs Wort, dass Heiko intelligent, humorvoll und zärtlich und vor allem ihre große Liebe war. Schwer fiel es uns, daran zu glauben, dass sie, wie er stets versicherte, auch seine große Liebe war. Wenn das wirklich stimmte, wieso war er dann immer noch mit der anderen zusammen? Die keine Ahnung hatte, dass ihr Partner ein Doppelleben führte. Weil, erklärte uns Melanie an einem Abend, an dem wir bei Sophie italienisch gekocht und köstlich gespeist hatten, es verschiedene Komplikationen gab, die er zuerst noch lösen musste.

Sophie zog die Stirn in Falten und sagte ungewohnt energisch: »Mensch, Mella. Ich wünschte, du würdest dich von der Komplikation namens Heiko lösen. Es gibt jede Menge Männer in Berlin, ungebundene, die sich alle Finger nach dir lecken würden. Wieso muss es ausgerechnet einer sein, der schon besetzt ist?«

»Weil ich ihn liebe und keinen anderen Mann will«, gab Melanie trotzig zurück. »Und er liebt mich. Ihr werdet sehen, er wird sich für mich entscheiden. Ich muss ihm einfach die Zeit geben, die er braucht. Im Grunde spricht es für ihn, dass er eine langjährige Beziehung nicht einfach in den Wind schießt, zumal die Frau psychisch labil ist.«

Sophie seufzte beinahe lautlos, und ich verdrehte mental die Augen, also so, dass man es nicht sah. Man konnte mit Melanie über alles vernünftig reden, aber nicht über ihre Männer, das hatte sich über die Jahre nicht geändert. Und seltsamerweise ähnelten sich nicht nur die Männer, sondern auch die Liebesgeschichten.

Jetzt sagte Sophie: »Apfelpunsch ist lecker, und am allerleckersten schmeckt er mit frischem Ingwer, finde ich. Er soll übrigens auch gut bei Grippe helfen.«

»Grippe?«, fragte ich. »Wer hat Grippe?«

»Heiko«, kam es von Melanie. »Er liegt mit fast vierzig Fieber im Bett, der arme Kerl. Und ich hatte mich so auf ihn gefreut.« Der letzte Satz klang ziemlich kläglich. Arme Melanie. Wieder war sie enttäuscht worden. Es war ein Jammer. Ich legte einen Arm um ihre Schulter. »Ach je, das ist wirklich Pech, hoffentlich ist er bald wieder fit. Aber jetzt erzähl: Wie geht’s dir? Und wie geht’s unserer Motte?«

Diese Frage zauberte sofort ein Lächeln in Melanies Gesicht. Zärtlich strich sie über ihren runden Bauch. Sie sah besonders hübsch aus heute Abend, fand ich, in einem tief ausgeschnittenen, nachtblauen Kleid im Empire-Stil, das ihre neuerdings üppigen Kurven gut zur Geltung brachte.

»Motte ist total fit. Kein Wunder, sie trainiert ja auch Tag und Nacht. Jetzt gerade strampelt sie besonders doll. Fühlt mal.«

Sophie und ich legten eine Hand auf Melanies Bauch. Unter meiner Handfläche fühlte ich, wie sich die Kleine bewegte, und mir wurde ganz warm ums Herz. Motte, die einmal Mia, Leonie, Anna, Hanna oder Rebekka oder ganz anders heißen würde, war das Baby, das Sophie und ich nie hatten. Und sie war etwas ganz Besonderes, daran konnte es keinen Zweifel geben, denn es war erstaunlich, wie sie sich ins Leben geschmuggelt hatte.

Melanie, mit zweiundvierzig die Jüngste von uns dreien, war aus allen Wolken gefallen, als die Frauenärztin ihr mitteilte, dass ihre Periode nicht zweimal hintereinander ausgeblieben war, weil sie – wie von ihr vermutet – vorzeitig in die Wechseljahre kam, sondern weil eine Schwangerschaft vorlag.

Das war die Sensation des Jahres gewesen. Mit einem Kind hatte nun wirklich niemand gerechnet. Sophie und ich waren euphorisch – ein Baby! Wir hatten uns beide Kinder gewünscht, aber dieser Herzenswunsch war uns versagt geblieben. Und jetzt fiel ein Kind vom Himmel, beinahe in unseren Schoß  – wir konnten unser Glück kaum fassen. Wir durften Melanies Schwangerschaft miterleben, und das Kleine, wenn es erst auf der Welt war, lieb haben und verwöhnen und mit ihm die Welt durch seine Kinderaugen neu entdecken. Wir konnten es kaum erwarten!

Die Details zur Sensation erfuhren wir dann bei Schnittchen und Tee in Melanies Wohnzimmer: »Ich wollte natürlich von Frau Dr. Berns wissen, wie das passieren konnte. Ich verhüte schließlich seit Jahrzehnten zuverlässig und bin nie schwanger geworden. Wieso also ausgerechnet jetzt, in meinem Alter? Frau Dr. Berns meinte, solange man eine Gebärmutter und funktionsfähige Eierstöcke besitzt, gibt es keinen hundertprozentigen Schutz vor einer Empfängnis. Und dann sagte sie etwas total Spannendes: »Also, in Ihrem Fall, Frau Daniels, ist es interessant, unter die Oberfläche zu schauen, um den spirituellen Aspekt bei diesem Ereignis zu betrachten. Meine Intuition verrät mir, dass wir es mit einer höchst energischen Seele zu tun haben, die unbedingt inkarnieren will, Sie als Mutter ausgesucht hat und sich von einem Hindernis wie einer kleinen weißen Pille nicht abschrecken ließ. Man könnte das alles so interpretieren, dass es zu Ihrem Karma gehört, in diesem Leben Mutter zu werden, wenn auch erst fünf Minuten vor zwölf.«

Auch Sophie und ich waren Patientinnen von Frau Dr. Berns, die aus einer Familie von Heilern und Heilerinnen stammte und komplementäre Heilweisen sehr gelungen mit westlicher Medizin verband. Die Sache mit der Seele und der Inkarnation brachte uns also nicht aus der Ruhe.

»Ich finde, das hört sich zauberhaft an«, sagte ich. »Wie im Märchen. Eine kleine, mutige Seele hat die Pille besiegt und ist nun auf dem Weg zu uns. Herzlichen Glückwunsch zum Karma!«

Sophie sagte nichts. Sie strahlte einfach nur und faltete die Hände über dem Bauch, als sei sie selbst schwanger.

Melanie grinste. »Danke. Aber ich muss zugeben, ich hadere ein bisschen mit dem Timing. Warum hat sich diese Seele nicht vor zehn Jahren auf den Weg gemacht? Vor zehn Jahren wäre alles einfacher gewesen, da war ich mit einem Mann zusammen, der sich Kinder vorstellen konnte; und ich war jünger und auch fitter und hätte keine Angst gehabt, dass mein Leben komplett aus den Fugen gerät und ich es womöglich nicht schaffe, Kind und Job unter einen Hut zu kriegen. Mit zweiunddreißig hatte ich das Gefühl, ich sei Super-Woman persönlich, und die Welt liege mir zu Füßen!«

Sophie sah erstaunt aus. »Wirklich? So warst du drauf ? Ich erinnere mich gar nicht mehr.«

»Der Mann, der sich Kinder vorstellen konnte ... wer war das noch mal?«, wollte ich wissen.

»Das war Oliver.«

»War das nicht der, der sich nicht auf eine feste Beziehung einlassen wollte und später nach Dänemark ausgewandert ist?«, fragte Sophie.

