Sophie und die Hexe von nebenan - Sibylle Wenzel - E-Book

Sophie und die Hexe von nebenan E-Book

Sibylle Wenzel

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Beschreibung

Eben noch sind Sophies Aussichten für die Sommerferien mehr als öde: Ihre Mutter meint, eine Tochter aus gutem Hause muss auch in den Ferien Klavier, Ballett und Mathe üben. Doch dann passieren die kuriosesten Dinge ... Die neue Klavierlehrerin hat definitiv keine Ahnung von Musik und Sophies Hund Strichpunkt benimmt sich plötzlich mehr als komisch! Als Strichpunkt dann auch noch verschwindet und die verrückten Nachbarinnen noch durchgeknallter sind, als Sophie es sich je hatte träumen lassen, beginnt für sie der wohl magischste, aufregendste und verrückteste Sommer aller Zeiten.

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© 2015, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-15054-2

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Hier musste Strichpunkt doch irgendwo sein! Bestimmt hatte er sich wieder hinter der kleinen Statue mit der Harfe bei den Rosenbeeten versteckt. Vorsichtig schlich Sophie sich heran. Tatsächlich, neben dem dicken Fuß des dümmlich grinsenden Engelchens guckte eine weiße Hundepfote hervor. Sophie lächelte, gleich würde sie ihn haben …

»Sophie! Sophie-hie!«, gellte die schrille Stimme ihrer Mutter durch den Garten. »Komm ins Haus! Deine Klavierstunde fängt gleich an!«

Sophie seufzte. Heute war der erste Tag der großen Ferien. Für andere zehnjährige Mädchen hieß das sechs Wochen lang ausschlafen, die beste Freundin treffen und den ganzen Tag rollerbladen, schwimmen gehen, Eis essen, einfach alles, was Spaß macht. Aber nicht für sie. Erstens hatte sie keine beste Freundin und zweitens hätte sie gar keine Zeit für sie gehabt. Denn Sophie hatte auch an einem Ferientag eine Menge Pflichten zu erfüllen: vormittags Ballettunterricht oder Gesangstunde, dann Klavierspiel und nachmittags Mathe üben. Im letzten Zeugnis hatte sie nur eine Drei gehabt. Und so eine Note war für eine Sander nicht vertretbar, fand ihre Mutter.

Sophies Familie war sehr reich. Ihr Vater Michael Sander war Inhaber einer großen Firma, die Haushaltsgeräte herstellte. Da die Kühlschränke, Waschmaschinen, Herde, Bügeleisen und Toaster inzwischen fast nur noch im Ausland zusammengeschraubt wurden, war er ständig auf Reisen. Und wenn er doch mal da war, arbeitete er den ganzen Tag in der Firmenzentrale in der Stadt und wollte am Abend nur noch auf der Couch sitzen und auf seinem Smartphone Sudokus lösen. Auch Sophies Mutter, Anna-Luise Sander, hatte immer wahnsinnig viel zu tun. Ständig fuhr sie in ihrem weißen Cabrio herum, um Spendengalas zu organisieren oder Ausstellungseröffnungen zu besuchen. Sie war die Vorsitzende der »Liga für ein sauberes Stadtbild«, saß im »Komitee zur Rettung der heimischen Flora und Fauna« und kümmerte sich nebenbei auch noch um die Kunst. So viel hatten die Sanders zu tun, dass sie es dieses Jahr nicht einmal schafften, in den Sommerurlaub zu fahren. Und da war es doch wohl nicht zu viel verlangt, dass Sophie sich ebenfalls ein bisschen anstrengte. Fand ihre Mutter.

Sophie selbst fand das überhaupt nicht. Sie wünschte sich nur, mit ihrem Hund Strichpunkt Verstecken zu spielen, Jeans und T-Shirt zu tragen statt der spießigen Kleidchen, in die ihre Mutter sie dauernd steckte, mit einem Band ihrer Lieblingscomicreihe »Die wilde Hilde« in der Sonne zu liegen, ein bisschen auf ihrem eigenen Comicskizzenblock herumzukritzeln, endlich die Rollerblades auszuprobieren, die sie zum Geburtstag bekommen hatte – und vor allem einfach mal gar nichts zu tun.

»Sophie! Jetzt komm schon, Herr Zirngabel ist gleich da, und du musst dich noch umziehen!«, ertönte die Stimme ihrer Mutter noch einmal, diesmal deutlich schriller. Enttäuscht klatschte Sophie in die Hände.

»Komm raus, Strichpunkt! Wir müssen aufhören.«

Die Pfote hinter der Statue wurde zurückgezogen und Strichpunkt kam hervor. Für andere Menschen war er nicht gerade ein hübscher Hund. Dafür waren seine Beine zu kurz, sein Fell zu struppig und seine Ohren zu groß. Unter seinen Vorfahren war auf jeden Fall ein Dalmatiner gewesen, denn Strichpunkts Fell war weiß mit vielen schwarzen Sprenkeln. Und mitten auf seiner Stirn prangten zwei schwarze Flecke, die wie ein Strichpunkt aussahen und ihm seinen Namen gegeben hatten.

Strichpunkt war jetzt seit fast einem Jahr bei Sophie. Sie hatte ihn sich nicht in einem Zooladen oder bei einem Hundezüchter ausgesucht, sondern ihn auf der Straße gefunden. Genau genommen hatte Strichpunkt sie gefunden. Sophie konnte sich noch ganz genau an den Tag erinnern. Es war im letzten Sommer gewesen, als sie von einem Besuch bei Celina Poschmann zurückkam. Celina war eine Klassenkameradin Sophies, die ganz in der Nähe wohnte. Sie stand auf Rosa. Ihre Kleider, ihre Schuhe, ihr Schulranzen, ja sogar ihre Pausenbrottüten mussten rosa sein, sonst lief sie knallrot (nicht rosa) an und begann zu heulen, bis sie ihren Willen bekam. Sophie konnte sie nicht ausstehen. Ihre Mutter wusste das, doch da Celinas Vater ein einflussreicher Stadtrat war, sah sie darüber großzügig hinweg und bestand darauf, dass Sophie den Poschmanns mindestens einmal im Monat einen Besuch abstattete.

Sophie erinnerte sich noch genau, wie sie nach diesem besonders langweiligen Nachmittag – Celina hatte ihr die neuesten Errungenschaften ihres rosaroten Kleiderschranks gezeigt – nach Hause gegangen war: Ein warmer Sommerregen plätscherte vom Himmel herab, während sie an den vornehmen Villen vorbeistapfte. Sie war richtig sauer, so sauer, dass es ihr egal war, ob ihr gelbes Seidenkleid nass wurde – ja, sogar so sauer, dass sie überlegte, ob sie überhaupt wieder nach Hause gehen sollte. Sollte ihre Mutter sich doch selber mit den Poschmanns anfreunden, wenn sie sie so toll fand! Andererseits, wo sollte sie hingehen? Ihre Verwandten würden sie postwendend zu ihren Eltern zurückschicken und richtige Freunde hatte sie nicht. In solche Gedanken vertieft, war Sophie automatisch den Lavendelweg entlang bis zum Haus ihrer Eltern gelaufen. Hier blieb sie unschlüssig stehen. Ob sie abhauen sollte? Einfach in die U-Bahn steigen und zum Bahnhof fahren und von da aus irgendwohin? Gerade als sie wirklich gar nicht mehr weiterwusste, kam Strichpunkt auf sie zu. Zuerst erschrak sie, doch dann setzte sie sich auf den Bürgersteig und begann ihn vorsichtig hinter dem linken Ohr zu kraulen. Das gefiel Strichpunkt so sehr, dass er sich an sie schmiegte. Weil er das mit ziemlich viel Schwung tat, verlor Sophie dummerweise das Gleichgewicht und fiel vom Bürgersteig, mitten hinein in eine große Pfütze. Strichpunkt fasste das als Aufforderung für eine Schlammschlacht auf und sprang hinterher. Die nächsten zehn Minuten hatte Sophie mehr Spaß als in ihrem ganzen Leben zuvor und ihr war klar, dass sie Strichpunkt nie mehr hergeben wollte.

Natürlich sah ihre Mutter das ganz anders. Als Sophie mit Strichpunkt – beide völlig verdreckt – vor ihr stand, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen. Auf keinen Fall würde sie diesen bakterienverseuchten Straßenköter in ihr Haus lassen! Egal wie viel Sophie bettelte, drohte und flehte, nichts half. Erst als ihr Vater nach Hause kam und geschlagene drei Stunden im Wohnzimmer mit ihr geredet hatte, gab ihre Mutter nach – nachdem Sophie versprochen hatte, von jetzt an ohne Murren zum Ballett- und zum Gesangunterricht zu gehen und jeden Tag eine ganze Stunde Klavier zu üben. Danach hatte sie noch einmal eine Weile bangen müssen, bis abgeklärt war, ob Strichpunkt irgendwo vermisst wurde (was zum Glück nicht der Fall war) – und dann konnte er endlich bei ihr bleiben!

»Sophie! Jetzt ist es aber genug!«, schallte die Stimme von Frau Sander zum dritten Mal durch den Garten. Diesmal klang sie wie eine Lautsprecherdurchsage im Supermarkt. So schnell sie konnte, rannte Sophie mit Strichpunkt durch den Lavendel über die weiten Rasenflächen den Hügel hinauf zum Haus. Als sie an der langen Reihe Ulmen vorbeilief, konnte sie auf der Terrasse der dreistöckigen Villa ihre Mutter erkennen, die ungeduldig auf sie wartete. Sie stand da wie ein Oberfeldwebel beim Morgenappell, nur dass sie keine Uniform trug, sondern ein schwarz-weiß gestreiftes Kleid, das sie vermutlich noch schlanker aussehen lassen sollte, als sie ohnehin war. Zum tausendsten Mal dachte Sophie, wie froh sie war, dass sie Strichpunkt hatte. Ohne ihn würde sie diese Ferien, die bestimmt die langweiligsten der Welt werden würden, niemals durchstehen …

Der vornehme Villenvorort wirkte wie ausgestorben. Bei diesen Temperaturen verließ niemand das Haus, wenn es nicht unbedingt sein musste. Nur eine einzelne beleibte Dame stapfte eilig durch den Azaleenweg. Sie war schwer bepackt: In der linken Hand hielt sie einen großen rosafarbenen Lilienstrauß und in der rechten einen knallgelben Staubsauger. Die Hitze setzte ihr offenbar sehr zu. Die blonden Locken klebten an ihren runden, rot angelaufenen Wangen und der Schweiß rann ihr in dicken Tropfen über das Doppelkinn in den Kragen ihres geblümten Sommerkleides.