»Genau. Aber er war wirklich sehr kinderlieb, er hat jedem Kinderwagen hinterhergeschaut. Vielleicht hätte er es sich noch mal überlegt mit der festen Beziehung, wenn die Pille damals versagt hätte. Was nichts daran ändert, dass ich jetzt schwanger bin, von einem Mann, für den Kinder nie ein Thema waren. Aber alles wird gut, davon bin ich überzeugt. Es gibt Beratungsstellen und Geburtsvorbereitungskurse, Krankenhäuser, Periduralanästhesien, Hebammen und Kinderkrippen in Berlin, wir leben hier ja nicht hinterm Mond! Frau Dr. Berns hat sehr lange mit mir gesprochen, sie war sehr süß und hat mir jede Menge Informationsmaterial mitgegeben. Heute Nacht hab ich alles von vorne bis hinten durchgelesen. Ich konnte eh nicht schlafen, ich war viel zu aufgeregt.«

Melanie trank einen Schluck Tee. Dann sagte sie: »Heiko und ich haben auch lange geredet. Na ja – begeistert war er nicht, das war klar, er hat aber auch ganz klar gesagt, dass er die Entscheidung, wie es weitergeht mit der Schwangerschaft, mir überlässt. Und er arbeitet weiter an der, hm, bekannten Problematik. Die Situation hat sich ja leider nicht schlagartig geändert, nur weil ich schwanger bin. Aber ich bin zuversichtlich, dass er sich total in sein Baby verlieben wird, wenn es auf der Welt ist, und erkennt, dass wir drei zusammengehören. Und dann wird er endlich Konsequenzen ziehen.«

»Das wäre schön«, sagte Sophie. Es war ihr allerdings anzusehen, dass sie mit etwas ganz anderem beschäftigt war. »Weißt du, ich frage mich gerade, ob dein Baby mit oder ohne Haare zur Welt kommen wird. Egal wie, wir brauchen in jedem Fall eine Kopfbedeckung. Ich werde Babywolle besorgen, die ist extra weich und lässt sich gut waschen, und ein Mützchen stricken. Am besten gleich zwei. Und Söckchen auch, man muss den Kopf und die Füße warm halten, das ist ganz wichtig. Daran kann ich mich noch erinnern, obwohl es schon eine Weile her ist, seit ich ein Baby im Arm gehalten habe, meine Neffen und Nichten sind ja schon groß. Aber jetzt werde ich noch mal Tante, mit vierundfünfzig  ... jedenfalls fühle ich mich wie eine Tante. Das ist einfach genial!«

»Und ich werde mit sechsundvierzig zum allerallerersten Mal Tante«, prahlte ich. »Und das, obwohl ich ein Einzelkind bin. Das macht mir so schnell niemand nach. Tante Rosa  ...« Ich ließ die beiden letzten Worte wie Nougatschokolade auf der Zunge zergehen. »Tante Rosa kann nicht stricken und wird es in diesem Leben auch nicht mehr lernen. Aber sie wird babysitten, wenn Mama Mella zum Friseur geht.«

Melanie fing an zu lachen, doch unvermittelt kamen ihr die Tränen.

»Oh – hab ich was Falsches gesagt?«, fragte ich entsetzt.

»Nein«, schluchzte Melanie. »Ich bin nur so gerührt. Ihr seid so süß, alle beide. Ihr seid wirklich die Schwestern, die ich nie hatte. Tut mir leid, dass ich heulen muss. Das sind bestimmt die Hormone.«

Sophie und ich umarmten Melanie und ihre Hormone, bis sie sich wieder beruhigt hatten.

Die Hormone sorgten in den nächsten Monaten dafür, dass Melanies Baby sich prächtig entwickelte. Frau Dr. Berns war sehr zufrieden.

In der international tätigen Anwaltskanzlei, in der Melanie als Übersetzerin arbeitete, akzeptierte man die Schwangerschaft und Melanies Wunsch, nach dem Mutterschutz Vollzeit weiterzuarbeiten, mit Gelassenheit. Was Melanies Eltern, zu denen sie kaum Kontakt hatte, zu der Neuigkeit sagten, wussten wir nicht. Wir Tanten erfuhren, dass ein kleines Mädchen unterwegs war. Und seit Melanie vor ein paar Wochen die ersten Bewegungen in ihrem zunehmend rundlicheren Bauch gespürt hatte, war es auch klar, wie wir ihr Baby vorerst nennen würden: Motte. »Wie das Flattern von Mottenflügeln – genau so fühlt sich das an, wenn sie strampelt«, hatten wir von der werdenden Mutter gehört. Das klang nicht so romantisch, wie Sophie und ich uns das gewünscht hätten. Wir hätten uns lieber einen Zitronenfalter oder ein Tagpfauenauge vorgestellt als eine gelb-bräunliche Schmetterlingsart, deren Larven sich von Pullovern ernährten. Aber mir nichts, dir nichts war die Motte in unseren Wortschatz geflattert, wurde von Tag zu Tag schöner, und würde dort verweilen, bis Melanie sich endgültig für einen Vornamen entschieden hatte.

An diesem Silvesterabend war Melanie in der fünfundzwanzigsten Schwangerschaftswoche und gerade süchtig nach Datteln, kernlosen Weintrauben und Schinken-Käse-Croissants. Sophie und ich erfuhren außerdem, dass Motte nun schon um die dreißig Zentimeter groß und über sechshundert Gramm schwer war, dass sie am Daumen lutschen konnte und ihr die Songs von Adele besonders gut zu gefallen schienen, sie strampelte dann viel entspannter.

»Okay, damit können wir dienen«, sagte Sophie und ging zur Stereoanlage. Kurz darauf füllte Adeles großartige Stimme das Wohnzimmer. Sophie schloss die Augen und fing an zu tanzen. Mir fiel auf, wie zerbrechlich sie immer noch aussah und wie schmal ihr Gesicht wirkte. Dabei war Sophie von Natur aus kein zartes Reh, wir hatten sie viele Jahre als energiegeladene, kraftvolle Frau mit großzügigen Kurven gekannt. Doch dann war Godzilla über sie hergefallen, ein bösartiger Eindringling, der nach langem, zähem Ringen endlich vom Chemo-Titanosaurus und dem dreiköpfigen Bestrahlungsdrachen-Gigantos besiegt worden war. Sophie war gesund, sie brauchte keine Behandlungen mehr! Das war die Glücksbotschaft, die sie uns an meinem Geburtstag letztes Jahr an der Ostsee erzählt hatte, mit leuchtenden Augen, auf ihre ganz eigene Sophie-Art, mit der sie von Anfang an mit ihrer Krankheit umgegangen war.

Aber der Kampf gegen Godzilla hatte sie über zwanzig Kilo gekostet, nur ein paar waren bisher zurückgekehrt. Ihre Haare, die der Behandlung zum Opfer gefallen waren, waren wieder nachgewachsen. Sophie trug sie jetzt kurz, nicht mehr als schulterlangen Bob, der sie fast ihr ganzes Erwachsenenleben lang begleitet hatte. Sie sah schick aus mit der Frisur, aber auch fremd, ich hatte mich noch nicht daran gewöhnt, und auch nicht an ihre veränderte Statur. Als ich sie jetzt so selbstvergessen tanzen sah, fiel mir auf, dass sie bei aller äußeren Zerbrechlichkeit so viel Freude am Leben ausstrahlte wie niemand sonst, den ich kannte, mich selbst eingeschlossen. Wie eine Sonnenblume wandte sich Sophie immer dem Licht zu, auch wenn es erst zu erahnen war, und das war etwas, was ich aus tiefstem Herzen bewunderte.

In diesem Moment tauchten die Männer aus der Küche auf. Als Stefan Sophie sah, stellte er schnell das Tablett mit Gläsern ab, nahm sie in die Arme und drehte sich mit ihr im Rhythmus der Musik. Sie küsste ihn lachend auf den Mund. Melanie neben mir seufzte. »Sie sind so glücklich miteinander. Das ist einfach wunderschön anzusehen.«

Das fand ich auch. Stefan und Sophie hatten lange aufeinander warten und einiges in ihrem Leben durchmachen müssen, bis sie sich fanden. Dann, mitten in die verliebte Rosarote-Wolken-Zeit, platzte Godzilla mit einer Wucht herein, die viele frische Beziehungen wohl nicht überlebt hätten. Aber Sophie und Stefan waren Seite an Seite, Hand in Hand, barfuß durch die Hölle und wieder zurück gegangen, mit einer Selbstverständlichkeit und einer Liebe, die alle, die sie kannten, tief berührte.