»Krötenschleimnocheins, was für eine Affenhitze«, schimpfte sie leise vor sich hin, während sie mühsam einen Fuß vor den anderen setzte. »Aber dieses Mal kommst du mir nicht davon, Theodora! Erst werde ich diesen Herrn Zirngabel aus dem Weg räumen und dann bist du dran …«

Schnaufend setzte sie den Staubsauger einen Moment ab, um sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Oberlippe zu tupfen. An ihrem linken Mundwinkel befand sich eine große Warze. Im Erdgeschoss des Hauses gegenüber, einer großen Villa mit der Hausnummer 45, bewegten sich die Gardinen. Eine spitze Nase wurde sichtbar, gefolgt von zwei kleinen neugierigen Augen und einem Pferdegebiss. Die Trägerin desselben, eine ältere Dame, schaute misstrauisch hinüber.

»Das hat mir gerade noch gefehlt!«, stöhnte die dicke Frau leise, setzte aber sofort ein überfreundliches Grinsen auf und winkte grüßend mit dem Blumenstrauß. »Lass mich bloß in Ruhe, du Spinatwachtel!«, zischte sie dabei zwischen den entblößten Zähnen hervor.

Tatsächlich wurde der Blick der spitznasigen Dame freundlicher. Sie zog die Vorhänge wieder zu.

Mit einem erleichterten Ächzen nahm die Frau in dem geblümten Kleid den Staubsauger wieder auf und hastete weiter. Sie steuerte zielstrebig einen kleinen, aber dichten Azaleenbusch an, der sich vor einer Mauer auf einem Grünstreifen befand. Sie sah sich ein paarmal um, ob jemand sie beobachtete, doch außer einer getigerten Katze, die müde über die Straße trottete, war niemand da. Dann wuchtete die Frau den Staubsauger schnaufend hinter den Busch und schob sich selbst mühsam hinterher.

Einen Moment später kam statt der Dame ein schmächtiger Mann hinter dem Gebüsch hervor. Er trug einen grauen Anzug nebst einem Schlips in derselben Farbe. Die einzige Ähnlichkeit, die er mit der dicken Frau hatte, war die große Warze, die auch über seiner linken Oberlippe prangte. In der Hand hielt er den rosa Lilienstrauß, den eben noch die Frau getragen hatte. Damit bewaffnet ging der Mann weiter den Azaleenweg entlang, bis dieser den Lavendelweg kreuzte. Er bog rechts ab, blieb aber direkt hinter der Straßenecke, die von zwei dicht gewachsenen Hecken gesäumt wurde, stehen.

Ein paar Minuten vergingen, während derer der Mann immer wieder in den Azaleenweg guckte, so, als warte er auf jemanden oder etwas. Schließlich sah er ärgerlich auf die Uhr.

»Wo bleibt er denn, dieser Klimperlehrer? In drei Minuten fängt die Klavierstunde an«, brummte er und streckte ungeduldig erneut den Kopf um die Ecke. Diesmal zog er ihn rasch wieder zurück, denn ein hochgewachsener Mann mit Halbglatze kam ihm auf dem Azaleenweg entgegen. Er hatte eine Notentasche unter den Arm geklemmt und legte ein ordentliches Tempo vor.

Der kleine Mann grinste zufrieden. »Na endlich. Da sind Sie ja, Herr Zirngabel!«, murmelte er und stellte sich vor der Straßenecke in Position. Er hielt den Blumenstrauß wie einen Schutzschild vor sich und wartete, bis der Mann mit der Halbglatze um die Ecke lief – direkt hinein in die rosafarbene Blütenpracht.

»Pardauz!«, entfuhr es Herrn Zirngabel, dem Klavierlehrer.

Und dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig: Herr Zirngabel musste furchtbar niesen, während er seine Notentasche fallen ließ, den Arm hochriss und damit dem Strauß einen ordentlichen Stoß verpasste – sodass er in weitem Bogen durch die Luft flog. Mit einem satten Plopp landete er auf der Motorhaube eines teuren Wagens, der am Straßenrand abgestellt war.

Der schmächtige Mann wartete geduldig, bis Herrn Zirngabels Niesanfall vorüber war. Als sich seine Nase endlich beruhigt hatte, schaute der Klavierlehrer ihn erschrocken an. Er sah plötzlich ganz betroffen aus.

»Bitte entschuldigen Sie! Ich bin in Eile und habe Sie gar nicht gesehen«, rief Herr Zirngabel und pflückte hastig den Lilienstrauß von der Autohaube. Die Blumen waren völlig ramponiert. Etliche Stiele waren geknickt und die meisten Blütenblätter hatten sich verabschiedet. Betreten hielt er dem Mann die traurigen Reste des Straußes hin. »Äh, das tut mir wirklich sehr leid«, sagte er.