Mein Blick fiel auf Uwe. Er hatte sich ein Glas Saft vom Tablett genommen und beobachtete das tanzende Paar. Auf die Idee, Melanie und mich zu fragen, ob wir etwas trinken wollten, war er nicht gekommen. In diesem Moment war er für mich nicht der Mann, mit dem ich seit acht Jahren verheiratet war. Ich sah einen kräftigen, teuer und elegant angezogenen Mann mit einem unzufriedenen Gesicht, der unnahbar wirkte. Der Kontrast zu Stefan und Sophie, die mit dem Christbaum um die Wette strahlten, hätte kaum größer sein können. Wäre die Frau, durch deren Augen ich ihn beobachtete, auf der Suche nach einem Flirt gewesen, hätte sie bestimmt jemand anderen als ihn angelächelt. Jemanden, der so aussah, als würde er gern zurücklächeln.

Die Klingel riss mich aus meinen Gedanken. Stefan und Sophie gingen Hand in Hand zur Tür, um zu öffnen. Die Party hatte begonnen.

Es wurde ein wundervoller Abend, und ich hatte einfach nur Spaß. Viele nette Leute waren da, wir hörten schöne Musik und genossen die Leckereien vom Büffet und den guten Wein. Ich unterhielt mich eine ganze Weile mit Sophies Bruder Theo, den ich besonders gerne mochte. Theo war Arzt für Allgemeinmedizin in einer Gemeinschaftspraxis, lebte als Einziger von Sophies drei Geschwistern in Berlin und hatte seine Tochter Laura, deren Freund und eine Frau mitgebracht, die ich nicht kannte. Sie war viel jünger als er und sah gelangweilt aus, was sich auch nicht änderte, wenn man mit ihr redete. Theo versuchte, sie in unser Gespräch einzubinden, aber sie blieb einsilbig, verschwand nach kurzer Zeit Richtung Stereoanlage und schaute sich Stefans CD-Sammlung an.

»Seid ihr schon länger zusammen?«, wollte ich von Theo wissen.

Er lächelte. »Wir haben uns erst vor kurzem kennengelernt. In einer Buchhandlung, bei den schwedischen Krimis. Vielleicht kommen wir zusammen, vielleicht nicht. Sie ist so jung, ich war sonst immer mit ungefähr gleichaltrigen Frauen zusammen. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, was sie an mir findet.«

Ich starrte ihn ungläubig an. Theo war fünfzig, sah aber jünger aus und hatte das gleiche Lächeln wie Sophie. Ein Lächeln, das einem das Gefühl gab, die Sonne persönlich strahlte einen an und meinte es unendlich gut mit einem. Theo könnte so ziemlich jede Frau zwischen fünfundzwanzig und fünfundachtzig betören, und er fragte sich, was diese Person mit dem gelangweilten Gesicht an ihm finden könnte.

»Du machst Witze, oder?«

Er grinste spitzbübisch und fuhr sich mit einer Hand durch die dichten, graumelierten Haare, um die ihn bestimmt viele Männer beneideten. »Na ja  – ein bisschen was muss sie schon an mir finden, sonst hätte sie nein gesagt, als ich sie gefragt habe, ob sie mich heute Abend begleitet.« Er drehte den Kopf zur Terrasse. »Oh, schau mal, Laura und Rafael gehen rauchen. Wollen wir mitgehen und eine Kippe schnorren?«

Wir rauchten beide seit über zehn Jahren nicht mehr, außer ab und zu bei Festlichkeiten, wenn Raucher da waren, die wir anbetteln konnten. Dann waren wir Komplizen und hatten unseren Spaß daran. Die selbstgedrehte Filterzigarette, die Rafael mir schenkte, schmeckte nicht wirklich gut, und mir wurde nach ein paar Zügen ein bisschen schummrig, aber ich genoss sie trotzdem. Theo hatte einen Arm um meine Taille gelegt, und ich kuschelte mich gemütlich an ihn wie an einen Kachelofen. Wie er es schaffte, so großzügig Wärme abzugeben, obwohl er nicht mal seinen Mantel zugeknöpft hatte und darunter nur ein weißes Hemd und Jeans trug, war mir ein Rätsel. Zu viert pafften wir in einträchtigem Schweigen Tabakwölkchen in die eisige Luft. Vor der Terrasse schlief Sophies geliebter kleiner Garten unter einer Schneehaube, über uns glitzerten unzählige Sterne am Himmel. Es war eine Winternacht wie aus einem Märchen von Hans Christian Andersen.

»Was wünschst du dir fürs neue Jahr, Rosa?«, fragte Theo plötzlich.

Ich brauchte gar nicht zu überlegen. »Das, was ich mir jedes Jahr wünsche: Mögen alle Wesen in allen Welten glücklich sein. Das ist ein Mantra und gleichzeitig ein indisches Gebet für den Weltfrieden.«

»Cool«, sagte Laura und drückte ihre Zigarette im Schnee aus. »Gesundheit, Reichtum und Erfolg finde ich aber auch wichtig.«

»Ich auch. Vor allem den Reichtum, ich bin chronisch pleite. Gehen wir wieder rein?«, warf Rafael ein. »Es ist saukalt hier.«

Wir stapften zur Terrassentür. »Und du, Theo? Was wünschst du dir?«, wollte ich wissen.

»Täglich mindestens eine Portion Glück.«

Ich hätte ihn noch gerne gefragt, was für ihn Glück war und wie er sich eine Portion vorstellte, aber Theo gesellte sich gleich zu seiner Begleiterin, die jetzt neben der Bücherwand stand, in einem Bildband über geheime Gärten in Berlin blätterte und nicht mehr ganz so gelangweilt aussah. Offenbar fand sie Fotos und das gedruckte Wort unterhaltsamer als uns Anwesende. Während ich noch überlegte, ob ich Lust auf eine zweite Portion Nachtisch hatte, stürzte sich Stefans Schwester Susanne auf mich. Sie wollte ihren Tibetterrier-Rüden Samsung endlich davon überzeugen, nicht mehr in ihrem Bett zu schlafen, und brauchte meinen Rat. Dann plauderte ich noch sehr nett mit zwei Kolleginnen von Sophie aus der Buchhandlung. Die Stimmung war fröhlich, es wurde viel gelacht. Auch Uwe schien sich wohlzufühlen, er saß mit zwei Männern zusammen, die ich nicht kannte, und war ins Gespräch vertieft. Ein paar Leute tanzten, darunter Melanie. Sophie saß die meiste Zeit mit wechselnden Gesprächspartnern auf dem Sofa; sie sah müde, aber glücklich aus.

Kurz vor Mitternacht wurde der Fernseher eingeschaltet, damit wir das neue Jahr auch ja nicht verpassten. Stefan und Theo hatten Crémant de Loire eingeschenkt und Orangensaft für Uwe. Melanie wollte keinen Saft. »Ich habe das mit Motte besprochen. Ein Schlückchen Crémant findet sie völlig okay.«

Uwe und ich standen zusammen, zum ersten Mal an diesem Abend. Ich dachte bei mir, dass Leute, die uns nicht kannten, wohl kaum auf die Idee gekommen wären, dass wir ein Paar waren. Auf Partys gingen wir fast immer eigene Wege. Zu Hause war es kaum anders. Tagsüber war ich in der Praxis, Uwe in seinem Büro in der Personalabteilung eines großen Konzerns. Wir frühstückten nicht zusammen, denn Uwe musste früher als ich aus dem Haus. Abends kochte ich für uns, wenn es zeitlich passte. Am Wochenende unternahmen wir manchmal etwas zusammen, oft auch nicht. Uwe sah gern abends fern, um sich nach einem langen Tag zu entspannen. Ich hielt mich meistens im Arbeitszimmer auf. Manchmal tranken wir vor dem Schlafengehen ein Glas Wein zusammen und redeten über Berufliches und Alltägliches. Wir schliefen im selben Bett und fuhren einmal im Jahr zusammen in Urlaub. Wenn ich mich so im Bekanntenkreis umsah, fand ich, dass wir eine ganz normale Ehe führten. Wir arrangierten uns im Alltag, hatten keine finanziellen Sorgen und wussten, wohin wir gehörten. Und das war in dieser riesigen Stadt, in der so viele Menschen in Einsamkeit versanken, etwas, dessen Wert wir zu schätzen wussten.

Um Punkt zwölf umarmte ich Uwe, und wir küssten uns. Dann umarmte jeder jeden, man machte die Runde, es wurde angestoßen und viel gelacht. Dann zogen sich alle die Mäntel an, und wir gingen nach draußen, um das Feuerwerk zu bestaunen. Melanie, Sophie und ich standen zusammen auf der Terrasse und schauten zu, wie Stefan und einer seiner Kollegen im Garten Raketen steigen ließen. Es war das erste Mal, dass es bei Sophie Feuerwerk gab, der Kollege hatte es mitgebracht. Wir machten »oh« und »ah«, der bunte Funkenregen am Himmel war wunderschön anzusehen. Laura verteilte Wunderkerzen, und bald schwenkten wir alle begeistert unser Sternchenfeuer. Und eine tiefe Männerstimme sang laut: »We wish you a Merry Christmas, we wish you a Merry Christmas and a Happy New Year ...« Ich summte glücklich mit. Der Crémant schmeckte einfach wunderbar, und die Menschen, die ich auf dieser Welt am meisten liebte, waren bei mir. Besser konnte ein Jahr nicht beginnen.

2

Die ersten Wochen des neuen Jahres begannen hektisch. Ich war mit Julia und Kathrin allein in der Praxis. Tom, mein Kollege, war mit seiner Freundin in Australien unterwegs. Er schickte uns Daheimgebliebenen ein Foto, auf dem er mit einem Koala auf dem Arm glücklich in die Kamera lächelte. »Der Kleine ist schwerer, als er aussieht, und riecht nach Eukalyptusbonbon«, schrieb er. »Bin total verliebt in ihn, die Wallabys, Emus und dieses weite Land und würde am liebsten auswandern.« Bloß nicht, dachte ich entsetzt, denn ich wollte ihn auf keinen Fall verlieren. Beruhigend wirkte die Erinnerung, dass er letztes Jahr, als er durch Kanada gereist war, auch hatte auswandern wollen. Wegen der Schlittenhunde und der Bären. Nach seiner Rückkehr war davon gottlob keine Rede mehr gewesen.

Kurz nachdem Toms Mail eingetroffen war, wurde Julia krank, sodass Kathrin und ich die Praxis alleine schmeißen mussten. Mein Tag fing früh an und hörte spät auf, denn das Wartezimmer war gerammelt voll. So als ob sich sämtliche Hunde, Katzen, Meerschweinchen, Kaninchen und Vögel in Zehlendorf verabredet hätten, krank zu werden. Als Tom wieder da war, erholt, braun gebrannt von der australischen Sonne und bestens gelaunt, war ich zutiefst dankbar. Endlich hatte der Stress ein Ende, und ich konnte mich auf unser Mädelstreffen freuen, das diesmal an einem Sonntagnachmittag bei Sophie stattfinden sollte. In den letzten Wochen hatten wir bis auf ein paar SMS keinen Kontakt gehabt. Manchmal war das einfach so. Umso mehr freute ich mich, dass wir es fast jeden Monat schafften, uns zu treffen. Wir gingen ins Kino, irgendwo essen, kochten zusammen, gingen spazieren oder shoppen oder schauten uns irgendetwas Interessantes in Berlin und Umgebung an.

Die Sonne schien, als ich mich mit dem Auto auf den Weg nach Babelsberg machte. Jetzt, Ende Januar, waren die Tage schon ein bisschen länger, und die Vögel zwitscherten erwartungsvoll dem Frühling entgegen. Ich war in Hochstimmung und freute mich auf den Nachmittag mit meinen Lieben. Als ich auf der Suche nach einem Parkplatz langsam durch die kopfsteingepflasterte Straße fuhr, wo Stefan und Sophie wohnten, sah ich Melanie, die zu Fuß um die Ecke bog. Ich hupte kurz und winkte, und sie winkte lachend zurück. Melanie wartete vor der Haustür auf mich und fiel mir um den Hals, soweit ihr kugelrunder Bauch das noch zuließ. »Ach, schön, euch zwei zu sehen!«, sagte ich. »Ihr seht toll aus!«

»Rund, meinst du wohl. Mittlerweile hab ich zehn Kilo mehr drauf. Und noch elf Wochen vor mir«, sagte Melanie und klingelte.

Sophie öffnete uns. Sie wirkte still und distanziert, was überhaupt nicht zu ihr passte. Sie sah aus, als hätte sie nächtelang nicht geschlafen, und ihre Augen waren gerötet und geschwollen, als hätte sie viel geweint. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch hängte ich meine Jacke auf. Stefan schien nicht da zu sein. Wenn er zu Hause war, begrüßte er uns immer mit Sophie zusammen und half uns aus den Mänteln. Vielleicht hatten die beiden sich gestritten? Aber nein, das ergab keinen Sinn. Wenn Sophie wegen eines Streits mit Stefan so elend aussehen würde, wie sie heute aussah, dann wäre die Ehe am Ende, und das konnte einfach nicht sein. Es war gerade mal vier Wochen her, seit ich mit eigenen Augen gesehen hatte, wie glücklich die beiden miteinander waren. Mein Magen krampfte sich zusammen, ich mahnte ihn zur Ruhe. Vielleicht hatte Sophie einfach nur schlecht geschlafen, oder sie fühlte sich krank, weil eine Grippe im Anzug war. Aber alles gute Zureden änderte nichts: Mein Magen dachte gar nicht daran, sich zu beruhigen. Etwas in mir duckte sich ängstlich, so wie ein kleines Tier, das den Feind in seiner Nähe spürte.

In der Küche war der Kaffeetisch bereits gedeckt. Fürs Backen war Stefan im Hause Mehring zuständig, er hatte eine Biskuitrolle mit Kirschen und einen Käsekuchen gezaubert. Dazu gab es Tee.

Sophie griff nach der Warmhaltekanne, um einzuschenken. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie die Kanne absetzen musste. Abrupt setzte sie sich hin und sagte: »Bedient euch bitte selber.«

Melanie biss sich auf die Lippe, was sie immer tat, wenn sie angespannt war, und füllte unsere Tassen. Niemand sagte etwas. Niemand nahm sich Kuchen.

Sophie schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Mein Magen krampfte sich noch mehr zusammen, wie um sich vor etwas zu schützen. Aber es gab keinen Schutz, das sah ich in Sophies Augen, als sie sie öffnete und ich ihre Stimme hörte, vertraut und gleichzeitig fremd: »Ich sehe keine Möglichkeit, es euch schonend beizubringen. Deshalb sage ich es euch auf meine Weise: Godzilla ist zurückgekommen. Er hat den Krieg gewonnen. Ich habe nur noch ein paar Wochen zu leben.«

Mit jedem Wort wurde es in der Küche kälter, bis ich wie zu Eis erstarrt war. Melanies Gesicht war gespenstisch weiß, eine Grimasse des Entsetzens. »Aber das kann nicht sein. Du bist doch gesund ...«, flüsterte sie.

Ich konnte nicht mal flüstern. Selbst meine Stimme war erfroren. Nur mein Herz nicht. Es schlug so dumpf und rasend schnell gegen meine Rippen, dass ich Angst hatte, es könnte aus dem Brustkorb fliegen und in tausend Stücke explodieren.

Sophie schüttelte den Kopf. Nein, sie war nicht gesund. Sie war auf den Tod krank, sterbenskrank, sie würde nicht mehr gesund werden. Es gab keine Hoffnung. Ihre Stimme klang unnatürlich ruhig, als sie uns wissen ließ, was sie uns wissen lassen wollte. Wir hatten nie erfahren, welche Krebserkrankung sich hinter dem Decknamen des japanischen Filmmonsters verbarg, und sie verriet es uns auch jetzt nicht.

Was sie uns in kargen Worten erzählte, war, dass sie seit ein paar Wochen Beschwerden hatte, auf die sie nicht näher einging. Sie hatte gehofft, dass sie von selbst verschwinden würden, aber das war nicht der Fall gewesen. In der ersten Januarwoche habe Stefan sie dann zu Theo in die Praxis geschleift, der sie sofort ins Krankenhaus zu Untersuchungen überwiesen hatte. Die Ergebnisse waren niederschmetternd. Was die moderne Medizin an therapeutischen Maßnahmen zu bieten hatte, würde Sophies Leben möglicherweise um ein paar Tage oder – im allergünstigsten Fall – um ein paar Wochen verlängern. Mehr nicht. Gleichzeitig sei mit erheblichen Nebenwirkungen zu rechnen.