Doch der Mann nahm sie entgegen, als sei nichts geschehen. »Die paar Blätter, das ist doch nicht so schlimm«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln. »Am wichtigsten ist bei Blumen doch immer der Duft. – Oder was denken Sie?«

Dabei beugte er sich vor und sah Herrn Zirngabel tief in die Augen, als wolle er etwas nachprüfen. Herr Zirngabel wirkte benommen. Wie hypnotisiert starrte er auf die Warze am Mundwinkel des kleinen Mannes. »Ich denke, Sie haben da eine wirklich sehr hässliche Warze«, sagte er. Gleich darauf hielt er sich erschrocken beide Hände vor den Mund. »Verzeihung!«, stammelte er. »Wie konnte ich nur so unhöflich sein? Das ist mir einfach so herausgerutscht …«

Der Mann lächelte noch ein bisschen breiter. »Sie haben ja recht, sie ist hässlich!«, sagte er. »Warum mit der Wahrheit hinterm Berg halten? Ich finde, man sollte immer sagen, was man denkt, Sie nicht auch? – Aber jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten. Schließlich haben Sie noch etwas zu erledigen.«

Herr Zirngabel sah ihn einen Moment verblüfft an. Dann schien ihm einzufallen, dass er sich wirklich beeilen musste. Hastig schnappte er sich seine Notentasche und lief weiter. Der schmächtige Mann sah ihm mit einem sehr zufriedenen Lächeln hinterher.

Im Lavendelweg Nr.12 stand Sophie vor dem großen Spiegel in der Eingangshalle und zupfte mit gerümpfter Nase die Rüschen an ihrem Kragen zurecht. Sie hasste diese spießige weiße Bluse und diesen steifen hellroten Cordrock! Aber ihre Mutter hatte ihr nur die Wahl zwischen diesem Outfit und dem braunen Samtkleid, in dem sie aussah wie ihre Tante Gabriele, gelassen. Sophie betrachtete sich unzufrieden im Spiegel. Sie fand ihr herzförmiges Gesicht viel zu blass, ihre Nase war ihrer Ansicht nach schrecklich langweilig und nichtssagend und ihre hellblonden Haare viel zu glatt. Dabei hätte sie – wie die Wilde Hilde in ihren Comicheften – so gern Locken gehabt! Das Einzige, was Sophie an sich mochte, waren ihre Augen. Sie waren nachtblau mit einem bernsteinfarbenen Ring um die Pupille.

Mit einem raschen Blick zu Strichpunkt, der von dem flauschigen Teppich in der Mitte der Halle den Durchgang zum Wohnzimmer einsah, vergewisserte sich Sophie, dass ihre Mutter nicht in der Nähe war, dann zog sie das Haargummi aus ihrem straff gebundenen Pferdeschwanz und band ihn sich noch einmal. Diesmal deutlich lockerer. Trotzig zupfte sie ein, zwei Strähnen ganz heraus und betrachtete sich erneut. Immer noch langweilig! Genervt streckte Sophie ihrem Spiegelbild die Zunge heraus, dann ging sie ins Wohnzimmer. Strichpunkt folgte ihr.

Sophie setzte sich auf eines der riesigen schwarzen Ledersofas und guckte über die grün gemusterten Teppiche hinweg zu ihrer Mutter hinüber. Frau Sander saß gespannt wie eine Mausefalle in einem Sessel. Ihre Fußspitze wippte ungeduldig auf und ab, während ihr Blick immer wieder zu der Standuhr in der Ecke huschte: Viertel nach vier. Armer Herr Zirngabel, wenn er nicht mindestens von drei durchgedrehten Elefanten entführt worden war, würde sie ihm das nie verzeihen. Trotzdem war Sophie heilfroh über die Verspätung. Von ihr aus hätte die Klavierstunde ruhig für immer ausfallen können! Das lag nicht etwa an Herrn Zirngabel, nein, den konnte sie gut leiden, sondern daran, dass sie mit dem Klavier auf Kriegsfuß stand. Egal wie sie sich anstrengte, sobald sie sich auf den schwarzen Hocker setzte, schienen ihr zehn linke Daumen zu wachsen, die entweder die falsche Taste trafen oder zwei gleichzeitig. Dummerweise wollte ihre Mutter das nicht einsehen. Sie war fest überzeugt, dass es nichts gab, worin ihre Tochter unbegabt war. Sie war höchstens faul!

Da endlich klingelte es. Während Sabine, die Haushaltshilfe der Sanders, zur Tür ging, um zu öffnen, hielt es Frau Sander nicht mehr in ihrem Sessel. Sie sprang auf und folgte ihr. Sophie hatte Mühe, hinterherzukommen.

Herr Zirngabel trat schwitzend ein.

»Sieh an, der Herr Zirngabel«, begrüßte ihn Frau Sander schnippisch.

»Guten Tag, Frau Sander«, erwiderte Herr Zirngabel, während er ihre Hand schüttelte. Sein Blick fiel auf ihre Frisur. Sie hatte ihre blonden Haare zu einer komplizierten Steckfrisur aufgezwirbelt, die jedem Hurrikan trotzen würde.