Sophie schloss wieder die Augen, wie um Kraft zu tanken. Ich hörte ihre tiefen Atemzüge und Melanie, die leise in ihre Serviette weinte. Ich hätte Melanie gerne getröstet, aber wie kann man trösten, wenn es keinen Trost gibt und man schockgefroren ist?

Es war dämmrig geworden in der Küche, die Januarsonne sank schnell hinter die Häuser, bald würde sie verschwunden sein. All das registrierte der Eisblock namens Rosa, während gleichzeitig jemand – wer? – in ihrem Gehirn wiederholte: »Das ist nicht wahr. Das kann nicht wahr sein. Das ist ein böser Traum, aus dem du gleich aufwachst, und alles ist wieder gut ...«

Aber nichts war gut. Sophies leise, ruhige Stimme verkündete, dass sie die letzten Wochen ihres Lebens zu Hause verbringen würde. Ohne sinnlose Therapien, ohne Nebenwirkungen, die ihr jede Minute vergiften würden. Stefan hatte sich vom Schuldienst befreien lassen, er würde bei ihr sein. Ihre in ganz Deutschland verstreut lebende Familie würde Zeit haben, um sie zu besuchen und Abschied zu nehmen. Und Theo würde dafür sorgen, dass es ihr in der Zeit, die ihr noch blieb, so gut wie möglich gehen würde.

Sophies Mundwinkel kräuselten sich zum Schatten eines Lächelns, als sie sagte: »Ich bin nicht allein mit Godzilla und meiner Angst. Das ist ein gutes Gefühl.«

»Nein, du bist nicht allein«, flüsterte eine heisere Stimme, die ich mit Mühe als meine eigene erkannte. »Wir sind auch für dich da. Ich werde mit Tom sprechen, ich werde weniger arbeiten, damit ich so oft wie möglich bei dir sein kann.«

»Ich lasse mich krankschreiben«, sagte Melanie. »Dann kann ich dich jeden Tag besuchen.«

Aber das war nicht das, was Sophie wollte. »Was wünschst du dir denn von uns? Wie können wir für dich da sein?«, fragte ich. Ich flehte sie geradezu an, denn allein der Gedanke, etwas tun zu können, für sie da sein zu können, linderte das trostlose Gefühl von Hilflosigkeit, an dem ich beinahe erstickte. Sophie dachte eine Weile nach.

Währenddessen holte Melanie ein Feuerzeug aus der obersten Schublade des Küchenschranks und zündete die beiden Kerzen an, die auf dem Tisch standen.

»Ich wünsche mir, dass wir Spaß haben, wenn wir zusammen sind«, sagte Sophie plötzlich. »Ich möchte mit euch reden und lachen und essen und spazieren gehen und ins Kino, so wie immer. Vielleicht auch mal weinen, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Aber Godzilla und alles, was mit ihm zu tun hat, soll draußen bleiben.«

Zwischen den wenigen Worten spürte ich, worum es ihr ging: Sophie wollte, dass wir –  solange sie noch bei uns war  – mit dem Herzen hinschauten und nicht mit ängstlichen, mitleidigen Augen, die jedes Detail ihres Sterbens registrieren würden. Ihr innigster Wunsch war, dass wir das Wesentliche, das nur mit dem Gefühl wahrgenommen werden kann, mit ihr lebten.

Sophie wollte nicht unbedingt noch mal das Meer sehen, sie träumte auch nicht von einer letzten großen Reise oder anderen spektakulären Dingen, die sie noch unternehmen wollte. Sie wollte Normalität. Zeit mit den Menschen, Beschäftigungen und Orten, die sie liebte. Sie wollte ihr gemütliches Zuhause und ihren kleinen Garten genießen. Sie wünschte sich so viel wie möglich vom kleinen Glück des Alltags. Es klang so einfach und so ganz nach Sophie.

Dass es alles andere als leicht sein würde, war eine andere Sache. Unser gemeinsamer Mädels-Alltag würde der Sonntag sein. Jeder Sonntag, der Sophie noch geschenkt werden würde.

»Habt ihr was dagegen, wenn ich das Licht einschalte?«, sagte Melanie plötzlich. Nein, wir hatten nichts dagegen. Die plötzliche Helligkeit war mir sogar sehr recht, stellte ich fest. Ich konnte sofort leichter atmen. Es schien, als ob Godzilla einen Schritt zurückgewichen sei.

»Ich fühle mich gar nicht so schlecht, wisst ihr. Ich könnte beinahe vergessen, was los ist.« Wieder kräuselten sich Sophies Mundwinkel nach oben. »Lasst uns jetzt über was anderes reden, okay?« Ohne unsere Antwort abzuwarten, erkundigte sie sich bei Melanie nach Motte. Der Sprung über den Abgrund von Godzilla zu Motte war gewaltig, aber Melanie meisterte ihn auf bewundernswerte Weise. Sie berichtete, dass Motte jetzt, in der neunundzwanzigsten Schwangerschaftswoche, ungefähr zwölfhundert Gramm wöge und schon neununddreißig Zentimeter lang sei. Sie sei immer noch sehr temperamentvoll und trete so kräftig zu, dass der Bauch regelrecht ausbeule. Manchmal hatte Motte Schluckauf. »Das fühlt sich ganz seltsam an, ungefähr so, als ob in mir drin Seifenblasen platzen würden. Alles ist ganz wunderbar, meint Frau Dr. Berns, und wenn ich derzeit nach Hering in Tomatensoße und Käsebroten mit Dijon-Senf und Honig lechze, dann nimmt sich der Körper, was er braucht.«

»Ach, schön, dass es euch so gut geht. Darf ich mal fühlen?«, fragte Sophie.

»Nur zu. Sie ist wach und mopsfidel.« Melanie legte Sophies Hand auf ihren Bauch. Sophie streichelte die pralle Wölbung, ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Oh, ein Kick, ein Treffer. Die Motte wird mal Fußballprofi.«

Wenig später verabschiedeten wir uns, denn Sophie war plötzlich sehr müde und wollte sich ein halbes Stündchen  aufs Sofa legen. Stefan hatte angerufen, er war auf dem Heimweg und würde in Kürze eintreffen. Sophie brachte uns zur Tür und sagte leise: »Es tut mir so leid, dass ich euch solchen Kummer machen muss. Euch beiden und allen meinen anderen Lieben, allen voran Stefan. Ich wünschte, ich könnte euch das ersparen.«

Unvermittelt kamen ihr die Tränen, zum ersten Mal an diesem Nachmittag. Wäre Stefan in diesem Moment zur Haustür hereingekommen, hätte er drei Frauen in einer engen Umarmung gesehen, die zusammen weinten.

Melanie war mit der S-Bahn gekommen. Ich bot an, sie nach Hause zu fahren. »Quatsch. Ich will nicht, dass du wegen mir quer durch Berlin und wieder zurückfahren musst und Stunden unterwegs bist. Ich fahre gern Bahn. Ich höre Musik und lese.«

»Jetzt auch? Nach dieser Nachricht? In deinem Zustand?«

Melanie legte eine Hand auf ihren Bauch. »Ja. Aber lass uns vorher noch irgendwo was trinken gehen. Ich will jetzt noch nicht nach Hause, in eine leere Wohnung. Heiko sehe ich erst morgen Abend.«

In einem Lokal gegenüber vom S-Bahnhof Babelsberg bestellten wir Kakao mit Sahne. Der Laden war voll, wir hatten den letzten freien Tisch ergattert. Um uns herum lachten, redeten, tranken und aßen die anderen Gäste, ich fühlte mich wie abgeschnitten von dieser gutgelaunten, sorglosen Welt.

Auf unserer Insel mit zwei Stühlen und einem kleinen runden Tisch hielten Melanie und ich uns an den heißen Tassen fest und löffelten die süße, schokoladene Flüssigkeit. Kakao war der Trostspender meiner Kindheit gewesen, niemand konnte ihn so lecker zubereiten wie meine Mutter. Ich brauchte Kakao nur zu riechen, dann sah ich sie wieder vor mir, wie sie mit mir am Küchentisch saß und geduldig meinen, im Nachhinein betrachtet, kleinen Kümmernissen lauschte. »Das wird schon wieder gut«, war ihr Universaltrostspruch gewesen. Ich hatte ihn nie vergessen, auch wenn ich seit dem Flugzeugabsturz vor zwölf Jahren, bei dem ich meine Eltern verloren hatte, nicht mehr daran glaubte. Es gab Dinge, die wurden nie wieder gut, egal, was jemand behauptete. »Ich kann nicht glauben, dass es keine Hoffnung gibt«, sagte Melanie plötzlich trotzig »Sophie ist doch eine Kämpferin. Sie ist dem Tod doch schon mal von der Schippe gesprungen. Neulich hab ich in einer Zeitschrift einen Artikel über eine krebskranke Frau gelesen, die sich in den USA mit einem neuen Medikament behandeln ließ, das in Deutschland nicht zugelassen ist, und sie ist auch wieder gesund geworden.«

»Sophie hat ihre Gründe, warum sie zu Hause bleibt, anstatt in der Weltgeschichte herumzureisen und neue Therapien auszuprobieren.«

»Ja, ich weiß. Aber ich wünsche mir so sehr, dass sie sich nicht geschlagen gibt. Sie soll nicht aufgeben. Ich will, dass sie lebt, verdammt noch mal!«

Das wollte ich auch. Alle wollten das. Und tatsächlich wurde ja immer wieder in den Medien berichtet, dass ein Mensch, den die Schulmedizin austherapiert hatte, durch schiere Willenskraft seine Krankheit besiegte und gesund wurde. Aber war es wirklich Willenskraft? Oder passte diese Art der Berichterstattung nur so gut in unsere Zeit, in der Willenskraft – ob beim Gesundwerden, Sporttreiben, Jungbleiben, Abnehmen oder dem Erklimmen der Karriereleiter  – als unfehlbare Geheimwaffe gehandelt wurde? Wer nicht erreichte, was er sich vorgenommen hatte, war ein Versager, ein disziplinloser Schlaffi und selber schuld.

Auf der Heimfahrt bekam ich Kopfschmerzen und spürte, wie sich eine bleierne Müdigkeit in mir ausbreitete. Ich dachte an Sophie, die jetzt vielleicht gerade Abendbrot mit Stefan aß. Sie brauchte uns. Was sie nicht brauchte, und das wusste Melanie genauso gut wie ich, waren Informationen über neue Therapien für Krebspatienten im Endstadium oder flehentliche Bitten, es doch noch mit einer letzten Chemo und Bestrahlungen zu versuchen.

Uwe war zu Hause, durch die heruntergelassenen Jalousien im Wohnzimmer schimmerte Licht. Es war Sonntagabend, garantiert schaute er sich gerade den Tatort an.

Ich hatte richtig geraten: Uwe klebte vor dem Bildschirm und sah nicht einmal auf, als ich den Kopf zur Tür  hereinsteckte, um ihm mitzuteilen, dass ich wieder da war. Ich verstaute den Kuchen, den Sophie mir mitgegeben hatte, im Kühlschrank und schenkte mir ein Glas Rotwein ein. Essen mochte ich immer noch nichts. Melanie war inzwischen bestimmt auch zu Hause, in ihrer hübschen Altbauwohnung in der Nähe der Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg. Dort wartete niemand auf sie, mit dem sie über die Hiobsbotschaft sprechen konnte. Ich hatte Glück, ich war nicht allein. Uwe war da, auch wenn er gerade nicht erkennen ließ, dass er mich überhaupt bemerkt hatte, als ich mich jetzt neben ihn aufs Sofa setzte.

»Ich bin total fertig«, sagte ich, laut genug, um den Fernseher zu übertönen.

»Mhm«, machte Uwe, ohne die Augen von der Mattscheibe abzuwenden.

»Willst du nicht wissen, warum?«

»Mhm! Ist gerade total spannend. Wir reden später, ja?«

Vor meinen Augen blitzte es rot auf, ich war auf einmal so wütend, dass ich am liebsten den Fernseher aus dem Fenster geschmissen hätte und Uwe gleich hinterher.

»Sophie hat einen Rückfall, sie ist wieder krank, und es ist sehr schlimm, aber lass dich nur nicht stören!«, brüllte ich so laut, dass man es bestimmt bis zum Brandenburger Tor hören konnte, aber das war mir egal. Ich nahm mein Rotweinglas, marschierte aus dem Zimmer und donnerte die Tür hinter mir zu.

Uwe folgte mir ins Arbeitszimmer, aber erst nachdem der Tatort vorbei war. »Sag mal, Rosa, was sollte denn der Auftritt eben? Ich verstehe, dass du dir Sorgen um Sophie machst; dass der Krebs zurück ist, ist ja wirklich eine sehr beunruhigende Neuigkeit, aber warum können wir nicht ganz in Ruhe darüber reden?«

»Weil du zu beschäftigt warst«, gab ich zurück. Ich hatte mittlerweile zwei Gläser Rotwein intus und war so müde, dass ich nur noch eins wollte: Ins Bett fallen und ausgehen wie ein Licht. Was ich auf gar keinen Fall wollte: Uwe erzählen, dass Sophie bald sterben würde. Ihm war sein Tatort wichtiger gewesen als seine Frau, die gerade erfahren hatte, dass bei ihrer Freundin wieder Krebs diagnostiziert worden war, er hatte mein Vertrauen und damit die volle Wahrheit nicht verdient. Trost konnte ich sowieso nicht von ihm erwarten, er war nicht der Typ, der einen liebevoll in den Arm nahm. Lieber entwarf er kluge Strategien und fuhr, wie er es gerne nannte, »die Schiene der Vernunft und Sachlichkeit«.

»Eine solche Nachricht muss doch erst mal ein wenig verarbeitet werden, ehe man darüber spricht«, erwiderte Uwe salbungsvoll – und absolut typisch. Den Juristen, der um eine Ausrede verlegen war, musste ich erst noch kennenlernen.

»Leider besteht bei Krebs ja immer die Gefahr, dass er zurückkommt, ich hatte ja schon im vorletzten Jahr, als es hieß, dass Sophie wieder ganz gesund sei, vor vorschneller Euphorie gewarnt. Steht der Behandlungsplan schon fest? In welches Krankenhaus kommt sie denn? Wieder in die Charité?«

»Behandlungsplan? Krankenhaus? Wovon redest du?« Rotwein und Müdigkeit hatten meine Gehirntätigkeit wohl eingeschränkt, ich konnte Uwe nicht folgen.

»Sie wird doch sicher wieder eine Chemotherapie bekommen? Und Bestrahlungen?«, fragte er eifrig. »Die Charité hat ja einen ausgezeichneten Ruf, gerade was Krebserkrankungen angeht. Du wirst sehen, bald geht es ihr besser. Sie schafft das schon. Sie ist ja eine starke Persönlichkeit mit ganz viel Willenskraft.«

»Ja. Ja, das ist sie. Ich gehe jetzt ins Bett«, sagte ich, so müde, dass ich am liebsten den Kopf auf die Schreibtischplatte gelegt hätte.

Uwe meinte es gut, das wusste ich. Auch wenn er nun mal war, wie er war. Ein Übermaß an Empathie konnte ihm niemand vorwerfen, aber das hatte ich ja gewusst, als ich mich für ihn entschieden hatte.

Als ich ihn kennenlernte, hatte ich die Nase gestrichen voll gehabt von Träumern, Mühseligen und Beladenen, Problembären sowie sensiblen Künstlern, die von der Hand in den Mund lebten und sich nur zu gerne von mir durchfüttern ließen – auch emotional. Ich hatte einen vernunftbetonten, zielstrebigen Mann und Beständigkeit, inklusive Trauring am Finger, gewollt. Und das hatte ich auch bekommen.

In dieser Nacht schlief ich wie ein Stein. Ich überhörte sogar den Wecker und wachte erst auf, als Uwe, schon fix und fertig angezogen, mich an der Schulter berührte. »Guten Morgen. Du musst jetzt auch aufstehen, Rosa, sonst kommst du zu spät in die Praxis.«

Ich kam nicht zu spät, sondern pünktlich in die Praxis, geduscht und geschminkt, und hatte es sogar noch geschafft, beim Bäcker vorbeizuspringen, um mir eine Kleinigkeit zum Mittagessen zu besorgen. In mir und um mich herum drehte sich die Welt, so wie sie sich immer drehte, weil es ihre Natur war, sich zu drehen, auch wenn mein Herz so schwer war, dass es eigentlich das gesamte Getriebe zum Stillstand hätte bringen müssen.