»Was für eine auffällige Frisur Sie heute haben«, meinte er in fröhlichem Plauderton, »wie ein zusammengetackertes Vogelnest.«

Frau Sander runzelte verdutzt die Stirn. Herr Zirngabel guckte ebenso verdutzt zurück. Und auch Sophie machte große Augen. Hatte er das eben wirklich gesagt? Zu ihrer Mutter? Sophie sah, wie Herrn Zirngabels Gesicht rot wurde. Er brauchte dringend Hilfe! Sophie dachte fieberhaft nach, dann tat sie das Erste, was ihr einfiel: Sie lachte laut heraus. »Sie sind ja witzig«, sagte sie und tat, als könne sie sich kaum beruhigen. »Ein Vogelnest!«

Erleichtert beobachtete Sophie, wie sich die Stirn ihrer Mutter ein klein wenig entspannte. Sie schien zu beschließen, dass sie Herrn Zirngabel missverstanden haben musste. Ihr Mund verzog sich zu einem frostigen Lächeln.

»Lustig«, sagte Frau Sander schmallippig. »Sie sind etwas spät heute. Schön, dass Sie doch noch hergefunden haben.«

Herr Zirngabel lächelte Sophie dankbar an. »Das finde ich nicht, Frau Sander«, erwiderte er. »Sie können mir glauben, wenn ich das Geld nicht so dringend bräuchte, wäre ich sicher zu Hause geblieben. Ein Montag ohne Sophies Geklimper – das wäre eine echte Wohltat für meine Ohren!«

Schon wieder! Sophie sah Herrn Zirngabel verwirrt an, der sich erschrocken die Hand vor den Mund schlug. Was war denn heute nur los mit ihm?

Frau Sander schnappte nach Luft. »Was wollen Sie damit sagen?«, fragte sie scharf.

Herr Zirngabel litt sichtlich Höllenqualen. Er hielt sich abwechselnd eine oder beide Hände vor den Mund, doch seine Stimme schien ihm einfach nicht gehorchen zu wollen.

»Nur die Wahrheit. Sophie ist ein sehr nettes Mädchen und sie ist bestimmt nicht auf den Kopf gefallen«, presste er hervor, »aber Sie sollten sie wirklich nicht zwingen, Klavier zu spielen. Sie hat nämlich keinen Spaß daran und außerdem trifft sie nie die richtige Taste!«

»Wollen Sie damit etwa sagen, dass meine Tochter unbegabt ist?«, schnappte Frau Sander zurück. Sie war puterrot geworden.

Der Schweiß lief Herrn Zirngabel in Strömen herunter. Er versuchte mit aller Kraft, sich den Mund zuzuhalten, doch es half nichts. »Ja. Wie eine Straßenlaterne!«

Sophie sah gespannt zu ihrer Mutter hinüber. Das würde sie nicht auf sich sitzen lassen. Frau Sander war tatsächlich einen Moment sprachlos. Dann atmete sie tief ein. Und dann aus. Dann wieder ein. Und dann schrie sie los, dass die Sektflöten in der Vitrine klirrten: »So eine bodenlose Unverschämtheit habe ich ja noch nie gehört! Sophie ist eine Sander und die Sanders sind nicht unbegabt!«

Herr Zirngabel war verzweifelt. »Aber, Frau Sander«, stotterte er, »es tut mir ja so leid, ich weiß auch nicht, warum ich das alles sage. Das kommt einfach so aus mir heraus. – Sie kennen mich doch! Auch wenn ich Sie für eine neureiche, arrogante Schnepfe halte, würde ich Sie doch nie beleidigen!«

Jetzt hatte Frau Sander endgültig genug. Eigenhändig drückte sie Herrn Zirngabel seine Notentasche in die Hand und schob ihn aus der Tür. »SIE SIND GEFEUERT! LASSEN SIE SICH HIER NIE WIEDER SEHEN!«, brüllte sie.

Herr Zirngabel floh, so schnell er konnte. Sophie beobachtete durch die offene Tür, wie er zum Gartentor lief, es öffnete und, ohne sich noch einmal umzusehen, davonrannte.

Wenn Sophie gehofft hatte, durch Herrn Zirngabels traurigen Abgang eine Weile um den Klavierunterricht herumzukommen, hatte sie sich getäuscht. Am nächsten Tag verkündete ihre Mutter – nachdem sie mit aufforderndem Blick das Karottengemüse vor Sophie hingestellt hatte – beim Abendessen: »Stellt euch vor, heute Nachmittag hat sich mir bei der Eröffnung der Galerie Wunnenstein eine sehr sympathische Dame vorgestellt, eine gewisse Frau Matussek … – Noch einen Löffel, Sophie! Du brauchst Vitamine. – Und wisst ihr, was sie von Beruf ist?«

Frau Sander sah auffordernd ihren Mann an, der ihr am Esszimmertisch gegenübersaß. Doch der runzelte nur seine Augenbrauen. Er war viel zu sehr mit seinem knusprig gebratenen Steinbeißerfilet beschäftigt, um zu antworten.

Sophies Mutter ließ sich dadurch nicht stören. Ihr Blick wanderte weiter zu Sophie, die bereits Schlimmes ahnte.

»Sie ist Klavierlehrerin! Ist das nicht ein unglaublicher Zufall? Eine reizende Frau, die schon in den besten Häusern gearbeitet hat!«

Sophie hasste es, wie ihre Mutter »in den besten Häusern« sagte. Sie nahm ihre hübsche kleine Nase dabei immer so hoch, dass man von unten hineinsehen konnte.