Als ich zur Tür hereinkam, telefonierte Julia gerade und winkte mir lächelnd zu. Tom und Kathrin waren schon bei der Arbeit, ich hörte ihre Stimmen, als ich an dem Sprechzimmer mit der rot gestrichenen Tür vorbeihuschte. Kurz darauf trug ich einen offenen weißen Kittel über weißen Praxishosen und einem blauen Poloshirt und empfing zusammen mit Julia meinen ersten Patienten des Tages: Den Jack-Russell-Terrier Prinz und sein Herrchen, Herrn Meyerling. Für mich nicht die optimale Kombination für einen stressfreien Tagesbeginn, aber was sollte ich machen? Es war mir leider nicht gelungen, Herrn Meyerling an Dr. Tom weiterzuleiten. Sein Prinz, davon war er überzeugt, brauchte eine weibliche Hand. Der kleine Rüde war ungefähr so hoch wie breit und ähnelte verblüffend einem überdimensionalen Meerschweinchen. Die harmlose Optik täuschte, er legte sich gerne mit anderen Rüden an, was manchmal schiefging. Ich hatte schon öfter Bisswunden bei ihm verarztet. Heute ging es nur ums Impfen. Dazu gehörte eine kurze Untersuchung, ob der Hund gesund war. Während ich Prinz, der dabei wie üblich ununterbrochen knurrte, begutachtete, klagte Herr Meyerling sein Leid, in voller Lautstärke, denn er hörte sehr schlecht und ging davon aus, dass es dem Rest der Welt genauso ging: Eine Mieterhöhung sei ins Haus geflattert. Seine Nachbarin rede schlecht über ihn, hinter seinem Rücken, das sei ihm aus zuverlässiger Quelle zugetragen worden. Apropos Rücken, der schmerze unerträglich, bestimmt müsse er bald an den Bandscheiben operiert werden, und das sei der Anfang vom Ende, er werde bestimmt ins Pflegeheim müssen. Seine Lieblingstasse war aus dem Fenster gefallen, als er ein wenig frische Luft schnappen wollte und sich zu weit vorgebeugt hatte, weil er glaubte, einen Einbrecher im Haus gegenüber entdeckt zu haben. Seine Kinder und Enkel hassten ihn und besuchten ihn viel zu selten, und letzte Woche hatte seine geliebte Schefflera ihr letztes Blatt verloren und hauchte nun ihr Leben in der Mülltonne aus.

»Mit Prinz ist alles in Ordnung«, schrie ich, als Herr Meyerling Luft holte, um einen neuen Redeschwall zu starten. Während ich die Injektion setzte, klagte sein Herrchen lautstark darüber, dass das so nicht stimmen könne, denn Prinz leide oft unter Durchfall und Erbrechen. Dieses Thema hatten wir schon oft: Es war aus tierärztlicher Sicht absolut nicht empfehlenswert, wenn Prinz neben Hundefutter Delikatessen wie Kassler mit Sauerkraut und Kartoffelpüree, Buletten, Salami und Kotelett-Knochen verdrückte. »Der Hund ist immer noch zu dick, Herr Meyerling, und die Probleme, die Sie schildern, führe ich auf Ernährungsfehler zurück«, sagte ich streng. »Wenn Sie wollen, dass Prinz lange lebt und seine Verdauung nicht unnötig belastet wird, halten Sie sich bitte an den Fütterungsplan, den ich Ihnen neulich mitgegeben habe. Keine Naschereien, nichts vom Tisch. Konsequenz und ausreichend Bewegung sind wichtig. Frau Teschner gibt Ihnen gerne noch mal eine Kopie mit, nicht wahr, Julia? Und sie trägt auch die Impfung im Impfpass ein, und wenn Sie noch Fragen haben, kann sie Ihnen sicher weiterhelfen. Ich muss jetzt leider weiter zum nächsten Patienten.«

Julia, die immun gegen Herrn Meyerlings Nebelhornstimme und Klagelieder war, sagte lächelnd: »Aber klar. Das kriegen wir alles hin, was, Herr Meyerling?«

»Ich möchte auch gleich bezahlen!«, dröhnte der. »Ich mache keine Schulden! Wer weiß, ob ich morgen noch lebe! Aber für meinen Prinz ist gesorgt, meine älteste Tochter erbt ihn, ob sie will oder nicht, das steht im Testament!«

Mit einem Händedruck verabschiedete ich mich von Herrn Meyerling und eilte ins nächste Sprechzimmer, wo ein Meerschweinchen auf mich wartete, dessen Zähne abgeschliffen werden mussten.

Der Vormittag verging wie im Flug. Es war gut, dass so viel los war, ich kam nicht zum Nachdenken. Um zwölf Uhr mittags war das Wartezimmer leer und die Vordertür abgeschlossen, erst um halb zwei würde es weitergehen. Kathrin und Julia hatten es sich in der Teeküche gemütlich gemacht. Tom und ich waren für einen Spaziergang mit »Picknick« zur Krummen Lanke verabredet. Wir gingen öfter in der Mittagspause zusammen los und aßen unterwegs eine Stulle oder eine andere Kleinigkeit. Die Bewegung und die frische Luft taten uns gut, und wir nutzten die Zeit, um über Praxisinterna zu reden. Manchmal kamen auch private Angelegenheiten zur Sprache, und auch das tat gut. Tom war nicht nur mein hochgeschätzter Kollege, er war, obwohl ich wenig über sein Privatleben wusste, auch ein Freund.

Er kannte und mochte Sophie, er hatte mitgefiebert, als sie so krank gewesen war, er war glücklich gewesen, als ich berichten konnte, dass sie gesund war.

Heute nahmen wir unseren Lieblingsweg: Durch den Park, am Spielplatz vorbei und dann immer geradeaus bis zu den Treppen, die zum See hinunterführten. In der Nacht hatte es ein bisschen geschneit, eine dünne Puderzuckerschicht hatte die Bäume und Sträucher in einen Märchenwald verwandelt. Die Luft war klar, der Himmel blau, und die Sonne ließ den Schnee funkeln wie Kristall. Es war ein herrlicher Tag, und wie immer war ich aus tiefstem Herzen dankbar, dass ich so nah an der Natur wohnte, am Rande des Grunewalds mit seiner Seenkette, zu der auch die Krumme Lanke gehörte. Das war Berlin, wie ich es am meisten liebte; das stille, grüne Gesicht der Stadt, das vielen Leuten verborgen blieb.

Unsere belegten Brötchen aßen Tom und ich auf der kleinen Brücke, die ins Hundeauslaufgebiet an der Krummen Lanke führte. Wir lehnten am Geländer, hielten unsere Gesichter in die Sonne und warfen ab und zu ein Stückchen Brot ins Wasser, um die erwartungsvolle Entenschar, die sich um einen einsamen Schwan im grauen Jugendgefieder scharte, zu erfreuen. Das war ökologisch nicht korrekt, aber Tierärzte sind auch nur Menschen.

Anschließend spazierten wir ein Stück am See entlang, und ich erzählte Tom, wie es um Sophie stand. Dass ich dabei anfing zu weinen, war nicht geplant gewesen, ließ sich aber nicht vermeiden. Tom murmelte irgendwas auf Polnisch, das wie ein Fluch klang, und dann schloss er mich einfach in die Arme, drückte mich fest an sich und sagte erst mal gar nichts.

Umarmt hatte er mich, seit wir uns kannten, exakt vier Mal: Zum ersten Mal vor der Party, die wir anlässlich der Eröffnung unserer Gemeinschaftspraxis geschmissen hatten; zum zweiten Mal, nachdem ich ihm von Sophies Krankheit erzählt hatte. Nach der Glücksbotschaft, dass Sophie den Kampf gegen Godzilla gewonnen hatte, hatte Tom mich nicht nur an sich gedrückt, er hatte mich hochgehoben und herumgewirbelt, als würde ich so viel wiegen wie ein Chihuahua. Er hatte Bärenkräfte und auch optisch etwas von einem Bären mit seinen dunklen, verwuschelten Haaren, den schmalen, leicht schräg stehenden Augen und der kräftigen Nase.

Seine Umarmung war so tröstlich, dass ich am liebsten nie wieder daraus aufgetaucht wäre, aber Tom wollte mir auch etwas sagen, und wie es seine Art war, wenn er mit jemandem sprach, wollte er mir dabei in die Augen sehen können. Sein Blick hatte etwas Hypnotisches, was ich auch darauf zurückführte, dass ein Auge hellbraun, das andere blau war, wie bei einem Siberian Husky.

»Rosa ...«, sagte er mit rollendem slawischem R, nachdem er mir ein ordentlich gebügeltes und gefaltetes Taschentuch überreicht hatte, »glaubst du an Wunder?«

»Das ist gar nicht nötig. Ich habe Veterinärmedizin studiert. Ich bin Naturwissenschaftlerin. Spontanremissionen bei onkologischen Erkrankungen im Endstadium sind dokumentiert, aber sie sind extrem selten.«

Tom legte seine Hände auf meine Schultern, ich konnte ihre Wärme selbst durch meine Daunenjacke spüren. »Du hast dich daran erinnert, dass du weißt, dass es Wunder gibt. Das ist sehr gut!« Er beugte sich zu mir herunter und flüsterte in mein Ohr: »Wunder sind überall, sie geschehen jeden Tag, kleine Wunder, große Wunder, das Leben ist voll davon, oder? Dass wir lebendig sind, und dass dieser herrliche See in der Sonne glitzert, dass es Vögel gibt, die gerade singen, und Bäume, die in den Himmel wachsen und uns Sauerstoff schenken, damit wir atmen können, der Waldboden unter unseren Füßen, auch das sind Wunder! Rosa ... alles im Universum ist ein einziges Wunder. Wir müssen nur mit dem Herzen hinschauen, dann erkennen wir die Magie, die alles zusammenhält.«

Mein ganzer Körper hatte sich mit Gänsehaut überzogen, während ich wie in Trance seiner raunenden Stimme lauschte. Eine Melodie und Worte tauchten in meinem Kopf auf: »Wunder gibt es immer wieder, heute oder morgen können sie geschehen. Wunder gibt es immer wieder, wenn sie dir begegnen, musst du sie auch sehen.« Tom ließ meine Schultern los und trat lachend einen Schritt zurück. »Ja! Ganz genau!«, rief er, und erst dann wurde mir klar, dass ich laut gesungen hatte, den Refrain des Lieblingslieds meiner Mutter, die ein großer Fan von Katja Ebstein gewesen war. Auf geheimnisvolle Weise fühlte ich mich beschenkt, beinahe so, als hätte meine Mutter persönlich diese Erinnerung geweckt, um mich zu trösten. Wie selbstverständlich nahm Tom meine Hand in seine große Pranke, die so geschickt und zart mit Tieren umgehen konnte. »Komm, wir gehen noch ein Stück. Erzähl mir von den Wundern, die dir im Leben begegnet sind und die du gesehen hast«, sagte er.

»Ach, Tom. Wenn du mich so fragst  ... es waren bestimmt ganz viele, aber ich kann mich gerade nicht erinnern.«

»Wenn du jetzt ein bisschen nachdenkst  ... fällt dir dann vielleicht ein einziges Wunder ein?«

Mein Gedächtnis meldete sich sofort. »Ja! Vor zwölf Jahren wollte ich mit meinen Eltern eine Woche Urlaub machen. Aber einen Tag vor der Abreise wurde ich krank, ich bekam die Grippe, eine richtig fiese Grippe, und verbrachte die nächsten Tage mit hohem Fieber im Bett. Das war mein Glück. Denn auf dem Rückflug stürzte die Maschine ab, meine Eltern und alle anderen an Bord starben. Es ist also ein Wunder, dass ich noch am Leben bin.«

»Ein ganz, ganz großes Wunder«, sagte Tom ehrfürchtig.

»Ja. Aber ich muss gestehen, dass ich bei aller Dankbarkeit, noch am Leben zu sein, lange damit gehadert habe. Warum hatte das Wunder meine Eltern ausgeschlossen? Warum mussten sie zur falschen Zeit am falschen Ort sein und sterben? Sie waren erst Anfang sechzig und kerngesund. Sie hatten noch so viele Pläne. Irgendwann war ich so weit, dass ich eingesehen habe, dass es keine höhere Instanz gibt, bei der du Klage einreichen kannst, weil etwas geschieht, das für dich keinen Sinn ergibt und das du ungerecht und grausam findest. Kennst du den Spruch von John Lennon: Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen?«

Tom nickte. »Ein guter Spruch, sehr wahr. Aber es gibt nicht nur eine, sondern viele persönliche Wahrheiten. Und es gibt Wunder, um die man sogar bitten kann. Wir sind nicht allein.« Ein verschmitztes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. »Es gibt keine Gerichtshöfe im Himmel, aber hilfreiche höhere Instanzen, an die wir uns wenden können, wenn wir Unterstützung brauchen, für uns selbst oder andere.«

»Meinst du etwa Gott?« Ich war, um es gelinde zu sagen, erstaunt von der Wendung, die unser Gespräch genommen hatte. Dass Tom religiös war, war mir völlig neu. Aber was wusste ich schon über ihn? Nicht viel mehr, als dass er aus Szczecin stammte, dass in seinem Elternhaus Deutsch und Polnisch gesprochen worden war, er mit vollem Namen Tomasz Szczypiorski hieß – womit die durchschnittliche deutsche Zunge überfordert war –, achtunddreißig war, gerne reiste, am liebsten in ferne Länder, und mit seiner Freundin zusammen in der Nähe des U-Bahnhofs Neukölln wohnte. Tom war nicht der Mensch, der sich selbst zum Thema machte.

Jetzt blieb er stehen und streifte die dünne, silberne Kette, die er immer trug, über den Kopf. Als er sie mir hinhielt, sah ich zum ersten Mal den Anhänger, der sonst immer unter seiner Kleidung verborgen war. Er war etwas kleiner als eine Streichholzschachtel, oval und aus Silber. »Das«, sagte Tom, »ist die Schwarze Madonna von Czestochowa  – Tschenstochau auf Deutsch. Sie ist die wundertätige Schutzpatronin von Polen und die Königin der Herzen. Jedes Jahr pilgern Millionen Menschen zu ihrer Ikone, die in Częstochowa im Paulinerkloster auf dem Jasna Góra, dem Hellen Berg, aufbewahrt wird.«

Ich nahm die Kette in die Hand, um mir den Anhänger genauer anzuschauen. »Bist du auch zur Madonna gepilgert? Und warum heißt sie Schwarze Madonna?«

»Das Bild ist sehr alt und wurde auf Holz gemalt. Viele Jahrhunderte lang wurden im Altarraum Öllämpchen zur Verehrung aufgestellt, ihr Ruß hat das Holz dunkel gefärbt. Und ja, ich bin den Pilgerweg nach Czestochowa öfter gegangen. Von Warschau aus sind es ungefähr dreihundert Kilometer.«

Ich wollte ihm die Kette zurückgeben, aber er schloss seine Hand um meine, drückte sie sanft und sagte: »Ich möchte sie dir gerne schenken. Viele Geschichten von Wundern und unerwarteten Heilungen ranken sich um die Schwarze Madonna. Du kannst sie um alles bitten. Auch darum, dass Sophie gesund wird.«

»Aber die Madonna wird dir fehlen«, protestierte ich.

»Aber nein. Im Sommer pilgere ich wieder nach Częstochowa und besorge mir eine neue Medaille. Diese hier ist für dich in einer schweren Zeit.«

Toms Blick war unverwandt auf mich gerichtet. Ich hatte das Gefühl, dass das braune Auge lächelte, während das blaue Auge ernst blickte. Was eigentlich nicht sein konnte. »Danke, Tom. Vielen, vielen Dank«, sagte ich, vor Rührung den Tränen nahe, und legte die Kette um. Ich war nicht religiös, schon gar nicht dem Katholizismus zugeneigt, und mit Mitte zwanzig aus der Kirche ausgetreten. Aber mit Toms Schwarzer Madonna von Tschenstochau in Silber auf meiner Brust fühlte ich eine leise Hoffnung aufkeimen, und das war das größte Geschenk, das Tom mir hatte machen können. Wunder gibt es immer wieder, heute oder morgen können sie geschehen  ...