»Und obwohl Frau Matussek wirklich viel beschäftigt ist«, plapperte Frau Sander weiter, »hat sie zufällig schon morgen einen Termin frei und wird dir ihre erste Stunde geben!«

Sophie machte ein verzweifeltes Gesicht. »Eine neue Klavierlehrerin? Aber Herr Zirngabel …«

»Ich habe es schon einmal gesagt: Diesen Namen will ich in diesem Haus nicht mehr hören!«, unterbrach Frau Sander sie und schnaubte undamenhaft durch die Nase.

Sophie seufzte. »Ja, er hat sich wirklich danebenbenommen. Ich weiß auch nicht, was mit ihm los war. Aber er hat doch recht: Ich kann wirklich nicht Klavier spielen. Warum darf ich nicht einfach aufhören mit dem Unterricht?«

»So ein Unsinn«, erwiderte Frau Sander und häufte sich ärgerlich einen extragroßen Berg Karottengemüse auf den Teller, »Klavierspielen ist sehr gut für deine Ausbildung. Und ich bin sicher, wenn du dich nur ein bisschen mehr anstrengst …«

»Das ist es ja eben«, unterbrach Sophie sie heftig, »ich strenge mich wirklich total an, aber es wird nicht besser. Ich kann’s einfach nicht! – Papa, jetzt sag doch auch mal was!«

Herr Sander schluckte den letzten Bissen seines Filets hinunter. »Ich finde, deine Mutter hat recht, mein Kleines. Ich wäre froh, wenn ich den ganzen Tag Klavier spielen dürfte, statt mich mit einer ganzen Serie nicht funktionierender Toaster herumzuschlagen! An denen stimmt nämlich rein gar nichts …«

Sophie schob frustriert die Karotten auf ihrem Teller von links nach rechts. Warum interessierte es in diesem Haus eigentlich nie jemanden, was sie wollte?

Am nächsten Tag um Punkt vier, wie Sophies Mutter wohlwollend bemerkte, klingelte Beate Matussek bei den Sanders. Während Sabine öffnete, folgte Sophie Frau Sander zur Haustür. Hoffentlich ist sie nicht so ein verknöcherter alter Besen, der keinen Spaß versteht, dachte sie. Dann trat Frau Matussek ein. Auf den ersten Blick wirkte sie nicht, als wäre sie sehr streng, stellte Sophie erleichtert fest. Sie war klein, machte aber das, was ihr in der Höhe fehlte, in der Breite locker wett. Ihre Körperfülle hatte sie in ein eng anliegendes Kleid mit großem Blumenmuster gequetscht, zu dem sie eine ausladende, mit roten Rosen bestickte Tasche trug. Sie hatte ein rundes, rosafarbenes Gesicht und eine große Warze am linken Mundwinkel.

»Schönen guten Tag, Frau Sander«, zwitscherte sie, während sie Sophies Mutter die Hand reichte. »Wie gut Sie wieder aussehen! Das Kostüm steht Ihnen ein-fach groß-ar-tig.«

Fasziniert beobachtete Sophie, wie die Warze an Frau Matusseks Mund eifrig hin und her hüpfte, während sie sprach. Ihre Mutter strich sich geschmeichelt über das flaschengrüne Kostüm, das ihre Taille so gut zur Geltung brachte.

»Ach, Unsinn. Ich habe mir nur rasch was übergezogen.«

»Nein, wirklich!«, beteuerte Frau Matussek, während sie sich von Sabine ihre Jacke abnehmen ließ. Als diese jedoch auch ihre Tasche zur Garderobe mitnehmen wollte, schnellte ihre Hand vor und hielt sie mit eisernem Griff fest. »Die bleibt bei mir«, sagte sie scharf. Dann fügte sie mit einem eiligen Lächeln zu Sophies Mutter hinzu: »Eine Frau ohne ihre Handtasche, Sie wissen ja …« Frau Matussek drehte sich zu Sophie um. »Und du musst die kleine Sabrina sein. Reizend, ganz reizend!«

»Sophie«, sagte Sophie.

»Ach ja, natürlich. Die kleine Sophie.«

Frau Matussek streckte ihr mit breitem Lächeln ihre wabbelige Hand hin. Da ertönte ein warnendes Knurren neben Sophie. Es kam von Strichpunkt. Sophie sah verwundert zu ihm hinunter und erschrak: Strichpunkt fletschte seine Zähne und knurrte Frau Matussek an, als wolle er sie aus dem Haus jagen. So hatte sie ihn noch nie erlebt.

Frau Sander warf dem Hund einen tadelnden Blick zu. »Ruhe!«, rief sie.

Tatsächlich verstummte Strichpunkt, beobachtete Frau Matussek aber weiter misstrauisch.

Sophies Mutter wandte sich peinlich berührt dem Gast zu: »Das ist Sophies Hund Strichpunkt. Ich verstehe gar nicht, was er hat. Sonst ist er eigentlich recht freundlich.«

Das Lächeln war von Frau Matusseks Miene abgefallen. Doch schon nach einer Millisekunde lächelte sie wieder breit. »Das macht doch nichts. Wir werden schon noch Freunde werden, nicht wahr?« Sie beugte sich zu Strichpunkt hinab. Der begann sofort wieder zu knurren.

»Na, wir wollen keine Zeit verlieren. Zum Musikzimmer hier lang«, meinte Frau Sander munter und ging voraus.

Frau Matussek folgte ihr, Sophie und Strichpunkt liefen hinterher. Wenn Frau Matussek sich bewegte, sah sie aus wie ein Blumengeschäft während eines Erdbebens, fand Sophie.

»Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn ich bei der ersten Stunde dabei bin? Sozusagen, um mir einen Eindruck zu verschaffen«, fragte Frau Sander, während sie nach rechts in den Flur gingen, vorbei an einer langen Reihe seltsamer pilzförmiger Objekte, die sie bei der letzten Kunstauktion für einen Haufen Geld erstanden hatte.

»Ach, Mama, das ist doch total unnötig«, wandte Sophie erschrocken ein. Wenn ihre Mutter dabeiblieb, durfte sie sich die nächsten Tage ständig anhören, wie schlecht sie gespielt hatte, und musste doppelt so viel üben.

»Samantha, hör auf deine Mutter. Sie will sich doch nur selbst davon überzeugen, dass sie für ihr Geld auch etwas Gutes bekommt!«, erwiderte Frau Matussek mit einem einschmeichelnden Lächeln zu Frau Sander, die das zufrieden zur Kenntnis nahm.

Als sie die Folterkammer, wie Sophie das Musikzimmer insgeheim nannte, erreicht hatten, sah Frau Matussek sich interessiert um. Ihr Blick blieb an der Terrassentür, durch die man einen schönen Blick auf den Garten hatte, hängen. Sophie nahm unruhig auf dem Klavierhocker Platz, während Strichpunkt sich wie immer zu ihren Füßen unter dem Flügel zusammenrollte. Frau Matussek legte ihre Rosentasche vorsichtig auf einen kleinen Tisch und öffnete sie. Es war irgendein weißer Gegenstand darin, das konnte Sophie sehen. Doch seltsamerweise holte Frau Matussek keine Noten daraus hervor, sondern lediglich einen dünnen Stock aus Messing. Das eine Ende, das Frau Matussek als Griff benutzte, lief in einen kitschigen Schnörkel aus, der Sophie an den Abschluss einer Gardinenstange erinnerte. Offenbar ihr Taktstock.

»Na, dann lass mal hören, Sylvia …«

»Sophie!«

»Genau. Spiel mir was vor, Sophie. Welches Stück hast du zuletzt eingeübt?«

Sophie guckte sie verwundert an. »Ohne Tonleitern?«

Als Frau Matussek sie fragend ansah, verbesserte sich Sophie: »Ich meine, sollte ich mich nicht erst einspielen?«

»Ach, das brauchen wir doch nicht«, erwiderte Frau Matussek mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Wir gehen gleich mitten in den Stoff.«

»Sehr interessanter Ansatz«, meinte Frau Sander und lächelte zustimmend.

Frau Matussek griff zum erstbesten Notenblatt, das auf dem Flügel lag, und legte es auf den Notenständer. »Nehmen wir doch gleich das hier.«

Sophie schluckte. Ausgerechnet der französische Walzer. Den konnte sie gar nicht.

Frau Matussek klopfte ungeduldig mit dem Taktstock auf den Flügel. »Na, los!«, sagte sie.

Sophie atmete tief ein und begann zu spielen. Aber schon im zweiten Takt machte sie den ersten Fehler. Und dann noch einen. Und noch einen. Es hörte sich sehr schief an. Aus den Augenwinkeln konnte Sophie beobachten, wie sich das Gesicht ihrer Mutter bei jedem falschen Ton verzog. Sie sah aus, als würde sie einen sehr sauren Zitronendrops lutschen. Frau Matussek hingegen schien ihr Gestümper nichts auszumachen. Im Gegenteil, gleichmütig ließ sie Sophie genau die Passage immer wieder spielen, die besonders schlimm klang. Dabei sah sie zu Sophies Mutter hinüber, fast so, als würde sie auf etwas warten. Die sah inzwischen aus, als würde sie in eine blanke Zitrone beißen. Und als Sophie beim nächsten Triller komplett danebengriff, entschied sie, dass es bei aller Liebe zu ihrer Tochter jetzt genug sei.

»Ich denke, ich habe Ihre Methode nun verstanden. Sie entschuldigen mich, ich habe noch eine Menge zu tun«, sagte sie zu Frau Matussek. »Spiel schön weiter, mein Schatz!« Sie winkte Sophie noch einmal freundlich zu und verließ fluchtartig den Raum.

Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, wirkte Frau Matussek zufrieden. Mit ihrem Taktstock in der Hand trat sie zum Fenster und sah in den Garten hinaus. Sie schien nach irgendetwas Ausschau zu halten. Obwohl sie weiterspielte, hörte Sophie, dass Strichpunkt ganz leise wieder zu knurren begann.

Während Frau Matusseks Blick den Gartenzaun zum angrenzenden Grundstück absuchte, beobachtete Sophie, wie Strichpunkt unter dem Flügel hervorkam und zu dem Tisch lief, auf dem die mit Rosen bestickte Tasche lag. Neugierig schnupperte er daran. Der Geruch schien ihm nicht zu behagen. Gerade öffnete er die Tasche mit der Schnauze ein wenig, da drehte Frau Matussek sich um.

»Weg von meiner Tasche, du fleckige Töle!«, fauchte sie und tat einen für ihre Körperfülle erstaunlichen Satz quer durchs Zimmer. Drohend baute sie sich vor Strichpunkt auf und richtete ihren Taktstock auf ihn.

Sophie fiel vor Schreck fast vom Klavierhocker. »He! Was machen Sie denn da?«, rief sie.

Für eine Sekunde hätte Sophie schwören können, dass kleine Funken aus der Spitze des Taktstocks gestoben waren. Doch das musste wohl das einfallende Licht aus dem Garten gewesen sein, das sich in dem Messing fing. Frau Matussek ließ den Stock sinken. Eilig setzte sie ein Lächeln auf, das die Warze an ihrem Mundwinkel in Schwung brachte.

»Ähem …, ich mag es nun mal nicht, wenn man an meine Sachen geht. Das muss auch das süße Hundchen einsehen, nicht wahr?« Sie warf Strichpunkt einen warnenden Blick zu. »Und jetzt noch mal von vorn!«

Eine Weile klimperte Sophie weiter, bis Frau Matussek sie unterbrach: »Hör mal, Sandra«, sagte sie, während sie mit der Hand an ihrem Ausschnitt herumwedelte, »es ist so heiß hier drin. Ich werde mal ein bisschen Luft schnappen. Üb du einfach weiter.«

»Sophie!«, sagte Sophie.

»Natürlich«, erwiderte Frau Matussek gleichgültig. »Also, ich komme gleich wieder. – Und du«, fügte sie an Strichpunkt gewandt hinzu, »bleibst gefälligst hier!«

Damit schnappte sie sich ihre Rosentasche und ging in den Garten. Doch Strichpunkt dachte gar nicht daran, ihr zu gehorchen, und lief ihr nach.

Sophie spielte weiter. Sie war ziemlich durcheinander vom bisherigen Verlauf der Stunde. Frau Matussek kam ihr von Minute zu Minute komischer vor. Vom Klavierspiel schien sie auf jeden Fall noch weniger Ahnung zu haben als sie selbst …

Als Sophie einige Takte später über ihr Notenblatt hinweg in den Garten guckte, bot sich ihr ein seltsames Bild: Frau Matussek stand an der Hecke zum Nachbargrundstück und wedelte mit ihrem merkwürdigen metallenen Taktstock in der Luft herum. Dabei brabbelte sie irgendetwas vor sich hin, was Sophie nicht hören konnte. Jetzt ging sie ein Stück nach rechts an der Hecke entlang, brabbelte und wedelte dabei aber weiter.

Sophie beobachtete sie verwundert. Es sah aus, als versuche sie, über die Hecke zum Nachbargrundstück zu kommen. Doch was sollte Frau Matussek da wollen? Auf der anderen Seite stand ein altes, verwinkeltes Gebäude mit lauter bunten Giebelchen und Türmchen. Darin wohnten die Zilpzalps. Sophie hatte noch nie ein Wort mit ihnen geredet. Das hatten ihre Eltern ihr strengstens verboten.

»Diese Zilpzalps sind absolut unmöglich«, hatte ihre Mutter erst gestern noch beim Frühstück gesagt. »Eine Oma, die ganz allein mit ihrer kleinen Enkelin in diesem Riesenkasten wohnt und eine Reparaturwerkstatt für Elektrogeräte betreibt – die passen doch einfach nicht hierher. Findest du nicht auch, Michael?«

Und Sophies Vater hatte von seiner Wirtschaftszeitung hochgeguckt und zustimmend genickt. »Ganz genau. Als ob Reparieren sich noch lohnen würde! Bei den Preisen heute sollten sich die Leute besser gleich neue Geräte anschaffen.«

Sophie selbst fand die Zilpzalps eigentlich ziemlich spannend, denn bei ihnen passierten jede Menge merkwürdige Dinge. Erst letzte Woche hatte es auf ihrem Grundstück eine gewaltige Explosion gegeben … – Sophie wurde aus ihren Gedanken gerissen, denn Strichpunkt begann laut zu bellen. Vom Flügel aus konnte Sophie sehen, wie Frau Matussek herumfuhr und ihm befahl, leise zu sein. Doch Strichpunkt bellte wie verrückt weiter, wobei er die Klavierlehrerin in großen Sprüngen umkreiste. Sophie wollte schon zu ihm laufen, da ertönte eine helle Stimme vom Balkon.

»Ist alles in Ordnung, Frau Matussek?«, rief Frau Sander besorgt.

Frau Matussek sah zu ihr hoch. »Ja doch, Frau Sander. Ich wollte bloß ein wenig frische Luft schnappen … Diese Hitze macht mich ganz fertig … Aber jetzt geht es schon wieder.«

Unschlüssig stand Frau Matussek einen Augenblick im Garten herum, dann ging sie mit einem extrafreundlichen Winken in Richtung Balkon wieder ins Haus.

Als Frau Matussek ins Musikzimmer trat, konnte Sophie sehen, dass sie stinkwütend war. Strichpunkt war schon vor ihr durch die Terrassentür geschlüpft und hatte sich unter dem Flügel versteckt. Sophie setzte sich wieder auf den Klavierhocker, während Frau Matussek ihre Tasche zurück auf das Tischchen knallte. Dann stach sie wie von der Tarantel gestochen auf Strichpunkt zu.